9
Von Zeit zu Zeit brüllte die Menge – ein vielkehliges Tier, das ohne Unterlass grollte. Tief unter ihnen waren die Ballspieler in ihren weißen Trikots deutlich vor dem lichtüberfluteten Rasen zu erkennen.
Dort unten sah alles so sauber und ordentlich aus. Aber sie war hier oben, mitten in der entfesselten Menge. Und sie war in Gefahr.
Lilys Herz hämmerte ununterbrochen. Sie rannte zwischen den großen Erwachsenen hin und her, auf der Suche nach ihrer Mutter. Sie hatte sie verloren, als sie nach ihrer Großmutter Ausschau gehalten hatte.
Ihre Mutter würde schrecklich wütend sein. Lilys Magen zog sich ängstlich zusammen. Lauf nicht weg, sagte sie immer. Rede nicht mit Fremden, quengle nicht, sitz still und sei ein braves Mädchen, und lauf nicht weg.
Es war sehr, sehr langweilig, ein braves Mädchen zu sein. Aber vielleicht doch besser, als verloren zu gehen.
Das Tier brüllte wieder, und hier und da sprang einer auf. Popcorn flog, Fäuste wurden geschwungen, und Lautsprecher hämmerten blecherne Musik über die Zuschauer. Lily schluckte und versuchte, sich an einem extrem dicken Mann vorbeizudrängen, der nach Bourbon stank. Lily hasste den Geruch von Bourbon. Er erinnerte sie an Onkel Chen, wenn er böse wurde und anfing zu schreien. Meistens schrie er seine Söhne an, nicht sie, aber trotzdem hasste sie ihn dann.
Ihre Mutter hatte noch nicht gemerkt, dass ihre Großmutter verschwunden war. Lily hatte versucht, es ihr zu sagen, aber sie hatte nicht zugehört. Sie hörte nie zu. Deswegen lag es jetzt an Lily, die Großmutter zu finden.
Irgendwo musste sie ja sein. Ihretwegen gingen sie zu diesen blöden Ballspielen. Ihre Großmutter mochte sie. Also musste sie hier sein. Lily musste sie nur noch finden, und alles wäre wieder gut.
Vielleicht hatte das Tier sie verschlungen. Die Großmutter war nicht sehr groß. Nicht so klein wie Lily, aber auch nicht so groß wie die anderen Erwachsenen.
Nein, sagte sich Lily. Das war ein dummer Gedanke. Nichts und niemand konnte die Großmutter fressen. Wenn das Tier es versuchen würde, dann würde sie ihm einfach befehlen, sie in Ruhe zu lassen. Und das Tier würde gehorchen. Die Großmutter war vielleicht klein, aber nur klein von Wuchs. Eigentlich war sie nämlich sehr groß.
Genauso wie ihr Geheimnis. Darüber sollten sie eigentlich nicht sprechen, auch nicht untereinander. Es war nicht dasselbe Geheimnis, das Lily hatte, auch wenn sie beide mit Magie zu tun hatten. Die Leute mochten keine Magie, und deswegen hatten brave Mädchen auch nichts damit zu tun. Und wenn sie nichts dagegen tun konnten, so wie Lily, wenn sie etwas berührte, an dem Magie haftete, dann war es besser, nicht darüber zu reden.
Lily schniefte. Erwachsene hatten immer so blöde Regeln. Vor allem ihre Mutter. Ihre Mutter war vollgestopft mit Regeln, und die meisten waren dumm. Gerade jetzt wünschte Lily, sie hätte einen tollen Zauber, der alle anderen verschwinden ließ, damit sie ihre Großmutter wiederfand.
Sie spürte Unbehagen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Diese ganze Szene war falsch. Warum dachte sie an Erwachsene, als wäre sie noch ein kleines Mädchen? Sie war …
Plötzlich begann das Tier näher auf sie zuzurücken, als sei sie ein Splitter, den es aus seinem Leib herauspressen wollte. Das Atmen wurde ihr schwer. Lily stieß mit aller Kraft gegen diese Beine und den großen, erdrückenden Körper. Sie schaffte es, sich zu befreien, wie eine zarte kleine Traube, die man aus ihrer Haut drückt.
Keuchend stand sie still und sah sich nach ihrer Großmutter um. Oder ihrer Mutter. Irgendjemandem, der ihr …
„Brauchst du Hilfe, kleines Mädchen?“ Eine Hand legte sich von hinten auf Lilys Schulter, und sie zuckte zusammen. Die Stimme erschreckte sie, obwohl das, was sie sagte, freundlich war. Sie war hoch und süß und kalt … so kalt … „Hast du dich verlaufen?“
Die Hand packte fester zu. Sie tat ihr weh. Lily schrie auf und versuchte, sich loszureißen, aber noch eine Hand griff nach ihr und drehte sie langsam herum. Lily wehrte sich. Sie wollte nicht sehen, wollte nicht …
Dieses Gesicht – dieses lächelnde, hübsche Frauengesicht, umrahmt von weichem blondem Haar, und diese Augen, leer wie die einer Puppe –, Lily kannte dieses Gesicht. Diese Augen. „Nein!“, schrie sie. „Nein. Du bist tot. Das weiß ich. Ich habe dich getötet!“
„Ich werde dich auffressen“, sagte die lächelnde Frau. „Und dann bist du auch tot. Dann sind wir beide tot.“
„Nein!“
„Für immer vereint …“ Sie bückte sich, kam immer näher.
„Nein, nein, nein! Du bist tot. Ich will, dass du tot bist – tot, tot, tot.“ Als die Finger der Frau sich tiefer in ihre Schulter gruben und ihr Gesicht immer näher kam, schloss Lily die Augen und wünschte sich den allerbesten Zauber herbei, einen, der die lächelnde Frau für immer töten würde.
Und auf einmal saß sie auf der anderen Frau, die auf dem Rücken lag. Sie war kein kleines Mädchen mehr. Und sie schlug den Kopf der Frau auf den kalten Steinboden, schlug und schlug, immer und immer wieder. Blut und eine graue Masse tröpfelten aus dem zertrümmerten Schädel, den sie mit beiden Händen umklammert hielt, und weiße Knochensplitter glänzten in ihren Haaren. Und das stimmte einfach nicht. Das war so ja gar nicht passiert. Aber jetzt passierte es, und die Frau lächelte nicht mehr, und ihr Haar … es war nicht mehr blond, wie eben noch. Es war … es war …
Lily hielt inne. Entsetzen überkam sie.
Die Augen der Frau blinzelten. Und dann sah ihre Mutter zu ihr hoch. Es war der Schädel ihrer Mutter in ihren Händen, das schwarze Haar ihrer Mutter, in dem Blut schimmerte und Gehirnmasse klebte.
„Du hast mich getötet“, sagte sie.
Lily wachte auf, als sie versuchte, zu schreien.
„Schscht, Lily … Lily … Liebling. Alles ist gut. Du bist in Sicherheit.“
Rule. Es war Rule, der auf sie hinunterblickte, und seine warme, schützende Hand, die auf ihrer Schulter lag. Die verletzte Schulter schmerzte, als habe Helen tatsächlich ihre Finger hineingegraben. Sie war erwachsen, kein Kind mehr, und Helen war tot. Wirklich und wahrhaftig tot.
Stockend holte Lily Luft. „Ein schlimmer Traum“, flüsterte sie.
Seine Stimme war leise, tief – der pure Mann. Sie beruhigte sich. „Möchtest du ihn mir erzählen?“
Sie schüttelte den Kopf, unfähig, das Entsetzen in Worte zu fassen. Was hatte es für einen Sinn, darüber zu sprechen? Sie wollte nichts weiter, als dass die erdrückenden Schuldgefühle aufhörten. Tagsüber spürte sie davon nichts. Wenn sie wach war, wusste sie, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte.
Warum also verfolgten sie diese Alpträume?
Geh weg!, befahl sie dem Schatten, der noch von dem Traum übrig geblieben war, und kuschelte sich dicht an Rule.
„Vorsichtig, deine Schulter.“
„Egal.“ Und es war ihr tatsächlich egal, auch wenn die Schulter pochte wie ein entzündeter Zahn. Aber es wurde bedeutungslos angesichts seiner realen physischen Gegenwart. Er rollte sich schützend um sie, und sein Körper war warm – warm genug, um die Angst und das Entsetzen in ihr zum Schmelzen zu bringen. Sie atmete seinen Duft ein und fühlte sich rein.
Er war nackt. Sie trug einen Pyjama, doch ihre Beine, die sie um seine geschlungen hatte, waren bloß. Seine Oberschenkel waren fest und behaart und fühlten sich rau an. Sie brauchte diese Rauheit, sehnte sich danach. Sie rieb ihren Oberschenkel zärtlich an seinem und fühlte, dass auch sein Körper auf ihre Nähe reagierte.
Eine sanfte Hitze tastete kribbelnd durch ihre Venen, die Schenkel hinunter bis zu den Zehen. Ein Summen erfasste ihren Körper, und sie lag regungslos da und kostete das Gefühl aus. Dann strich sie ihm mit der Hand über die Seite und spürte seiner Nähe nach.
Er verlangte nicht von ihr, dass sie ihr Verlangen in Worte fasste. Er fragte nicht, ob sie sich sicher sei, oder erinnerte sie an ihre Schulter. Er sagte nichts, und auf einmal wusste sie die Erfahrung zu schätzen, die sie ihm eben noch übel genommen hatte.
Stattdessen umfasste er ihr Gesicht mit beiden Händen und küsste sie. Behutsam. Mit einer sanften Sinnlichkeit, die so unverkennbar war wie die Hitze in ihrem Bauch.
Ja, dachte sie. Ja. Das war es, was sie brauchte … dass sie sich stillschweigend mitten in der Nacht herumdrehen konnte, dass sich ihre Lippen wortlos trafen, ihre Haut, ihr Atem. Das Vertrauen, das nach und nach in ihr wuchs, dass er da sein würde.
Er rollte sie auf den Rücken und legte sich auf sie, berührte sie sanft, küsste ihre Schulter, schob ihr T-Shirt höher, um an ihren Rippen entlang zu knabbern und ihren Bauchnabel mit der Zunge zu kitzeln. Er zog ihren Slip hinunter. Sie ließ ihre Hand bewundernd über seinen Körper gleiten, versuchte ihm durch die Berührung all das zu sagen, was sie von ihm wusste und schätzte. Und alles, was sie immer noch wissen wollte.
Dieses Mal dröhnte kein Gong, überkam sie kein Taumel der Leidenschaft. Ihre Schulter tat weh, und ihre Erschöpfung war ebenso tief wie ihr Verlangen.
Doch als er in sie glitt, stockte ihr der Atem. Als er zustieß, leicht und unangestrengt, erfüllte es sie mit ruhiger Freude, ihm jedes Mal langsam entgegenzukommen. Und als sie sich der Welle hingab, die ihren Körper durchflutete und sie sanft zum Höhepunkt trug, gab sie es auf, diese Gefühle mit den Worten Lust oder Liebe oder Band der Gefährten benennen zu wollen. Es gab nur noch das Geheimnis, ohne Worte, das sie jetzt in einer lautlosen Woge überrollte.
Sie fiel zurück auf die Erde, ohne sie je verlassen zu haben, und war da, um ihn zu halten, als sein Atem fast stockte und er den Kamm seiner eigenen Welle erreichte. Und als er danach auf ihr liegen blieb, lächelten beide in die Dunkelheit hinein. Sie war eingeschlafen, bevor er sich von ihr gelöst hatte.
Rule stand in Lilys Dusche und gähnte. Ihre Wohnung hatte ihre Schwächen, aber das fensterlose Schlafzimmer, das einfach zu verteidigen war, und das reichlich vorhandene heiße Wasser waren ein Segen. An diesem Morgen wusste er das heiße Wasser fast genauso sehr zu schätzen wie das wehrhafte Schlafquartier.
Er war in einen Wachschlaf gefallen und war früh aufgewacht. Dann hatte er das warme Bett verlassen, um nicht in Versuchung zu geraten, auf seinen Körper zu hören. Sonst hätte er sie womöglich geweckt, um mit ihr zu schlafen. Aber sie brauchte Erholung. Und sie musste hier, in ihrer gewohnten Umgebung schlafen. Er verstand das. Gestern hatte sie zu viele Schocks erlitten.
Auch was ihn betraf. Rule schnitt eine Grimasse und nahm die Seife.
Trotzdem war sie zu ihm gekommen. Mitten in der Nacht, aufgeschreckt aus einem Alptraum, von dem sie ihm nicht erzählen wollte, war sie zu ihm geflüchtet. Eine große Spannung, die er vorher gar nicht bemerkt hatte, fiel von ihm ab. Der Geruch der Seife, der Dampf und das Wasser auf seiner Haut regten seine Sinne an, und er schloss die Augen, sperrte alle Gedanken aus und ließ sich einen Moment treiben.
Wieder musste er gähnen. Er schüttelte den Kopf. Früher hatte ihm eine Nacht Wachschlaf nichts ausgemacht. Jetzt war er älter. Aus der Übung.
Aus dem Training, würde Benedict sagen.
Während er sich einseifte, lächelte Rule, als er an den älteren Bruder dachte, der ihn und so viele andere Jugendliche ausgebildet hatte. Benedict ging nicht gerade zimperlich mit seinen Schützlingen um, aber er verlangte nie mehr von seinen Welpen, als sie leisten konnten, und er spürte immer instinktiv, wo die Grenzen eines jeden waren. An andere stellte er nicht dieselben Ansprüche wie an sich selbst – anders als so manch anderer, der körperlich von der Natur ebenso begünstigt war wie er.
Tatsächlich wären solche Ansprüche auch unrealistisch gewesen. Ob auf zwei Beinen oder auf vier, Benedict konnte man nicht das Wasser reichen.
Diese Sommer lagen lange zurück, aber Benedicts Ausbildung wirkte immer noch nach. Seine Methoden entsprachen nicht den Vorstellungen der Menschen, aber sie waren ja auch nicht für Menschen gedacht. Ein Jugendlicher, der einmal aus dem Tiefschlaf gerissen worden war, weil ihm der Feind mit den Zähnen ein Stück aus seiner Schulter gerissen hatte, würde wohl bis zum Ende seines Lebens lieber wach bleiben.
Plötzlich überkam ihn Trauer. Sein Lächeln fiel in sich zusammen. Er schloss die Augen, als die Erinnerung mit scharfen Klauen zuschlug.
Mick.
Einen Augenblick lang stand er einfach nur da und spürte den Schmerz, neu und scharf und mit so vielen anderen Gefühlen vermischt. Auch er war ein Bruder Rules gewesen, Mick, der ihm vor Jahren ein Stück aus der Schulter gebissen hatte. Mick war beinahe Rules Altersgenosse gewesen, eine Seltenheit unter seinesgleichen. Zum ersten Mal waren sie sich in dem Sommer begegnet, als Rule ganz offiziell seine Ausbildung bei Benedict begonnen hatte.
Sie waren Rivalen gewesen, dachte Rule und legte den Kopf zurück, als das Wasser die Seife von seinem Körper spülte. Natürlich. Aber damals hatten sie es nicht richtig ernst gemeint.
Stimmte das? Verzerrte der Blick zurück die Vergangenheit? Oder ließ er sie klarer erkennen?
Lass es gut sein, sagte sich Rule und drehte mit schneller Geste den Wasserhahn zu. Mick war tot. Er war gestorben bei dem Versuch, Rules Leben zu retten – einen Heldentod. Zwar war er es auch gewesen, der es in Gefahr gebracht hatte, aber das war das Werk der wahnsinnigen Helen gewesen, nicht Micks. Mit der Kraft dieses verfluchten Stabes hatte sie Rules Bruder in den Wahnsinn getrieben.
Aber das wäre ihr nicht gelungen, wenn die Saat nicht bereits ausgesät gewesen wäre, die Saat des Neides, eines ganz besonders bösartigen Neides. Die Clans nannten es fratriodi. Bruderhass.
Lilys Handy klingelte, als Rule sich die Zähne putzte. Er hörte sie fluchen, nach dem Telefon suchen und dann antworten. Und er hörte, wie sie auf einmal wach wurde, so schlagartig, als würde ein Lichtschalter umgelegt. Also beeilte er sich, drehte das Wasser ab und öffnete die Tür.
Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Der Mond war untergegangen, doch die Sonne stand noch nicht am Himmel. Deshalb hatte sie die Nachttischlampe angeknipst. In dessen gelbem Lichtkegel saß sie auf dem Bett und kritzelte etwas auf einen Notizblock, den sie immer mit sich führte. Sie trug einen gelben Slip und ein kurzes schwarzes T-Shirt, das einen Streifen von ihrem nackten Rücken und Bauch zeigte.
Diesen Slip hatte er ihr ausgezogen, als sie aus dem Alptraum aufgewacht war. Sie musste wieder hineingeschlüpft sein, als das Telefon geklingelt hatte.
Sie warf ihm einen Blick zu, wechselte noch ein paar Worte im Polizeijargon mit der Person am anderen Ende der Leitung und legte auf. „Ich muss gehen.“
„Ich weiß. Den Anfang habe ich verpasst. Wer war das?“
Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und sah ihn stirnrunzelnd an. „Ich wünschte, du würdest nicht beide Seiten meiner Telefongespräche hören.“
Er zuckte mit den Achseln. Für seine besonderen Fähigkeiten konnte er schließlich nichts. „Du bist nicht mehr in der Mordkommission. Warum hat man dich wegen eines Mordes in Temecula angerufen?“
„Mutmaßlicher Mord“, korrigierte sie ihn. Vielleicht war das Stirnrunzeln gar nicht für ihn bestimmt gewesen, denn als sie jetzt gedankenverloren ins Leere starrte und über Fakten nachgrübelte, die er nicht kannte, war es immer noch da. „Der Anruf kam von der Bezirksstelle des FBI“, sagte sie und stemmte sich hoch. „Die Behörden in Temecula haben sie benachrichtigt. Wegen eines verdächtigen Todesfalles.“
„Aber warum rufen sie dich dann an?“, fragte er wieder.
„Es gibt eine Verbindung zu Harlowe. Einen Zeugen. Der Leichnam wurde vor zwei Stunden entdeckt“, fügte sie knapp hinzu und ging zum Badezimmer.
Nachdenklich trat er zur Seite, um sie vorbeizulassen.
Es war nicht das erste Mal, dass jemand entdeckt worden war, der aussah wie Patrick Harlowe. Zehn Tage zuvor war es Ruben Brooks gelungen, ihn auf die FBI-Liste der meistgesuchten Personen zu bringen und damit sein Foto und seine Personenbeschreibung an Strafverfolgungsbehörden überall im Land zu schicken. Aber der Mann sah erschütternd durchschnittlich aus – Angloamerikaner, normal groß, braunes Haar, braune Augen und 80 Kilo. Keine Narben, keine besonderen Merkmale außer einer ungewöhnlich sanften Stimme. Der Typ Mann, hatte Lily verächtlich gesagt, den man zwei Minuten später wieder vergessen hat, wenn man ihn auf einer Party trifft. Rule wusste nicht, wie oft der Mann angeblich schon gesehen worden war; ihm gegenüber hatte Lily nur die wenigen Male erwähnt, die vielversprechend geklungen hatten.
Aber dieses Mal stand die Meldung im Zusammenhang mit einem möglichen Mord. Sie wollte schnell zum Tatort, deshalb musste er sich jetzt anziehen.
Er warf einen Blick auf die geschlossene Badezimmertür. Eins nach dem anderen. Wenn er keinen Kaffee machte, würde sie sicher auf dem Weg irgendwo anhalten wollen.
Gerade als Lily aus dem Badezimmer trat, kam Rule aus der Küche zurück. „Warum ist es nur ein mutmaßlicher Mord?“, fragte er.
Sie zog sich das T-Shirt über den Kopf, während sie zu der großen Kommode gegenüber dem Bett ging. Ihrer Schulter ging es wieder viel besser, dachte er. Bisher hatte er ihr auch immer beim Anziehen helfen müssen.
„Die Todesursache ist noch ungeklärt“, sagte sie und öffnete die oberste Schublade, gab einen leisen Laut des Unmutes von sich und schloss sie wieder. Das hatte er sie schon einige Male tun sehen. Sie hatte vergessen, dass sie sie geleert hatte, um Platz für andere Dinge zu machen.
Sie öffnete die zweite Schublade und zog ein Stück schwarzer Seide hervor. „Das ist ganz bestimmt nicht von mir. Was findest du nur an einem Tanga?“ Sie warf es ihm zu. „Der hängt doch ständig zwischen den Pobacken.“
Er zog sich die Unterwäsche an und sah zu, wie sie in ihre stieg. An diesem Morgen hatte sie sich für Zartrosa entschieden. Er liebte es, ihr zuzusehen, wenn sie sich ankleidete. Es machte Spaß zu sehen, wie sie das einpackte, was er später wieder auspacken würde. Aber das war es nicht allein. Es lag so viel Vertrautheit in diesem Tun.
Ihren Slip zog sie immer zuerst an, dann erst ihren Büstenhalter. Sie duschte lieber abends und trug selten Strumpfhosen. Zahnpasta kaufte sie in Tuben, saure Gurken in größeren Gebinden und Slips in jeder möglichen Farbe. Gewöhnlich joggte sie am Strand, aber ihre Verletzung hielt sie jetzt davon ab. Doch sonst hielt sie sich immer sklavisch genau an ihr Fitnessprogramm. Bevor sie die Wohnung verließen, würde sie zuerst ihr Schulterhalfter anlegen und dann erst ihre Schuhe anziehen.
Unwichtige Details, vielleicht. Aber so lernte er sie nach und nach kennen. „Warum trägst du denn einen Büstenhalter?“
Sie sah auf ihre Brust hinunter und schüttelte den Kopf. „Das weiß Gott allein.“
Er lachte leise und kam näher. „Damit wollte ich sagen, dass ein Tanga mir Halt gibt. Damit meine hängenden Körperteile nicht frei in der Gegend baumeln.“
Sie musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. Ohne Zweifel hing dort unten im Moment nichts. Im Gegenteil.
Er legte seine Hand unter eine ihrer hübschen Brüste, die jetzt von weißer Spitze bedeckt waren, und fuhr mit dem Daumen darüber. „Weißt du, ich liebe alles an deinen Brüsten … die Größe, die Form, wie sie sich anfühlen. Und wie sie schmecken. Vor allem das.“
Ihre Brustwarzen wurden hart, und ihr Blick verschwamm. Aber trotzdem schlug sie seine Hand fort. „Ich muss gehen.“
„Wir müssen gehen, meinst du.“ Resigniert ging er zum Schrank – der nach Farbe, nach Jahreszeit und nach Kleidungsstücken geordnet war. Sie hatte es geschafft, ein paar Zentimeter für seine Sachen freizumachen, aber seine Auswahl war begrenzt. Er nahm ein Paar schwarzer Hosen heraus. „Du trägst keinen Verband mehr?“
„Der Schlafzustand scheint geholfen zu haben. Meine Schulter ist noch nicht wieder wie vorher, aber es geht ihr besser.“ Sie trat neben ihn vor den Schrank und griff nach einem der schwarzen T-Shirts. „Du musst nicht so früh raus.“
„Netter Versuch“, sagte er trocken und knöpfte die Hose zu. „Als wenn ich damit einverstanden wäre, dass du ohne mich gehst, obwohl es jemand auf dich abgesehen hat …“
„Das hört sich an, als würdest du es mir gleich verbieten wollen.“
„Das würde mir im Traum nicht einfallen. Temecula ist nur eine Stunde entfernt, wenn nicht zu viel Verkehr ist.“
„Ungefähr hundert Kilometer“, bestätigte sie.
„Vielleicht reicht das Band der Gefährten so weit, aber dies ist nicht der richtige Moment, um es auszuprobieren.“
„Oh. In Ordnung.“ Sie warf ihr T-Shirt auf das Bett. Dann folgten eine braune Hose und ein rotes Jackett. „Warum machst du uns nicht einen Kaffee. Du bist immer schlecht gelaunt, wenn du das Zeug aus irgendeinem Laden an der Strecke trinken musst.“
„Schon erledigt.“ Auch eine menschliche Nase hätte den Duft von frisch gebrühtem Kaffee riechen können. Plötzlich misstrauisch geworden, sah er sie an. „Warum willst du nicht, dass ich dich begleite? Verschweigst du mir etwas?“
Sie seufzte. „Ich hatte gehofft, dass du mal nicht den Beschützer spielen würdest, aber das ist wohl hoffnungslos.“
„Ganz richtig. Los, raus mit der Sprache.“
„Der Zeuge war gestern Abend mit dem Opfer zusammen. Er hat Harlowe als den Mann identifiziert, mit dem sie den Club verlassen hat.“
„Er kennt Harlowe?“
„Er hat ihn auf einem Foto wiedererkannt, das man ihm gezeigt hat.“
„Dann hatte man also schon einen Verdacht, dass Harlowe daran beteiligt sein könnte.“
„Oh ja.“ Ihre Augen waren so ausdruckslos wie ihre Stimme. „Er hat auf ihren Bauch eine Nachricht mit Filzstift geschrieben und unterschrieben.“
„Und wie lautet die Nachricht?“
„Das ist für Yu.“