30

Eine Woche später stand Lily am Flughafen und wartete auf Cullen. Eigentlich hatte Cynna ihn abholen sollen, aber sie war im Norden des Bundesstaates und suchte in den Wäldern nach einem vermissten Kind. Dagegen konnte Lily schlecht Einwände erheben, aber Cynnas Abwesenheit weckte in ihr das ungute Gefühl, dass ihr Plan zum Scheitern verurteilt war.

Oder vielleicht lag es auch an ihr. Sie musste sich zusammenreißen.

Cullen war am Tag zuvor nach New Orleans geflogen. Zu Forschungszwecken, hatte er behauptet, sich aber geweigert, ihr zu sagen, was er sich davon erhoffte. „Schließlich bist du immer noch Polizeibeamtin, Liebes“, hatte er mit einem aufreizenden Lächeln gesagt.

Eine Polizeibeamtin, die heimlich plante, ein Höllentor zu öffnen. Sie rückte den Riemen ihrer Handtasche auf der Schulter zurecht und ließ den Blick suchend über die Gesichter der ankommenden Passagiere schweifen. Sie hatte wohl kaum das Recht, seine Methoden zu kritisieren.

Es war eine lange Woche gewesen.

Bevor Cynna abgereist war, hatten sie drei kleine Netzknoten ausfindig gemacht, die sich im Umkreis von ein paar Kilometern um die Stelle herum befanden, an der sowohl sie als auch Lily Rule vermutet hatten. Jetzt bewegte er sich nicht mehr so viel, das machte die Sache einfacher.

Gerade jetzt befand er sich an einem Ort, der circa drei Kilometer im Meer hinaus lag. Das war alles andere als beruhigend. In Dis war diese Stelle aber möglicherweise trocken. Sie hoffte es. Aber ein aufblasbares Boot würde sie doch mitnehmen – für alle Fälle.

Immer vorausgesetzt, dass es ihnen überhaupt gelänge, das Tor zu passieren. Bei den Rhejs schien es nicht voranzugehen. Hannah sagte immer wieder, dass es Zeit brauche, den Willen der Dame herauszufinden, aber Rule hatte vielleicht keine Zeit mehr. Sie wussten nicht … Oh, da kam Cullen. Endlich.

Die Reisetasche über der Schulter, hatte er den Arm um eine dunkelhaarige Frau gelegt – um die vierzig, weiß, mit üppigen Kurven –, die ein klassisches Kostüm trug, das irgendwann einmal frisch gebügelt gewesen war. Lily presste die Lippen aufeinander.

Er sah Lily, flüsterte der Frau etwas ins Ohr und gab ihr einen Kuss. Als er ging, sah Lily sie seufzen.

„Was waren denn das für Forschungen, für die du unbedingt nach New Orleans fliegen musstest?“, fragte sie, als er vor ihr stand.

„Ganz locker“, sagte er. „Lorene und ich haben im Flugzeug nebeneinander gesessen. Ich habe bekommen, was ich wollte.“ Er klopfte auf seine Tasche, zufrieden mit sich.

„Und was war das gerade eben?“ Sie begann, durch die Wartehalle zu gehen.

Er ignorierte ihre Frage. Stattdessen stellte er selber eine. „Wo ist Cynna?“

Sie sagte es ihm, wobei sie auf Zeichen von Enttäuschung oder Erleichterung in seiner Miene achtete. Obwohl es zwischen ihnen schon länger knisterte, und zwar ganz schön heftig, waren er und Cynna nicht bei der ersten Gelegenheit im Bett gelandet. Wahrscheinlich schafften sie es nicht, lange genug mit Streiten aufzuhören, vermutete sie.

„Ist sonst noch etwas passiert, während ich fort war? Beratschlagen die unheimlichen alten Fledermäuse noch?“

„Hannah sagt, sie überprüfen den Willen der Dame durch Rituale. Drei Mal, wie es die Regel verlangt. Aber wie lange kann denn so etwas dauern? Sie sind nun schon sieben Tage damit beschäftigt.“ Die Tage waren nicht das Problem. Das Schlimmste waren die Nächte, wenn sie fast verrückt wurde. Sie schlief schlecht. „Sie versuchen, sich selbst davon zu überzeugen, dass die Dame nicht das will, was sie doch eigentlich wollte. ‚Hol ihn zurück.‘ Das hat sie zu Hannah gesagt. Das ist doch wohl deutlich genug.“

Er bedachte sie mit einem undurchdringlichen Blick. „Du beginnst zu akzeptieren, dass die Dame wirklich existiert, nicht wahr?“

Ungeduldig zuckte sie mit den Achseln. „Vielleicht. Sie glauben, dass sie existiert. Warum hören sie dann nicht auf Hannah?“

„Süße, diese Frauen lassen den Papst aussehen wie einen Revolutionär. Sie hassen alles, was auch nur um Haaresbreite von der Tradition abweicht.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich nehme an, wenn man so viel Vergangenheit mit sich herumschleppt, ist man wohl unweigerlich vom Status quo besessen.“

„Tja, und wenn der Status noch mehr quo wird, bewegen wir uns rückwärts.“

„Ist Hannah immer noch davon überzeugt, dass Cynna ihre Nachfolgerin ist?“, fragte er, als sie an der Rolltreppe ankamen.

„Ja.“ Sie folgte ihm. „Und Cynna geht das mächtig auf die Nerven. Ich kann es ihr nicht verdenken. Hannah gibt ihr ständig Anweisungen.“

Cullen lachte auf. Zwei Frauen, die die Rolltreppe hochkamen, verschlangen ihn praktisch mit ihren Blicken. „Da wäre ich gern dabei.“

„Das wirst du auch wahrscheinlich sein. Wenn Cynna widerspricht, lächelt Hannah nur und sagt, dass Cynna von der Dame berührt wurde und sie es sich schon noch anders überlegen würde, wenn die Zeit gekommen sei. Als wenn Cynna einfach so ihren Glauben ändern könnte.“

„Es ist kein Glaube.“

„Was?“ Sie verließ hinter ihm die Rolltreppe.

„Der Dame zu dienen. Es hat zwar etwas Religiöses, oder kann es haben, aber es ist kein Glaube. Cynna könnte katholisch bleiben, wenn sie es wollte.“

„Du siehst da vielleicht kein Problem, aber ich fürchte, die Kirche könnte anderer Meinung sein.“ Sie sah ihn missbilligend an. „Du hörst dich an, als wolltest du, dass sie sich dafür entscheidet. Dass sie bei Hannah in die Lehre geht.“

Er zögerte und sagte dann bedächtig: „Hannah ist achtzig Jahre alt. Das ist alt für einen Menschen, selbst wenn er im Clan geboren ist. Seit Jahren redet man darüber, dass sie keine Nachfolgerin hat. Sie hatte mal eine, doch die ist bei dem Unfall umgekommen, in dem Hannah ihr Augenlicht verloren hat. Das war vor mehr als dreißig Jahren.“ Er sah Lily an. „Die Nokolai brauchen eine Rhej.“

Sie fühlte sich merkwürdig enttäuscht. Er sollte, verdammt noch mal, ihre Empörung teilen. „Das ist nicht Cynnas Problem. Außerdem dachte ich, du könntest die Rhejes nicht leiden.“

Cullen blieb stehen. Er ließ seine Tasche zu Boden gleiten.

„Was ist denn?“, fragte sie und spähte an ihm vorbei. Am liebsten hätte sie ihre Waffe gezogen. „Was hast du?“

„Ich hab nichts. Aber du.“ Er trat hinter sie und legte die Hände auf ihre Schultern.

Sie zuckte zusammen und drehte sich herum, um ihn anzusehen. „Bist du verrückt geworden? Was hast du vor?“

„Ich massiere dich.“ Er stellte sich wieder hinter sie. „Du stehst so unter Strom, dass du noch jemanden erschießt, nur weil er dich angerempelt hat. Und wenn du keinen Sex willst“, sagte er und knetete ihre Schultern, „dann muss es eben eine Rückenmassage tun.“

„Hier?“ Aber sie hielt still. Seine Finger drückten genau die richtigen Stellen. Muskeln lösten sich, von denen sie nicht bemerkt hatte, wie verspannt sie gewesen waren.

„Hier. Wo ganz viele Menschen um uns herum sind und du dir keine Sorgen darüber machst, was ich als Nächstes mit meinen Händen anstelle. Dies ist eine vollkommen unerotische Massage.“

Sie glaubte nicht daran, dass Cullen irgendetwas Unerotisches tun konnte, und wenn sein Leben davon abhinge. Aber sie musste ihm zugestehen, dass er nicht versuchte, sie zu verführen. Und … es tat ihr gut. Seine Daumen beschrieben Kreise auf ihrem Nacken, und es fühlte sich an, als liefe warmes Öl ihre Muskeln entlang. Sie ließ auch innerlich los.

„Verdammt, du fühlst dich nicht gut an. Das ist natürlich streng unerotisch gemeint“, fügte er hastig hinzu.

„Halt den Mund, Cullen.“ Aber sie musste gegen ihren Willen lächeln.

„Hast du mal Sport gemacht? Das macht nicht ganz so viel Spaß wie Sex, ist aber auch gut gegen Stress.“

„Na sicher. Mit einer M16.“

„Ah, da erkenne ich Benedicts Handschrift wieder. Aber es geht ihm wohl noch zu schlecht, um dich selbst zu trainieren, oder?“

„Jeff hat mich und Cynna auf Herz und Nieren geprüft.“

Sie hatte Benedict aufgesucht, um ihre Taktik mit ihm durchzusprechen und ihn um Schusswaffen zu bitten. Die Nokolai hatten ein geheimes Waffenlager, das die Polizistin in ihr in Angst und Schrecken versetzt hatte. Doch kam es ihr jetzt sehr gelegen. Sie und Cynna würden eine M16 bei sich tragen, Cullen bekam Benedicts Maschinengewehr. Er würde auch die Panzerfaust tragen, und jeder von ihnen würde Handgranaten einstecken.

Auch bei ihren Listen hatte ihr Benedict geholfen.

Wie groß das Tor sein würde, konnten sie erst mit Sicherheit sagen, wenn Cullen das Ritual berechnet hatte, möglicherweise sogar erst, wenn er es ausgeführt hatte. Die Masse war nicht das Problem, sagte er ihr, sondern die Größe. Sie hatte nicht so getan, als verstünde sie, was er sagte, aber sie und Benedict hatten Listen mit Ausrüstungsgegenständen und Waffen ausgearbeitet, damit sie auf jede mögliche Situation vorbereitet waren.

Was sollten sie mitnehmen, wenn nur sie, Cullen und Cynna durchkamen? Oder falls sie entweder zwei zusätzliche Personen oder eine Person und die Panzerfaust mitnehmen konnten, wen sollten sie zurücklassen? Oder falls – oh, richtig. Noch hatte sie Cullen nichts von dieser weiteren Variante erzählt. „Er wollte, dass ich Max bitte, uns zu begleiten.“

„Max?“ Seine Finger hielten inne. Er lachte leise. „Ich hätte gern sein Gesicht gesehen, als du ihn eingeladen hast, mit uns in die Hölle zu kommen.“

Max war der Besitzer des Club Hell, wo Cullen als Tänzer auftrat. Er war klein, aufbrausend und hatte ein dreckiges Mundwerk. Und er war ein Gnom. Auch wenn das fast niemand wusste.

„Und warum ausgerechnet Max?“ Er wanderte mit den Knöcheln ihre Wirbelsäule hinauf und hinunter. „Er kann doch gar nicht mit Waffen umgehen.“

„Aber er kann kämpfen, und er ist kleiner als ein Lupus. Und Benedict sagt, dass Gnome immun gegen Dämonenmagie sind. Zumindest können sie durch diese Magie zu nichts gezwungen werden.“

Cullen grunzte spöttisch. „Das halte ich für ein Gerücht.“

„Benedict ist nicht der Typ, der taktische Entscheidungen aufgrund von Gerüchten trifft. Willst du ihn fragen?“

„Klar. Er wird mir nicht antworten, aber ich frage ihn trotzdem.“ Er drückte ihre Schultern ein letztes Mal. „Besser?“

In der Tat, sie fühlte sich besser. Sie rollte die Schultern und nickte. „Danke.“

„Das habe ich eher aus Selbstschutz gemacht.“ Er hängte sich seine Tasche wieder über die Schulter.

„Was soll das heißen?“ Sie lief neben ihm her.

„Wenn du so angespannt bleibst, drehst du noch durch und bringst uns alle um. Wenn wir einmal durch das Tor sind, können wir nicht alles ausdiskutieren. Du wirst diejenige sein, die die Entscheidungen trifft.“

Sie schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich unbehaglich, ohne genau zu wissen warum. „Ich kenne mich am wenigsten von uns allen aus. Du oder Cynna, einer von euch sollte das Kommando übernehmen oder Leitwolf sein oder wie du es nennen willst.“

„Oberzicke?“ Er grinste, als sie ihn strafend ansah. „Nein, das musst du tun. Cynna hat keine Erfahrung darin, die Verantwortung zu übernehmen, und ich bin dazu nicht genug Alpha.“

Sie schnaubte ungläubig. „Oh ja, ich habe schon bemerkt, wie unterwürfig du bist.“

„Ich bin gern oben, aber ich versuche, flexibel zu sein. Es gibt auch viele andere tolle Positionen. Zum Beispiel …“

„Cullen.“

Er ließ ein Grinsen aufblitzen. „Schon verstanden. Alpha heißt nicht nur, dass man das Kommando haben will. Damit käme ich gut klar. Ein echter Alpha … komisch. Ich habe noch nie versucht, es in Worte zu fassen, aber ich weiß, dass ich keiner bin.“

Sie hatten die automatische Tür erreicht, die nach draußen führte. Sie ging als Erste hindurch. „Also gibt es einen Unterschied zwischen einem echten Alpha und einem alten Alpha?“

„Ja“, sagte er entschieden. „Du verstehst unter Alpha etwas anderes als die Lupi. Für dich ist er eine Art Macho, jemand, der andere dominieren will. Wir meinen damit aber jemanden, der sich nicht dominieren lässt. Ein kleiner, aber feiner Unterschied. Schlägertypen müssen andere dominieren, lassen sich aber einschüchtern, wenn du härter bist als sie.“

Sie nickte und blinzelte in die Sonne. Wo …? Oh, ja. „Ich habe in Abschnitt C geparkt. Aber da gibt es doch noch mehr, oder nicht?“, fragte sie, als sie sich durch die wartenden Taxis hindurchschlängelten. „Denn wenn du mich fragst, hast du es auch nicht schlecht drauf, dich nicht dominieren zu lassen.“

„Schön, dass du das bemerkt hast. Ob da noch mehr ist …“ Er schüttelte den Kopf und verfiel in Schweigen, als sie über den Parkplatz liefen.

Lily ließ das Thema fallen. Warum fühlte sie sich nicht wohl bei dem Gedanken, das Kommando zu übernehmen, sobald sie durch waren? Es lag nicht nur an ihren mangelnden Kenntnissen. Sie fühlte sich … schuldig, gestand sie sich ein. Ihr wurde ein wenig übel. Sie fragte sich, ob die anderen wirklich gut daran taten, ihr ihr Leben anzuvertrauen. Dass sie bereit war, es aufs Spiel zu setzen, hatte sie doch bereits bewiesen, indem sie sie mit in diese Sache hineingezogen hatte.

Und da war noch die Art, wie sie wieder zu Kräften kam. Oder besser, nicht zu Kräften kam. Die Brandwunde sah besser aus, aber sie wurde immer noch so verflucht schnell müde. Sie machte sogar mitten am Tag ein Nickerchen, um Himmels willen. Das war nicht normal. Wenn sie nicht …

„Rule hat es.“

„Es?“ Er hatte ihr einen Schrecken eingejagt. „Was hat er?“

„Die Alpha-Eigenschaft. Den Teil, den ich nicht habe. Und Benedict. Mick nicht.“

Der Bruder, der gestorben war. „Mick habe ich nicht richtig gekannt. Er war bereits unter Helens Herrschaft geraten, als wir uns begegnet sind. Seine wahre Persönlichkeit habe ich nie kennengelernt.“

„Der wahre Mick war nicht das Scheusal, das du kennengelernt hast, aber er war auch alles andere als ein Engel. Er wollte der Lu Nuncio werden. Diesen Wunsch hatte ihm nicht Helen eingepflanzt. Sie profitierte nur davon. Wohin jetzt?“, fragte er, als sie bei Abschnitt C angekommen waren.

„Da lang.“ Sie war sich fast sicher, dass sie auf den richtigen Gang zeigte.

Cullen folgte ihr. „Mick hat sich immer eingeredet, dass er besser für die Nokolai gewesen wäre als Rule. Dabei ging es eigentlich nur darum, was er für sich wollte. Oder was er nicht wollte. Er hasste die Vorstellung, sich seinem jüngeren Bruder unterordnen zu müssen. Isen wusste das. Deswegen hat er Mick nicht zum Thronfolger ernannt.“

„Isen hat es auch“, sagte er, offenbar ebenso zu sich selber wie zu ihr. „Isen ist ein skrupelloser Mistkerl, aber nur, wenn es um die Belange seines Clans geht. Oder manchmal auch zum Wohle aller Lupi, in allen Clans. Ein echter Alpha denkt instinktiv zuerst an den Clan. Das tue ich nicht. Ich kann es“, sagte er mit einem leichten Lächeln, „aber nur, wenn ich mich anstrenge. Bei Rule geschieht das automatisch.“

Ja, das stimmte. Lily wurde die Kehle eng. Sie nickte und unterdrückte die Tränen. „Hier ist mein Wagen“, sagte sie unnötigerweise und entriegelte die Türen per Fernbedienung.

„Du hast es auch.“

„Ich?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin vielleicht eine Oberzicke. Aber ich denke nicht instinktiv als Erstes an den Clan. Die meiste Zeit denke ich gar nicht daran, dass ich zum Clan gehöre.“

„Das meinte ich nicht. Wenn du das Kommando hast, wenn wir auf der anderen Seite sind, wirst du immer zuerst an die Gruppe denken, nicht an deine eigenen Bedürfnisse. Du kannst nicht anders. So wie jetzt“, sagte er, öffnete die Wagentür und warf seine Tasche hinein. „Du willst mir etwas beichten. Du hast Angst, dass du mich eventuell opfern wirst, um Rule zu retten.“

Sie starrte ihn an. „Und du findest, dass mich das zu einer guten Anführerin macht?“

Er lächelte und tätschelte ihre Wange. „Ganz genau, Liebes.“ Er stieg ein und zog die Tür zu.

Verblüfft den Kopf schüttelnd, ging sie um den Wagen herum zur Fahrerseite.

Erst als sie mitten im dichten Verkehr auf der I-5 waren, ergriff er wieder das Wort. „Ich habe dir nicht gesagt, warum ich nach New Orleans geflogen bin.“

„Das ist mir nicht entgangen“, sagte sie trocken.

„Ich musste etwas überprüfen, das ich in verschiedenen Quellen über Dis gelesen hatte. Keine sicheren Quellen, muss ich dazu sagen. Die einzigen Zauberbücher, auch Grimoires genannt, die sie während der ‚Säuberung‘ nicht verbrannt haben, waren wertlos – Fiction gemischt mit Fantasy und gespickt mit ein paar vereinzelten Fakten, wahrscheinlich nur durch Zufall. Kaum zu glauben, wie viel Unsinn auf diese Weise von einem mittelalterlichen Dilettanten an den anderen weitergegeben wurde. Ein Fantast dachte sich etwas aus, um sich wichtigzumachen, und die anderen haben es brav aufgezeichnet.“

„Das hast du mir schon mal erzählt.“ Mehrfach.

„Ach ja?“ Er warf ihr einen Blick zu und sah dann wieder nach vorne. „Deswegen musste ich mich noch einmal vergewissern. Der Text, den ich einsehen wollte, ist bei Weitem zuverlässiger als die meisten anderen. Aber er, äh … war nicht verfügbar. Aber ich konnte eine Kopie der betreffenden Seiten kaufen. Allein das kostet ein kleines Vermögen“, fügte er hinzu, „aber Isen hat es bezahlt.“

„Ich nehme an, das …“ Ihr Handy klingelte. „Reichst du mir mal mein Telefon?“

Er fischte es aus ihrer Handtasche und gab es ihr.

„Ja?“ Während sie lauschte, begann ihr Herz heftig zu schlagen. „Ja. In Ordnung. Sag Cynna … nein, ich rufe sie selber an. Weißt du, wann sie … warte, ich nehme einen Stift.“

Aber Cullen war schneller. Sie wiederholte laut die Informationen, und er notierte die Flugnummern.

„Ich hab’s“, sagte sie. „Wir holen die Kanadierin ab. Sag Isen, er soll jemanden für die andere schicken, damit wir … Richtig. Später.“

Sie legte auf und schenkte Cullen ein Lächeln, das ihre Anspannung verriet. „Hast du mitgehört?“

Seine Augen blitzten genauso vor Erregung wie ihre. „Die unheimlichen alten Fledermäuse kommen.“

„Zwei von ihnen zumindest. Hannah sagt, das sind die beiden, die entscheidend sind. Sie verfügen über die anderen Teile des Rituals. Sie haben zugestimmt, uns diese Erinnerungen nach ihrer Ankunft mitzuteilen, aber sie müssen während des Rituals anwesend sein.“

Endlich würde es losgehen. Sie würden es tun. „Ich fahre zum Club Hell. Die Erste kommt in drei Stunden an. In der Zwischenzeit können wir mit Max sprechen und sie dann am Flughafen abholen.“

„Er wird nicht mitmachen.“

„Wir müssen es wenigstens versuchen. Hier.“ Sie hielt ihm ihr Handy hin. „Versuch, Cynna zu erreichen. Wir müssen wissen, wann sie zurückkommen kann.“

Ein paar Minuten später gab sie einen Seufzer der Erleichterung von sich, als Cullen ihr von seinem kurzen Gespräch mit Cynna berichtete. Sie hatte den Jungen aufgespürt – lebend, Gott sei Dank – und befand sich nun am Flughafen von Sacramento, auf der Warteliste für den nächsten Flug zu ihnen.

Lilys ganzer Körper stand unter Strom, als sie im Geist ihre Listen durchging. Was hatte sie nicht erledigt? Woran hatte sie nicht gedacht?

„Lily.“

„Hm?“

„Ich habe dir noch nicht zu Ende berichtet, was ich in New Orleans herausgefunden habe.“

„Oh, richtig.“ Das hieß, es war wichtig. „Was hast du denn herausgefunden?“

„Es gibt keinen Mond in Dis.“

Sie wartete. Als er nicht fortfuhr, fragte sie. „Und das heißt …?“

„Rule ist als Wolf hindurchgegangen. Er wird sich nicht wandeln können.“

Die Stirn nachdenklich gerunzelt, nickte sie. Sie verstand immer noch nicht, warum er so ernst war.

„Weißt du denn immer noch so wenig über uns? Mittlerweile denkt er möglicherweise nicht mehr wie ein Mensch, sondern wie ein Wolf. Er wird uns immer noch erkennen, aber vielleicht wird er nicht verstehen, was wir ihm sagen.“ Er atmete scharf aus. „Er wird dir trotzdem folgen. Du bist seine Gefährtin, also wird er mit dir durch das Tor gehen.“

Das hörte sich nicht gut an, konnte aber nicht der einzige Grund sein, warum Cullens unverschämt schönes Gesicht auf einmal so angespannt aussah. „Was noch?“

„Wenn er zu lange in der Wolfsgestalt war, wird er seine Menschenpersönlichkeit verloren haben. Er wird sich nicht mehr zurückwandeln können.“

Ihr Mund wurde trocken. „Es ist doch erst eine Woche her. Eine Woche und einen halben Tag.“

„Ja, hier. Ich sagte doch, dass die Zeit sich in anderen Welten anders verhält als hier bei uns. In Dis vergeht sie ganz unregelmäßig. Für Rule ist vielleicht nur ein Tag vergangen. Oder eine Woche … oder ein Monat. Ein Monat“, sagte er sanft, „wäre zu lange.“

Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen. Sie musste widersprechen. Was er sagte, war dumm. So verhielt sich Zeit nicht, sie sprang nicht nach Belieben hin und her. Aber als sie seine düstere Miene sah, überkamen sie Zweifel … und mit den Zweifeln Hoffnungslosigkeit.

Also blickte sie geradeaus. Nach einer Weile wiederholte sie ihr Mantra. „Er ist am Leben. Rule ist noch am Leben.“ Und dieses Mal konnte sie hinzufügen: „Und wir holen ihn zurück.“