23

Cynna hasste Krankenhäuser. Wie wahrscheinlich jeder, der nicht in einem arbeitet, dachte sie – und vielleicht sogar ein paar von denen. Allein bei dem Geruch wäre sie am liebsten umgekehrt.

Aber es gab Schlimmeres. Also trat sie aus dem Aufzug und betrachtete missmutig die Pfeile an der Wand, die ihr den Weg zu der gesuchten Zimmernummer wiesen.

Okay, zur Dreihundertvierzehn musste sie nach links. In einem ziemlichen Tempo lief sie den Flur hinunter, ihre Umhängetasche unter den Arm geklemmt, die Blumen, die sie in einem Lebensmittelgeschäft kurz zuvor erstanden hatte, fest mit der anderen Hand umklammert. Gesellschaftliche Umgangsformen waren in ihrer Erziehung nicht gerade großgeschrieben gewesen, aber ein paar hatte sie doch aufschnappen können. Wenn man jemanden in einem Krankenhaus besuchte, brachte man Blumen mit.

Cynna war keine Frau, die Zeit verlor, und mit einer guten Portion Wut im Bauch schlüpfte sie rasch am Schwesternzimmer vorbei. Eine Krankenschwester mit hüpfendem Pferdeschwanz rief ihr nach, sie solle stehen bleiben. Aber das überhörte sie einfach.

Verfluchte Bürokraten. Sie hatte gedacht, Ruben sei anders, aber er hatte schließlich doch kapituliert, war unter dem Druck eingeknickt. Nun, dabei würde sie jedenfalls nicht mitmachen.

Sie streckte gerade die Hand nach der Tür des Zimmers dreihundertvierzehn aus, als die Schwester – das hartnäckige kleine Biest – sie am Arm zurückhalten wollte. „Miss! Ich habe versucht, es Ihnen zu sagen. Sie können da nicht rein.“

Langsam drehte Cynna sich um. „Fassen Sie mich nicht an.“

Jetzt erst konnte die Frau einen Blick auf Cynnas Gesicht werfen. Ihre babyblauen Augen wurden groß.

Es hatte eine Zeit gegeben, als Cynna es genossen hatte, wenn man sie anstarrte. Das zeigte ihr wenigstens, dass sie nicht unsichtbar war. Aber dann irgendwann hatte es sie geärgert. Jetzt bemerkte sie es meistens gar nicht mehr, aber im Moment war sie ein wenig gereizt.

„Was ist los?“, fragte sie. „Habe ich Dreck im Gesicht? Ist mein Lippenstift verschmiert?“

„Äh …“ Die Frau blinzelte. „Sie tragen keinen Lippenstift.“

„Echt?“ Cynna grinste auf eine Art, die, wie sie wusste, die Leute nervös machte. „Warum starren Sie dann so?“

Doch so schnell gab sich die Schwester mit dem hüpfenden Pferdeschwanz nicht geschlagen. „Wegen Ihrer Tattoos. Tut mir leid, das war unhöflich. Bitte entschuldigen Sie, aber Sie haben nicht angehalten. Sie können dort nicht rein, Miss. Die Besuchszeit ist erst in zwei Stunden.“

„Sie bewegen sich aber auf dünnem Eis. Miss. Woher wissen Sie, ob ich zu Hause nicht drei oder vier Ehemänner versteckt habe? Hier, halten Sie mal.“ Sie streckte der Schwester die Blumen entgegen, damit sie ihre Dienstmarke zücken konnte. „Zufrieden?“

Die Krankenschwester hatte doch tatsächlich die Stirn, die Marke zu nehmen und zu prüfen, bevor sie sie ihr zurückgab. „Sieht echt aus. Haben Sie den Besuch mit der Oberschwester abgeklärt?“

„Nein.“ Cynna stopfte ihre Dienstmarke zurück in ihre Jackentasche und nahm ihr die Blumen wieder ab. „Verpetzen Sie mich doch.“ Sie wandte sich ab und drückte die Tür auf, nur um sofort wieder stehen zu bleiben, Tasche und Blumen zu Boden fallen zu lassen und die Hände zur Seite auszustrecken.

Das Kaliber 38, das auf sie gerichtet war, beschleunigte jedenfalls ihren Herzschlag.

Die Waffe wurde von einem alternden Weihnachtsmann mit Goldrandbrille, einer billigen Sportjacke und hässlichen schwarzen Schuhen gehalten. Cop-Schuhen. Und hinter den Brillengläsern Cop-Augen.

Sie entspannte sich ein wenig. „Wahrscheinlich hätte ich klopfen sollen.“

„Schon gut, T. J.“, sagte Lily aus dem Bett. „Sie ist vom MCD.“

„Klopfen wäre keine schlechte Idee gewesen“, sagte er und steckte die Waffe zurück in ein Schulterhalfter, das in deutlich besserer Verfassung als seine Schuhe war. „Es gibt immer wieder Leute, die Yu umbringen wollen. Das macht mich nervös.“

„Kann ich verstehen.“

„Sie könnten ja danebenschießen und stattdessen mich treffen“, erklärte er.

Sie grinste und kam ganz in den Raum herein. Es war ein typisches Krankenhauszimmer – halb privat, ein Fenster, zwei harte, vinylbezogene Besuchersessel. Das andere Bett war nicht belegt. Keine Blumen, stellte Cynna fest. Nun, Lily war noch nicht lange hier und würde wohl auch bald wieder entlassen.

Wenn sie nicht beschlossen, sie woanders wegzuschließen. Irgendwo, wo sie in ärztlicher Behandlung und unter Beobachtung sein würde.

Lily sah nicht schlecht aus. Blass, müde und angespannt, aber sonst ganz in Ordnung. Gar nicht verrückt. Und auch nicht so, als würde sie trauern – zumindest, soweit Cynna das beurteilen konnte. Aber ihr Gesicht war so verschlossen, dass Cynna sich auch täuschen konnte.

Lily hob die Hand. „T. J., das ist Agent Cynna Weaver. Cynna, dieser Wackelpudding ist Detective Thomas James. Ich habe bei der Mordkommission mit ihm zusammengearbeitet.“

„Sagen Sie T.J. zu mir.“ Er grinste und ließ einen Goldzahn und mehr Charme aufblitzen, als sie von einem alten, fetten weißen Mann erwartet hätte. „Nur Zivilisten nennen mich Detective James.“

„Klar. Wenn Sie mich Cynna nennen. Wenn ich ‚Agent Weaver‘ höre, sehe ich mich immer nach einem Anzugträger mit Aktentasche um.“

„Verstanden. Schön, Sie kennenzulernen, Cynna.“ Er sah zu Lily. „Dann mache ich mich mal vom Acker.“

„Äh … nicht meinetwegen.“ Cynna wusste, dass sie nicht aufrichtig klang. Möglicherweise, weil sie es nicht war. Manche Dinge konnten nicht in Gegenwart eines Außenstehenden gesagt werden, selbst wenn es ein Cop war.

„Ich wollte sowieso gerade gehen. Yu hat schon all meine Geschichten gehört, und es strengt sie zu sehr an, Interesse zu heucheln.“

„T. J.“ Lily sah ihn lange und ernst an. „Danke.“

Er nickte ihr zu. „Ich finde immer noch, du solltest zurückkommen. Aber bei uns ist es natürlich nicht so spannend wie beim FBI. Erst ’ne Schusswunde, dann ’ne Verbrennung … meinst du, das nächste Mal kriegst du eine Stichverletzung hin – nur, um ein bisschen Abwechslung in die Sache zu bringen?“

„Ich guck mal, was sich machen lässt“, sagte sie trocken.

Cynna trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Aus einem Impuls heraus fragte sie: „Hat die Schwester mit dem Pferdeschwanz Sie genervt, weil Sie die Besuchszeiten nicht eingehalten haben?“

„Sie meinen Sally?“ In seinen Augen erschien ein wissender Ausdruck. „Nee, Sally mag mich. Ein süßes kleines Ding, nicht wahr?“

Sie seufzte. „Mein Typ ist sie nicht.“

„Heutzutage kann man sich da nie sicher sein“, sagte er nebulös. „Bis später.“

Cynna fragte sich, was sie an sich hatte, das die Leute glauben machte, sie sei vom anderen Ufer. Aber dies war nicht das erste Mal, dass ihr das passierte. Nicht nur vonseiten der Männer. Auch lesbische Frauen hatten sich schon oft in sie verknallt.

Nachdem die Tür sich hinter T.J. geschlossen hatte, seufzte Cynna. „Vielleicht sollte ich einen Anstecker tragen. Etwas Diskretes wie ‚Nein, ich bin nicht lesbisch‘.“

Die Tür öffnete sich wieder. „Das hört man gern. Ich würde mich anbieten wollen.“

Cynna drehte sich um. Und war verliebt.

„Sie müssen Lilys Finderin sein“, sagte der schönste Mann der Welt. „Ich warte schon lange darauf, Sie endlich kennenzulernen.“

„Schrecklich, wie oberflächlich ich bin“, murmelte Cynna. Dann sagte sie lauter: „Hören Sie, um auf Ihr Angebot zurückzukommen … Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, aber wenn Sie warten möchten, bis ich mit Yu geredet habe – mit Lily meine ich –, würde ich mich gern mit Ihnen darüber unterhalten.“

„Willst du wissen, wer er ist, bevor zu ihn flachlegst?“, fragte Lily aus dem Bett. „Oder wäre es dann zu langweilig?“

„Ich finde, dass es stilvoller ist, den Namen eines Mannes zu kennen, bevor man Sex mit ihm hat. Also raus damit.“

„Cullen Seabourne.“

Mist. Sie hätte wissen müssen, dass es zu gut war, um wahr zu sein. „Der Zauberer.“ In der rechten Hand hielt sie immer noch die Blumen, also nutzte sie die linke, um eine schnelle Diagnose durchzuführen, wobei sie kaum die Finger bewegte.

Doch er bemerkte es. Und es amüsierte ihn. „Danke. Ich fürchte, ich habe den Zauber, um eine komplette bewegliche Illusion zu kreieren, noch nicht wiederentdeckt. Und ich verzaubere auch niemanden mit meinem Charme.“

„Er sieht wirklich so aus.“ Lily klang nicht belustigt. Eher müde. „Und Charme habe ich noch keinen an ihm entdecken können.“

„Autsch.“ Er kam näher. Herrgott, der Mann wusste, wie man sich bewegte. Sein Körper war schlank, aber muskulös und geschmeidig wie der einer Siamkatze. Und er wusste, wie man ihn zur Geltung brachte – enge schwarze Jeans, ein gut sitzendes T-Shirt in demselben strahlenden Blau wie seine Augen. Tiefbraune Haare.

Sie meinte, schon einmal Pferde in dieser Farbe gesehen zu haben – kräftig und mit leichtem Rotstich, nicht ganz rotbraun. Er trug sein Haar zu lang – aber das störte nicht. Und sein Gesicht … Gott, was für ein Gesicht. Sie hätte ihn am liebsten an die Wand gehängt und den ganzen Tag nichts anderes getan, als ihn zu anzusehen. Nachdem sie Sex gehabt hatten natürlich. Heißen, schwitzigen Sex – fünf oder sechs Stunden lang.

„Moment mal.“ Ein plötzlicher Gedanke ließ sie finster gucken. „Sie sind nicht zufällig schwul, oder?“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Hat Lily Ihnen nichts gesagt? Ich bin ein Lupus.“

Damit war die Frage natürlich geklärt. Unter den Lupi gab es keine Homosexuellen. Sogenannte Experten stellten immer wieder neue Hypothesen auf, warum das so war, aber in Cynnas Augen war es nur eine weitere Bestätigung für die Theorie, dass sexuelle Orientierung genetisch bestimmt wird. „Und ich bin sehr erfreut, Sie kennenzulernen. Cynna Weaver.“ Sie streckte die Hand aus … und sah, dass sie immer noch die Blumen in der Hand hielt.

Sie wandte sich Lily zu. „Äh, die sind für dich.“

„Danke. Ich fürchte, ich habe keine Vase, aber irgendwo muss eine Wasserkanne stehen.“

„Das wird auch gehen.“ Gott, wie dumm von ihr. Warum hatte sie nicht daran gedacht, eine Vase mitzubringen? Sie sah sich suchend um.

„Hier.“ Die Liebe ihres Lebens reichte ihr eine hässliche Plastikkanne.

„Super. Ich fülle Wasser rein.“

Das Badezimmer war winzig. Cynna drehte das Wasser auf, aber nur leicht, denn sie wollte von dem nebenan Gesprochenen nichts verpassen.

Lily sagte ein Wort zu Cullen – einen Namen: „Benedict?“

„Er lässt sich nicht unterkriegen. Ich habe gehört, Beth wurde ärztlich versorgt und wieder entlassen. Geht es ihr gut?“

„Soweit ich weiß. Meine Mutter sagt …“ Lily zögerte, als wenn sie nicht wiederholen wollte, was ihre Mutter von sich gegeben hatte. „Beth bleibt für ein paar Tage bei ihr und meinem Vater.“

„Was ist mit dir? Irgendeine Veränderung?“

Cynna kehrte ins Zimmer zurück, die hässliche Plastikkanne in der Hand, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Lily den Kopf schüttelte.

Der umwerfende Cullen bemerkte sie nicht einmal. Er war ganz mit Lily beschäftigt. „Haben sie das toltoi gefunden?“

„Nein.“

„Was ist ein toltoi?“, fragte Cynna und stellte die improvisierte Vase auf den Nachttisch neben das Bett.

Cullen antwortete geistesabwesend: „Ein Zauber. Ihre Halskette ist während des Kampfes gerissen.“

„Das passiert doch.“ Schwerer war es schon, zu verstehen, warum sich Cullen wegen eines verlorenen Schmuckstücks ohne Wert aufregte. Aber er war ein Zauberer. Vielleicht hatte er „Zauber“ wörtlich gemeint. „Veränderungen? Welche Veränderungen?“

„Bitte?“

„Sie haben sie gefragt, ob es irgendwelche Veränderungen gibt.“

Er war überrascht. „Ich wollte wissen, ob es ihr besser geht.“

„Ah ja.“ Sie schüttelte den Kopf. „Sie sind gut, aber das kaufe ich Ihnen nicht ab. Ich bin hier, weil man Lily abservieren will, und das gefällt mir nicht. Aber es gefällt mir ebenfalls nicht, wenn man mich im Dunkeln lässt. Und das war in diesem Fall schon von Anfang an so.“

Die anderen beiden tauschten zwar keine vielsagenden Blicke, aber ihr Schweigen sprach Bände. Cullen brach es, indem er fragte: „Wer will Lily abservieren?“

„Haben Sie die Schlagzeilen gesehen?“

„Einige, nicht alle.“

„Das ist keine richtig gute PR für uns.“ In der seriöseren Presse reichte die Palette von „Gang bei FBI-Razzia abgeschlachtet“ bis hin zu „Laufen die Wölfe jetzt Amok?“. Cynnas Lieblingsklatschzeitung behauptete gar, das FBI habe einen Pakt mit einem Dämon geschlossen, um alle Gangs vom Erdboden verschwinden zu lassen, und die Lupi seien die Killer des Dämons. Auch im Radio fuhr man fast dieselbe Schiene, nur ohne den dämonischen Mittelsmann.

„Es war doch klar, dass das ein gefundenes Fressen für sie ist“, sagte Lily. „Vierzehn Tote, Lupi, die darin verwickelt sind, das FBI ebenso … haben sie schon Wind von der Todesmagie bekommen?“

„Die Times erwähnt es. Bezieht sich auf eine anonyme Quelle bei der Polizei von San Diego.“

Lily verzog das Gesicht. „Das ist der feuchte Traum eines jeden Reporters, auch wenn sie noch nicht genau kapiert haben, was wirklich passiert ist.“

„Das werden sie aber bald“, sagte Cynna grimmig. „Big Dick hat für morgen Abend um sechs Uhr eine Pressekonferenz angesetzt. Gerade rechtzeitig für die Abendnachrichten.“ Dick Hayes war der stellvertretende Direktor des FBI, solange der eigentliche Boss sich von einer OP am Herzen erholte. Der Spitzname, den ihm seine Leute gegeben hatten, war kein Zeichen der Zuneigung. „Er wird dich den Wölfen vorwerfen.“

Lilys lautes Lachen überraschte sie. „Das wird nicht nötig sein. Dort bin ich bereits. Danke trotzdem für die Warnung.“

„Ich glaube, du verstehst nicht, was das bedeutet. Er wird ihnen deinen Namen nennen und verkünden, dass du dich in psychiatrische Behandlung begeben wirst. Sie werden sich gierig auf dich stürzen. Außerdem hat er sich in den Kopf gesetzt, dass du deine Gabe nur vorgetäuscht hast, um in die Einheit zu kommen. Als wenn …“ Sie hielt inne und runzelte die Stirn. „Du bist nicht sauer?“

Lily zuckte mit einer Schulter. „Glücklich bin ich nicht gerade, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Medien meinen Namen erfahren. Schließlich habe ich die Ermittlungen geleitet. Außerdem tut es nicht weh, mich zu opfern, denn ich bin erst kurz beim Bureau. Das psychiatrische Gutachten ist mir allerdings neu“, gab sie zu. „Aber keine große Überraschung.“

„Er hat Ruben befohlen, dir nichts davon zu sagen.“ Man sah, dass es in Cynna gärte. „Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass Ruben dem tatsächlich zugestimmt hat. Aber er hat.“

„Möglicherweise hatte er keine andere Wahl. Aber er hat jedenfalls dafür gesorgt, dass ich es erfahre.“

Auf einmal kam Cynna sich dumm vor. „Wahrscheinlich hat er damit gerechnet, dass ich es dir sage.“

„Wahrscheinlich.“

Daraufhin musste sich Cynna erst einmal setzen. Der Sessel war genauso unbequem, wie er aussah. „Hayes will, dass es dich unvorbereitet trifft, damit du schlecht aussiehst vor der Kamera.“

„Irgendwann muss ich mich ja der Presse stellen. Aber nicht jetzt. Vielleicht sollte ich lieber gucken, dass ich hier wegkomme.“ Sie sah Cullen an. „Isen hat vor zwei Stunden angerufen.“

„Ach ja?“

„Er will, dass ich die Rhej treffe. Obwohl es eher so klang, als würde er ihre Vorladung übermitteln.“

Cullens Augenbrauen gingen nach oben.

„Wer oder was ist eine Rhej?“, fragte Cynna.

„Eine heilige Frau. Ich frage mich …“ Er schüttelte den Kopf. Offenbar wollte er nicht mehr sagen.

„Außerdem will er, dass ich eine Weile bei ihm bleibe. Er war sehr sanft, sehr zartfühlend. Und er hat mir kein Wort über Rule geglaubt.“

„Auf dem Clangut wärst du vor den Reportern in Sicherheit.“

„Nein.“ Sie biss sich nachdenklich auf die Lippe. „Ich werde es Cynna sagen.“

„Lily …“

„Was meine Gabe angeht“, sagte sie und wandte sich an Cynna. „Sie ist weg.“

Cynna guckte verblüfft. „Unmöglich.“

„Das denken alle, dass es unmöglich ist, eine Gabe zu verlieren. Aber ich kann keine Magie mehr erspüren.“

Cynna wusste nicht, was sie sagen sollte. Wenn sie ihre eigene Gabe je verlieren sollte … unvorstellbar. Sie war eine Finderin. Was würde sie sein, wenn ihr das genommen würde? „Der Stab“, sagte sie zögernd. „Meinst du, er hat irgendwie deine Gabe gelöscht?“

„Es fühlte sich an, als wenn … als Harlowe ihn auf mich gerichtet hat …“ Ihr eben noch verschlossenes Gesicht wirkte jetzt gequält. „Es fühlte sich an, als wenn etwas mir die Haut vom Körper kratzen würde. Ich glaube, es hat mir meine Gabe genommen.“

„Scheiße.“

„Ja, das trifft es ziemlich genau.“ Einen Augenblick schwieg sie und betrachtete sinnend die Bettdecke, die ordentlich über ihren Beinen lag. Der Kopf des Bettes war hochgestellt. Kissen stützten sie im Rücken.

Sie sah so klein aus in diesem Bett. Eigentlich war das nicht weiter überraschend, schließlich war Lily wirklich ein zartes Ding. Aber etwas an ihr hatte Cynna vergessen lassen, dass nicht viel an ihr dran war – rein körperlich gesehen.

Dann blickte Lily auf und sah ihr in die Augen. „Dass ich meine Gabe verloren habe … das ist einer der Gründe, weswegen sie denken, ich sei verrückt.“

„Äh …“

„Alle denken doch, dass ich entweder wirklich meine Gabe verloren habe und mich das in den Wahnsinn getrieben hat oder dass ich sie blockiere, weil ich mich weigere, der Realität ins Auge zu sehen.“ Sie blickte zu Cullen. „Du denkst das auch, oder etwa nicht?“

„Ich halte mich da raus“, sagte er leichthin.

Lily schüttelte den Kopf. „Wenn du wirklich glauben würdest, Rule könnte noch am Leben sein, würdest du nach ihm suchen.“

Das versetzte ihm einen Stoß. „Wo denn? Deine ehemaligen Kollegen haben das ganze Gebiet abgesucht.“

„Du hast Mittel und Wege zur Verfügung, die sie nicht haben.“

„Ich bin kein Finder.“

„Nein“, sagte sie. Und sah Cynna an.

„Ich habe mich schon gefragt, wann ihr darauf kommen würdet. Rule …“ Als sie seinen Namen aussprach, hatte sie plötzlich einen Kloß im Hals. Sie schluckte. „Ruben hat mir gesagt, dass du überzeugt bist, er sei noch am Leben. Ich will wissen, warum.“

„Wenn ich dir das sage …“

„Lily.“ Cullens Stimme klang scharf.

Sie achtete nicht auf ihn. „Wenn ich dir sage, was du wissen willst, versuchst du dann, ihn zu finden?“

„Das habe ich bereits.“