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Cynna sah zu, wie Rule seine hübsche kleine Polizistin eilig aus der Tür schob. Er war so besorgt um sie. Dabei war die Kleine zäher als sie.
Sie erinnerte sich, wie Rule genauso besorgt um eine andere Frau gewesen war, die darauf bestanden hatte, dass sie keinen Mann brauchte, der auf sie aufpasste.
Ihr Mund zuckte spöttisch. Was war sie für ein kratzbürstiges kleines Biest gewesen! Eine Zwanzigjährige, die sich wie eine Zwölfjährige benahm, clever und rotzfrech, mit Angst vor den falschen Dingen im Herzen. Aber egal, wie sehr sie sich dagegen gewehrt hatte, verhätschelt zu werden, Rule hatte es besser gewusst. Und sie hatte es geschluckt, oder etwa nicht? All die Jahre hatte sie die Erinnerung an ihn wie einen Schatz gehütet. Rules fürsorgliche Art hatte das hungrige Kind in ihr gefüttert, das sie damals gewesen war.
Nun, heute war sie nicht mehr die hungrige Göre. War sie vielleicht enttäuscht, weil er nicht mehr frei war? Darüber würde sie hinwegkommen. Sie wandte sich an Karonski. „Was zum Henker soll ich hier? Ich kann Harlowe nicht finden, ohne sein Muster zu sichten, und das kann ich nicht ohne etwas, dass es mir mitteilt.“
Er zuckte mit den Achseln. „Sagen Sie das Ruben. Er glaubt, es wäre eine gute Idee, wenn Sie in der Nähe blieben.“
„Und warum, weiß er nicht, nehme ich an.“
„Tut er das je?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ist schon ein komischer Zufall, dass Harlowes Haus abbrennt, kurz bevor ich eintreffe. Wie ist das passiert?“
„Jemand hat die Büsche mit Benzin übergossen.“
„Hm. Glauben Sie, die Bad Guys haben ebenfalls einen Präkog?“
„Möglich. Oder sie sind nur vorsichtig, und das Timing ist reiner Zufall.“ Karonski schob seinen Stuhl zurück und griff nach seinem Kaffeebecher. „Kommen Sie. Machen wir uns ein bisschen bei den Kollegen vor Ort unbeliebt. Ich will diesen Riegel untersuchen lassen und herausfinden, ob er magisch bewegt worden ist.“
Sie erhob sich ebenfalls. „Ich tue nichts lieber, als mich bei ein paar Cops unbeliebt zu machen.“
„Obwohl Sie selber einer sind?“
„Komisch, nicht?“
Von dem kleinen trat man direkt in das große Esszimmer. Die Gäste des Odyssey wurden immer noch von der örtlichen Polizei befragt. Auf dem Weg zur anderen Seite schnappte Cynna einige Gesprächsfetzen auf. Einige fanden es aufregend, ein Verbrechen aus der Nähe mitzuerleben, andere wiederum waren besorgt oder wütend. Die armen Kellner und Kellnerinnen versuchten weiterhin, Essen zu servieren, aber niemand hatte mehr viel Interesse an den kulinarischen Genüssen, derentwegen doch eigentlich alle gekommen waren.
Der Laden musste viel mit privaten Feiern verdienen, dachte Cynna, als sie durch das volle Restaurant gingen. Der jedermann zugängliche Bereich nahm nur ungefähr die Hälfte des donut-förmigen Gebäudes ein. Der Rest war für geschlossene Gesellschaften vorgesehen.
Die Toilettenräume befanden sich in der Mitte des Donuts. Sie gingen von dem Flur ab, der um die im Zentrum liegenden Küchen herumführte. In ebendiesem Flur hielt ein uniformierter Polizist sie jetzt an. Karonskis Marke überzeugte ihn, und er erlaubte ihnen, bis zum nächsten Wachposten vorzurücken, einer müde aussehenden Frau, die vor der Damentoilette stand. Das Geräusch eines Handstaubsaugers verriet ihnen, dass die Techniker der Spurensicherung immer noch fleißig waren. Man teilte ihnen mit, dass es wohl noch fünfzehn Minuten dauern würde, bis man der Bundespolizei den Tatort überlassen könne.
Sie und Abel gingen ein Stück den Flur hinunter, um zu warten. Cynna lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme. „Wir machen einen ganz schönen Aufstand für so etwas wie einen einfachen Schlag auf den Kopf.“
„Ein Überfall auf eine FBI-Agentin, der im Zusammenhang mit ihrer Ermittlung steht, ist eine große Sache. Du bist jetzt wichtig, vergiss das nicht.“
Cynna schüttelte nur den Kopf. Sie fühlte sich nicht wie eine FBI-Agentin, obwohl sie nun bereits seit fünf Jahren bei der Einheit war. Die meisten ihrer Kollegen würden sagen, dass sie sich auch nicht wie eine benahm. „Wer ist diese Helen, die Yu gesehen haben will?“
Karonski nahm einen kräftigen Schluck von seinem Kaffee. „Sie ist nicht, sie war eine Telepathin. Sie ist tot.“
Cynnas Brauen schossen nach oben. „Die, die das Tor zur Hölle öffnen wollte?“
„Genau die.“
Cynna ließ sich das Wenige, das sie von der Geschichte wusste, durch den Kopf gehen. Die Tote und Patrick Harlowe hatten zur Kirche der Glaubenstreuen gehört, auch bekannt als Azá. Einige von denen, die in die Verschwörung verwickelt gewesen waren, waren echte Gläubige gewesen; andere wiederum hatten nur durch die Macht eines Zaubers an die Sache geglaubt, weil Helen einen geheimnisvollen Stab eingesetzt hatte. Mithilfe dieses Stabes konnte sie die Gedanken anderer beherrschen.
Was selbstverständlich unmöglich war. Das hatten wenigstens alle immer behauptet.
Vor drei Wochen hatten die Azá, angeführt von Helen und Harlowe, Rule und Lily gefangen genommen. Irgendwie hatten sie es geschafft, den Spieß umzudrehen, aber Harlowe war entkommen. Und der Stab spurlos verschwunden.
„Sieht aus, als sollte der Stab unser vorrangiges Ziel sein.“
„Wir wissen einiges über Harlowe, aber kaum etwas über den Stab. Die Spur eines Holzstückes zu verfolgen ist nicht einfach.“ Er nippte an seinem Kaffee und betrachtete das Treiben in der Damentoilette. „Seabourne hat es versucht, gleich nachdem der Stab verschwunden war. Ohne Erfolg.“
„Das ist der, von dem Sie mir erzählt haben. Der Zauberer.“
Karonski lachte leise. „Verstehe, Sie sind skeptisch.“
„Herrje, Abel, seit der Säuberung hat es keinen einzigen Zauberer mehr gegeben! Keinen echten zumindest. Ein paar Möchtegerne, die gerade genug Kenntnisse haben, um sich Ärger einzuhandeln.“
„Seabourne ist ein echter, aber seine Fähigkeiten sind begrenzt.“
Sie legte den Kopf schief. „Zauberei ist immer noch illegal, wenn ich nicht irre.“
Er schnaubte. „Und ich weiß, das belastet Ihr Gewissen schwer.“
„Man muss flexibel bleiben. Arbeitet dieser Typ für uns?“
„Oho, Zauberei ist illegal. Er kann nicht für uns arbeiten.“ Karonski grinste. „Sagen wir, er ist ein Freund eines Freundes. Ohne ihn hätten Turner und Yu Helen nicht aufhalten können.“
„Es war aber die kleine Geisha, die sie umgelegt hat, richtig?“
„Jawohl. Und wenn Sie ihr das ins Gesicht sagen, würde ich gern dabei sein.“ Karonski stellte seinen leeren Becher auf den Boden, zog ein Pfefferminzbonbon aus der Tasche, wickelte es aus und steckte es sich in den Mund. „Woher kennen Sie Turner?“
„Oh, Rule kenne ich schon eine halbe Ewigkeit. Schon bevor Sie mich damals verhaftet haben.“ Sie grinste. „Ich war nicht gerade einfach damals, war sehr von mir überzeugt und unvernünftig.“
„Und inwiefern haben Sie sich geändert?“
„Sehr witzig.“ Sie schüttelte den Kopf. „Herrgott, wenn ich ihn sehe, kommen die Erinnerungen wieder hoch. Ich hing immer in einer Bar in Chicago rum, die Mole’s hieß. Ich frage mich, ob es die wohl immer noch gibt.“
„Haben Sie Turner dort kennengelernt?“
Sie nickte. „Wir waren eine Zeitlang zusammen.“ Es war die reine Untertreibung, so von jemandem zu sprechen, der ihr Leben verändert hatte. „Was meinen Sie eigentlich damit, wenn Sie sagen, er sei nicht frei?“
„Das geht Sie nichts an.“
„Schon gut, aber es ergibt keinen Sinn. Lupi sind nicht monogam.“
„Rule schon. Themenwechsel.“
Als sie damals mit ihm zusammen war, war er nicht monogam gewesen. Das hatte er gleich von Anfang an klargestellt, und sie hatte es akzeptiert. In dieser Hinsicht war er nicht anders gewesen als die anderen Männer, die sie gekannt hatte, nur ehrlicher … aber die Leute, mit denen sie sich damals herumgetrieben hatte, hatten, wie sie zugeben musste, nicht gerade den allerbesten Ruf gehabt.
Das war jetzt schon dreizehn Jahre her. Kaum zu glauben, in mancher Hinsicht … und in anderer schien es ihr, als lägen mehrere Leben zwischen ihr und der Vergangenheit. Natürlich hatte sie nicht erwartet, dass er immer noch derselbe war. Aber das hier war eine kleine Sensation. Offene Beziehungen waren ein moralisches Muss für Lupi. Hat wohl irgendetwas mit ihrer Religion zu tun, dachte sie.
Wie hatte diese kleine Geisha ihn dazu gebracht, seine Meinung über etwas, das so wichtig für ihn war, zu ändern? Doch wohl nicht, indem sie das schwache Frauchen spielte. Auf einen unaufmerksamen Beobachter mochte sie vielleicht so wirken. Aber Rule war nicht unaufmerksam. Das war eine seiner …
„Sieht aus, als wären sie fertig“, sagte Karonski und griff nach seiner Tasche. „Ich werde eine Weile brauchen, um alles einzurichten. Willst du dich auf deine Weise umsehen, während ich alles für meine Schutzbanne vorbereite?“
„Okay.“ Sie richtete sich auf und folgte ihm.
Karonski war ein Wicca, und von Wicca gewirkte Zauber wurden als so sicher wie die Goldwährung betrachtet. Unter manchen Umständen – die allerdings genau definiert waren – wurden seine Ergebnisse als Beweise vor Gericht zugelassen. Aber diese Methode war zeitaufwändig. Cynnas Zauber waren laut der Behörden unzuverlässig, weil ihre Genauigkeit von der Kompetenz desjenigen abhing, der sie ausführte.
Aber sie war eine Eins-A-Finderin. Und darüber hinaus viel schneller als Karonskis Methoden. Bis sie die Tür zur Damentoilette erreicht hatten, hatte Cynna bereits ihren Geist geleert und konzentrierte ihre Energie auf das Schlangenlabyrinth auf ihrem linken Arm. Während Karonski die örtlichen Repräsentanten der Staatsmacht loswurde, schickte sie ihren Zauber durch das Labyrinth.
Jemanden zu finden, das war ihre Gabe. Dafür brauchte sie eigentlich keinen Zauber. Aber um eine fähige Finderin zu sein, musste sie sichten, die Muster von Dingen und Menschen aufspüren und festhalten können. Das war der Sinn und Zweck der meisten Zauber, die auf ihren Körper gezeichnet waren – um die Energie zu sichten, die sie entdeckt hatte, damit sie ihre Quelle finden konnte. Als Karonski ihr ermunternd zunickte, betrat sie den Toilettenraum, drehte sich um und hielt die Hand über den Riegel. Energie schoss von ihrer Hand zu dem Riegel und zurück, glitt dann über die Pfade auf ihrer Haut und brannte eine neue Zeichnung in ihren rechten Oberschenkel.
Sie ließ ihre Hand fallen und starrte den Riegel an. „Scheiße.“
Mit pochendem Schädel und geschlossenen Augen saß Lily auf der Untersuchungsliege. Ihr „Raum“ war eine nur mit einem Vorhang abgetrennte Nische, die ihre Intimsphäre ebenso ungenügend schützte wie etwa ein Krankenhaushemdchen. Diese Erniedrigung war ihr bisher noch erspart geblieben, obwohl es möglicherweise vorteilhafter ausgesehen hätte als ihr Brautjungfernkleid. Ganz in der Nähe jammerte ein Baby leise und monoton vor Erschöpfung. Die Luft stank nach einem Desinfektionsmittel und anderen weniger offenkundigen Dingen.
Am Ende des Flurs beschimpfte eine Frau einen Mann. Auf der anderen Seite des Vorhangs piepste unaufhörlich ein Monitor. Lily drehte den Kopf. „Wonach riecht es für dich hier drinnen?“
„Nach Leid.“
Rule saß neben ihr auf der Liege. Für kurze Zeit hatte sie es aufgegeben, sich unter keinen Umständen anlehnen zu wollen, und war froh um seinen Arm und seinen Körper, die sie stützten.
Komisch. So, wie sie sich jetzt an ihn kuschelte, war ihr unverletzter Arm praktisch nutzlos, aber das störte sie kein bisschen. Lag es an dem Band der Gefährten, dass sie sich sicher fühlte, egal ob sie es tatsächlich war oder nicht? Oder war sie nur zu müde und hatte zu große Schmerzen, um sich darüber Gedanken zu machen? „Und doch hast du darauf bestanden, mich hierherzubringen.“
Als sie die Bewegung seiner Wange auf ihrem Haar spürte, wusste sie, dass er lächelte. „Ich habe einen Moment der Schwäche ausgenutzt.“
„Das stimmt, das hast du.“ Seine Größe hatte schon etwas für sich, gestand sie sich ein. Seine Schulter befand sich genau in der richtigen Höhe, damit sie ihren schmerzenden Kopf daranlehnen konnte.
Schuldbewusst dachte Lily, wie froh sie über die Abwesenheit ihrer Eltern war. Die Sorge ihrer Mutter und ihr Drang, sich in alles einzumischen, hätten sie verrückt gemacht. Sie hatte sie davon überzeugen können, dass die Fahrt ins Krankenhaus eine reine Formalität wegen der Versicherung sei. Als Rule Lily in die Notaufnahme brachte, hatte die Großmutter das Restaurant bereits verlassen, doch sie wäre ohnehin nicht mitgekommen. Ihre Großmutter betrat niemals ein Krankenhaus.
„Vorsicht“, sagte Lily. „Man kann uns sehen.“
Rules Hand war ihre Rippen hochgewandert, und sein Daumen streichelte nun unter ihrer Brust entlang. „Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Ich habe dir schon einmal gesagt: Du bist nicht sehr überzeugend, wenn du einen auf unschuldig machst.“ Aber sie klang nicht, als sei sie verärgert. Wohlbehagen überkam sie in trägen Wellen, allein durch die Berührung seines Daumens, seine bloße Nähe. Die Augenlider wurden ihr schwer. „Wie kommt es, dass ich mich so fühle, obwohl mir der Kopf doch so wehtut?“
Er beugte sich herunter und ließ seine Zunge an ihrem Ohr entlangwandern. „Ich weiß nicht. Wie fühlst du dich denn?“
„Abgelenkt.“
„Gut.“
Jetzt brüllte die Frau am Ende des Flures etwas über einen Koffer. Irgendjemand habe ihn gestohlen und er sei gut beraten, wenn er ihn sofort wieder herausrückte.
Lily seufzte. „Ich hoffe, Nettie kommt bald.“
Nettie war Dr. Two Horses, ausgebildete Schamanin und Ärztin mit einem Harvardabschluss. Irgendwie stand sie in Verbindung mit Rules Clan. Nettie war selber kein Lupus, denn Lupi waren immer männlich. Aber ihre Kinder hatten beide Geschlechter.
„Ich mache mir Sorgen um dich“, sagte Rule.
„Wie meinst du das?“
„Du hast dich noch nicht einmal darüber beschwert, dass ich sie angerufen habe. Nach den Vorwürfen, die du mir gemacht hast, weil ich den Krankenwagen gerufen habe, hatte ich zumindest einen mittelschweren hysterischen Anfall erwartet.“
„Ich mag keine Krankenhäuser. Aber ich mag Nettie. Es hat auch Vorteile, wenn man mit einem Prinzen zusammen ist. Nettie ist einer davon.“
Rule verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er mochte es nicht, wenn die Presse ihn den „Nokolaiprinzen“ nannte. Er war der Thronfolger, oder Lu Nuncio für seinen Clan, aber sein Status war nicht vergleichbar mit dem in einem Königshaus der Menschen. „Nettie behandelt dich nicht meinetwegen. Sie wäre auch zu jedem anderen Clanmitglied gekommen.“
„Oh. Richtig.“ Manchmal vergaß Lily, dass sie jetzt mit zum Clan gehörte. Bisher hatte sich ihr Leben dadurch noch nicht wesentlich verändert, auch wenn die Adoptionszeremonie sehr bewegend gewesen war. „Weißt du, was merkwürdig ist?“
„Ziemlich viel in der letzten Zeit. Aus deiner Sicht wahrscheinlich meine Wenigkeit und das Band der Gefährten …“
Sie stupste ihn mit ihrer unverletzten Schulter an. „Nicht du. Ich meine, dass ich immer noch am Leben bin.“
Er zog sie fester an sich. „Das würde ich nicht gerade merkwürdig nennen.“
„Ich beschwere mich auch nicht. Aber denk doch mal nach. Jemand hat sich sehr viel Mühe gegeben, mich alleine anzutreffen. Und was haben sie getan, als ihr Plan aufgegangen ist? Sie haben mir auf den Kopf gehauen und sind gegangen, nachdem sie die Tür hinter sich verriegelt haben. Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.“
„Sie müssen gestört worden sein.“
„Da war ein Riegel an der Tür, schon vergessen? Und da ist noch etwas. Warum war da überhaupt ein Riegel? Die habe ich schon in Toiletten in Warenhäusern oder in Tankstellen gesehen, aber in einem Restaurant?“
„Du meinst, der Helen-Doppelgänger hat ihn mitgebracht?“
„Möglich.“ Sie runzelte die Stirn. „Ich wünschte, O’Brien hätte die Spurensicherung übernommen. Ihm wäre es sicher aufgefallen, wenn der Riegel … was ist denn?“
Er hatte sich nach rechts gewendet, den Kopf gereckt, aber sein Körper blieb entspannt. Was immer er auch wahrgenommen hatte, es war nichts Bedrohliches. „Nettie ist hier.“
Hatte er Nettie gehört oder gerochen? Wahrscheinlich gehört, dachte sie. Er war wohl kaum in der Lage, in der Geruchssuppe der Notaufnahme einen einzelnen Duft herauszuriechen. Oder doch? „Gut. Dann kann sie dir ja sagen, dass es mir gut geht, und wir können nach Hause gehen.“
Eine hochgewachsene Frau schob die Vorhänge auseinander. Sie hatte glatte kupferfarbene Haut und üppiges graues Kraushaar. Der Knoten, den sie im Nacken trug, sah aus, als würde er sich jeden Augenblick lösen, und ihr breiter Mund schien gern und oft zu lächeln. „Aber vorher musst du mir noch einen Moment deiner kostbaren Zeit schenken. Meine Berufsehre verlangt es, dass ich meine Patienten untersuche, bevor ich einer Meinung mit ihnen bin.“
Die Spannung wich ein wenig aus Lilys Schultern. „Oh, du trägst ja einen richtigen Arztkittel.“
„Der gehört zum Stethoskop. Aus irgendeinem Grund werde ich ständig nach meinem Ausweis gefragt, wenn ich hier in Shorts und Sport-BH erscheine.“ Wie die meisten Bewohner des Clangutes trug sie gewöhnlich so wenig wie möglich. Sie trat an die Untersuchungsliege. „Wie fühlst du dich?“
„Müde. Mir tut alles weh. Und ich will nach Hause.“
„Hm.“ Nettie stellte ein paar Fragen, während sie die üblichen Untersuchungen durchführte, Lilys Krankenakte las und ihr in die Augen leuchtete. Aber nicht alle ihre Untersuchungsmethoden hatte sie in Harvard gelernt.
„Ich frage mich manchmal, wie die Leute in Krankenhäusern gesund werden können.“ Sie zündete ein Bündel getrockneter Kräuter an, ließ es einen Moment brennen und löschte dann die Flamme wieder aus. Eine kleine Rauchfahne stieg in die Höhe. „Die Energie ist immer höllisch verworren. Kannst du mal aufstehen?“
„Klar.“ Lily rutschte von der Liege. Als sie um Lily herumging, stimmte Nettie einen leisen, geheimnisvollen Chant an, der so gar nicht zu ihrem Arztkittel passte. Dabei wedelte sie mit einer großen Feder den Rauch in Lilys Richtung. Der schwelende Salbei, der sich unter den Kräutern befand, gab einen frischen, sauberen Duft ab, und nachdem Nettie sie dreimal umrundet hatte, hätte Lily schwören können, dass ihr Kopf weniger schmerzte. „Hast du wirklich etwas getan, oder fühle ich mich besser, weil ich glaube, dass du etwas getan hast?“
Nettie kicherte. „Ist das denn wichtig? Du kannst dich wieder hinsetzen. Ich möchte mir deine Schulter ansehen. Die Wunde ist wieder aufgegangen, hast du gesagt?“
„Wahrscheinlich, als ich gefallen bin.“ Rule half ihr, die Verschlüsse zu öffnen, die die Schlinge zusammenhielten, und zog ihren Arm heraus. „Es hat nicht sehr geblutet. Bestimmt ist alles in Ordnung.“
Nettie hielt Wort und war nicht bereit, ihrer Patientin zu glauben, ohne sie gründlich unter die Lupe genommen zu haben. In ihrem halterlosen Büstenhalter und dem abgestreiften Oberteil ihres Kleides begann Lily gerade, eine Gänsehaut vor Kälte zu bekommen, als ihr Handy klingelte.
Als sie danach greifen wollte, packte Nettie Lilys unverletzten Arm. „Oh nein. Ich bin noch nicht fertig.“
„Ich gehe dran“, sagte Rule. Er nahm das Handy aus ihrer Handtasche. „Ja?“ Er horchte. „Sie wird gerade untersucht … Dr. Two Horses. Warum?“
Lily wurde unruhig. Sie wollte an ihr Telefon. „Ist das Karonski?“
„Die Verbrecher können warten“, sagte Nettie. „Jetzt habe ich ein anderes Rätsel für dich, das du lösen kannst. Mit deiner Wunde stimmt etwas nicht.“
„Was meinst du damit?“
„Ich empfange eine Art von … Dissonanz, ja, das beschreibt es wohl am besten. Etwas, das da nicht hingehört. Du bist die Sensitive. Berühr die Wunde und sag mir, was ich meine.“
Lily zuckte mit der gesunden Schulter. „In Ordnung, aber Magie bleibt an mir nicht hängen, also verstehe ich nicht, was …“ Aber sie verstummte, als sie die Haut um die Wunde herum berührte.
„Du fühlst etwas.“
„Ja.“ Besorgt strich Lily mit den Fingern über den kreisrunden Schorf, die Stelle, an der sie vor drei Wochen eine Kugel getroffen hatte. Eigentlich durfte sie dort gar nichts fühlen, aber es war so. „Orange. Es fühlt sich Orange an.“
„Mist, verdammter.“
Lily fuhr herum, als sie Rule mit unterdrückter Stimme fluchen hörte, aber er meinte nicht sie, sondern Karonski. „Was?“, wollte sie wissen. „Hat Karonski etwas herausgefunden?“
Er schüttelte den Kopf und lauschte weiter. „Na gut“, sagte er widerstrebend, „obwohl Sie unrecht haben.“ Und er reichte Nettie, nicht Lily, das Telefon.
„Wenn dieser Idiot meint, er brauche die Erlaubnis meiner Ärztin, um mir mitzuteilen, was er gefunden hat …“
„Nein.“ Rules Stimme klang heiser. Er sah erst Nettie an, dann Lily und wandte dann den Blick ab. „Das ist es nicht.“
Netties Blick schnellte zu Lily. Sie hörte kurz zu, mit professionell-neutralem Gesichtsausdruck und sagte dann: „Ja, das kann ich tun. Das Ritual selbst dauert nicht lange, aber die Vorbereitung wird ungefähr eine Stunde dauern.“
Lilys Kopf pochte im Rhythmus ihres plötzlich beschleunigten Herzschlags. „Wenn mir nicht endlich jemand sagt, was los ist, dann explodiere ich.“
Dieses Mal senkte Rule nicht den Blick, als er sie ansah. „Cynna hat deinen Angreifer identifiziert. Karonski hat es bestätigt. Du bist von einem Dämon angegriffen worden. Er will sichergehen, dass er nicht immer noch … in dir ist.“