10

Lily war es leid, überall hingefahren zu werden. Aber es gab schließlich gute Gründe, warum sie nicht hinter das Steuer durfte, auch wenn ihre Schulter schon fast verheilt war. Und da Rule immerhin völlig intakt war, murrte sie nur ein bisschen.

Sein Wagen war ohne Zweifel besser als ihrer – ein Mercedes Kabrio mit butterweichen Sitzen und einer Spitzenanlage. Sie stellte Tasche und Laptop auf den Boden und den Becher mit dampfendem Kaffee in den Getränkehalter. „Fahr am Holiday Inn in Harbor vorbei.“ Sie zog die Tür zu. „Die Bezirksstelle wollte Weaver anrufen. Wir holen sie ab.“

Er brummte unverbindlich und setzte zurück.

Sie warf ihm einen Blick zu. „Ich komme gut mit ihr klar.“

„Das beruhigt mich.“

„Wenn ich mich jedes Mal aufregen würde, wenn ich eine von deinen abgelegten Liebhaberinnen treffe, wäre das Leben ganz schön anstrengend für mich.“

„Mein Ruf übertrifft bei weitem die Realität. Ich bin nicht mit annähernd so vielen Frauen zusammen gewesen, wie die Klatschblätter gern schreiben.“

„Ich glaube auch nicht, dass das physisch möglich wäre.“ Sie klopfte mit den Fingern auf ihren Oberschenkel. „Ob wir ihr von dem Band der Gefährten erzählen sollten?“

„Wie bitte?“ Er runzelte die Stirn. „Nein.“

„Ich weiß, es soll ein Geheimnis bleiben, aber wir verlangen von ihr, dass sie mit uns zusammenarbeitet, ohne über alle Informationen zu verfügen. Das scheint mir nicht fair zu sein.“

„Wenn es nach mir ginge, würde ich Cynna vertrauen. Aber nicht einmal der Rho kann darüber befinden, etwas über unsere Verbindung zur Dame zu enthüllen. Das ist überliefertes Wissen, und die Auserwählte ist Teil dieses Wissens.“

„Du meinst, niemand darf jemals darüber reden?“

„Nicht ganz.“ Er schwieg für einen Moment nachdenklich. „Es gibt zu viel, das du nicht weißt. Du musst mit der Rhej sprechen.“

„Das Treffen ist erst in ein paar Tagen vereinbart. Aber das hier müssen wir so schnell wie möglich klären.“

„Dazu muss ich auf das Gut. Sie verlässt es nie, und Telefone kann sie nicht ausstehen.“

„Klingt ganz nach meiner Großmutter.“

Unruhig rutschte Lily auf ihrem Sitz herum. Wurde von ihr erwartet, dass sie der Dame huldigte, jetzt, da sie Mitglied des Clans war? Das würde wohl kaum der Fall sein, aber sie wollte nicht gerade jetzt das Thema anschneiden. „Eines würde ich gern wissen: Weaver sagte, du hättest dich nicht verändert. Das sagen die Leute oft so dahin, aber in deinem Fall stimmt es, nehme ich an. Wie lange kennt ihr euch schon?“

„Zehn Jahre. Nein, eher zwölf.“

„Also wird Weaver vielleicht eher für dich ein Problem als für mich. Wenn sie bereits darüber nachdenkt, wie wenig du dich verändert hast …“

„Irgendwann kommt es ja doch raus.“ Auf dem Harbor Drive beschleunigte er leicht. „Früher oder später. Unsere Langlebigkeit musste auffallen, als immer mehr von uns sich nicht mehr als Menschen ausgeben konnten. Das ist auch einer der Gründe, warum einige Lupi dagegen waren, es publik zu machen.“

„Und wie hattet ihr euch entschieden, es publik zu machen? Ihr habt doch sicher nicht abgestimmt.“

Er warf ihr einen seiner undurchdringlichen Blicke zu. „Nein, wir haben nicht abgestimmt. Die Rhos haben diskutiert, argumentiert und Bündnisse geschlossen und sich manchmal auch gestritten, aber es gab keine Einigung. Schließlich hat mein Vater beschlossen, die Sache in die Hand zu nehmen.“

Sie dachte an das, was sie über Isen Turner wusste. „Er war an der Entscheidung in der Sache Borden beteiligt?“

„Das auch, aber ich meinte Carr gegen Texas.“

Lily zog die Brauen hoch. Seit ihrer Gründung hatte die US-Regierung das „Lupi Problem“ weitgehend ignoriert und es den Bundesstaaten überlassen, die Sache so zu handhaben, wie sie es für richtig hielten. Bis vor Kurzem hieß das noch Verhaftung, Verurteilung – offiziell und inoffiziell – und sogar Kastration.

Carr gegen den Staat Texas hatte das geändert. Die Entscheidung des Obersten Bundesgerichts hatte die Lupi zu Bürgern gemacht, solange sie in menschlicher Gestalt waren. Der Kongress hatte daraufhin die Lykanthropie prompt als Gefährdung der öffentlichen Gesundheit deklariert und damit ein Jahrzehnt Zwangsregistrierung und -behandlung eingeleitet. Jetzt war auch das für verfassungswidrig erklärt worden. Der Status der Lupi, wenn sie in Wolfsgestalt waren, war immer noch ungeklärt; eine diesbezügliche Gesetzesvorlage war bislang noch nicht verabschiedet worden. „War Carr ein Nokolai?“

„Du unterschätzt Isen.“ Sein Lächeln war gezwungen. „William Carr war ein Etorri, einer unserer ältesten und am meisten geachteten Clans. Sie haben so gut wie keine Macht, dazu sind sie zu wenige. Aber sie haben viel du. Ehre“, ergänzte er mit einem Seitenblick auf sie. „Ansehen, Haltung, Magie, Geschichte – du umfasst das alles zusammen. Jeder Lupus auf dem Planeten ist ihnen verpflichtet und wird es immer sein, bis ans Ende aller Tage.“

Das hörte sich nach einer interessanten Geschichte an, aber dafür hatten sie jetzt keine Zeit. „Und …?“

„Carr war nicht nur ein Etorri. Er war ein Rho. Jeder andere Lupus, der das getan hätte, was er tat, wäre damals von denen, die gegen die Integration waren, getötet worden. Nicht so der Rho der Etorri.“

„Und das war Isen zu verdanken?“

„Ja.“

Das war alles. Ein einfaches Ja, ohne weitere Erklärung. Lilys Finger trommelten schneller. „Die Carr-Entscheidung wurde wann gefällt? Vor zwölf Jahren? Eher fünfzehn“, korrigierte sie sich selber. „Ein paar Jahre, bevor du und Weaver zusammen in der Kiste wart. Du musst sechsunddreißig oder so gewesen sein.“

„Achtundreißig.“

„Warst du damals schon der Thronfolger deines Vaters?“

„Worauf willst du hinaus?“

„Ich will nur klarsehen, das ist alles.“

Seine Hände packten das Lenkrad fester. „Vor fünfzehn Jahren war ich erwachsen. Du nicht. Das stört dich immer noch.“

„Und das ärgert dich.“

„Ich bin nicht verärgert.“ Er bog scharf in die Auffahrt zum Holiday Inn ein.

Sie rollte mit den Augen. „Klar. Siehst du Weaver irgendwo? Sie müsste eigentlich hier irgendwo auf uns warten.“

„Du sagst mir immer, wie ich mich fühle und wie ich bin. Ich bin sauer. Ich bin promisk …“

„Das habe ich nie gesagt!“

„Das schwingt aber in deinen Kommentaren unterschwellig mit.“

„Ich habe nicht gesagt, dass du promisk bist“, beharrte sie.

„Du musst einen Schwarzen nicht Nigger nennen, um ihn wie einen zu behandeln.“

„Oh, jetzt bin ich also eine Rassistin.“

„Das habe ich nicht gesagt. Genauso, wie du nicht gesagt hast, dass ich promisk bin.“

„Worüber streiten wir eigentlich? Kannst du mir das wenigstens verraten? Wie lautet denn eigentlich unser Thema?“

Er trat so plötzlich auf die Bremse, dass sie gegen ihren Sicherheitsgurt flog. „Ich weiß nicht. Keine Ahnung. Da ist Cynna.“

„Prima. Ausgezeichnet.“ Lily konnte sich gerade noch zurückhalten, bevor sie etwas Dummes sagte wie „Wahrscheinlich hat sie dich nie promisk genannt“. Zum einen stimmte es wahrscheinlich. Und zum anderen hätte es doch zu kleinlich und eifersüchtig geklungen. Was sie nicht war. Eigentlich.

Aber Rule war promisk gewesen. Vielleicht nicht nach seinen Maßstäben, aber nach ihren. Wie eine Biene war er von Blüte zu Blüte geschwirrt … und er schwirrte schon viel länger, als sie gewusst hatte. Ungefähr zwanzig Jahre länger.

Jetzt aber waren seine Tage als Biene vorbei. Das allein zählte. Denkbar, dass er deswegen so gereizt war. Vielleicht war es ihm an diesem Morgen nicht mehr so wie ein guter Handel vorgekommen, eine Frau gegen alle anderen getauscht zu haben. Immerhin hatte er die Wahl gehabt. Das Band der Gefährten fesselte sie beide an diese Beziehung. Auch wenn es sich tief in ihrem Inneren richtig anfühlte, gab es immer noch genug Gründe, die dagegen sprachen, dass sie glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende leben würden.

„Morgen“, sagte Cynna Weaver und öffnete die Hintertür auf der Fahrerseite. Sie warf eine gammelige Umhängetasche auf den Sitz, folgte dieser und sah von einem zum anderen. Ihre Augenbrauen hoben sich, und die Wirbel auf ihrer Stirn gerieten in Bewegung. „Hu. Gibt’s Streit, oder ist jemand gestorben?“

Auch Lily hob die Brauen. „Kimberly Ann Curtis. Weiß, braune Haare, braune Augen, 1,73, 65 Kilo. Ist letzten März zweiundzwanzig geworden. Rufname Kim.“

„Okay, schon gut. Geht mich wohl auch nichts an.“ Cynna lehnte sich zurück. „Wahrscheinlich war das eine blöde Bemerkung, wenn man zum Tatort eines Mordes fährt …“

„Eines mutmaßlichen Mordes“, korrigierte Lily automatisch.

„Meinetwegen. Es ist verdammt früh. Ich bin erst in ein paar Stunden richtig wach.“

„Ich kann warten“, sagte Lily trocken, als Rule anfuhr. „Schnallen Sie sich bitte an.“ Die andere murmelte etwas über Sicherheitsgurtterrorismus, gehorchte aber, sodass Lily den Kommentar überhörte. Wahrscheinlich hatte Weaver nie einen Autounfall erlebt. Dann hätte sie gewusst, wie ein Gesicht aussah, das mit einer Windschutzscheibe Bekanntschaft gemacht hatte. Oder durch eine hindurchgeschossen war.

„Also, was wissen wir über das mutmaßliche Opfer?“

„Sie wurde um circa halb vier heute Morgen von Mike Sanderson gefunden, einem Kollegen, der angibt, dass sie manchmal miteinander ausgegangen seien. Es sei nichts Festes gewesen. Trotzdem hat es ihm zu schaffen gemacht, dass sie das Cactus Corral gestern Nacht mit jemand anderem verlassen hat, so dass er gegen drei Uhr bei ihrer Wohnung aufgekreuzt ist. Dort hat er ihre Leiche gefunden und die Polizei gerufen. Keine sichtbaren Anzeichen von Gewaltanwendung. Die Todesursache konnte nicht festgestellt werden.“

„Hm.“ Weaver öffnete den Reißverschluss ihrer Umhängetasche. „Ist dieser Sanderson der, der Harlowe identifiziert hat? Mit ihm hat sie doch den Club verlassen, ja?“

„Richtig.“ Misstrauisch betrachtete Lily die Tasche. „Ich dachte, Sie benötigen keine Hilfsmittel? Dass der Zauber in Ihren Tattoos sei?“

„Da haben Sie richtig gedacht.“ Sie zog eine Thermosflasche hervor. „Heiße Schokolade. Wollen Sie?“

„Nein, danke. Ich habe Kaffee.“ Der mittlerweile wahrscheinlich kalt war. Lily nahm ihren Becher und nippte prüfend daran. Jawohl. Kalt.

„Ich kann nicht verstehen, wie man das Zeug trinken kann.“ Cynna schlürfte ihre Schokolade, die wirklich gut duftete. „Ich frage mich nur, warum Rule am Steuer sitzt. Ist nicht persönlich gemeint, Rule, es ist immer nett, was Hübsches zu sehen, aber du bist Zivilist. Weshalb kommst du dann mit?“

„Notfallsex“, sagte er seelenruhig.

Sie brach in Gelächter aus. „Yu, Sie bekommen Sonderleistungen, von denen ich gar nicht wusste, dass das Bureau sie anbietet. Ich bin richtig neidisch.“

Lily spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, und dankte dem Herrn für ihre Haut. Sie errötete nur innerlich. „Er ist ein ziviler Berater.“

Cynna schnaubte. „So nennt man das also. Ich dachte, er würde vielleicht für Sie den Bodyguard spielen. Jetzt, da Ihnen Harlowe doch Liebesbriefe hinterlässt.“

„Das auch“, sagte Rule. „Du weißt von der Nachricht?“

„Ja, ich hab’s gehört. Yu …“ Sie hielt inne. „Können wir uns duzen?“ Sie kramte wieder in ihrer Tasche und brachte dieses Mal einen Styroporbehälter zum Vorschein.

„Einverstanden.“ Eigentlich war sie es nicht, aber Lily war fest entschlossen, großzügig darüber hinwegzugehen. „Du sollst wissen, dass wir seit gestern Nacht noch mehr neue Informationen haben.“

„Nachdem du die Notaufnahme verlassen hast?“

„Ja. Seabourne hat mir einen Besuch abgestattet.“

„Den Typ muss ich kennenlernen. Ein Zauberer.“ Sie schüttelte den Kopf und öffnete den Behälter, in dem ein Bagel lag. „Schwer zu glauben, aber die Wirklichkeit ist manchmal tatsächlich unglaublich. Manche Menschen finden sogar mich unglaublich.“

„Er ist der Überzeugung, dass du Schwierigkeiten damit haben wirst, Harlowe zu finden. Dass der Stab ihn abschirmt.“

„Das werden wir erst wissen, wenn ich es versucht habe. Aber ich bin ziemlich gut.“ Sie nahm einen großen Bissen.

Lily versuchte, nicht sehnsüchtig auf Cynnas Bagel zu starren. Sie hätte selber etwas zu essen mitnehmen können … wenn sie je einkaufen gehen würde. „Er sagt auch, dass er in der Glaskugel nach ihm gesucht hat und ihn in … äh, in der Hölle gefunden habe.“

Das ließ Cynnas Augenbrauen in die Höhe schnellen. „Ist das wahr?“

„Ich glaube nicht, dass Seabourne sich das ausgedacht hat. Aber er weiß nicht, ob Harlowe jetzt dort ist, vor Kurzem dort war oder bald sein wird.“

„Wahrsagen mit Feuer, hä? Tja, das ist interessant.“ Sie leckte sich einen Krümel vom Daumen. „Passt ja zeitlich perfekt zu dem Dämon, der dich k. o. geschlagen hat.“

„Sieht so aus. Ich möchte dir gern eine Frage stellen.“

„Na, dann los.“ Sie nahm wieder einen Bissen.

„Wenn du etwas aufspüren oder sichten willst, musst du doch eine Verbindung mit dem Gesuchten herstellen, nicht wahr?“

„So funktioniert es.“

„Dann will ich, dass du Harlowe jagst, nicht den Stab. Ich glaube nicht, dass es gut wäre, wenn du eine Verbindung zu dem Stab herstellst. Er ist … unrein.“ Langsam verstand sich Lily besser darauf, die Tattoos zu lesen. Offenbar hielt Cynna nicht viel von Lilys Vorsicht. „Hast du schon einmal mit Todesmagie zu tun gehabt?“

Cynna runzelte die Stirn. „Nein. Das ist übles Zeug.“

Rule meldete sich zu Wort. „Der Stab stinkt danach.“

„Ach ja? Wonach riecht Todesmagie?“

„Fäulnis.“

Cynna sah ihren Bagel an und zog ein Gesicht. „Du verdirbst mir den Appetit.“

Rule lächelte. „Du bist empfindlicher geworden. Früher brauchte es dazu schon echte Verwesung. Nur davon zu sprechen hätte dir nichts ausgemacht.“

Cynna grinste seinen Hinterkopf an. „Ich hatte schon immer einen gesunden Appetit. Erinnerst du dich an die Nacht auf dem Dach?“

„Weaver“, sagte Lily und vergaß, dass sie schon beim Du gewesen waren.

„Ja?“

„Wollen Sie mich ärgern, oder sind Sie einfach so?“

Die Frau lachte. „Ich bin so, nehme ich an. Seid ihr beiden wirklich zusammen? So ganz exklusiv?“

„Ja. Ganz wirklich.“

„Hmmm.“ Sie sah auf die Reste ihres Bagels. Für einen Moment war ihr eigenartiges, auffallendes Gesicht ausdruckslos. „Was ist dieser Seabourne für ein Typ?“

„Er nervt, genau wie du. Und er sieht unglaublich gut aus.“

„Ich muss ihn wirklich kennenlernen.“ Sie steckte sich den letzten Bissen in den Mund, kaute und sagte dann: „Du musst dir keine Sorgen machen, dass ich ‚unrein‘ werden könnte, wenn ich etwas sichte, das mit dem Stab verbunden ist. Ich habe alle möglichen Schutzzauber auf mir. Wenn ich sichte, dann setze ich die Muster von meiner Haut ein. Die Energie dringt nicht darunter.“

Das hörte sich ein bisschen nach dem an, was Lily empfand, wenn sie Magie berührte. Sie fühlte ihre Beschaffenheit, aber die Magie selber glitt von ihr ab wie ein Wassertropfen an Fett. Aber Cynna blieb nicht ganz unberührt, anders als sie selbst. „Deine Haut ist ein Teil von dir. Ich will nicht, dass du versuchst, den Stab zu finden.“

Cynna zuckte mit den Achseln. „Harlowe ist sowieso ein besseres Ziel.“

War sie jetzt einverstanden, oder wich sie nur aus? Lily sprach eine letzte Warnung aus. „Auch Karonski hat einen guten Schutz. Und Helen gelang es trotzdem ohne Probleme, ihn zu durchbrechen. Sie konnte nicht an Seabournes Schilden vorbei, um seine Gedanken zu kontrollieren, aber sie war trotzdem in der Lage, den Stab gegen ihn einzusetzen. Er hat ihm unerträgliche Schmerzen bereitet.“

„Worauf willst du hinaus?“

„Sie konnte mit dem Stab töten. Sie hat es bei mir versucht, aber er hatte keine Wirkung auf mich.“

„Weil du eine Sensitive bist. Das habe ich verstanden.“

„Ich hoffe, dass du auch verstehst, dass Harlowe nicht einfach wie jeder andere verhaftet werden kann. Ich bin die Einzige, der der Stab nichts anhaben kann, also gehe ich allein, wenn wir ihn gefunden haben.“

Cynna schnaubte. „Du bist vielleicht gegen den Stab immun, aber es gibt auch andere Arten, wie man zu Tode kommen kann.“

„Sie wird nicht alleine gehen“, sagte Rule grimmig.

„Zehn Meter entfernt und außer Sichtweite.“

„Das ist zu weit weg. Cullen sagte, dass Helen bis auf fünf Meter an ihn herankommen musste, damit der Stab wirken konnte.“

„Cullen ist ein Zauberer. Was für ihn sicher ist, muss nicht zwangsläufig auch für andere zutreffen. Nicht, dass ich davon überzeugt bin, dass er weiß, was Sicherheit überhaupt bedeutet“, fügte sie hinzu, als ihr einfiel, dass er davon gesprochen hatte, mit schwarzem Feuer zu experimentieren.

„Warum bist du so verdammt besorgt um die Sicherheit aller, nur nicht um deine eigene?“

„Es geht doch auch um meine Sicherheit! Ich muss sicher sein können, dass die Leute um mich herum nicht beherrscht werden von …“

„Das hatten wir bereits. Harlowe kann keine Gedanken lesen. Also kann er auch unsere nicht kontrollieren.“

„Wir wissen nicht, wozu er imstande ist. Wenn du nicht so hartnäckig …“

„Aufhören!“, rief Cynna. „Wenn ihr beide euch nicht vertragen könnt, dann müsst ihr auf eure Zimmer.“

Einen Augenblick später sagte Rule trocken: „Ohne Mittagessen?“

„Nur wenn ihr mir nicht sagt, worüber ihr euch streitet.“

Lily holte tief Luft. „Na gut.“ Wenigstens kannte sie dieses Mal den Grund für ihren Streit. „Das Problem ist, dass wir nur Vermutungen über den Stab anstellen können. Wir verfügen nicht über wirkliche Fakten.“

„Aus dem, was du gesagt hast, schließe ich, dass er töten kann, furchtbare Schmerzen zufügt und Gedanken beeinflusst.“

Rule antwortete. „Töten, ja. Schmerzen, auch. Aber Gedankenkontrolle … wahrscheinlich nicht, wenn Harlowe ihn benutzt. Lily und ich sind in diesem Punkt unterschiedlicher Meinung“, fügte er erklärend hinzu. „Ich glaube, dass der Stab die natürlichen Gaben dessen verstärkt, der ihn einsetzt. Vorausgesetzt, er hat welche. Helen war eine Telepathin, und Harlowe ist keiner.“

„Dagegen sage ich ja nichts“, sagte Lily ungeduldig. „Aber Helen hatte keine Gabe, die sie dazu befähigte, jemanden aus der Entfernung zu zerstückeln. Das kam allein von dem Stab. Und wir wissen nicht, was er noch alles kann!“

„Vielleicht ist seine Macht ja grenzenlos, und der Präsident und ein Großteil des Kongresses werden bereits von Harlowe beherrscht. Lily, wir können nicht jede Möglichkeit in Betracht ziehen, auch wenn du es gern hättest.“

„Wir treffen die Vorsichtsmaßnahmen, die angebracht sind. Zehn Meter sind angebracht.“

„Für dich vielleicht.“

„Ich bin die Verantwortliche.“

„Wir dürfen nicht abstimmen? Und ich dachte, du wärst Demokratin aus Überzeugung.“

Lily verkniff sich die hitzige Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Sie hatten Cynna schon genug mit ihren Kabbeleien unterhalten.

Wie hatten sie so schnell nach der letzten Nacht wieder aneinandergeraten können? Es lag daran, dass sie aus verschiedenen Welten kamen, vermutete sie. Sie zerrte blind eine CD heraus und rammte sie in den CD-Player. Um dann sofort die Lautstärke herunterzudrehen.

Sie hatte keine Zeit, um über ihr kompliziertes Liebesleben nachzudenken. Stattdessen fragte sie Cynna Weaver, wie ihre Gabe funktionierte, und schaffte es tatsächlich, dabei nicht über Altersunterschiede und Alpträume nachzudenken und darüber, was Rule vor vielen Jahren an dieser Frau anziehend gefunden hatte.