DER REVOLVER DER GRÄFIN
* 1891 *
Es begann in den hohen, abgeschiedenen Tälern der Wicklow-Berge, also dort, wo die kleinen Bäche sich sammeln und wie der Liffey selbst in die große, weite Welt hinunterfließen. Fintan O’Byrne konnte die Folgen damals freilich noch nicht vorhersehen.
Wie viele Väter wusste er nicht, welchen Einfluss er auf den Jungen hatte. Andererseits verbanden sich für ihn mit der Gegend so viele Gefühle und Erinnerungen, dass es ein Wunder gewesen wäre, wenn er sie nicht weitergegeben hätte.
Er war groß gewachsen und hatte einen schwarzen Schnurrbart mit nach unten hängenden Enden und schüttere, jedoch lustig vom Kopf abstehende Locken. Er setzte sich den Jungen gern auf die Schultern und stieg mit ihm in die Berge hinauf. Dabei erzählte er ihm ununterbrochen Geschichten. Er konnte nicht anders. Im Vorjahr war er mit Willy in Glendalough gewesen. Weiß Gott, was der Junge verstanden hatte. Er war ja damals erst sechs gewesen. »Zur Zeit meines Großvaters war das ein verwunschener Ort«, hatte Fintan gesagt. »Ganz überwachsen und voller heidnischer Geister. ›Wie an Mittsommernächten in Glendalough gefeiert wurde, das darf man gar nicht sagen‹, meinte mein Großvater immer. Man feierte, bis die Priester dem Treiben Einhalt geboten.« Willy hörte eine gewisse Sehnsucht aus der Stimme seines Vaters heraus, deren Bedeutung ihm allerdings unklar blieb. Fintan hatte ihm die beiden Seen, die Einsiedelei des heiligen Kevin und die Klostergebäude mit dem runden Turm gezeigt. »In meiner Kindheit kam der bedeutende Dubliner Arzt Sir William Wilde mit Gesellschaften hier herauf. An ihm war allerdings nichts Heidnisches. Er wollte die Ruinen freilegen und alles restaurieren. Ein würdiger alter Herr mit einem langen, weißen Bart. Sein Sohn Oscar hat sich als Schriftsteller mit seinen Theaterstücken in London einen Namen gemacht.« Fintan O’Byrne mochte nicht übermäßig gebildet sein, aber er las eifrig die Zeitung und wusste oft überraschende Dinge.
Seine Großmutter gehörte zu den zahlreichen Nachkommen Patrick und Brigid Walshs und Fintan war sich der Verwandtschaft mit den Walshs und Smiths wie auch der mit den O’Byrnes sehr wohl bewusst. Besonders stolz war er darauf, ein O’Byrne zu sein, und das aus zwei Gründen.
Erstens war er wie alle O’Byrnes davon überzeugt, dass Gut Rathconan von Rechts wegen seiner Familie gehörte. Der zweite Grund hatte mit seinem Urgroßvater Finn O’Byrne zu tun. Ein rundes Dutzend Jahre nach Emmets Aufstand war Finn mit seiner Familie nach Rathconan zurückgekehrt. Man wusste, dass er irgendwie an Emmets heroischem Unternehmen beteiligt gewesen war, doch erst als alter Mann, dem nichts mehr passieren konnte, hatte er verraten, dass er den berüchtigten Lord Hercules Mountwalsh getötet hatte. In Rathconan und Umgebung hatte ihm das zu einiger Berühmtheit verholfen. Fintan selbst hatte sich immer an die Gesetze gehalten, aber er war natürlich stolz darauf, dass ein so heldenhafter Revolutionär wie Finn O’Byrne zu seinen Vorfahren gehörte.
Er hielt Frau und Kind stets dazu an, stolz auf die Gegend zu sein, in der sie lebten, und auf den Platz, den sie dort einnahmen. Geradezu Verehrung empfand er für einen anderen Landsmann.
»Nebeneinander standen wir an einem Bergbach, nur wir beide, und wuschen wie die alten Iren Gold, um daraus einen Ring für Katherine O’Shea zu schmieden«, pflegte er von schmerzhaften Erinnerungen überwältigt zu rufen.
Er sprach von Parnell, dem Patrioten und Anführer, dessen geliebter Wohnsitz Avondale House nur wenige Meilen von Glendalough entfernt lag.
Und sooft der gesegnete Name fiel, fiel auch ein anderes Wort – mit gutem Grund. »Verraten wurde er, mein Junge, verraten von seinen eigenen Leuten und auch von den Priestern. Verraten.«
»Was blieb den Priestern anderes übrig?«, pflegte die Mutter des Jungen einzuwenden. »Wo er doch nachweislich Ehebruch begangen hat? Das konnten sie nicht dulden.« Die Rolle der Mutter war es, darauf zu sehen, dass die Religion im Haus geachtet wurde. Das hatte Willy begriffen. »Die Briten haben ihn verraten, diese Mörder.«
Die Mutter seiner Mutter hatte, bevor sie in die Grafschaft Wicklow gekommen war, in der großen Hungersnot ihre ganze Familie verloren. Und sie hatte ihrer Tochter immer wieder eingeimpft, dass die Engländer die Iren mit der Hungersnot absichtlich hatten vernichten wollen.
Am besten sollte der kleine Willy sich freilich an einen ganz bestimmten Tag im Oktober erinnern.
***
»Komm mit, Willy«, hatte sein Vater gesagt. »Wir besuchen Mrs Budge im Gutshaus.« Er hatte gelächelt. »Sie wird dich schon nicht fressen.«
Willy war sich da nicht so sicher.
Die Rückkehr von Rose Budge nach Rathconan in jenem Sommer hatte großes Aufsehen erregt. Zwar hatte ihr Vater ihr das Gut vor einigen Jahren hinterlassen, doch hatte man sie seit fast zwanzig Jahren nicht mehr dort gesehen. An ihren Mann, Oberst Browne, erinnerte man sich kaum noch, obwohl Willy seinen Vater einmal von ihm hatte sprechen hören. »Er war ein großer Gentleman und Jäger. Er setzte über jeden Zaun. Meines Wissens war er auch ein Gelehrter.«
Letzteres stimmte. Der Oberst war nicht nur ein tüchtiger Mathematiker, sondern auch ein ausgezeichneter Sprachwissenschaftler. Er war als Soldat nach Indien gekommen und hatte sich dort mit der indischen Kultur beschäftigt. Dagegen hatte Rose Budges einzige Ausbildung darin bestanden, die Frau eines irischen Grundbesitzers oder Soldaten zu werden. Da sie kinderlos geblieben war, hatte sie notgedrungen die Interessen ihres Mannes übernehmen müssen, wenn sie nicht vereinsamen wollte. Der herzensgute Oberst hatte ihren Fähigkeiten entsprechend so viel wie möglich mit ihr geteilt. Als Ergebnis hatte sich ihre Phantasie wie der Lagerraum eines orientalischen Basars mit einem Sammelsurium exotischer Dinge gefüllt. Und mit all ihren Erinnerungen an orientalische Bräuche und den weiten Himmel Indiens war Rose Budge nach dem vorzeitigen Tod des Obersts Anfang des Jahres nach Rathconan zurückgekehrt, um als Letzte der Budges in das Haus ihrer Väter einzuziehen – eine Frau mittleren Alters, doch immer noch mit der zartgliedrigen Gestalt ihrer Jugend.
Willy und sein Vater wurden in die Bibliothek gebeten.
Die Bibliothek verfügte zwar über zwei Fenster und einen Kamin, war aber klein und hatte stets nur einige wenige Bücher enthalten. Trotzdem war, wer sie betrat, unwillkürlich beeindruckt.
Trotz des warmen Oktobertags draußen waren die Fenster fest geschlossen, und im Kamin brannte ein Feuer. Die Vorhänge waren zugezogen, nur in der Mitte blieb ein heller Spalt, durch den die Sonne wie ein Messer stach. Offenbar nahm Rose Budge in der Bibliothek auch Mahlzeiten zu sich, denn ein fremdartig süßer, würziger Currygeruch hing in der Luft und machte Willy ein wenig benommen. An der Wand hing das Bild eines indischen Tempels unter einem orangeroten Himmel, der ebenfalls nach Curry gerochen haben musste. In einem leeren Bücherregal stand ein schwarzer Rahmen mit der bräunlichen Fotografie einer orientalischen Wandschnitzerei. Die Schnitzerei zeigte eine so unverhüllt erotische Szene, dass der Vater seinem Sohn sofort die Augen hätte zuhalten müssen, wenn dieser die Darstellung verstanden hätte. Doch Willy sah das Foto gar nicht. Stattdessen starrte er erschrocken Mrs Budge an.
Sie saß aufrecht auf einem Stuhl mit hölzerner Lehne, bekleidet mit einem langen, dunkelroten Gewand und einem Turban.
Nur sie selbst wusste, warum sie die seltsame Kopfbedeckung trug. Sie hatte den Turban eines Nachmittags im September angefertigt. Sie hatte ihn aufgesetzt, in den Spiegel geschaut und offenbar Gefallen daran gefunden, denn seither trug sie ihn ständig.
»Guten Tag, Mrs Budge«, sagte Fintan.
Bei Mrs Budges Rückkehr war zunächst unklar gewesen, wie man sie anreden sollte. Als Witwe des Obersts hieß sie natürlich Mrs Browne. Doch als das älteste Mitglied des Haushalts, Mrs Brennan, die frühere Köchin ihres Vaters, sie versuchsweise so genannt hatte, hatte die Hausherrin sie nachdenklich angesehen und dann gesagt: »Als ich früher hier wohnte, war ich immer Rose Budge.« Das nächste Mal hatte die Köchin die Anrede »Mrs Budge« ausprobiert und die Hausherrin hatte genickt. Deshalb hieß sie jetzt »Mrs Budge«, eine dezente Erinnerung daran, dass die Familie nach wie vor Herr von Rathconan war.
Offenbar gedachte Mrs Budge sich dauerhaft in Rathconan niederzulassen. Denn auf die Frage ihrer Köchin, ob sie länger hierbleiben wolle, hatte sie geantwortet: »Wo sollte ich denn sonst wohnen? Schließlich lebt meine Familie seit zweihundertfünfzig Jahren hier.«
Jetzt sah sie ihren Pächter an und fragte ihn höflich nach seinem Anliegen.
»Es geht um mein Land, Mrs Budge«, sagte Fintan. »Wir pachten es schon so lange, wie die Familie Budge hier wohnt.«
»Und Sie haben jetzt mehr davon als je zuvor, soweit ich weiß«, bemerkte Mrs Budge mit einem Nicken.
Der großen Hungersnot waren über eine Million Menschen zum Opfer gefallen, doch hatte die Kartoffelfäule etwas noch Umwälzenderes in Gang gesetzt und damit das Gesicht Irlands verändert – die Landvertreibungen. Im Westen, aber auch in den meisten anderen Gegenden Irlands waren nicht Zehn-, sondern Hunderttausende von Familien von ihren kleinen, immer wieder unterteilten und unprofitablen Äckern vertrieben worden. Man hatte massenhaft Bauernkaten mit ein wenig Land darum herum abgerissen und das Land umgepflügt oder in Weideland zurückverwandelt. Ganze Landstriche waren entvölkert worden. Manche große Ländereien blieben ganz ohne Pächter, andere wurden an geschäftstüchtige Viehzüchter verpachtet. Ein einzelner Pächter bewirtschaftete inzwischen sechs, zwölf oder noch mehr Hektar. Die neue Generation hatte eine schreckliche Lektion gelernt. Der Hof wurde nicht mehr geteilt, sondern ging als Ganzes an einen Sohn über, der meist später heiratete als sein Vater und dessen Brüder wegziehen und anderswo unterkommen mussten.
Man könnte fast sagen, dass die Engländer, die immer davon geträumt hatten, Irland mit tüchtigen freien Bauern zu besiedeln, sich ihren Wunsch erfüllt hatten – mit zwei Unterschieden: Die neuen Höfe gehörten nicht englischen Protestanten, sondern irischen Katholiken, und die Bauern, über denen wie ein Damoklesschwert die Bedrohung durch eine neue Hungersnot hing, kannten nur ein Ziel – ihren Anspruch auf das Land zu sichern. Die englischen Grundherren sollten baldmöglichst verschwinden und nie wieder zurückkehren.
In Rathconan war man nicht so radikal vorgegangen wie im Westen, doch auch Mrs Budges Vater hatte unterteilten Landbesitz zusammengelegt, und Fintans Vater hatte zu den Nutznießern der Zusammenlegung gehört.’ Die Kartoffelfelder an den Berghängen waren in Weiden zurückverwandelt worden. Die Grenzen der früheren Felder konnte man noch deutlich sehen. Fintan hatte fünf Hektar gepachtet, während seine Vorfahren in der Zeit vor der Hungersnot mit kleinen Landparzellen hatten auskommen müssen. Mit einem Wort, in Rathconan waren fast wieder Verhältnisse wie zu jener Zeit eingekehrt, in der Fintans Ahnen ihre Rinder auf den Berghängen hatten grasen lassen. Und Fintan wollte das Land auch bald wieder selbst besitzen.
»Ich muss mich absichern«, sagte er.
»Sie sind ein guter Pächter, ich weiß«, antwortete Mrs Budge. »Und es gibt hier keine Leute wie Charles Boycott.«
Vor vierzig Jahren hatte die Tenants League angefangen, für die Rechte der irischen Pächter zu kämpfen. Bedeutende Männer hatten sich für die Pächter eingesetzt. In England hatte William Gladstone, der mächtige Anführer der liberalen Partei, der Nachfolgerin der Whigs, neue Gesetze zu ihrem Schutz eingebracht. Vor allem aber hatte Charles Stewart Parnell, der Gründer der Irischen Landliga, für sie gekämpft. Doch der Erfolg hatte auf sich warten lassen. Dann hatte die Kartoffelfäule vor fünfzehn Jahren wieder eine Welle der Vertreibungen ausgelöst, die nicht ohne Gewalt abging, und Charles Stewart Parnell hatte seinen berühmten Aufruf erlassen. Sprecht nicht mit den Grundbesitzern, die ihre Pächter vertreiben, hatte er die Iren aufgefordert. Verkehrt nicht mit ihnen, isoliert sie. »Meidet sie wie früher die Aussätzigen.« Besonders Captain Boycott, als Gutsverwalter für zahlreiche Vertreibungen verantwortlich, bekam die Folgen dieses Aufrufs zu spüren. Seit damals waren die Pächter zwar etwas besser gestellt, aber immer noch nicht gut genug.
»Ich würde gern das Land kaufen, das ich von Ihnen gepachtet habe.«
»Kaufen?«
»Das Gesetz ermöglicht …«
Mrs Budge musterte ihn kalt. »Ich kenne das Gesetz.«
Dank Parnells unermüdlichem Wirken im Londoner Parlament hatten inzwischen nicht nur die Liberalen, sondern auch die Tories die Partei der irischen Pächter ergriffen. Die Regierung wollte die Pächter ermutigen, das gepachtete Land zu kaufen. In ihren jüngsten Gesetzen bot sie ihnen zu diesem Zweck sogar Darlehen an. Fintan mochte insgeheim nicht einsehen, warum er Geld für Land zahlen sollte, das ihm seiner Meinung nach sowieso gehörte, doch konnte er nicht bestreiten, dass die angebotenen Konditionen attraktiv waren. »Vier Prozent über neunundvierzig Jahre, das ist insgesamt weniger als die Pacht, die ich im selben Zeitraum zahlen würde«, hatte er ausgerechnet. Auch Mrs Budge konnte über seinen Wunsch nicht erstaunt sein. In ganz Irland war in den vergangenen Jahren Land in bemerkenswertem Umfang von den Händen der protestantischen Gutsbesitzer in die der katholischen Pächter übergegangen. Über fünfundzwanzigtausend Pächter hatten schon ein Darlehen der Regierung in Anspruch genommen.
»Als Nächstes fordern Sie wahrscheinlich die Selbstverwaltung für Irland«, fuhr Mrs Budge leise fort.
Fintan O’Byrne schwieg. Er widersprach ihr nicht. Sein Sohn Willy betrachtete die seltsame Dame mit dem Turban und versuchte zu ergründen, wie es kam, dass dieses Wesen aus einer anderen Welt in seinem unheimlichen, nach Gewürzen riechenden Kokon über die bergigen Felder und Wiesen bestimmen konnte, die er so gut kannte und so sehr liebte. Ihre Augenfarbe war blau. Haare und Gesicht schienen förmlich in dem fest gewickelten Turban zu verschwinden. Ihre Miene war völlig ausdruckslos.
»Ich werde darüber nachdenken, Fintan«, sagte Rose Budge schließlich. »Wir sprechen uns in einigen Tagen wieder.«
Willy und sein Vater kehrten nach draußen zurück, erleichtert, an der frischen Luft zu sein.
»Wird das Land wieder uns gehören?«, fragte Willy.
»Vielleicht.« Fintan seufzte. »Gott allein weiß, was im Kopf dieser Frau vorgeht.«
***
Nachdem die beiden gegangen waren, blieb Rose Budge bewegungslos auf ihrem Stuhl sitzen und dachte nach. Sie wusste nicht, warum Fintan den Jungen mitgebracht hatte, der sie die ganze Zeit mit Augen wie Untertellern angestarrt hatte. Doch egal, sie musste jetzt über Fintans Anfrage nachdenken. Sie starrte auf den blendend hellen Spalt zwischen den Vorhängen, durch den sich die Sonnenstrahlen wie Diebe lautlos in das schützende Dunkel ihres Zimmers stahlen.
Es war also so weit. Sie machte Fintan O’Byrne keine Vorwürfe. Nicht er war schuld daran, sondern der Mann, den er zweifellos verehrte: der verfluchte Parnell.
Obwohl sie Nachbarn waren und beide protestantische Grundbesitzer, hatten die Budges ihn nie gemocht. »Seine Mutter ist Amerikanerin«, hatte ihr Vater immer gesagt. »Wahrscheinlich ist das sein Problem.« Rose selbst war im Ausland gewesen, als Charles Stewart Parnell im Parlament gesessen hatte, doch hatte man sie gut informiert.
Sie war schockiert gewesen. Wie konnte sich Parnell, ein protestantischer Grundbesitzer wie sie selbst, zum Nachfolger Daniel O’Connells aufschwingen? Denn genau das hatte Parnell getan, als er damals vor einem Dutzend Jahren wie ein Komet über dem Parlament aufgestiegen war. Natürlich hatte er nicht der Vorkämpfer der katholischen Kirche sein können, dafür aber der Vorkämpfer der katholischen Pächter. Er hatte eine mächtige Partei zu seinen Diensten gehabt und ähnlich geschickt taktiert wie O’Connell. Er war im britischen Unterhaus, House of Common, verschiedentlich das Zünglein an der Waage gewesen und hatte beide Parteien rücksichtslos dazu gezwungen, Gesetze zum Nutzen Irlands zu beschließen.
Und wo Daniel O’Connell gehofft hatte, die Union mit England würde dereinst wieder rückgängig gemacht, war Parnell viel direkter gewesen und hatte laut und in aller Deutlichkeit die Selbstverwaltung gefordert. Er hatte Gladstone dazu gedrängt, eine entsprechende Gesetzesvorlage im Parlament einzubringen. Rose Budge persönlich hielt das für töricht. Man mochte die Familien der protestantischen Oberschicht wie ihre eigene durch Einschüchterung oder Betrug zum Nachgeben bringen, doch gab es in Irland Menschen, die aus anderem Holz geschnitzt waren. Wenn man in London glaubte, die Presbyterianer von Ulster würden sich von Katholiken regieren lassen, unterlag man einem verhängnisvollen Irrtum. Lord Randolph Churchill hatte mit seiner Warnung Recht gehabt: »Ulster wird kämpfen und das mit Recht.« Gott sei Dank hatte die konservative Opposition Gladstones törichte Vorlage abgeschmettert. Doch Parnell hatte keine Ruhe gegeben. In kürzester Zeit hatte er die Tory-Regierung dazu gebracht, den Iren alle möglichen Zugeständnisse zu machen – nur nicht die Gewährung der Unabhängigkeit. Ein solches Zugeständnis waren auch die Darlehen, mit denen Fintan ihr jetzt das Land abkaufen wollte.
»Verräter.« Sie sagte das Wort laut in den leeren Raum. Ein Mann, der seine Standesangehörigen verriet. Oder noch schlimmer: Seinetwegen wandte sich das ganze britische Parlament gegen seinesgleichen, die irische Oberschicht. Die Katholiken bekamen Geld, damit sie das Land der Protestanten aufkaufen konnten, auf dem diese seit Jahrhunderten lebten. Die Protestanten konnten sich nur noch zurückziehen wie pensionierte Beamte – und wohin? In eine Wohnung in Dublin oder eine Vorstadtvilla in England – sie, die ehemaligen Herren der weiten irischen Lande. »Verräter«, sagte Rose Budge noch einmal, zum Feuer gewandt.
Wenigstens, so hieß es, bediene Parnell sich parlamentarischer Mittel. Es gab andere in Irland, die mit anderen Mitteln kämpften, sogar mit Mord, um ihre Ziele zu erreichen. Aber waren einige dieser Teufel nicht auch Anhänger Parnells? Vor einigen Jahren war im Phoenix Park der arme Lord Frederick Cavendish, der irische Chief Secretary, von Extremisten ermordet worden. Rose Budge hatte damals gelesen, Parnell stecke hinter dem Anschlag. Inzwischen galt das als falsch. Das mochte stimmen, sie konnte es nicht beurteilen. Aber Parnell war trotzdem ein Verbrecher.
Seine Strafe hatte er erhalten. Er tat ihr nicht leid. Wie sie gehört hatte, hatte er mit einer gewissen Mrs O’Shea zusammengelebt, die nicht seine Frau war, sondern die Frau eines anderen, von dem sie aber getrennt lebte. Eine herzensgute Person, hieß es, und von ihrem Mann vernachlässigt. Dass ihr Mann sich unter diesen Umständen und nach all den Jahren von ihr scheiden ließ und Parnell als ihren Liebhaber namentlich benannte, war stillos. Es gehörte sich nicht für einen Gentleman und es hatte Parnell vernichtet. Die Engländer waren auf Distanz zu ihm gegangen und genauso die katholische Kirche Irlands, die sich nie damit hatte anfreunden können, dass Parnell Protestant war. Man hatte ihn aus der Politik getrieben. Er war am Ende.
Ein unrühmliches Ende, gewiss, doch tat er ihr nicht Leid.
Jetzt stellte sich die Frage, was sie mit dem Schlamassel tun sollte, den Parnell vor ihrer Tür angerichtet hatte. Was sollte sie Fintan O’Byrne antworten?
Am Morgen darauf fuhr sie in der Kutsche nach Wicklow hinunter. Sie trug dazu nicht ihren Turban, sondern einen Filzhut von der Form eines umgedrehten Blumentopfes. In Wicklow begab sie sich geradewegs in die Kanzlei ihres Anwalts Quinlan Smith. Der Anwalt hörte ihr aufmerksam zu, nickte und stellte ihr dann eine Frage.
»Wollen Sie das Land an Fintan O’Byrne verkaufen?«
»Keineswegs.«
»Darf ich fragen, warum nicht?«
»Weil es mir und meiner Familie gehört«, antwortete sie wahrheitsgemäß, »und weil ich nicht um die halbe Welt gereist bin, nur um es wegzugeben.«
»Sie haben das Gefühl, dass Sie hierher gehören?«
»Natürlich, wohin sonst?«
»Verstehe.« Der Anwalt nickte nachdenklich. »Obwohl Sie überrascht wären, wie viele Angehörige genauso alter Familien dieser Tage verkaufen.« Er machte eine Pause. »Ich brauche Ihnen wahrscheinlich nicht zu sagen, dass Sie nicht verkaufen müssen, wenn Sie das nicht wollen.«
»Gut.«
Das Gespräch hätte hier zu Ende sein können, doch Rose Budge blieb sitzen. Der Anwalt wartete einen Moment, dann fragte er vorsichtig nach.
»Ihnen liegt trotzdem noch etwas auf dem Herzen.«
»Vielleicht.«
»Sie fürchten, Sie könnten mit Ihrer Weigerung auf Unmut stoßen?«
»Ich habe keine Angst vor meinem Pächter, wenn Sie das meinen.«
»Daran hätte ich nie gedacht«, sagte der Anwalt beschwichtigend.
»Ich war lange Jahre abwesend«, sagte Rose Budge ein wenig traurig. »Die Hälfte der Menschen, die ich von früher kenne, sind tot. Ich lebe in meiner Heimat unter Fremden. Aber sehen Sie, ich muss mit ihnen leben.«
»Richtig.«
»Wenn mein Mann noch lebte, wäre alles anders. So merkwürdig es klingt, aber ich kenne Fintan O’Byrne kaum. Ich erinnere mich an ihn als Kind, aber ich weiß nicht, was für ein Mensch er jetzt ist.«
»Er hat keinen schlechten Ruf, sonst wüsste ich davon.« Der Anwalt überlegte. »In den Jahren Ihrer Abwesenheit hat sich natürlich viel geändert, und es wird sich wohl noch mehr ändern. Aber ich bin sicher, dass Sie sich in Rathconan bald so zu Hause fühlen werden wie früher. Die Menschen sind sich gleich geblieben. Wünschen Sie, dass ich mit O’Byrne spreche?«
»Das mache ich besser selbst.«
»Ganz Ihrer Meinung. Ich bin nächste Woche zufällig in der Nähe von Rathconan. Ich könnte bei Ihnen vorbeisehen.«
Rose Budge bedeutete ihm mit einem Nicken, dass sie das Angebot dankbar annahm.
»Vielleicht darf ich Ihnen empfehlen, von Zeit zu Zeit Wicklow zu besuchen und auch Dublin? Dadurch können Sie in diesen wechselhaften Zeiten am besten Kontakt mit der öffentlichen Meinung halten.« Der Anwalt lächelte. »Dabei fällt mir ein, haben Sie schon das Neueste gehört? Ich habe es erst heute Vormittag erfahren.«
Rose Budge schüttelte den Kopf.
»Parnell ist gestorben. Er war seit einiger Zeit krank, wie Sie vielleicht wissen. Er starb in England, in Brighton, drunten an der Küste. Soviel ich weiß, war seine Frau, vormals Mrs O’Shea, bei ihm.« Er seufzte. »Dabei war er erst fünfundvierzig.«
Es war noch hell, als Rose Budge nach Rathconan zurückkehrte. Sie ließ Fintan sofort rufen. Er kam wieder in Begleitung des Jungen und sie wusste wieder nicht, warum.
»Bedaure, Fintan«, sagte sie, »aber ich kann Ihnen das Land nicht verkaufen. Jedenfalls jetzt noch nicht.«
»Tut mir leid, das zu hören, Mrs Budge.«
Sie gab mit einem Nicken zu verstehen, dass sie nichts weiter zu sagen hatte. Dann, als er sich schon zum Gehen wandte, fiel ihr noch etwas ein. »Ich habe heute übrigens in Wicklow erfahren, dass Parnell gestorben ist.«
»Gestorben?« Fintan zuckte zusammen wie unter einem Schlag, dann verbeugte er sich und ging ohne ein weiteres Wort.
Rose Budge sah ihm nach. Den Jungen beachtete sie nicht.
***
Willy hatte das Gespräch aufmerksam verfolgt und gehört, wie Mrs Budge den Wunsch seines Vaters, sein Land zu kaufen, zurückwies. Außerdem schien ihm, als habe Mrs Budge seinen Vater mit ihrer beiläufigen Erwähnung von Parnells Tod bewusst kränken und demütigen wollen. Auf dem Heimweg merkte er, dass sein Vater den Tränen nahe war. Er wagte es deshalb nicht, ihn anzusprechen.
Am folgenden Tag hörte er seinen Vater bekümmert zu seiner Mutter sagen: »Solange diese Frau lebt, bekommen wir unser Land nicht zurück.«
Zwei Wochen später sagte sein Vater zu ihm: »Du wirst zu deiner Tante in Dublin fahren, Willy, und dort in die Schule gehen.«
»Aber ich will zu Hause bleiben«, rief der Junge.
»Es ist zu deinem Besten, Willy. Du sollst eine Ausbildung haben. Ich weiß, dass du ein guter Schüler sein wirst. Und in den Ferien kommst du immer zu uns nach Hause.«
Willy hätte nicht sagen können warum, aber er war überzeugt, dass zwischen dem Gespräch seines Vaters mit Mrs Budge und seiner Verbannung von zu Hause ein Zusammenhang bestand.
* 1903 *
Sheridan Smith blickte durch das große Fenster in den Nebel hinaus und überlegte, ob alle sein Haus finden würden. Wahrscheinlich, denn schwer war es nicht zu entdecken: vom St. Stephen’s Green die Baggot Street entlang, über den Kanal und nach einer weiteren Achtelmeile rechts. Ein Kinderspiel. Außerdem begann der Nebel sich zu lichten. Vor einer Stunde hatte man nicht einmal das Haus auf der anderen Straßenseite gesehen.
Er gestand es sich nur ungern ein, aber ein wenig aufgeregt war er nun doch. Denn der Graf kam. Und der Graf war noch nie bei ihm zu Gast gewesen.
Die Wellington Road war eine freundliche Straße. Sie war breit, von kleinen Bäumen umsäumt und wirkte mit ihren Häuserzeilen hinter lang gestreckten Rasenstücken und Kieswegen fast wie ein belaubter Pariser Boulevard. Sie war Teil des prosperierenden Familienbesitzes der Pembrokes, zu dem die beiden früheren Dörfer Ballsbridge und Donnybrook gehörten. Zusammen mit Ranelagh und Rathmines im Westen bildeten sie eine Kette vornehmer Vorstädte südlich des Grand Canal, kaum eine Meile vom St. Stephen’s Green entfernt. Anwälte, Beamte, Bankiers und andere, darunter mehr Protestanten als Katholiken, wohnten dort. Sie brauchten nicht die Kommunalsteuern der alten Stadt zu zahlen oder den Armen zu begegnen, die deren Mietshäuser und Straßen bevölkerten.
Sheridan Smith und seine Familie pflegten zum sonntäglichen Lunch Gäste einzuladen, und gewöhnlich versammelte sich eine interessante Gesellschaft. Diese Gewohnheit hatten die Smiths von den Mountwalshs übernommen.,
Stephen Smith und Maureen Madden hatten ohne Frage eine erfolgreiche Familie begründet. Sie hatten drei Kinder: Mary, in einigem Abstand gefolgt von den beiden Jungen Sheridan und Quinlan. Stephen hatte für den Rest seines Arbeitslebens die Güter der Mountwalshs verwaltet, und der häufige Kontakt mit dieser in die Adelsränge aufgestiegenen Familie hatte seinen Kindern zweifellos genützt. Sheridan war eine einflussreiche Persönlichkeit in Dublin, sein Bruder Quinlan war das Gleiche in Wicklow eine Nummer kleiner. Sheridan Smith interessierte sich für das Theater, die Künste und die Politik. »Mir steht jede Tür in Dublin offen«, pflegte er zu sagen. Natürlich sagte er es nicht laut, aber er freute sich, wenn andere das auch fanden.
Er hatte gut geheiratet – seine Frau gehörte dem reichsten Zweig der MacGowans an – und wohnte zwar nicht im größten, aber doch in einem sehr bequemen Haus auf der Nordseite der Wellington Road. Dort gab es nur gute Häuser.
Er ging in Gedanken noch einmal rasch die Gäste durch, die er erwartete. Da war zunächst einmal seine Mutter, Maureen Smith. Sie war inzwischen seit fast zwanzig Jahren verwitwet, hielt sich aber immer noch aufrecht, steckte voller Unternehmungslust und besaß einen wachen Verstand. Weiter Father Brendan MacGowan, ein Cousin seiner Frau, der einen jungen Mann mitbrachte, für den Sheridan etwas tun sollte. Auch den jungen Gogarty hatte Sheridan eingeladen, einen lebhaften Burschen, der es noch weit bringen würde. Ferner einen Gentleman, der immer für eine anregende Unterhaltung gut war, und schließlich den Grafen und die Gräfin, »die adlige Seite meiner Familie«, wie Sheridan mit einem Lächeln zu seiner Frau sagte.
Es musste die Mountwalshs hart getroffen haben, dass der jüngste Enkel des alten Earl sich in Stephen Smiths Tochter Mary verliebt hatte. Doch hatten sie sich sehr großzügig gezeigt und die Hochzeit nicht verhindert. Sheridan war damals noch klein gewesen. Er hatte sich mit Marys Tochter Louisa immer gut verstanden. Und Louisa war für ihn noch interessanter geworden, als sie einen überaus vornehmen älteren Herrn geheiratet hatte, den Grafen Birne. Louisa und der Graf lebten jetzt zu gleichen Teilen in der Grafschaft Meath, wo sie sich ein Anwesen gekauft hatten, und in Paris. Gegenwärtig hielten sie sich einige Tage in Dublin auf und hatten versprochen, zum Lunch zu kommen und ihre kleine Tochter mitzubringen.
Hätte er deshalb vornehmere Gäste einladen sollen? Keineswegs, sagte er sich, es war ein Familientreffen. Er führte ein gutbürgerliches Haus und brauchte sich dessen nicht zu schämen. Außerdem wusste er, dass der alte Adel mit seinem Grundbesitz zwar ungeheures Ansehen genoss, dass aber in Wirklichkeit Leute wie er selbst in zunehmendem Maße die Geschicke Irlands bestimmten. Sollte in dem Grafen je der Wunsch erwachen, eine Rolle im öffentlichen Leben Irlands zu spielen – allerdings deutete bisher nichts darauf hin –, dann, dachte Sheridan, wäre er wahrscheinlich froh, mit mir verwandt zu sein.
Durch den Nebel gedämpft hörte er Klingel und Hupe, und im nächsten Augenblick fuhr sein erster Gast munter strampelnd und eine halbe Stunde zu früh auf einem Fahrrad die Straße entlang.
***
Willy O’Byrne hatte es eilig. Er hatte eine kleine Besorgung erledigt, doch durfte er Father Brendan MacGowan und mit ihm womöglich seine Zukunft nicht verpassen. »Sei pünktlich«, hatte der Priester gesagt. »Ich werde nicht auf dich warten.«
Die Montgomery Street verlief im schiefen Winkel nur wenige hundert Meter hinter dem im palladianischen Stil gebauten Zollhaus am Nordufer des Liffey. Während das georgianische Dublin anmutig über das Wasser in Richtung Trinity College blickte, pulsierte in seinem Rücken, einer geselligen Kloake gleich, das andere Leben der Stadt: die »Monto« – die Straße seiner Sünden und Scham, die Straße der Huren. An diesem Sonntagvormittag war sie zur Abwechslung einmal ruhig, fast menschenleer. Willy tauchte in die Abbey Street ein und gelangte auf die prächtige Sackville Street, die wie im Triumphzug vom Fluss nach Norden führte. Er setzte den Weg nach Süden fort und überquerte den Liffey. Er hätte den Weg mit verbundenen Augen gefunden.
Weißer Nebel hatte sich über die Stadt gesenkt, hüllte Willy ein und setzte sich in winzigen Tröpfchen an ihm fest. Man konnte ihm nicht entkommen.
Der junge Mann eilte am Eingang des Trinity College vorbei, ohne neugierig hineinzublicken, da er es sowieso nicht besuchen würde, und ging weiter nach Osten. Kurz nach der Abzweigung der Dawson Street sah er den Buchladen mit den geschlossenen Fensterläden, wo er den Priester treffen sollte.
Er klopfte wie verabredet an einen Fensterladen. Kurz darauf ging neben ihm eine Tür auf, und Father Brendan MacGowan trat heraus. Er hatte graues Haar und ein freundliches Gesicht und war ein wenig korpulent. Er schloss die Tür hinter sich mit einem Knall, zog eine kleine silberne Uhr aus der Tasche, warf einen Blick darauf und lächelte.
»Du bist pünktlich«, sagte er überrascht. Er wies mit einem Nicken auf die geschlossenen grünen Läden. »Der Buchladen meines Bruders. Kennst du meinen Bruder?«
Willy hatte zumindest viel über ihn gehört. MacGowans Buchladen war eine Welt für sich, über die der jüngere Bruder des Priesters stumm präsidierte. Wagte es jemand, ein Buch zu berühren, so schloss er ein Auge und starrte den Übeltäter mit dem anderen an. Man nannte ihn deshalb den Zyklopen. Doch hatte Willy auch gehört, dass er zu den Kunden, die ihm gefielen, sehr freundlich war.
»Nicht persönlich«, antwortete er.
Der Priester schritt bereits munter aus, und Willy ging an seiner Seite.
»Wir sind zu dritt, musst du wissen«, erklärte er. »Mein älterer Bruder hat den Hof übernommen, den mein Vater droben in der Grafschaft Meath gekauft hat.« Er zeigte mit der Hand in die ungefähre Richtung der Stadt Tara. »Ich wurde Priester und mein jüngerer Bruder hat den Laden. Deiner Tante und deinem Onkel geht es hoffentlich gut?«
Willys Onkel, der die Schwester von Willys Vater geheiratet hatte, arbeitete in der Brauerei Guinness. Besser konnte man es nicht treffen. Wer dort arbeitete, hatte fürs ganze Leben ausgesorgt. Er verdiente gut, und es fehlte ihm an nichts. Wie ein gewaltiger, weihrauchgeschwängerter Tempel, eine dritte, überkonfessionelle Kathedrale ragten die Brauereigebäude westlich der Burg in Richtung der Kilmainham-Kaserne auf. Das war nicht unbedingt vorauszusehen gewesen, als der 34-jährige Arthur Guinness 1759 am Dubliner St.-James-Tore die Pacht für eine kleine, stillgelegte Brauerei erworben hatte. Arthur musste sich seiner Sache sehr sicher gewesen sein, denn er schloss den Pachtvertrag für die nächsten 9000 Jahre ab, obwohl es damals schon 200 Brauereien in Irland gab. Zunächst braute er das damals übliche Ale, dann führte er ein starkes Bier aus England ein, das er Porter nannte – nach den Lastenträgern auf den Londoner Fisch- und Gemüsemärkten. Um konkurrenzfähig zu bleiben und seine kleine Kinderschar, 21 an der Zahl, zu ernähren, braute Arthur Guinness schließlich ein noch stärkeres Bier, das Extra Stout, hergestellt aus Hopfen, gerösteter Gerste, Hefe und reinstem Dubliner Wasser. Es war lakritzschwarz, der Schaum cremig weiß. Seit 1833 war Guinness die größte Brauerei Irlands und auch die sozialste – die Löhne lagen weit über dem Durchschnitt. Die medizinische Versorgung des Personals, aus welchen Gründen auch immer, übrigens auch. Die Brauereipferde und die auf dem Liffey schwimmenden Flöße mit den Guinness-Fässern waren aus dem Stadtbild Dublins nicht mehr wegzudenken. Verschiedene Generationen derselben Familien arbeiteten bei Guinness in dem beruhigenden Wissen, dass die heilige schwarze Flüssigkeit, die sie herstellten, das Lebenselixier der Menschen war. Hatte sein Vater gehofft, dass sein Onkel, der nur zwei Töchter, aber keinen noch lebenden Sohn hatte, ihn dort unterbringen könnte? Hatte sein Vater vielleicht gegenüber seinem Onkel eine derartige Andeutung gemacht? Damals an jenem Tag, an dem Willy in die Stadt gekommen war und sein Vater ihn, wie es sich für einen Vater gehörte, zusammen mit seinem Onkel in den Pub mitgenommen hatte, wo er zum Zweck seiner Aufnahme in die Welt der Männer einen Humpen Bier geleert hatte? Willy wusste es nicht, jedenfalls war es nie zu einem entsprechenden Angebot gekommen, und er war insgeheim froh darüber. Zwar hatte er nicht das Geringste gegen die Brauerei einzuwenden, doch wäre es ihm peinlich gewesen, ein solches Geschenk ablehnen zu müssen.
»Ja, Father.«
Es ging ihnen gut, sehr gut sogar, in jeder Beziehung.
»Und deinen Cousinen? Soviel ich weiß, hat dein Onkel drei Töchter.«
»Geht es auch gut.« Hervorragend. Während für Männer die Brauerei Guinness das Ziel der Träume war, stand das Pendant für Frauen eine halbe Meile südlich von der Burg, in der Nähe der St.-Patricks-Kathedrale. Dort erhob sich ein zweiter Tempel: Jacobs Keksfabrik.
Die Quäker leisteten schon lange in aller Stille einen Beitrag zu Handel und Wohlfahrt Irlands. Einige waren durch ihre Tüchtigkeit zu wahren Patriarchen aufgestiegen, darunter die sehr vermögenden Jacobs, Newsoms und Bewleys. Jacobs Cream Cracker und die bunten Keksdosen waren auf der ganzen Welt bekannt. Und die Jacobs waren, wie bei Quäkern üblich, gute Arbeitgeber. Rund vierzehnhundert Männer und Frauen arbeiteten in Dublin für sie, und für das Weihnachtsgeschäft wurden weitere Arbeiter eingestellt. Natürlich bekamen die Frauen weniger Geld als die Männer. Die Herren der Schöpfung wären sonst empört gewesen. Doch zwei der drei Töchter von Willys Tante arbeiteten im Ackord in der Bäckerei und verdienten gut dabei.
»Wir kommen der Sache näher«, sagte Father MacGowan, als sie in die Kildare Street einbogen. An der Ecke erhob sich, mit seinem dunkelroten Ziegelportal und den höhlenartigen Marmorsälen einem phantastischen orientalischen Palast ähnlich, der Kildare Street Club, eine Bastion gesellschaftlicher Macht. Ob Father MacGowan diesen Pub betreten durfte?, überlegte Willy. Wahrscheinlich nicht.
Sie kamen an der Nationalbibliothek vorbei, am Herzogspalast und am Nationalmuseum. Sie gelangten zum Ende der Straße und auf den St. Stephen’s Green. »Aha«, sagte Father MacGowan, »das Shelbourne Hotel. Dort lernt man die besten Leute kennen.« Und für Willy einigermaßen überraschend fügte er hinzu: »Du hast wahrscheinlich nie daran gedacht, in den Priesterstand einzutreten?«
Willy hatte nicht die besten Schulen besucht, die der Jesuiten, doch die Christlichen Brüder hatten ihn gründlich unterrichtet, wenn auch oft unter Zuhilfenahme der Rute. Er galt als intelligent und kam deshalb für den Priesterberuf in Frage. Auch dieser Stand bot Sicherheit, vielleicht noch mehr als die Brauerei. Priester waren geachtet und der Stolz ihrer Angehörigen. Von der eigenen seelischen Läuterung ganz zu schweigen.
»Ich würde eines Tages gern heiraten«, antwortete er.
»Jedenfalls«, sagte Father MacGowan, »werden wir bei Sheridan Smith bestimmt hervorragend speisen.«
Oliver St. John Gogarty war Gelehrter, Dichter und Sportler in einem. Mahaffy vom Trinity College hielt ihn für den besten Studenten, den er je gehabt hatte, und Mahaffy hatte auch Oscar Wilde unterrichtet – obwohl dessen Name in Dublin tabu war, seit er 1895 in einem Skandalprozess vielfacher homosexueller Affären überführt worden war. Gogarty hingegen hatte dreimal den Preis für Dichtung gewonnen, eine ganz erstaunliche Leistung. Er bevorzugte griechische Metren vor den gängigen englischen Pentametern und war obendrein ein Spaßmacher. Mit seinen dunkelblauen Augen und den dicken braunen, golden schimmernden Haaren sah er vielleicht nicht wie ein griechischer Gott aus, aber doch wenigstens wie ein irischer Held.
»Ich hätte gern meinen Freund James Joyce mitgebracht«, sagte er munter zu seinem Gastgeber, nachdem er sein Fahrrad abgestellt hatte. »Aber er wollte nicht.«
Sheridan Smith war das nicht unrecht. Er kannte Joyce nicht, wusste aber, das Oliver Gogarty, der sehr freizügig mit Komplimenten war, den jungen Mann für ein Genie hielt und bei jeder Gelegenheit rühmend von ihm sprach. Dabei konnte man den jungen Joyce sicher nicht mit Gogarty vergleichen. Außerdem war Gogarty ein Gentleman, der arme Joyce aber nicht.
»Father MacGowan bringt einen mittellosen Studenten mit«, sagte er. »Wären Sie so nett, sich um ihn zu kümmern, wenn ich beschäftigt bin?«
***
Willy O’Byrne näherte sich dem Haus mit einiger Beklemmung. Es war sehr freundlich von Father MacGowan, dass er sich für ihn interessierte. Schließlich kannte er ihn nur, weil er gelegentlich an seiner Schule unterrichtete. Abgesehen von dem Priester und seiner Familie, deren Mittel sehr beschränkt waren, hatte Willy niemanden, der ihm bei seinem Fortkommen in der Welt helfen konnte. Als er jetzt in die Wellington Road einbog und die großen Häuser sah, die aus dem Nebel gelangweilt auf ihn niederblickten, fiel ihm plötzlich ein, dass er noch nie in einem solchen Haus gewesen war. Der Priester schien zu hoffen, dass ihr Gastgeber etwas für Willy tun könnte. Aber wenn er nun einen schlechten Eindruck machte? Interessierte sich der Priester dann nicht mehr für ihn? Was sollte er sagen?
»Hör den anderen einfach zu«, sagte Father MacGowan, als könnte er seine Gedanken lesen. »Und antworte höflich, wenn du angesprochen wirst. Du wirst deine Sache gut machen, sonst hätte ich dich nicht mitgenommen. So, da wären wir.«
Drei Minuten später hörte er mit bleichem Gesicht den anderen zu, als ginge es um sein Leben. Er hatte sich noch nie in Gesellschaft eines Grafen befunden.
Man sah Graf Birne an, dass er gesundheitlich angeschlagen war. Er stützte sich auf einen Spazierstock aus Ebenholz. Er war groß und mager und trug eines der neuen zweireihigen Jacketts und Hosen mit Aufschlägen – die neueste Mode, die sogar im Kildare Street Club, dem der Graf angehörte, noch kaum zu sehen war. Die schwarzen, grau melierten Haare auf seinem vornehmen Kopf waren fast mittig gescheitelt. Dazu trug er einen genau in der Mitte geteilten und zur Seite gebürsteten Schnurrbart. Seine Nase war etwas größer, als man bei einer so sorgfältig gepflegten Erscheinung erwartet hätte. In der rechten Hand hielt er nachlässig zwischen dem zweiten und dritten Finger eine türkische Zigarette. Seine braunen, melancholischen Augen blickten wohlerzogen auf sein jeweiliges Gegenüber – in diesem Fall den jungen Gogarty, der von einer solchen Persönlichkeit keineswegs eingeschüchtert schien. Auf Gogartys Frage nach der Herkunft seines Titels erwiderte der Graf ruhig: »Ich bin ein Graf des Heiligen Römischen Reiches.«
Diese Antwort tröstete Willy ein wenig. Wenigstens war diese ehrfurchtgebietende Gestalt ein Katholik.
Willys Gesprächspartnerin war die alte Mrs Maureen Smith, mit der ihm die Konversation leicht fiel. Kurz darauf sprach Father MacGowan mit dem Grafen, und Gogarty trat zu Willy und plauderte freundlich mit ihm. Willy erfuhr, dass er Arzt werden wollte. Gogarty war nur wenig älter als er, doch merkte Willy sofort, was für Vorteile er aufgrund seiner Herkunft im Vergleich zum ihm genoss. Er bewegte sich mit großer Leichtigkeit und Anmut in dieser feinen Gesellschaft.
Mehrere Kinder tauchten auf. Die Gräfin, eine elegante Frau, war mit ihrer Tochter nach oben verschwunden, denn der Tochter war offenbar kurz nach ihrer Ankunft übel geworden.
Beim sonntäglichen Familienmahl der Smiths ging es sehr entspannt zu. Die Kinder aßen mit den Erwachsenen, durften aber früher aufstehen. Erst dann wandten die Gespräche sich interessanteren Dingen zu.
Willy stellte zu seiner Überraschung fest, dass der Graf, statt Fragen zu seiner eigenen erlauchten Person zu beantworten, die Meinung der Anwesenden zu verschiedenen Themen hören wollte. »Ich habe in den vergangenen Jahren zu wenig Zeit in Irland verbracht«, erklärte er. »Jedes Mal, wenn ich hierherkomme, wächst meine Verwirrung.« Er lächelte. »Vor einigen Jahren war viel von irischer Selbstverwaltung die Rede, in den letzten zehn dagegen weniger. Doch jetzt stelle ich fest, dass John Redmond, der Parnells Platz einnimmt und im britischen Parlament nicht weniger als achtzig Parlamentarier anführt, wieder auf Selbstverwaltung hofft. Außerdem hörte man früher von Extremisten, die bereit waren, die Briten mit Gewalt zu vertreiben. Was ist aus ihnen geworden? Gibt es sie nicht mehr? Die britische Regierung dagegen scheint inzwischen alles zu tun, die Macht der Protestanten zu untergraben. Was hat das zu bedeuten? Ist der Geist Parnells aus dem Grab auferstanden? Sind wir jetzt Briten oder Iren? Protestanten oder Katholiken?« Er ließ den Blick um den Tisch wandern. »Sagen Sie mir, Father MacGowan, wo steht die Kirche – meine Kirche?«
»Das kann ich Ihnen genau sagen«, erwiderte der Priester mit einem Lächeln.
»Was angesichts seiner jesuitischen Neigungen heißt, dass er Ihnen gar nichts sagen wird«, fügte Sheridan Smith hinzu und lächelte ebenfalls.
Der Priester überging seinen Einwurf. »Viele Priester und sogar einige Bischöfe erinnern sich noch an die Aufbruchsstimmung zur Zeit Daniel O’Connells und neigen dazu, das Streben nach Selbstverwaltung zu unterstützen.«
»Obwohl sie Charles Stewart Parnell vernichtet haben«, erinnerte sein Gastgeber ihn.
»Sie konnten seinen Ehebruch nicht ignorieren, nachdem er in aller Munde war«, entgegnete Father MacGowan ruhig. Er nahm einen Schluck Wein. »Aber darum geht es nicht. Entscheidend war und ist, dass Kardinal Cullen sich mit seiner Meinung – oder besser seiner unbezwingbaren Persönlichkeit – durchsetzen konnte. Natürlich hat er die Extremisten verurteilt, darüber brauchen wir nicht zu streiten. Aber er hat nicht zugelassen, dass die irische Kirche sich politisch engagiert, für welche Seite auch immer. Sie werden sich erinnern: Als die britische Regierung anbot, die katholische Kirche wie die Kirche von Irland und die Presbyterianer finanziell zu unterstützen, wollte er das Geld nicht nehmen. Und wenn man sich die vielen Kirchen ansieht, die wir in den letzten dreißig Jahren gebaut haben, sind wir auch ohne das Geld sehr gut zurechtgekommen. Die Kirche wird sich der Politik also nicht beugen. Der Kardinal hat viele Jahre in Rom verbracht und deshalb sicher einen weiteren Blick als die meisten Priester hier. Und auf lange Sicht wird er Recht behalten. Die Kirche wird ihren angestammten Platz als übergeordnete Autorität einnehmen, sobald Irland unabhängig ist.«
»Sie glauben, Irland wird unabhängig werden?«
»Zweifellos. Redmond und seine Irish Parliamentary Party haben achtzig Sitze. Sie werden Druck auf die Regierung ausüben, bis die Briten nicht mehr anders können. Früher oder später werden ihre Stimmen wie damals bei Parnell bei einer Wahl den Ausschlag geben. Und dann wird die begrenzte Selbstverwaltung, die Home Rule, der Preis sein. Es mag noch einige Zeit dauern und wir müssen uns mit Geduld wappnen. Aber die Selbstverwaltung wird kommen.«
»Sie scheinen sich von der Politik noch nicht gänzlich losgesagt zu haben, wie ich sehe«, bemerkte der Graf mit einem freundlichen Lächeln. »Doch sagen Sie, Sheridan, sind Sie auch dieser Ansicht?«
»Nein. Ich sage etwas ganz anderes voraus.« Der Gastgeber überlegte kurz, bevor er fortfuhr: »Zunächst einmal haben Sie bei Ihrer Argumentation etwas vergessen, Hochwürden. Redmond mag im Unterhaus über wichtige Stimmen verfügen und ein irlandfreundliches Gesetz durchbringen, wie es ja schon zuvor unter Gladstone der Fall war. Nur, das britische Oberhaus wird es wieder kippen, und das vermutlich bis zum Jüngsten Tag. Doch ist das andererseits gar nicht mehr entscheidend. Denn die gegenwärtige Irlandpolitik der Briten wird Früchte tragen.«
Schon vor einigen Jahren, erinnerte er die Anwesenden, hätten die Briten der protestantischen Gentry die Verwaltung auf lokaler Ebene abgenommen und sie ortsansässigen, überwiegend katholischen Männern übertragen, Kaufleuten, Händlern und Anwälten. Die Grundbesitzer hätten ihre Macht unwiederbringlich verloren. Und im August sei ein neues, verbessertes Landgesetz verabschiedet worden.
»Haben Sie sich die Bestimmungen dieses Gesetzes genau angesehen? Sie laufen darauf hinaus, dass die britische Regierung das Land der protestantischen Grundbesitzer aufkauft. In zehn Jahren wird es keine protestantische Oberschicht mehr geben. Irland wird ein Land katholischer Bauern sein. Wahrscheinlich werden Redmond und seine Anhänger trotzdem versuchen, die Selbstverwaltung durchzusetzen. Doch wenn sie damit scheitern, wird das in Irland meiner Einschätzung nach keinen Aufstand hervorrufen, weil die Selbstverwaltung den meisten Iren egal ist.«
Sheridan Smith blickte zufrieden in die Runde. Der Graf nickte nachdenklich und ließ den Blick um den Tisch wandern. Bei Willy hielt er an.
»Mich würde interessieren, was dieser junge Mann denkt«, sagte er freundlich.
Willy spürte, wie er blass wurde.
Alle sahen ihn an. Welche Antwort erwartete man von ihm? Würde er nicht unweigerlich jemanden in dieser Runde kränken und seine Chancen ruinieren? Er holte tief Luft.
»Mein Vater ist Pächter und will nur eines: sein Land kaufen.« Er verstummte. Alle nickten. Also hatte er nichts Falsches gesagt. Er konnte es dabei bewenden lassen. Seine Anspannung lockerte sich, doch im selben Moment stand ihm plötzlich das Bild seines Vaters und Mrs Budges vor Augen. Dann dachte er an seine Mutter und ihren Zorn. Er hatte soeben die Wahrheit gesagt, aber nicht die ganze. Wusste Father MacGowan das? Wartete er womöglich wie im Beichtstuhl auf etwas Handfesteres? Die anderen hatten noch nichts gesagt, als spürten sie sein Zögern. Willy schlug den Blick nieder und dann ließ er sich von seinen Gefühlen mitreißen: »Aber in Wirklichkeit werden er oder meine Mutter erst zufrieden sein, wenn alle protestantischen Engländer Irland verlassen haben und Irland frei ist.«
So, er hatte es gesagt. Einen kurzen Moment lang schienen die um den Tisch Versammelten die Luft anzuhalten. Hatte er sich soeben um seine Zukunft geredet? Jedenfalls hatte er Sheridan widersprochen und ihn wahrscheinlich verärgert, obwohl der Journalist vielleicht Arbeit für ihn gehabt hätte. Er hatte versagt, noch bevor er angefangen hatte. Er hatte sich selbst alles verdorben.
Der Graf, der von solchen materiellen Ängsten nichts wusste, schien vergnügt. Gogarty, der Willys Probleme besser verstand, kam ihm zu Hilfe. »Natürlich, er hat vollkommen Recht«, rief er fröhlich. »Ich hätte dasselbe sagen können. Aber wissen Sie, was ich am meisten fürchte, wenn wir erst unabhängig sind?«
»Nein«, sagte Sheridan Smith lächelnd, der seine Freude an dem Wortwechsel hatte, »aber Sie werden es uns bestimmt gleich sagen.«
»Die schreckliche Lady Gregory«, sagte Gogarty leidenschaftlich.
»Das ist ungerecht«, sagte Sheridan Smith. »Und grausam, Gogarty.« Einige lachten, Willy aber schaute ganz ernst. Er wusste zwar, dass Gogarty die Bemerkung halb im Scherz gemacht hatte, doch sie kränkte ihn trotzdem.
Lady Gregory, eine verwitwete Grundbesitzerin aus Galway, hatte sich vorgenommen, die irische Sprache zu erlernen.
Damit war sie nicht allein. Es gab inzwischen eine ganze Bewegung, die das reiche keltische Erbe Irlands wiederbeleben wollte. Die Kunstwerke wie die herrlichen alten illustrierten Bücher und die keltischen Kreuze mit ihren verschlungenen Mustern waren leicht zu bewundern. Mit dem Wort verhielt es sich anders: Das Irische war, außer für Muttersprachler, schwer zu erlernen. Es war im Westen die vorherrschende Sprache gewesen, doch der Exodus und die Vertreibungen im Gefolge der großen Hungersnot hatten die Verbreitung des Gälischen auf einige Ecken von Connacht beschränkt. Viele hatten schon befürchtet, die Sprache könnte aussterben.
Doch engagierte Menschen hatten sie gerettet. Der Dichter Yeats hatte sich von ihr und ihren Sagen und Märchen anregen lassen. Hyde, ein protestantischer Pfarrerssohn mit einer deutschen Frau, hatte bereits 1893 die Gälische Liga, die Conradh na Gaeilge gegründet, um die alte Sprache vor dem Aussterben zu bewahren, und jetzt wurde sie überall hochgehalten. Mit seiner Ankündigung, die irische Nation »ent-anglisieren« zu wollen, hatte Douglas Hyde sogar für einen Skandal am Trinity College gesorgt.
Doch die wichtigste Aufgabe hatte in Willys Augen Lady Gregory, obwohl nur eine Frau, gelöst. Sie hatte sich nicht nur mit der gesprochenen Sprache beschäftigt, sondern auch mit den oft dunklen und komplexen Geschichten der mittelalterlichen Manuskripte. Sie hatte alte irische Sagen und Märchen wiederentdeckt und ins Englische übersetzt, die kurz nach dem Tod des heiligen Patrick aufgeschrieben worden waren. Die erste Sammlung, die den Helden Cuchulainn zum Thema hatte, war vor einem Jahr erschienen. Ein Freund hatte sie Willy ausgeliehen und er hatte sie begierig gelesen. Eine zweite Sammlung sollte in Kürze erscheinen.
»Lady Gregory hat uns unsere alten Helden wiedergegeben«, sagte er leise.
»Das bestreite ich nicht«, erwiderte Gogarty. Er lächelte verschmitzt. »Ist Ihnen übrigens schon aufgefallen, dass die begeistertsten Verfechter der irischen Sprache alle englische Namen tragen? Yeats, Gregory, Hyde? Aber ich will Ihnen meine Einwände gegen Lady Gregory darlegen. Ich habe zwei. Der erste betrifft ihre Sprache. Sie sagt, es sei die Sprache der Bewohner von Kiltartan. Das mag sein, aber wenn man die Syntax des Irischen unverändert ins Englische übernimmt, klingt das unnatürlich und gestelzt. Und wenn das seitenlang so geht, wird es unerträglich. Ich darf das sagen, denn mein Name Gogarty ist ganz gewiss keltischen Ursprungs. Und ich will auch nicht, dass meine Vorfahren alle dem Dialekt von Kiltartan zugeschlagen werden. Yeats, der sich in Altirisch genauso gut auskennt wie Lady Gregory, macht solche Mätzchen nicht. Er schreibt modernes Englisch. Aber er ist ein großer Dichter.«
Willy schwieg. Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Father MacGowan sprang ihm bei.
»Zugegeben, bis zu einem gewissen Punkt«, sagte er. »Doch ich schließe aus Ihren eigenen hervorragenden Gedichten, dass Sie die üblichen, langweiligen Pentameter des Englischen, wie es von den Engländern gesprochen wird, ablehnen. Das von Iren gesprochene Englisch hat einen besonderen Reichtum und eine unübertroffene rhythmische Schönheit. Trotzdem hat Lady Gregory, was immer ihre Beschränkungen sein mögen, Irland einen großen Dienst erwiesen, der Beifall verdient, nicht Spott.«
»Ich gebe Ihnen Recht. Doch hören Sie meinen zweiten Einwand. Ich fürchte die Wiederbelebung des Gälischen, für die Lady Gregory eintritt, weil man das Gälische nicht mit Irland gleichsetzen darf.« Er machte eine wirkungsvolle Pause.
Willy runzelte die Stirn. Die Wiederbelebung des Gälischen beschränkte sich keineswegs nur auf die Literatur. Für die meisten Menschen waren damit gälische Sportarten verbunden wie das alte und vornehme Spiel des mit Schläger und Ball gespielten Hurling. Der gälische Sportverband Gaelic Athletic Association hatte in den vergangenen zwanzig Jahren eine große Gefolgschaft angezogen.
»Sie mögen die GAA nicht?«, fragte er.
»Ich habe nichts gegen einen solchen Verband. Aber warum wird ein Mitglied der GAA, das auch nur einmal beim Kricketspielen erwischt wird, gleich ausgestoßen?«
»Das ist als natürliche Reaktion gegen die englische Vorherrschaft verständlich«, erwiderte Father MacGowan.
»Ich bin Ire«, sagte Gogarty, »ein waschechter Ire. Aber ich will mir nicht vorschreiben lassen, was ich tun darf. Was bedeutet es überhaupt, Ire zu sein? Ist man dann Kelte, was immer das ist? Bevor die Engländer kamen, dürften die Iren sowieso zur Hälfte Wikinger gewesen sein. Wissen Sie, dass jeder sechste irische Name normannisch ist? Aber am meisten Sorgen macht mir, dass man, wenn man sich von England abwendet, nach innen auf diese kleine Insel blickt, statt nach außen. Wir hatten in unserer Geschichte immer mit größeren Zusammenhängen, mit der Kultur, der Religion und dem Handel des katholischen Europa zu tun. Jetzt fürchte ich, dass ich durch die Beschränkung auf das Gälische zuletzt weniger bin als ein Ire.«
Jetzt schlug der Graf mit der Hand auf den Tisch. »Ja«, rief er, »jawohl!«
Sogar Sheridan Smith hob überrascht den Kopf. Niemand hatte dem adligen Herrn einen solchen Temperamentsausbruch zugetraut. »Sie haben Recht, junger Mann. Und vergessen Sie uns nicht, die Wildgänse, die große irische Gemeinde Europas.«
Willy starrte ihn überrascht an. Er hatte schon oft von den »Wildgänsen« gehört, jenen tapferen Männern, die zweihundert Jahre zuvor aus Irland geflohen waren, weil sie nicht unter der Herrschaft der Engländer leben wollten. Doch hatte er nicht damit gerechnet, dass er einmal einen Nachfahren dieser Abenteurer kennen lernen würde, der zu ihnen gehörte. Erstaunt schüttelte er den Kopf.
Der Graf war ins Reden gekommen. »Man findet uns in jedem katholischen Land, in jener Stadt. Soldaten sind wir, Räte, Priester, Anwälte, Kaufleute und Händler und immer Ehrenmänner, die allseits Achtung genießen. Und wir vergessen unsere Herkunft nicht, wir bleiben immer Iren. Emigranten haben das Kolleg der irischen Franziskaner in Prag gegründet. Und wenn ich so sagen darf: Keine Nation wurde mit größeren Ehren ausgezeichnet. Zahlreiche Iren haben den Orden vom Goldenen Vlies getragen, den höchsten aller Orden, zweihundert sind Ritter des spanischen Santiago-Ordens. Viele tragen hohe Titel …« Seine Augen bekamen einen verträumten, geradezu mystischen Ausdruck. »Die Burkes und Butlers, die Leslies und Taafes, die Kavanaghs, die Walshs – die Grafen von Wallis stammen übrigens von den Walshs von Carrickmines ab. Es gibt so viele. In meiner Familie gibt es zahlreiche Barone Byrne. Wir selbst, die Grafen Birne, wie wir uns jetzt schreiben, waren früher, bevor wir Irland verließen, O’Byrnes.«
»Und welchem der vielen Zweige der O’Byrnes gehören Sie an?«, fragte Father MacGowan.
»Unser Landsitz war bescheiden«, erwiderte der Graf. »Sie kennen ihn wahrscheinlich nicht. Er heißt Rathconan und liegt droben in den Wicklow-Bergen. Inzwischen wohnt dort eine Familie namens Budge.« Er zuckte vornehm mit den Schultern. »Ich kenne sie nicht.«
Ein O’Byrne aus Rathconan? Willy starrte ihn verblüfft an. Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass dieser vornehme Adlige etwas mit seinem Heimatdorf zu tun haben könnte. Und noch etwas fiel ihm ein. Verdammt! Und wir hatten gedacht, das Land gehöre uns.
Der ganze Tisch schwieg beeindruckt, so erhaben und fremdartig klangen die vom Grafen Birne aufgezählten adligen Namen sogar hier in der gutbürgerlichen Umgebung der Wellington Road.
Bis die alte Mrs Smith, die bis dahin noch kein Wort gesagt hatte, die Nase rümpfte und die Stimme erhob: »Es gibt noch ein anderes Irland. Seltsam, dass noch niemand davon gesprochen hat.« Maureen Smith war eine alte, fast schon greise Dame, der es an nichts mangelte, und doch hatte Willy das Gefühl, dass sich unter ihrem blassen, alten Gesicht eine seltsame Kühle verbarg. »Wenn mein Mann, Gott hab ihn selig, mich nicht gerettet hätte, wären die meisten von euch nicht hier. Ich wäre zusammen mit dem Rest meiner Familie zur Zeit der großen Hungersnot in Clare verhungert.« Sie sah Willy an. »Wissen Sie, wie viele Menschen Irland im Jahrzehnt der Hungersnot in Richtung Amerika verlassen haben? Eine Dreiviertelmillion. Und in den zehn Jahren danach? Noch einmal eine Million. Und seither ist der Strom der Auswanderer nicht abgerissen. Es gibt zwei Irland: das eine in Irland, das andere in Amerika. Und in Amerika hat man die Hungersnot nicht vergessen.« Sie sah Sheridan an. »Wusstest du, dass dein Cousin Martin Madden in Boston Geld für Irland sammelt?«
»Nein.«
»Der Sohn meines Bruders William. Soweit ich weiß, hat er es zu einigem Wohlstand gebracht. Er sammelt also Geld. Und man wird in Amerika Geld sammeln und nach Irland bringen, solange in Irland Menschen leben, die von England frei sein wollen. Die Engländer mögen versuchen, die Iren in Irland mit ihrem Wohlwollen zu töten, aber mit den Iren in Amerika werden sie nie Frieden schließen.«
»Oder mit denen in Australien«, fügte Father MacGowan leise hinzu. »Aber die sind zu weit weg.«
»Wen unterstützt Martin Madden denn mit dem Geld, wenn ich fragen darf?«, sagte Sheridan Smith.
»Die Bedürftigen«, erwiderte seine Mutter in einem Ton, der keine weiteren Fragen zuließ.
»Aha.« Sheridan schlug verlegen den Blick nieder.
Der Graf betrachtete die alte Dame neugierig.
»Ich sollte nach meiner Tochter sehen«, sagte die Gräfin.
»Wir können alle etwas Ruhe gebrauchen«, sagte Sheridans Frau.
»Vielleicht«, meinte Father MacGowan. »Ich werde mir ein wenig die Beine vertreten. Kommen Sie mit, Gogarty?« Er warf Sheridan Smith beim Hinausgehen einen vielsagenden Blick zu und wies mit einem Nicken auf Willy.
»Ach ja«, sagte der Journalist, froh darüber, das Thema wechseln zu können. Er nahm Willy zur Seite.
Er bräuchte nicht viel über ihn zu wissen, sagte er zu dem jungen Mann, die Empfehlung Father MacGowans reiche vollkommen aus. Ob Willy eine Vorstellung habe, was er mit seinem Leben anzufangen gedenke? Er selbst habe es in seinem Alter auch noch nicht gewusst. »Man kann es doch erst wissen, wenn man das eine oder andere versucht hat«, ergänzte er zuvorkommend. Bei der Zeitung gebe es einige kleinere Arbeiten, bei denen ein junger Bursche sich sozusagen einen Einblick verschaffen könne. Natürlich verdiene man nicht viel. Ob Willy weiter bei seinem Onkel und seiner Tante wohnen könne? Gut. Hm. Natürlich habe Willy noch nie etwas verkauft. »Aber vielleicht stellen Sie ja fest, dass Sie das können. Ein guter Mitarbeiter von mir verkauft Anzeigenfläche in der Zeitung, vor allem an Händler und dergleichen. Anzeigen sind für eine Zeitung sehr wichtig. Sie könnten ihn eine Weile begleiten, sich einarbeiten.« Es gebe bei der Zeitung auch noch andere Arbeiten für ihn zu tun. Ob er sich das vorstellen könne?
Gewiss konnte Willy das.
»Ausgezeichnet. Kommen Sie morgen in unser Büro. Oh.« Der Journalist starrte plötzlich unverwandt zur Tür. Willy folgte seinem Blick.
Das kleine Mädchen, das soeben mit der Gräfin eingetreten war, mochte fünf oder sechs Jahre alt sein. Es war blass und mager, und eine Kaskade rabenschwarzer Haare fiel ihm bis auf die Schultern. Dazu kamen ein Paar grüner, smaragdgrüner Augen, die von innen heraus zu leuchten schienen. Willy hatte noch nie solche Augen gesehen.
»Es geht ihr besser«, sagte die Gräfin.
»Ich habe Hunger«, sagte das Mädchen. »Guten Tag, Urgroßmutter.« Sie lief zu der alten Dame und gab ihr einen Kuss.
»Ich bin dein Großonkel Sheridan«, sagte Sheridan. »Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch sehr klein. Erinnerst du dich an mich?«
»Nein«, sagte das Mädchen und lächelte ihn strahlend an. »Aber jetzt weiß ich, wer du bist.« Es wandte sich an Willy. »Wer bist du?«
»Ich bin nur Willy«, sagte Willy.
»Guten Tag, Nur-Willy. Ich bin Caitlin. Ich heiße so, weil ich Irin bin.«
»Nur Caitlin?«
Caitlin lachte. »Nein, Gräfin Caitlin Birne.«
»Und ich bin Willy O’Byrne.«
»Wirklich?« Sie sah ihren Vater fragend an. »Sind wir verwandt?«
»Father MacGowan wartet draußen«, lenkte Sheridan Smith das Gespräch geschickt auf ein anderes Thema. Er sah Willy an. »Er hat soeben ausrichten lassen, Sie sollten ihn nach Hause begleiten. Kommen Sie, ich bringe Sie zur Tür.« Doch an der Tür hielt er Willy noch kurz auf. »Wer in Dublin unterwegs ist, begegnet allen möglichen Menschen. Man muss nicht mit allen Bekanntschaft schließen. Sie können mich immer fragen, wenn Sie wollen.«
»Danke«, sagte Willy.
Sheridan Smith nickte. »Vielleicht noch einen kleinen Rat. Aber erzählen sie niemandem davon, ja? Nicht einmal Father MacGowan.« Er machte eine Pause und Willy wartete höflich. »Kennen Sie seinen Bruder? Er hat ein Buchgeschäft.«
»Nur vom Sehen.«
»Gut, dann rate ich Ihnen: Gehen Sie ihm aus dem Weg.«
***
Gedankenverloren schritt Willy durch den herbstlich kühlen Nebel, der sich wieder über Dublin zu senken begann. Er hatte in so kurzer Zeit so viele Gefühle durchlebt und so viele Entdeckungen gemacht, dass er immer noch damit beschäftigt war, sie zu verarbeiten. Dazu kamen die seltsam erschütternde Begegnung mit dem schönsten Mädchen, das er je gesehen hatte, und die überraschende Warnung des Journalisten. Er wusste nicht, was er davon halten sollte.
Und wie seltsam, dass die alte Maureen Smith eine geborene Madden aus Clare war. Seine Großmutter stammte aus derselben Gegend und hatte Nuala Madden geheißen. Doch er hatte ein Foto von ihr gesehen und sie sah ganz anders aus als die Frau, die er soeben kennen gelernt hatte. Außerdem war der Name Madden in Connacht weit verbreitet. Willy war mit ihr wahrscheinlich genauso wenig verwandt wie mit dem Grafen.
Trotzdem hatte er an diesem nebligen Nachmittag das bestimmte Gefühl, die ganze Welt sei von Beziehungen durchsetzt, Beziehungen wie ewig hin und her fliegende Schwärme von Zugvögeln.
»Woran denkst du?«, fragte der Priester.
»Wie doch alles auf der Welt miteinander zusammenhängt«, erwiderte er.
»So ist es. Darin erkennen wir die göttliche Vorsehung.«
»Vermutlich«, sagte Willy.
»Ein zweiter Beweis der göttlichen Vorsehung ist, dass du jetzt Arbeit hast«, fügte der Priester fröhlich hinzu.
***
Die folgenden Monate waren für Willy eine aufregende Zeit. Wie ver einbart zog er durch die Stadt, suchte nach Inserenten für die Zeitung und machte sich Sheridan Smith auf verschiedene Weise nützlich. Dieser erklärte nach einigen Monaten, er sei zufrieden mit seiner Arbeit. Willy O’Byrne erhielt sogar eine kleine Lohnerhöhung. Seine Tante und sein Onkel waren froh, dass er ihnen die Miete zahlen konnte.
Sheridan Smith sorgte auch auf andere Weise für Willy. »Hier ist ein Buch, das ich besprochen habe«, sagte er etwa beiläufig. »Ich brauche es nicht mehr. Wenn Sie es nicht lesen wollen, geben Sie es an jemand anderen weiter.« Doch Willy stellte fest, dass sein Arbeitgeber immer ein passendes Buch für ihn wählte. Auf diese Weise erhielt er den nächsten Band Lady Gregorys und, gestelztes Englisch hin oder her, vertiefte sich begeistert in die Geschichten der Kinder von Lir, von Diarmait und Grania und von der Fianna. Und nachdem Lady Gregory und der Dichter Yeats das neue Abbey Theatre eröffnet hatten, drückte Sheridan Willy gelegentlich eine Karte in die Hand und sagte: »Wir bekommen manchmal Freikarten. Gehen Sie hin, wenn Sie Lust haben.«
Im Verlauf des Sommers besuchte er verschiedene Male seine Familie in Rathconan und führte lange Gespräche mit seinem Vater. Mrs Budge, die Grundbesitzerin, verbrachte die Sommer in Rathconan, doch während der Wintermonate fuhr sie oft nach Dublin. Dort wohnte sie in einem kleinen Haus in Rathmines, von wo sie Ausflüge in die Stadt unternahm. »In Dublin kann sie ihre Marotten noch ungehinderter ausleben als hier«, bemerkte Willys Vater bitter. Fintan O’Byrne mied sie inzwischen nach Möglichkeit. Doch wollte er ihr nach wie vor das Land abkaufen, und nach längerem Hin und Her schlug er Willy schließlich vor: »Sprich du mit ihr in Dublin. Vielleicht hast du mehr Erfolg als ich.«
Doch erst gegen Ende des folgenden Jahres wagte Willy es endlich, Mrs Budge in Rathmines aufzusuchen. Sie bewohnte ein bescheidenes Haus mit einem Keller und zwei Stockwerken und einem kleinen Vorgarten, der durch einige große, immergrüne Büsche verdunkelt wurde. Willy stieg die Treppe hinauf. Ein Hausmädchen öffnete die Tür und bat ihn, auf einem Stuhl im engen Eingangsflur Platz zu nehmen.
Er fragte sich, ob Rose Budge in Dublin genauso auftrat wie in Rathconan. Dort stand sie im Ruf, immer exzentrischer zu werden. »Aber ihr entgeht nichts, was im Dorf vorgeht«, hatte sein Vater gesagt. »Wenn eine Kuh keine Milch gibt, weiß sie das noch vor dir, und wehe dir, wenn du etwas falsch gemacht hast.« Gerüchten zufolge las sie seltsame Bücher mit okkultistischen Inhalten.
Endlich wurde er in den Salon gebeten, der im Dämmerlicht lag. Die Vorhänge waren halb zugezogen, im Kamin brannte Feuer. Auf einem Tisch fiel ihm eine theosophische Zeitung auf.
Heute trug Rose Budge einen Turban aus einem Stoff, der mit einem verschlungenen Muster in Brauntönen bedruckt war. Um die Schultern hatte sie einen indischen Schal gelegt. Rose Budge hatte sich trotz der vielen Jahre kaum verändert, nur ihr Gesicht war ein wenig faltiger geworden.
»Sie sind jetzt ein junger Mann, Willy«, sagte sie.
Willy blickte auf einen Stuhl, und sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich zu setzen. Er verspürte keine Angst. Der Umgang mit Dubliner Geschäftsleuten hatte sein Selbstbewusstsein gestärkt, und er war ja auch geschäftlich hier, rief er sich in Erinnerung. Zudem hatte er sich angenehme Umgangsformen zugelegt. Höflich, aber ohne Umschweife kam er auf den Zweck seines Besuches zu sprechen. »Ich komme im Namen meines Vaters, Mrs Budge«, sagte er.
Die neuen, unter Wyndham verabschiedeten Gesetze zur Landreform boten ganz außerordentliche Bedingungen. Der für das Land zu zahlende Preis betrug das Achtundzwanzigfache der jährlichen Pacht. Ein Grundbesitzer, der den entsprechenden Geldbetrag in einer sofortigen Einmalzahlung vom Staat erhielt, konnte damit fast sicher einen höheren Gewinn erwirtschaften. Der Pächter andererseits brauchte keinerlei Anzahlung zu leisten. Der Staat gewährte ein nur mit drei Prozent verzinstes Darlehen, zahlbar über einen Zeitraum von achtundsechzig Jahren. Abgesehen davon, dass schon eine geringfügige Inflation diese Zahlungen zu unerheblichen Summen schrumpfen ließ, konnte der Pächter seine Ausgaben dadurch fast sicher drastisch reduzieren. Der Staat verwendete gewissermaßen einen Teil des Reichtums, den er durch sein Empire erwirtschaftet hatte, dazu, das Land der protestantischen Grundbesitzer aufzukaufen und es in irische Hände zurückzugeben. Es überraschte daher kaum, dass im Vergleich zu bisherigen Kaufangeboten etwa zwölfmal so viele Bauern das Angebot wahrnahmen. Die Voraussage Sheridan Smiths schien sich zu erfüllen: Einige vermuteten, dass ein Drittel oder mehr des gesamten Landes den Besitzer wechseln würde.
Behutsam und mit höflichen Worten legte Willy die Gesetzgebung dar. Die Bedingungen seien so günstig, erklärte er, dass sowohl sein Vater wie zweifellos auch sie selbst sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen würden. Er betonte nicht ganz wahrheitsgemäß die große Verbundenheit seines Vaters mit der Familie Budge und dass er in Frieden mit ihr leben wolle. Nichts sollte sich ändern, und doch würde es allen besser gehen, sagte er in wohlgesetzten, respektvollen Worten, und Mrs Budge hörte ihm aufmerksam zu. Als er fertig war, schwieg sie eine Weile. Dann erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
»Glauben Sie an die Seelenwanderung, Willy?«, fragte sie.
Er starrte sie verständnislos an. »Ich müsste Father MacGowan fragen«, brachte er schließlich heraus. »Aber eher nicht.«
»Sie sollten sich damit beschäftigen«, fuhr Mrs Budge eifrig fort. »Ein überaus interessantes Thema. Ich überlegte eben, was Sie in einem früheren Leben gewesen sein könnten. Ich selbst …« Sie enthüllte nicht, was sie gewesen war, wahrscheinlich etwas so Exotisches, dass es für Willys schlichte Ohren nicht geeignet war. »In uns allen steckt mehr, als wir denken«, fuhr sie mit einem Blick auf die sepiabraune Fotografie an der Wand fort. »Hier in Dublin interessieren sich übrigens viele Menschen für die Theosophie. Sogar Mr Yeats beschäftigt sich damit. Wir hängen alle miteinander zusammen, doch bedürfen wir, um das zu erkennen, der geistigen Erleuchtung. Buddhismus, Hinduismus und sogar das Christentum sind miteinander verwandt. Darin liegt meines Erachtens unsere Zukunft. Wir denken zu sehr an materielle Dinge.«
Offenbar gehörte sie zu den Exzentrikern, von denen es in Dublin gegenwärtig so viele gab.
Wer nichts anderes zu tun hatte und vielleicht ein wenig knapp bei Kasse war – und wer wäre das nicht gewesen? –, gab sich für den Rest seines Lebens einfach als »Exzentriker« aus, und man verzieh ihm alles.
Dann verstand er Rose Budge plötzlich. Sie hatte ja nichts anderes, an dem sie sich festhalten konnte, sie bestand gewissermaßen aus dem Land droben in Rathconan. Sie würde es nie hergeben. Das ganze spiritistische Gerede war nur ein fadenscheiniger Vorwand, hinter dem sie ihre wahren Absichten verbarg.
»Und das Land meines Vaters?«, fragte er.
»Ich muss darüber nachdenken, Willy. Aber so wie es jetzt steht, geht es uns doch allen gut. Sagen Sie das Ihrem Vater. Die ganze Aufregung legt sich wieder.«
Willy verbeugte sich. Das Dienstmädchen führte ihn nach draußen.
Die Alte glaubt, dass sie mich los ist, dachte er bei sich. Aber sie irrt. Jetzt herrscht Krieg.
***
Als er am Tag darauf vom Trinity College in Richtung Merrion Square ging und überlegte, was er seinem Vater über das Gespräch mit Rose Budge schreiben sollte, bemerkte er, dass die grüne Tür von MacGowans Buchladen offen stand. Er beschloss einzutreten. Sheridan Smith hatte ihm zwar geraten, den Besitzer zu meiden, aber deshalb konnte er sich ja die Bücher ansehen. Außerdem interessierte ihn, ob der Buchhändler tatsächlich so einschüchternd wirkte, wie er gehört hatte.
MacGowan saß an einem Tisch im hinteren Teil des Ladens, vor sich ein Buch, über dessen Preis er offenbar gerade nachdachte. Er rauchte eine Zigarette, von der kaum mehr als ein Stummel übrig war. Seine Finger waren vom Nikotin verfärbt. Willy trat an ein Bücherregal. Vor ihm stand ein Buch mit Predigten eines Geistlichen aus dem achtzehnten Jahrhundert. Er zog es heraus und tat so, als lese er.
Und tatsächlich, der Buchhändler kniff ein Auge zu und richtete das andere auf ihn. Willy behielt das Buch in der Hand. Das Auge blieb auf ihn gerichtet.
»Interessieren Sie sich für das Buch?«, fragte MacGowan.
»Nein.«
Willy ging an dem Regal entlang. Sein Blick blieb an einem mit Zeichnungen illustrierten Buch über die Pflanzen Südamerikas hängen. Er betrachtete die Bilder.
»Mich überrascht, dass Sie keinen Sport betreiben, wenn Sie sich nicht für Bücher interessieren«, sagte MacGowan. »Sind Sie Mitglied der GAA?«
»Nein.«
»Sprechen Sie die Sprache?« Irisch, Gälisch, die Sprache der Ehre.
»Ein wenig. Meine Mutter spricht sie.«
»Sie sollten in die GAA eintreten. Obwohl Sie durch Ihre Botengänge für Sheridan Smith wahrscheinlich genug Bewegung haben.« Er bemerkte Willys Überraschung. »Ich weiß, wer Sie sind. Mein Bruder hat mir von Ihnen erzählt.«
»Father MacGowan ist sehr gut zu mir.«
»Gewiss, er ist ein herzensguter Mensch.« MacGowan zog an den Resten seiner Zigarette. »Nur leider im Irrtum.« Dann ließ er den Stummel gleichgültig in einen kleinen, steinernen Aschenbecher fallen und drückte mit dem Daumennagel die letzte Glut aus ihm heraus. »Ein Jammer, dass er Priester ist.«
Willy starrte ihn verwirrt an. »Ich dachte, seine Familie wäre stolz auf ihn …«
»Meine Mutter ja und mein Vater auch.« MacGowan senkte den Blick auf das Buch, das vor ihm lag, schrieb mit Bleistift »zehn Shilling« innen auf den Umschlag und klappte es zu. »Ich selbst halte nichts von Priestern. Sie haben Parnell gestürzt.«
»Das ist ein besonderer Fall.«
»Die Männer von ’98 wussten, wie man Priester in Schranken hält. Auch Robert Emmet wusste es.«
Willy nickte. Viele Dubliner waren ähnlicher Ansicht. Er selbst hatte bisher nie das Bedürfnis verspürt, einer politischen Vereinigung beizutreten, doch bekam man in jeder Dubliner Kneipe leidenschaftlich geführte politische Diskussionen zu hören. Man begegnete dort einigen wenigen Extremisten – überzeugten Sozialisten –, außerdem Mitgliedern der Irischen Republikanischen Bruderschaft, die sich auch Fenier nannten – letztlich Erben der Französischen Revolution und des Jungen Irland, die jedoch verborgen im Untergrund operierten. Die meisten verurteilten eine Einmischung der Kirche. Dann gab es natürlich Redmonds Irische Parlamentarische Partei, die durch Geduld und auf parlamentarischem Weg die Selbstverwaltung erreichen wollte. Doch wo genau einer stand, wusste man selten. Die GAA war zwar offiziell ein Sportverband, doch hatte sie zugleich auch eine politische Bedeutung. Auch Fenier waren dort Mitglied. Der Buchhändler schien zu diesen Kreisen zu gehören – vielleicht eher zu den radikalen, wenn er sich so sehr gegen Father Mac-Gowan absetzte.
Willy hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, wollte aber nicht über Father MacGowan und die Kirche sprechen. »Ich bin froh, wenn die Engländer Irland verlassen«, sagte er deshalb. Er dachte an Mrs Budge. »Manchmal frage ich mich allerdings, ob das überhaupt je passieren wird.«
Der Buchhändler stand auf. Er war korpulent, bewegte sich aber erstaunlich rasch und behände.
»Ich verkaufe nicht nur Bücher, sondern auch Zeitschriften«, sagte er. »Alte Ausgaben.« Er zog ein bedrucktes Blatt aus einem Regal. »Das ist die erste Ausgabe des United Irishman. Arthur Griffith hat sie zur Jahrhundertfeier von 1798 gedruckt.« Er nickte. »Sehr bemerkenswert.« Er zeigte das Blatt Willy. »Sie sollten es lesen.« Er blickte zur offenen Tür. Von ihnen beiden abgesehen, war der Laden leer.
»Das Problem mit Sheridan Smith ist, dass er und seinesgleichen – von den katholischen Bauern ganz zu schweigen, die sich nur für ihr Land interessieren – Irlands Geburtsrecht verschenken wollen: das Recht darauf, eine eigenständige Nation zu sein. Noch einmal zwanzig Jahre und wir sind zu Westbriten geworden, und genau das wollen die Engländer. Dagegen hilft nur eins: Wir müssen sie vertreiben, zur rechten Zeit, nämlich dann, wenn wir bereit sind. Vielleicht mit Hilfe des Parlaments. Oder mit radikaleren Mitteln. Vielleicht durch die Fenier. Und natürlich mit Hilfe des Clan na Gael in Amerika.« Er lächelte. »Denn das Geld kommt aus Amerika. Ich habe einmal dort gelebt, müssen Sie wissen, vor vielen Jahren.«
»In meiner Kindheit«, sagte Willy, »schickte der Clan na Gael Männer nach England, die dort Bomben legen sollten. Das hat nichts Gutes bewirkt und die meisten wurden erwischt.«
»Ich weiß.« MacGowan seufzte. »Einige bekamen zwanzig Jahre Gefängnis. Ein enger Freund von mir …« Er brach ab. »Sie haben seither dazugelernt.« Er machte eine Pause. »Nun gut.« Er legte die Zeitung wieder in das Regal. »Wissen Sie, was die Kirche über die Fenier gesagt hat? Und zwar Bischof Moriarty, der mit Cullen eng befreundet war? ›Die Ewigkeit ist zu kurz und die Hölle nicht heiß genug, um sie für ihre Sünden zu bestrafen‹, sagte er. Denken Sie darüber nach, aber sagen Sie meinem Bruder nichts davon.«
»Nein«, versprach Willy.
»Kommen Sie wieder«, sagte MacGowan. »Sie sollten diese Zeitung lesen. Ich habe auch Postkarten aus Frankreich.«
Willy verabschiedete sich. Unterwegs dachte er an Sheridan Smiths Warnung. Er hatte sie nicht absichtlich missachtet, schließlich hatte er nicht vorhersehen können, dass MacGowan ihn ansprechen würde.
* 1909 *
Der kurze Dezembernachmittag neigte sich bereits seinem Ende zu, als Sheridan Smith und Caitlin den Liffey überquerten. Caitlin war erst elf, aber an diesem Tag hatte sie wie eine Erwachsene die langen schwarzen Haare hochgesteckt und sich bei ihrem Großonkel untergehakt. Sheridan war stolz auf sie. Zugleich lächelte er belustigt in sich hinein. Statt wie Stiefvater und -tochter sahen sie aus wie ein Liebespaar.
Caitlin bewegte sich beim Gehen mit unnachahmlicher Anmut. Sie war zu einem Teil Gräfin und zu drei Teilen ein Kind der Berge, ein Freigeist.
Ihr Vater war vor zwei Jahren gestorben. Sowohl sie als auch ihre Mutter hatten in Irland bleiben wollen. Sie hatten ihren Landsitz behalten und außerdem ein Haus am Fitzwilliam Square gekauft. Da Sheridan nur zehn Jahre älter war als Caitlins Mutter, war ihm wie selbstverständlich die Rolle des inoffiziellen Stiefvaters zugefallen. Caitlin nannte ihn Onkel Sherry, obwohl er genau genommen ihr Großonkel war.
Der Verlust des Vaters hatte noch etwas anderes bei dem Kind bewirkt. Er hatte ihm die alte Maureen nähergebracht.
Sheridan bewunderte seine alte Mutter. Sie hatte natürlich Glück, sich ihre Kraft und Gesundheit bis ins hohe Alter bewahrt zu haben. Vielleicht hatten die Entbehrungen ihrer Kindheit zur Zeit der großen Hungersnot sie abgehärtet, vielleicht war sie auch schon davor ungewöhnlich robust gewesen. Sie sah und hörte noch gut und stieg mühelos Treppen hinauf. Es lag nahe, dass das Mädchen sich nach dem Tod des Grafen besonders zu der alten Frau hingezogen fühlte, die für ein langes Leben und die Fortdauer der Familie stand. Eine zufällige Bemerkung hatte die beiden noch näher zusammengebracht.
»Schade, dass du die Sprache deiner Vorfahren väterlicherseits wie mütterlicherseits nicht sprichst«, hatte die alte Dame eines Tages gesagt. »Wie ich höre, ist es heutzutage geradezu Mode, Irisch zu sprechen.«
Tatsächlich waren Yeats und seine Freunde, die GAA und die Gälische Liga mit ihren Bemühungen so erfolgreich gewesen, dass die Universität von Irland inzwischen sogar Irisch als Pflichtfach bei der Immatrikulation vorschrieb.
»Ich würde sie gerne lernen«, hatte Caitlin erwidert. »Bringst du sie mir bei?«
Seitdem saßen die alte Dame und das Kind dreimal wöchentlich nachmittags zur Teezeit eine Stunde zusammen. Inzwischen sprach Caitlin das Gälische schon recht flüssig.
Die Gespräche mit der Urgroßmutter hatten das Mädchen auch neugierig auf irische Geschichte gemacht. Sie wollte alles über die Kindheit der Urgroßmutter, die große Hungersnot und ihre Flucht nach Dublin wissen. Maureen erzählte von ihren Verwandten in Amerika und der Bitterkeit, die sie gegenüber England empfand. »Vergiss nicht, dass deine eigenen Vorfahren, die O’Byrnes, aus Irland vertrieben wurden, Caitlin«, sagte sie etwa. »›Wildgänse‹ nannte man sie. Und sieh, was sie aus ihrem Leben gemacht haben. Sie kämpften um Titel und Grundbesitz, und das Glück war ihnen hold. Auch die Maddens gelangten in Amerika zu Wohlstand, Gott sei Dank. Einzig und allein die Engländer verachten die Iren beharrlich. Überall sonst in der Welt sind sie bis ganz nach oben aufgestiegen.«
Vor kurzem hatte Caitlin ihrem Stiefvater zu dessen großer Freude einige kluge Fragen zur politischen Lage gestellt. Ob man wirklich hoffen dürfe, hatte sie wissen wollen, dass Irland sich endlich von England befreien werde?
»Gerade eben haben sich einige interessante Dinge zugetragen«, antwortete Sheridan.
Angestoßen worden war die Entwicklung durch eine Auseinandersetzung, die mit Irland nicht direkt zu tun hatte. 1909 war im Londoner Parlament eine bedeutsame Veränderung eingetreten. Bisher hatte das traditionell mit konservativen Mitgliedern des Erbadels besetzte Oberhaus sämtliche Gesetze verhindern können. Als die gegenwärtige liberale Regierung ihren Haushalt nicht gegen das Oberhaus hatte durchsetzen können, hatte sie mit Hilfe von Redmonds irischen Abgeordneten kurzerhand eine Verfassungsänderung erzwungen. Ab jetzt konnten die Lords Gesetze nicht mehr verhindern, sondern nur noch verzögern. Als Lohn für ihre Hilfe hatte die irische Partei sich versprechen lassen, dass ein neues Gesetz zur irischen Selbstverwaltung ins Parlament eingebracht werden sollte. »Wenn das nächste Selbstverwaltungsgesetz verabschiedet wird«, frohlockte Sheridan, »können die Lords es nicht mehr verhindern. Die Befürworter eines unabhängigen Irland werden ihren Willen ohne Blutvergießen bekommen. Das ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit. Innerhalb der nächsten Jahre, würde ich sagen.«
»Und das ist gut so, nicht wahr, Onkel Sherry?«
»Was glaubst du?«
»Ich finde es gut.«
Jetzt gingen die beiden zu einer Probe ins Abbey Theatre.
Caitlins Begeisterung für das Theater war neu. Sie hatte zusammen mit ihrer Mutter gern die üblichen Pantomimen und Varietés besucht. Das etwas frühreife Interesse am ernsten Drama ging jedoch auf den Einfluss der alten Maureen zurück.
Deren Interesse am Abbey Theatre war ganz unerwartet erwacht.
Im Januar 1907 hatten Yeats und Lady Gregory ein Stück von J. M. Synge auf die Bühne gebracht, das großen Wirbel verursachte. Der Held der westlichen Welt mit seiner eingängigen Sprache und anarchischen Thematik war anders als alles, was die Dubliner bis dahin gesehen hatten. Das Stück gefiel ihnen nicht. »Das ist nicht Irland«, protestierten sie. »So sprechen die Iren nicht.« Die merkwürdige Handlung des Stücks entsprang für sie »einer kranken Phantasie«. Am Ende der Vorstellung war es geradezu zu einem Aufstand gekommen. »An der Westküste reden die Leute so«, erwiderte der Autor des Stücks, »und selbst in Dublin kann man es hören.« So groß war die öffentliche Erregung, dass Maureen Sheridan gedrängt hatte, sie in eine Vorstellung mitzunehmen. »Ich komme aus dem Westen«, erklärte sie, »deshalb will ich mir selbst ein Urteil bilden.« Inzwischen kamen viele Zuschauer nur, um das Stück niederzubrüllen, und sie machten so viel Lärm, dass Maureen die Schauspieler kaum verstand, doch anschließend erklärte sie, es habe ihr gefallen. Sie schien die Bemühungen des Theaters um die Aufführung irischer Stücke gutzuheißen, und begann zu Sheridans Überraschung in ihrem neunzigsten Lebensjahr plötzlich, regelmäßig, fast jeden Monat, ins Theater zu gehen. Anfang 1909 beschloss sie, dass Caitlin sie dabei begleiten sollte. Caitlins Mutter befürchtete, das Mädchen könne sich langweilen, doch davon konnte keine Rede sein, ganz im Gegenteil. Caitlin hatte vor kurzem sogar verkündet, Schauspielerin werden zu wollen. »Meine Tochter ist in das Theater vernarrt, lieber Sherry«, hatte Mary geklagt. »Was soll ich tun?«
»Gar nichts«, erwiderte er mit einem Lächeln. Vom Theater besessen zu sein war für ein elfjähriges Mädchen keineswegs ungewöhnlich. Sheridan Smith hatte seine Kontakte zum Theater spielen lassen und einen privaten Besuch hinter der Bühne während einer Probe arrangiert, dem Caitlin jetzt entgegenfieberte.
Sie hatten den Liffey überquert, und vor ihnen erstreckte sich die breite Sackville Street. Das gewaltige Hauptpostamt links mit dem von sechs großen Säulen getragenen Portikus sah aus wie eine Kaserne. Davor stand in der Mitte der Sackville Street die hohe Nelson-Säule, die der Straße ein herrschaftliches Gepräge verlieh. Die Säule zur Erinnerung an den großen englischen Admiral, die älter war als ihr Pendant auf dem Londoner Trafalgar Square, hatte Sheridan schon immer gefallen. Und wenn eine solche Säule mitten auf der Straße stand, fand er, sollte sie auch einem nützlichen Zweck dienen. Tatsächlich führte eine Treppe im Innern der Säule zu einer Aussichtsplattform hinauf, von der man einen herrlichen Blick über die Stadt hatte.
Die beiden näherten sich gerade der Säule, da kam ihnen Father Brendan MacGowan entgegen.
Er begrüßte sie herzlich. Doch, es ging ihnen gut. Ob sie den kräftigen Ostwind bemerkt hätten? Sie würden ihn im Gesicht spüren, wenn sie die Abbey Street hinaufgingen. Doch er wolle sie nicht aufhalten. Vergnügt verabschiedete er sich von ihnen und ließ sich vom Wind weiter nach Westen blasen. Sheridan und Caitlin bogen unterdessen in die Abbey Street ein und näherten sich dem Theater.
»Sie haben Mr Yeats verpasst«, teilte der Pförtner ihnen mit. Doch den konnte man in Dublin beinahe täglich sehen. Dazu brauchte man sich nur zum St. Stephen’s Green zu begeben. Dort schwebte die hochgewachsene Gestalt mit den schwarzen Locken in einem Zustand inspirierter Entrückung am Zaun entlang wie ein Engel auf einer Wolke.
Drinnen hatte Sheridan nicht mehr viel zu tun. Er übergab Caitlin einem Mitglied der Theatertruppe und spazierte ein wenig in dem Gebäude herum, während Caitlin die Garderoben, die Schminktische, die Kulissen an den Flaschenzügen und das Lager mit den Requisiten gezeigt wurden. Der Inspizient erschien. Eine Szene sollte geprobt werden. Sheridan sah Caitlin nicht, doch stand sie bestimmt in den Kulissen und beobachtete jede Bewegung und lauschte auf jedes Wort. Auch er selbst, für den das alles altbekannt war, spürte immer wieder neu die besondere Atmosphäre, die für Liebhaber des Theaters noch mehr als die Atmosphäre einer Kirche am Ewigen teilhat. Er setzte sich in eine der vorderen Reihen des leeren Parketts und schloss die Augen.
Caitlin tauchte erst anderthalb Stunden später wieder auf. Ihre Augen leuchteten. Sheridan lächelte. Offenbar war der Besuch ein Erfolg gewesen. Ein Bühnenarbeiter begleitete Caitlin. Auch er lächelte. »Es hat ihr hier gefallen«, sagte er zu Sheridan. Und er fügte hinzu: »Es war schön mit ihr«, wie um zu sagen, dass Caitlin hierher gehöre. Im selben Augenblick ging irgendwo über ihnen knarrend eine Tür auf und schlug mit einem Knall wieder zu. Der Bühnenarbeiter hob den Kopf, verabschiedete sich mit einem Lächeln und verschwand hinter den Kulissen. Sheridan und Caitlin machten sich auf den Weg zum Ausgang. Sie hatten gerade den Gang erreicht, der zum Bühneneingang führte, da eilte ihnen eine respekteinflößende Frau in einem Pelzmantel und einem großen Filzhut mit breiter Krempe entgegen.
»Halt!«, rief sie. »Ich möchte Sie sehen.« Sie nickte. »Sheridan.«
»Ich glaubte, Sie seien in Paris«, erwiderte Sheridan.
»Ich bin für zwei Tage in Dublin. Niemand weiß, dass ich hier bin.« Sie musterte Caitlin. »Und wer ist dieses hinreißende Kind?«
»Gräfin Caitlin Birne«, sagte Sheridan ruhig. Und an das Mädchen gewandt: »Das ist Miss Gonne.« Er trat einen Schritt zurück, denn er wusste genau, dass er jetzt nur abwarten konnte, bis Miss Gonne fertig war.
»Mein liebes Kind«, sagte sie, »du hast bemerkenswerte Augen. Bestimmt wirst du zum Theater gehen.«
Eine ungewöhnliche Frau, dachte Sheridan. In England als Tochter eines Offiziers geboren, hatte sie ihrem Leben eine ganz andere Richtung gegeben. Ihr Vater hatte ihr genügend Mittel zu ihrer Unabhängigkeit hinterlassen und sie lebte überwiegend in Paris. Sie war jahrelang die Geliebte eines französischen Journalisten gewesen, von dem sie zwei Kinder hatte. Yeats hatte sie freilich trotz alledem heiraten oder ihr in einem Stück eine Rolle als irische Heldin geben wollen. Sie hatte stattdessen einen irischen Patrioten geheiratet. Die Ehe hatte allerdings nicht lange gehalten. Nun gab sie eine französisch-irische Zeitung heraus. Sie besuchte Dublin nur gelegentlich, doch wenn sie kam, so schien es Sheridan, fiel sie wie angreifende Kavallerie in der Stadt ein.
Dass Caitlin eine Gräfin war, würde sofort ihr Interesse wecken. Maud Gonne war mit ihren großen, neugierigen Augen und dem energischen Kinn die Personifizierung der eigenwilligen Dame der Gesellschaft. Offenbar fühlt sich Yeats von solchen Frauen angezogen, dachte Sheridan. Jetzt befragte sie Caitlin und hatte bald alles herausgefunden, was sie wissen wollte.
»Herrlich«, rief sie, »wirklich herrlich. Eine echte irische Adlige, die in ihr Land zurückgekehrt ist. Und sie spricht auch noch die Sprache ihrer Väter. Mein liebes Kind, du musst bei uns eintreten. Inghinidhe na hEireann ist wie für dich geschaffen. Es ist deine Heimat.«
Inghinidhe na hEireann: die Töchter Erins. Maud Gonne selbst hatte die Bewegung gegründet, als die anderen nationalen Gruppen sie als Frau nicht hatten aufnehmen wollen. Ziel der Bewegung war es, den schädlichen Einfluss Englands auf die irische Kultur zu bekämpfen, doch ging die praktische Arbeit noch um einiges darüber hinaus. Die Töchter Erins unterrichteten nicht nur die Kinder der Armen in der irischen Sprache, sie warnten auch die irischen Frauen davor, mit englischen Soldaten auszugehen, und verteilten Flugblätter, in denen vor den Gefahren unehelicher Kinder gewarnt wurde. Wer Mitglied werden wollte, musste von Geburt Irin sein. »Merkwürdig, dass Maud Gonne ihr Leben dem Kampf gegen so viele Dinge widmet, die sie selbst verkörpert«, hatte Sheridan einmal gesagt. Einige führende Mitglieder der Bewegung hatten sogar neue, irische Namen angenommen, unter denen sie innerhalb der Organisation bekannt waren. Maud Gonne selbst hieß dort Maeve.
»Hier.« Sie langte in die Tasche ihres Pelzmantels und zog eine kleine, runde Brosche in der Form eines altirischen Halsrings heraus. »Die Töchter Erins tragen dieses Abzeichen. Ich schenke es dir. Trage es, wenn du älter bist.« Sie lächelte, doch blieb ihr Blick unverwandt auf Caitlin gerichtet. »Du wirst nicht nur auf der Bühne eine große Rolle spielen, mein Kind. Mit deinen Haaren und deinen Augen wirst du eine Sensation sein. Doch erwartet dich auch eine wichtige Rolle in der Geschichte deines Landes.« Sie machte eine Pause und fügte dann mit einem letzten eindringlichen Blick hinzu: »Vergiss das nicht, Caitlin. Dieses Geschick ist dir von Geburt an bestimmt.«
Nach diesen Worten rauschte sie hinaus. Caitlin sah ihr fasziniert hinterher. Und Sheridan überlegte, ob dieser Besuch im Abbey Theatre womöglich folgenreicher war, als er beabsichtigt hatte.
***
Father Brendan MacGowan schränkte auch im Alter seine vielen wohltätigen Besuche in der Stadt nicht ein, doch plante er die Wege besser, die er ging. Als er jetzt die Mary Street nach Westen entlangmarschierte, hatte er seinen breiten Rücken dem Ostwind zugekehrt, der ihn sanft vorwärtsschob. Da sah er Willy O’Byrne in Begleitung einer jungen Frau auf sich zukommen. Er runzelte die Stirn.
Er war sich nicht sicher, was er von Willy halten sollte. Natürlich hatte er sich gefreut, dass er ihm bei seinem beruflichen Einstieg hatte helfen können. Sheridan Smith schien auch überaus zufrieden mit ihm. Willy hatte jetzt ein eigenes Gebiet zu betreuen und warb erfolgreich Inserenten. Die Kunden schienen ihn zu mögen. Wie Father Brendan gehört hatte, war er in eine eigene Wohnung in der Nähe des Mountjoy Square gezogen. So weit war alles in Ordnung. Der Priester hatte auch nichts dagegen einzuwenden, dass Willy so viel Zeit im Buchladen seines unchristlichen Bruders verbrachte. Willy hatte wahrscheinlich keine Ahnung, was er alles über ihn wusste. Er hoffte nur, dass der junge Mann seinem Glauben nicht untreu geworden war. Allerdings kehrten seiner Erfahrung nach selbst Menschen, die sich von der Kirche abgewandt hatten, schon bei der nächsten kleinen Krise in ihrem Leben meist zu ihr zurück.
Nein, er hatte einen viel konkreteren Einwand gegen Willy. Er meinte an ihm Zeichen der Gleichgültigkeit und Abgestumpftheit zu entdecken.
Ein ganz bestimmter Vorfall hatte ihn alarmiert, eine Geschichte, die er aus anderer Quelle erfahren hatte. Kurze Zeit nachdem Willy in seine eigene Wohnung eingezogen war, war sein Onkel gestorben. Es schien wiederholt zu Reibereien zwischen den beiden gekommen zu sein, als Willy noch im Haus des Onkels wohnte und politische Ansichten geäußert hatte, die seinem Onkel missfielen. Vielleicht hatten diese Meinungsverschiedenheiten den jungen Mann auch darin bestärkt, aus dem Haus des Onkels auszuziehen. Allerdings hatte es, soweit Father Brendan wusste, keinen großen Familienkrach gegeben. Doch als der Onkel starb, war Willy weder zur Totenwache noch zum Begräbnis erschienen. Nicht einmal besucht hatte er die Familie. Und Berichten zufolge hatte er seine Tante damit tief gekränkt.
Einige Wochen später war der Priester Willy begegnet und hatte ihn darauf angesprochen. Das sei doch wirklich nicht nett gewesen, hatte er gesagt. Doch der junge O’Byrne machte nur ein erstauntes Gesicht und sagte: »Ich mochte ihn eigentlich nie.«
»Aber hättest du nicht Rücksicht auf die Gefühle deiner Tante und deiner Cousinen nehmen müssen?«
»Meinen Cousinen war es egal. Wahrscheinlich wollte ich einfach keine falschen Gefühle vortäuschen.« Willy hatte mit den Schultern gezuckt. »Mein Onkel war kein angenehmer Mensch.«
»Ein Urteil darüber steht dir nicht zu. Siehst du denn nicht ein, wie taktlos du dich verhalten hast?«
Father Brendan hatte zwar den Eindruck gehabt, dass Willy es womöglich einsah – alles andere war unvorstellbar –, dass es ihn aber nicht kümmerte.
Jetzt freute er sich zu sehen, dass die junge Frau in Willys Begleitung eine der drei Töchter seiner Tante war. Vielleicht wollte der junge Mann sich bei ihr entschuldigen. Er grüßte die beiden, und auf seine Frage nach ihren Plänen für den Nachmittag antwortete Willy, er habe sich zusammen mit seiner Cousine soeben einen Film in dem kleinen Theater angesehen, das vor kurzem eigens zu diesem Zweck eröffnet worden war.
»Es heißt Volta, Father, gleich hinter uns. Waren Sie schon dort?«
»Nein«, erwiderte der Priester. »Kamen viele Zuschauer?«
»Außer uns nur noch einige wenige. Ich wollte Joyce eine Anzeige in der Zeitung verkaufen, aber er konnte sie sich nicht leisten. Das Kino läuft leider schlecht.«
Father Brendan hatte davon gehört. James Joyce war Oliver St. John Gogartys Protegé. Und Gogarty mochte sagen, was er wollte, der junge Joyce schien keineswegs voranzukommen. Er war mit einem Dienstmädchen durchgebrannt und hatte sie, soweit Father Brendan wusste, dann doch nicht geheiratet, ein Verstoß gegen die guten Sitten und eine Torheit obendrein. Er hätte sich nach einem Beruf oder wenigstens einer regelmäßigen Anstellung umsehen können, doch besaß er nicht den Fleiß Gogartys, der drauf und dran war, ein namhafter Arzt zu werden. Joyce war charakterschwach und würde es nie zu etwas bringen. Doch man durfte über niemanden urteilen, korrigierte Father Brendan sich. Die Gnade Gottes konnte dem Menschen auf unsichtbare Weise zuteil werden. Jedenfalls war Joyce auf den Kontinent gereist und hatte aus unbekannten Gründen in Triest gelebt. Jetzt war er nach Dublin zurückgekehrt und hatte in der Mary Street ein Kino eröffnet, offenbar mit Unterstützung einiger Geldgeber aus Triest. Obwohl Father Brendan schleierhaft war, wie man in Triest beurteilen konnte, ob die Dubliner gern ins Kino gingen. Er hatte den mageren jungen Mann trübselig am Eingang des Kinos stehen sehen, ihn aber nicht angesprochen.
»Das Kino setzt sich überall durch, heißt es, nur nicht in Dublin«, sagte Willy. »Jedenfalls noch nicht. Ich glaube, Joyce ist zu früh dran.«
»Gewiss«, sagte Father MacGowan. »Nun, ich muss weiter. Eine Dame im Rotunda-Hospital erwartet meinen Besuch.«
***
»Er hält mich für rücksichtslos«, sagte Willy, nachdem der Priester sich entfernt hatte.
»Du bist auch nicht immer nett«, erwiderte seine Cousine Rita.
Willy zuckte die Schultern.
»Außerdem hast du die Frage nicht beantwortet, die ich dir gestellt habe, bevor wir Father MacGowan trafen«, sagte Rita. »Ich glaube, es ist dir egal.«
Willy überlegte. Es war ihm tatsächlich egal, aber das wollte er Rita nicht sagen. Sie war das einzige Mitglied der Familie, mit dem er immer sehr gut zurechtgekommen war. Und er konnte ihren Unmut verstehen.
Warum, hatte sie gefragt, verdienten ältere Männer, die in Jacobs Keksfabrik arbeiteten, über ein Pfund pro Woche, sie selbst, eine junge Frau, weniger als ein Drittel davon? Die Männer müssten davon ihre Familie ernähren, hatte Willy erwidert. So sei es immer gewesen, und bisher hätte sich niemand beklagt. »Aber jetzt beklagen wir uns«, hatte Rita gesagt. Auch einige junge Männer, die für die gleiche Arbeit natürlich mehr als die Frauen, aber doch weniger als die älteren Männer verdienten, hatten sich beklagt. »Wenigstens haben wir jetzt eine Gewerkschaft.«
Vor kurzem hatte James Larkin eine irische Gewerkschaft gegründet, deren Mitgliederzahl rasch wuchs. Ob die Gewerkschaft sich allerdings auch für Frauen einsetzen würde, blieb abzuwarten. »Es heißt, die Gewerkschaft sei für die Gleichberechtigung der Frau«, sagte Willy. »Ich vermute allerdings, dass die meisten Gewerkschafter genauso wenig wie die Arbeitgeber scharf darauf sind, dass Frauen den gleichen Lohn erhalten. Dafür bräuchte man eine Frauengewerkschaft.«
»Die gibt es nicht.«
»Ich weiß.« Willy überlegte. »Beklagst du dich nur oder willst du etwas ändern?«
»Vielleicht.«
»Das ist gefährlich.« Unruhestifter wurden gewöhnlich entlassen. Willy wartete darauf, dass Rita etwas sagte. Doch sie schwieg und er fuhr fort: »Einige Anführer der Sinn Fein sind Frauen.«
Arthur Griffith hatte nach der Zeitung The United Irishman die Partei Sinn Fein gegründet. »Wir selbst«, bedeutete der Name. Griffith hatte die Idee gehabt, englische Waren möglichst zu boykottieren und in Irland herzustellen. »Wir brauchen wirtschaftliche Unabhängigkeit«, erklärten seine Anhänger. »Damit zeigen wir, dass Irland als freie, unabhängige Nation existieren kann.« Seitdem war die Sinn Fein zu einem Sammelbecken für Gruppen geworden, die sich den umfassenden, aber gewaltlosen Widerstand gegen die englische Herrschaft zum Ziel gesetzt hatten.
»Du bist Mitglied der Sinn Fein, oder?«
Willy nickte.
»Warum bist du eingetreten?«
»Aus vielen Gründen. Der Buchhändler MacGowan, also der Bruder von Father MacGowan, hat mich dazu ermutigt. Es hat sich eigentlich ganz natürlich ergeben. Ich möchte einfach, dass die Engländer aus Irland verschwinden.«
»Ich werde darüber nachdenken.« Rita nickte. »Tritt die Sinn Fein auch für das Wahlrecht der Frauen ein?«
»Du willst auch noch das Wahlrecht für Frauen? Ich wusste gar nicht, dass du so radikal bist.«
»Das bin ich auch nicht. Aber als ich anfing, über die Löhne nachzudenken, dachte ich, dass Frauen doch auch gleich wählen könnten. In England fordern das schon viele.«
»Lass es lieber, Rita, zumindest vorerst.«
»Warum?«
»Aus zwei Gründen. Erstens ist es besser, immer nur für eine Sache zu kämpfen. Zweitens wollen wir das Frauenwahlrecht in Irland noch nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil die Briten es wollen. Die Forderung sollte aber aus Irland kommen.«
Rita dachte darüber nach. »Vielleicht liegt dir gar nichts am Frauenwahlrecht«, sagte sie nach einer Weile.
»Das hast du gesagt.«
»Aber ich werde trotzdem über die Sinn Fein nachdenken. Danke fürs Kino.«
»Hat es dir gefallen?«
»Nicht besonders. Aber es war interessant.«
»Wenigstens warst du einmal da, solange es das Kino noch gibt. Ich glaube, Joyce wird es nicht mehr lange halten können. Ich begleite dich nach Hause.«
»Kommst du noch mit rein?«
»Nein.«
***
Es war bereits spät, als Father Brendan MacGowan vom Rotunda-Hospital aufbrach. Sein Besuch war erfolgreich gewesen. Jetzt überlegte er stirnrunzelnd, welchen Weg er gehen sollte. Die beste Strecke führte die Parnell Street entlang, eine belebte Straße, die den Stadtteil im schrägen Winkel von Nordosten nach Südwesten durchquerte und am Rotunda Hospital am oberen Ende der Sackville Street vorbeiführte. Doch vor zwei Jahren war diese Straße bei ihm in Ungnade gefallen und er mied sie nach Möglichkeit. Er mied sie, seit Tom Clarke dort ein Tabakwarengeschäft eröffnet hatte.
Er mochte Tom Clarke nicht.
Sein Bruder, der Buchhändler, kannte Clarke und war vor Jahren in Amerika sogar mit ihm befreundet gewesen. Doch das war, bevor Clarke in England Bomben gelegt hatte und eingesperrt worden war. Jetzt war er nach Irland zurückgekehrt.
Die langen Jahre in einem englischen Gefängnis hatten ihn körperlich verändert. Er war abgemagert, hatte schütteres Haar und wirkte zwanzig Jahre älter, als er war. Doch hinter den in Metall gerahmten Brillengläsern glomm ein kaltes Feuer, das dem Priester überhaupt nicht gefiel. Auch sein Bruder hatte sich von Clarke abgewandt und war nicht mehr mit ihm befreundet. Clarkes Tabakladen hatte sich zu einem Treffpunkt der Fenier entwickelt, der IRB, der Irischen Republikanischen Bruderschaft. Niemand wusste, was diese Leute ausheckten. Man wusste nicht einmal, wer der Bruderschaft angehörte, so geheim war sie. Hätte man beobachtet, wer alles in Clarkes Laden verkehrte, hätte man natürlich eine ganze Reihe von Mitgliedern identifizieren können, doch interessierte Father MacGowan sich nicht dafür. Er zog es vor, überhaupt nicht an dem gefährlichen, unheimlichen Tabakladen vorbeizugehen, und wählte deshalb normalerweise einen anderen Weg.
Doch an diesem Abend hatte der Wind gedreht, und der schnellste Weg führte an Clarkes Geschäft vorbei. Father MacGowan beschloss, so schnell wie möglich daran vorbeizugehen. Er blickte wirklich nur ganz kurz in den kleinen, hell erleuchteten Laden. Im Fenster stand, ebenfalls hell erleuchtet, ein runder Turm aus Pappe, der für Banba Irish Tobacco warb. Durch die Glasscheibe der Tür hindurch sah Father MacGowan verschiedene Gestalten in dem engen Raum vor der Theke stehen, hinter der Clarke saß. Auf einmal stöhnte der Priester leise auf.
Einer der Männer, die dort standen, war ihm erst vor wenigen Stunden begegnet: Willy O’Byrne.
* 1916 *
Erst nach der Auseinandersetzung mit dem jungen Ian Law in seinem Büro an einem Januartag des Jahres 1912 begann Sheridan Smith zu dämmern, was für einen schrecklichen Fehler er und viele andere gemacht hatten.
Als der junge Mann bei der Zeitung aufgetaucht war, hatte der Pförtner ihn zuerst hinauswerfen wollen.
»Sie können nicht einfach hier hereinplatzen und mit Mr Smith sprechen wollen«, sagte er. »Kennt er Sie überhaupt? Haben Sie einen Termin?« Wäre Sheridan nicht zufällig in diesem Augenblick den Gang entlanggekommen und Zeuge des Wortwechsels geworden, Mr Ian Law wäre nie zu ihm vorgedrungen. Doch Sheridan sah den Ausdruck moralischer Empörung auf seinem Gesicht, nahm ihn mit in sein Büro und fragte ihn höflich nach seinem Anliegen.
Der junge Mann, ein Facharbeiter, arbeitete auf einer Werft in Belfast. Er war zum ersten Mal in seinem Leben zu Besuch in Dublin und hatte die neueste Ausgabe der Zeitung gelesen. Darin war ein Leitartikel über die Aussichten der irischen Selbstverwaltung enthalten, in Sheridans Augen ein gemäßigter, vernünftig argumentierender Text. Doch der junge Mann war außer sich. Dabei wollte er allem Anschein nach keineswegs unhöflich sein, er war nur höchst empört darüber, dass Sheridan und seine Zeitung die Möglichkeit der Selbstverwaltung auch nur erwägen konnten.
»Wie kann Ihre Zeitung schreiben, dass wir allen untreu werden sollen, denen wir bisher gedient haben?«, wollte er wissen. »Soll ich mich von meinem König und von meinem Gott abwenden?« Er sagte es mit einer solchen Bestimmtheit und einem solchen Stolz, dass Sheridan ihn bestürzt musterte. »Wir haben die Schlacht am Boyne nicht vergessen«, fuhr der junge Mann fort. »Auch Derry nicht. Unsere Vorfahren haben für die Freiheit gekämpft und mit ihrem Leben dafür bezahlt. Und jetzt fordert Ihre Zeitung mich auf, mich dem Papst zu unterwerfen? Niemals. Das werde ich nie tun. Ich kenne auch niemanden, der dazu bereit wäre.«
Er war ein ehrlicher junger Mensch, Sheridan spürte es sofort. Bestimmt stammte er aus einer arbeitsamen presbyterianischen Familie. Seine Entrüstung kam von Herzen.
»Ich glaube nicht, dass die irische Selbstverwaltung Sie in der Ausübung Ihrer Religion einschränken würde«, erwiderte Sheridan. Doch der junge Mr Law betrachtete ihn nur mit Abscheu.
»Die Selbstverwaltung öffnet Rom Tür und Tor«, sagte er entschieden. »Aber wir werden kämpfen, das versichere ich Ihnen.« Wenig später ging er. Sheridan hatte ihn nicht beschwichtigen können.
Er dachte noch einmal über ihr Gespräch nach und dabei fiel ihm ein, dass er zwar nicht mit dem Weltbild des jungen Mannes übereinstimmte, dass Law aber trotzdem einen Irrtum aufgedeckt hatte, dem man in Dublin schon seit langem anhing.
Keiner von denen, die für die Unabhängigkeit Irlands kämpften, hatte sich je Gedanken um Ulster gemacht. Daniel O’Connell hatte immer offen zugegeben, dass er Ulster kaum kannte. Sogar Parnell, der selbst Protestant war, hatte sich nie besonders für die Provinz im Norden interessiert. Seitdem gingen alle wie selbstverständlich davon aus, dass die Protestanten in Irland die Unterdrücker seien und die Insel nach Abzug der Engländer frei sein würde. Niemand dachte daran, dass in Ulster ganz andere Verhältnisse herrschten.
Schließlich war die protestantische Kirche in den meisten Teilen Irlands die Kirche der protestantischen Oberschicht – schlecht besucht, von Gleichgültigkeit geprägt und mit Kirchengebäuden, die aus Mangel an Geld und Interesse zerfielen. Sie war überwiegend eine gesellschaftliche Institution, sie diente einer kleinen, immer schwächer werdenden Minderheit alter Grundbesitzerfamilien und Siedler, die unter Cromwell ins Land gekommen waren. Ohne die protestantische Oberschicht waren die Protestanten eine kleine, zahnlose Minderheit, die nicht ins Gewicht fiel.
Ulster dagegen war eine ganze Provinz, in der die Protestanten die Mehrheit stellten. Und nicht nur die Gentry war protestantisch, sondern auch die Mehrheit der kleinen Bauern, Ladenbesitzer und Facharbeiter. Dazu kam, dass die Presbyterianer, die größte protestantische Gruppe, ihren Glauben sehr ernst nahmen. Während die protestantische Oberschicht in den anderen drei Provinzen Irlands insgeheim von Ängsten oder moralischen Zweifeln in Bezug auf ihre Berechtigung geplagt wurde, kannten die Presbyterianer aus Ulster solche Zweifel nicht. Gott hatte sie nach Ulster geschickt, um dort sein Königreich zu errichten, davon waren sie überzeugt.
Sheridan war schon früher über die Heftigkeit der Reaktion aus Ulster erschrocken. Gerade als man hoffen durfte, die Gesetze zur Unabhängigkeit könnten tatsächlich vom Parlament verabschiedet werden, waren die Protestanten aus Ulster dagegen Sturm gelaufen. Wie ihre schottischen Vorfahren dreihundert Jahre zuvor hatten sie sich zu einem feierlichen Bündnis zusammengeschlossen. Unter Führung von Edward Carson, einem redegewandten Anwalt und Unionisten, und James Craig, einem Millionär aus Belfast, hatten sie im folgenden Jahr eine gewaltige Freiwilligenmiliz aufgestellt. Die Ulster Volunteer Force verfügte zwar nur über Holzflinten, veranstaltete jedoch eindrucksvolle Aufmärsche. Genauso beunruhigend war, dass der Anführer der britischen Tories, der selbst von Protestanten aus Ulster abstammte, die Miliz nicht nur unterstützte, sondern auch noch offen von der Notwendigkeit bewaffneten Widerstands sprach. Die Offiziere der britischen Armee in dem großen Feldlager auf der Curragh-Ebene in der Grafschaft Kildare verkündeten, dass sie, sollte man sie auffordern, die irische Unabhängigkeit gegen die englandtreuen Protestanten aus Ulster durchzusetzen, den Befehl verweigern würden.
»Ich will offen mit Ihnen sein«, hatte ein englischer Journalist, der die Zeitung besuchte, zu Sheridan gesagt. »Die britische Bevölkerung hegt aus zwei Gründen starke Sympathie für Protestanten aus Ulster. Erstens haben wir in England bis heute eine tiefverwurzelte Angst vor dem Katholizismus. Nur wenige Engländer könnten sich damit abfinden, von Katholiken beherrscht zu werden, und wir sehen keinen Grund, warum die Protestanten aus Ulster dieses Schicksal erleiden sollten. Zweitens finden wir, dass die Ulster-Schotten uns ähneln. Sie haben Industrie und Handel, inzwischen auch Werften, und stellen Leinen her. Sie sind fleißig und arbeitsam. Die Iren dagegen sind für uns ein ganz anderer Menschenschlag – ländlich, faul und schlecht organisiert. Wir halten sie geradezu für eine andere Rasse.«
»Aber wussten Sie, dass Schottland von Menschen aus Irland besiedelt wurde? Der Name ›Schotte‹ bezeichnet ursprünglich einen Menschen aus Irland. Man könnte also sagen, die Schotten seien in Wirklichkeit Iren.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass die Engländer das nicht wissen. Und Sie können nicht bestreiten, dass die Protestanten aus Ulster ein ganz eigener Menschenschlag sind.«
Im Frühjahr 1914 erhielten die Ulster Volunteers umfangreiche Waffenlieferungen.
Als Antwort darauf bildete sich eine irische Freiwilligenmiliz, die Irish Volunteers. Schon bald wurde bekannt, dass auch sie sich mit Waffen versorgte. Trieb das Land auf einen Bürgerkrieg zu? Sheridan wusste nicht, was passiert wäre, hätte nicht ein größerer Konflikt alles andere überschattet.
In Sarajevo wurde am 28. Juni 1914 der österreichische Thronfolger ermordet, und plötzlich herrschte in ganz Europa Krieg.
Seltsamerweise schöpften viele irische Patrioten nach Ausbruch des Weltkriegs neue Hoffnung. Denn um sich den Rücken freizuhalten, versprach die britische Regierung den Iren die Unabhängigkeit, allerdings erst für die Zeit nach Kriegsende. »Da der Krieg allgemeiner Überzeugung nach höchstens ein paar Monate dauern wird, sind alle bereit zu warten«, sagte Sheridan. Außerdem kam man überein, dass für die Provinz Ulster eine Sonderregelung getroffen werden sollte. Welche Form diese Regelung annehmen würde, blieb offen. Die Gefahr eines inneren Konflikts war zumindest vorerst gebannt. John Redmond forderte alle, die sich der irischen Freiwilligenmiliz angeschlossen hatten, zum Eintritt in die britische Armee auf: »Die Briten haben uns die Freiheit versprochen. Helfen wir ihnen bei ihren Kriegsanstrengungen, auf dass wir möglichst bald frei sind.« Zehntausende Iren, Protestanten wie Katholiken, verpflichteten sich freiwillig. Sheridan Smith zeigte sich davon zutiefst gerührt, und ihm war trotz des Krieges ein wenig leichter ums Herz.
Auch in seinem privaten Leben begann eine Zeit unerwarteten Glücks. Die Ursache dafür war Caitlin.
Ihr Interesse für das Theater hatte sich glücklicherweise nicht zu einer Besessenheit entwickelt. Es hatte ihr höchstens bei den Schulaufgaben geholfen. Jedenfalls waren die Dominikanerinnen von der Eccles Street, zu denen Caitlin in die Schule ging, mit ihr sehr zufrieden. Mit sechzehn erklärte Caitlin, nach Beendigung der Schule an der St.-Mary’s-Universität moderne Sprachen studieren zu wollen. Sie war ein schönes und aufgewecktes Mädchen. Als Ende 1914 die alte Maureen Smith heftig erkrankte, pflegte sie Caitlin in der Zeit bis zu ihrem Tod. Wenig später fuhr ihre Mutter für einen Monat nach England. Sie hatte keine Bedenken, die inzwischen siebzehnjährige Caitlin im Haus am Fitzwilliam Square zurückzulassen. Natürlich kümmerte sich das Personal um sie und Sheridan sah jeden Tag nach ihr. »Aber im Grunde würde sie auch ohne uns hervorragend zurechtkommen«, sagte ihre Mutter.
Caitlin war den Töchtern Erins beigetreten. Sheridan hatte es mit zwiespältigen Gefühlen zur Kenntnis genommen, doch als er sie danach fragte, hatte sie nur gelacht und gesagt: »Ich unterrichte Kinder, die nicht lesen und schreiben können, in der irischen Sprache.« Das stimmte auch zweifellos. Sheridan hatte allerdings gehört, dass einige Frauen der Organisation weniger harmlosen Tätigkeiten nachgingen.
Die Arbeiterbewegung hatte in den vergangenen Jahren rasch an Bedeutung gewonnen. Die Gewerkschaft residierte in einem großen Gebäude namens Liberty Hall an den Quais. Die Bewegung hatte einen neuen Anführer – einen sozialistischen Heißsporn namens James Connolly. 1913 entfesselte er einen großen Streik für bessere Arbeitsbedingungen. Viele Betriebe blieben wochenlang geschlossen. Auch die alte Keksfabrik war davon betroffen. Einige Töchter Erins nahmen an den Streiks teil. Sie hatten mit der Sinn Fein und anderen zweifelhaften Organisationen zu tun. »Pass auf, mit wem du dich anfreundest«, ermahnte Sheridan Caitlin. Doch Caitlin war ein vernünftiges Mädchen, deshalb machte er sich keine ernsthaften Sorgen.
Im Sommer 1915 fuhr er mit Caitlin und ihrer Mutter in die Wicklow-Berge. Die Reise hatte ein doppeltes Ziel: die malerischen Ruinen Glendaloughs und Rathconan. Der Graf hatte überraschenderweise zeit seines Lebens nicht daran gedacht, das Gut seiner Vorfahren zu besuchen, deshalb waren auch Caitlin und ihre Mutter nie dort gewesen. Vor allem Caitlin hatte auf die Reise gedrungen. Der Besuch des alten Klosters und der beiden Seen war ein großer Erfolg, doch bei ihrer Ankunft in Rathconan geriet Caitlin erst recht ins Schwärmen. Auch die exzentrische Hausherrin mit dem Turban hielt sich in Rathconan auf. Sheridan hatte ihrem Empfang mit einigem Bangen entgegengesehen, doch als die alte Rose Budge hörte, wer sie waren, zeigte sie ihnen bereitwillig das Gut. Sie brauchten sich nicht einmal einen Vortrag über Seelenwanderung anzuhören. Als Caitlin allerdings gegen Ende ausrief: »Ach, wie gerne würde ich hier leben!«, erwiderte die alte Dame scharf: »Die Budges werden noch lange nach meinem Tod hier wohnen, es gibt hier also keinen Platz für dich.« Verwirrenderweise hatte sie hinzugefügt: »Auch ich werde hierbleiben. Ich werde als Falke über die Berge fliegen und Mäuse fressen.«
Sheridan hatte immer gemeint, Rose Budge sei die Letzte ihrer Familie. Doch als er seinen Bruder Quinlan einige Wochen später danach fragte, sagte dieser: »Das habe ich auch geglaubt. Doch wie sich herausstellte, hatte der Großvater einen jüngeren Bruder, der vor vielen Jahren nach England ausgewandert ist. Es gibt einen Großcousin der alten Frau, einen Budge, der wiederum einen Sohn hat. Die beiden kennen sich nicht und der Sohn weiß nichts von ihr, aber sie wird ihm Rathconan vererben.« Quinlan schüttelte den Kopf. »Sie steckt voller Überraschungen.«
»Wusstest du, dass sie in ihrem nächsten Leben ein Falke sein wird?«
»Das überrascht mich nicht im Geringsten«, erwiderte sein Bruder.
Der Rest des Jahres verlief ruhig. Der Krieg zog sich hin – ein schreckliches Blutvergießen, in dem, wie Sheridan schien, keine Seite die Oberhand gewinnen konnte. In Irland dagegen schien alles ruhig. Von Zeit zu Zeit kursierten Gerüchte über Unruhen, doch war er selbst nicht geneigt, sie allzu ernst zu nehmen. Zum Jahreswechsel bekam Caitlins Mutter Bronchitis. Ihr Arzt empfahl ihr, sich für einige Wochen in ein wärmeres Klima zu begeben. Die Rede kam auf Südfrankreich. Im März reiste sie dorthin ab. Ihre Tochter ließ sie wieder in dem Haus am Fitzwilliam Square unter der Obhut Sheridans zurück.
In der dritten Aprilwoche fand Sheridan heraus, dass Caitlin ihn hinterging.
Er leistete ihr an diesem Tag zum Tee Gesellschaft. Caitlin hatte kurz vor Weihnachten die Schule beendet und wollte sich im kommenden Herbst an der Universität einschreiben. Man hatte ihr angeboten zu reisen, doch sie hatte unbedingt in Dublin bleiben wollen, ein verständlicher Wunsch, da sie am Theater zu tun hatte. Um sechs hatte er sie verlassen, um zu Fuß nach Hause in die Wellington Road zu gehen. Er hatte den Kanal überquert, als ihm eingefallen war, dass er seinen Regenschirm bei Caitlin vergessen hatte. Also kehrte er noch einmal zum Fitzwilliam Square zurück. Hundert Meter vor dem Haus hatte er sie gesehen, wie sie gerade auf ein Fahrrad stieg. Sie schien in Eile. Seine erste Vermutung wäre gewesen, dass sie zum Theater wollte, doch konnte er trotz der Dämmerung erkennen, dass sie nicht fürs Theater angezogen war. Sie trug eine Uniform aus grünem Tweed.
Die Uniform der Cumarin na mBan.
»Liga der Frauen« bedeutete das Wort. Was verbarg sich dahinter? Die Liga war noch keine zwei Jahre alt und ging ebenfalls auf Maud Gonne und ihre Freundinnen zurück. Was immer man von Maud Gonne halten mochte, ihr Organisationstalent konnte niemand bestreiten. Die Cumann na mBan war eine patriotische Vereinigung. Gerüchten zufolge betätigten sich ihre Mitglieder als Krankenschwestern, andere behaupteten, sie unterhielten Kontakt zu gefährlichen Gruppen. Caitlin hätte ihn auf jeden Fall über ihre Mitgliedschaft informieren müssen. Er wusste, dass ihre Mutter einen solchen Umgang nicht billigen würde. Er würde einschreiten müssen. Fast hätte er sie sofort angesprochen, doch dann entschied er sich dagegen. Er überlegte rasch. Es war die Woche vor Ostern. Für Ostermontag hatte er die ganze Familie zu sich nach Hause eingeladen. Entweder dann oder kurz danach würde er Caitlin beiseite nehmen und sich in aller Ruhe mit ihr unterhalten. Er wandte sich zum Gehen.
Am Montag wurde alles zum Empfang der Gäste am Nachmittag vorbereitet. Kurz vor eins erschien ein Nachbar und sagte aufgeregt: »In der Stadt gibt es Unruhen, angeblich ein Aufstand. Ein Soldat wurde getötet.«
Ein Aufstand? Was sollte ein Aufstand jetzt zu diesem Zeitpunkt? Es ergab keinen Sinn. Doch kurz darauf trafen neue Nachrichten ein. »Die Aufständischen haben das Hauptpostamt in der Sackville Street besetzt und die Republik ausgerufen.«
»Das ist doch verrückt.«
Doch bald war das Wort in aller Munde: Ein Aufstand war ausgebrochen, ein großer Aufstand.
»Ich bringe Caitlin hierher«, sagte Sheridan. »Damit sie in Sicherheit ist. Zum Fitzwilliam Square ist es nicht weit.«
Doch er traf Caitlin nicht zu Hause an. Sie tauchte den ganzen Tag nicht auf und auch nicht am nächsten.
***
Am Anfang hatte sie nicht einmal gewusst, ob sie Willy überhaupt mochte. Seine Cousine Rita hatte sie miteinander bekannt gemacht.
Caitlin erinnerte sich später, dass sie mehr noch als das gute Aussehen des schwarzhaarigen Willy seine Ruhe und die kühle Logik seiner Gedanken beeindruckt hatten. Sie hatten über die Frauenbewegung und die Gewerkschaft gesprochen. Dann hatte sich das Gespräch dem kurz zuvor ausgebrochenen Krieg zugewandt.
»Irland hat trotz bester Absichten einen schweren Fehler gemacht«, erklärte Willy ruhig und bestimmt. »Wobei ich mit Irland John Redmond und die Mehrheit der Volunteers meine.«
Die Irish Volunteers, die 1914 in Antwort auf die Bedrohung durch die Protestanten von Ulster gegründet worden waren, hatten gewaltigen Zulauf gehabt. Innerhalb kürzester Zeit waren sie auf über hundertfünfzigtausend Mann angewachsen. Natürlich waren die wenigsten davon bewaffnet, doch waren sie wie ihre patriotischen Namensvetter anderthalb Jahrhunderte zuvor willens, fleißig zu exerzieren und an Aufmärschen teilzunehmen. Angesichts des großen Zulaufs drohten sie sogar die Parlamentarier in den Schatten zu stellen. Zumindest nominell war ihr Anführer der Chef der parlamentarischen Partei, Redmond. Als Großbritannien Irland im Gegenzug für die Hilfe gegen die Deutschen die Freiheit versprochen hatte, hatte Redmond die Volunteers zum Kampf an der Seite der Engländer aufgerufen, und rund hundertsiebzigtausend Männer waren seinem Aufruf gefolgt. Eine kleine Gruppe von etwa zehntausend Mann dagegen hatte sich geweigert. Sie nannten sich Irish Volunteers, und Willy O’Byrne stand ganz offensichtlich auf ihrer Seite.
»Ich kann Redmond ja verstehen«, hatte er Caitlin ruhig erklärt. »Ich mache nicht einmal den vielen tausend katholischen Soldaten Vorwürfe, die jetzt in der britischen Armee kämpfen. Auf diese Weise haben sie Arbeit, und Redmond hat ihnen versprochen, dass Irland dadurch die Freiheit erlangen wird. Leider ist das Ganze ein einziger Schwindel.«
»Du glaubst nicht, dass die Briten ihr Versprechen erfüllen?«
»Nein, die Protestanten aus Ulster sind dagegen, und die Briten mögen die Protestanten aus Ulster und verachten uns irische Katholiken. Wir bekommen also bestenfalls ein geteiltes Irland, was auch keine Lösung ist. Redmond sieht das natürlich anders, er muss ja an seinen Erfolg glauben.« Willy zuckte mit den Schultern. »Aber irgendwann muss man der Realität ins Auge sehen. Es wird Auseinandersetzungen geben, das lässt sich nicht vermeiden.«
Eine kalte, aber zwingende Logik, dacht Caitlin.
»Und das Schlimmste ist, dass wir den Briten in die Hände spielen, indem wir sie unterstützen. Unsere Freiwilligen lassen sich in einem Krieg abschlachten, den die Briten gegen die Deutschen kämpfen, obwohl es doch gerade jetzt am leichtesten wäre, die Briten aus dem Land zu vertreiben.«
»Vielleicht denken die Briten nach dem Krieg um.«
»Hm. Hast du schon einmal überlegt, was passiert, wenn der Krieg anders ausgeht? Wenn die Deutschen gewinnen? Vielleicht sollten wir besser sie zu Freunden haben.«
Caitlin betrachtete ihn nachdenklich. Doch, er hatte einen scharfen Verstand. Er las ihre Gedanken.
»Besser der harten Wirklichkeit ins Auge sehen als sich etwas vormachen«, sagte er. »Außerdem seid ihr Frauen doch praktisch veranlagt. Zur Unterstützung nationaler Ziele habt ihr die Cumann na mBan gegründet. Und niemand von euch hat damals für Redmond gestimmt. Ihr wart alle für die Irish Volunteers. Ich gebe mich ganz in die Hände der Frauen.«
Rita grinste. »Ganz schön schlau, was?«
Er ist in der IRB, dachte Caitlin.
Die Irische Republikanische Bruderschaft operierte nach wie vor im Untergrund. Ihre Mitglieder gehörten zwar ohne jeden Zweifel den Irish Volunteers an, doch wusste niemand genau, wer sie waren. Caitlin beschloss, Willy zu provozieren.
»Bist du in der IRB?«
Er starrte sie unverwandt an. »Warum fragst du?«
»Bist du es?«
»Soviel ich weiß, geben ihre Mitglieder sich nie zu erkennen. Es hätte also keinen Zweck, danach zu fragen.«
»Eins kann ich dir sagen«, meinte Rita lachend. »Frauen gibt es in der IRB nicht, nicht wahr, Willy? Mir sagt Willy auch nie was.«
Willy zuckte die Schultern. »Ich kann nicht etwas sagen, das ich nicht weiß.« Er lächelte Caitlin charmant an. »Ich kenne dich übrigens schon. Damals warst du Gräfin.«
Rita sah Caitlin überrascht an und Caitlin schüttelte den Kopf. Sie verwendete ihren Titel seit ihrem Eintritt bei den Töchtern Erins nicht mehr. Es gab auch ohne sie genügend Gräfinnen, hatte sie gedacht. Zum Beispiel die Anführerin der Cumann ne mBan, die Gräfin Markievicz, eine prunkliebende anglo-irische Adlige, die einen mittellosen polnischen Grafen geheiratet hatte und gerne Uniform und einen Revolver trug. Dann gab es noch die Gräfin Plunkett, deren Mann, Erbe eines reichen Dubliner Bauunternehmers, aufgrund großzügiger Spenden für die Kirche zum päpstlichen Grafen ernannt worden war. Die Plunketts und ihre Kinder waren prominente Anhänger der verschiedenen nationalen Bewegungen. Zwei Gräfinnen reichten, hatte Caitlin gedacht und nannte sich ab da nur noch Caitlin Byrne.
Jetzt erinnerte Willy sie, wie er ihr im Haus ihres Onkels Sheridan Smith begegnet war. »Ich glaube, du warst fünf oder sechs und dir war schlecht.«
»Leider erinnere ich mich nicht an dich«, gestand sie.
»Macht nichts. Übrigens, ich arbeite für Sheridan Smith. Aber über meine politischen Ansichten spreche ich nie mit ihm.«
»Dann werde ich das auch nicht«, versprach Caitlin.
Danach hatte sie ihn einige Wochen lang nicht gesehen.
Die Uniform der Cumarin na mBan hatte sie das erste Mal im Mai 1915 angelegt. Sie war damals siebzehn. Die Uniform wurde nicht ausgegeben. Die meisten Frauen nähten sie sich selbst. Vorgeschrieben war grüner Tweed: lange Uniformjacke mit großen Klappentaschen, langer Rock, weißes Hemd, grünes Halstuch und vor allem die Anstecknadel – mit den Initialen »C na mB« in Gold und einem hindurchgesteckten Gewehr.
Caitlin hatte die Uniform vor ihrer Mutter in einem Koffer versteckt. Wenn sie zu einer Versammlung ging, trug sie darüber einen langen Regenmantel.
Die Cumann na mBan verstand sich als Hilfstruppe. Ihre Mitglieder übten sich gemeinsam in Erster Hilfe und Signalkunde. Viele Frauen lernten auch schießen, und bei einer Schießübung begegnete Caitlin Willy O’Byrne eines Tages wieder. Er wollte bei der Übung zusehen. Caitlin war, wie sich herausgestellt hatte, die geborene Schützin. Die anderen Mädchen nannten sie »Annie Oakley«. Nach Beendigung der Übung stand er hinter ihr.
»Ich bin beeindruckt.«
»Danke.«
Er musterte sie anerkennend. »Die Uniform steht dir.« Er überlegte. »Hast du schon einmal mit einem Revolver geschossen?«
»Nein.«
»Versuch den.« Er zog einen Revolver aus der Tasche und gab ihn ihr. Die Waffe lag überraschend schwer in der Hand. »Hier.« Er nahm ihren Arm und brachte ihn in die richtige Stellung. »Ich zeige dir, wie es geht.«
Sie brauchte eine Weile, sich mit dem Revolver vertraut zu machen, doch nach einigen Tagen Übung traf sie auch damit hervorragend.
In den folgenden Wochen begegnete Willy ihr verschiedentlich. Entweder er besuchte sie in dem Haus, wo sie sich kennen gelernt hatten, oder er war in der Liberty Hall am Quai, wenn sie dort Rita besuchte. Er unterhielt sich gewöhnlich einige Minuten mit ihr, dann verschwand er wieder. Eines Tages Ende August begegnete er ihr in der Liberty Hall. Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche und drückte es ihr in die Hand. »Das habe ich drucken lassen«, sagte er. Es handelte sich um eine Grabrede auf einen alten Fenier, gehalten von Patrick Pearse, einem besonders redegewandten Anhänger der irischen Sprache, der auch viel für das irische Schulsystem getan hatte. Caitlin begriff sofort, warum Willy O’Byrne sich die Mühe gemacht hatte, die Rede abschreiben und drucken zu lassen: Sie war glänzend formuliert. Viele Formulierungen blieben ihr im Gedächtnis haften. Pearse beschwor das Gedächtnis Wolfe Tones. Seine Worte waren inspiriert wie seinerzeit die Worte Emmets. »Das Leben entspringt dem Tod«, mahnte er, »und aus den Gräbern der Patrioten und Patriotinnen entspringen lebende Nationen.« Die letzten Worte der Rede waren besonders denkwürdig. Die Briten, so sagte Pearse, glaubten, sie hätten die Iren befriedet oder eingeschüchtert. Doch sie irrten sich. »Narren sind sie, Narren, Narren, Narren! – sie haben uns unsere toten Fenier gelassen, und solange deren Gräber auf irischem Boden liegen, wird das unfreie Irland nie zur Ruhe kommen.«
Bei dieser Gelegenheit bemerkte Caitlin in Willys Augen einen Blick, denn sie bis dahin noch nicht gesehen hatte. Offenbar gab es doch Dinge, die ihn bewegten.
Im Herbst führte sie bei verschiedener Gelegenheit längere Gespräche mit ihm. Einmal erzählte er ihr sogar von seiner Kindheit in Rathconan und wie sein Vater erfolglos versucht habe, Mrs Budge das gepachtete Land abzukaufen. Caitlin erzählte ihm daraufhin von ihrer eigenen Begegnung mit der alten Theosophin, die im nächsten Leben als Raubvogel zurückzukehren gedenke. Interessiert hörte Willy ihr zu. Vielleicht wegen dieser Verbindung mit seiner Kindheit trat er, wenn er Caitlin in einem überfüllten Zimmer sah, öfter zu ihr und redete mit ihr.
Kurz vor Weihnachten tauchte er bei einer Versammlung auf und nahm Caitlin danach beiseite.
»Ich habe etwas für dich.« Er lächelte. »Ein Weihnachtsgeschenk.« Er zog ein sorgfältig eingepacktes, rechteckiges Päckchen aus der Tasche und gab es ihr. Es war überraschend schwer. »Mach es lieber erst zu Hause auf und lass es niemanden sehen.« Dann ging er wieder.
Zu Hause ging Caitlin in ihr Zimmer und schloss die Tür ab. Dann öffnete sie das Päckchen. Es enthielt, wie sie bereits vermutet hatte, einen Revolver der Marke Webley, eine langläufige, tödliche Waffe. Außerdem Munition. Caitlin überlegte, was sie Willy im Gegenzug schenken sollte.
Am folgenden Tag sah ihre Mutter sie zu ihrer Überraschung strickend in ihrem Zimmer sitzen.
»Ich dachte, du strickst nicht gern«, sagte sie.
»Ich habe nur einer Freundin versprochen, ihr etwas zu stricken«, erwiderte Caitlin. Zwei Tage später war ihr Werk fertig: vielleicht kein Meisterwerk, aber für seinen Zweck völlig ausreichend. Am Weihnachtsabend begegnete sie Willy in der Liberty Hall. »Hier ist mein Geschenk für dich«, sagte sie lächelnd. »Mach es lieber nicht hier auf.«
Als sie ihm Anfang des nächsten Jahres zum ersten Mal begegnete, stellte sie zu ihrer Freude fest, dass er den Schal trug, den sie ihm gestrickt hatte. Er war grün und stand ihm ausgezeichnet, wie sie fand.
Caitlin hatte inzwischen den Eindruck, dass die Irish Volunteers hervorragend organisiert und gut ausgebildet waren. Es gab im ganzen Land Untergruppen, und ihr Anführer, ein Mann namens MacNeill, sorgte für Disziplin und Ordnung. Natürlich bestand immer das Risiko, dass die britischen Behörden gegen die Volunteers vorgehen würden, doch bisher hatten sie es offenbar für klüger erachtet, nichts zu tun. Die Einwohner Dublins hatten sich inzwischen an die disziplinierten Aufmärsche gewöhnt. Einige Frauen der Cumann na mBan zeigten ihre Verbindung mit den Volunteers offen, andere hielten sie lieber geheim. Caitlin selbst sprach weder mit ihrer Mutter noch mit Sheridan darüber. Sie gab oft vor, einen kunstgeschichtlichen Vortrag besuchen zu wollen, wenn sie in Uniform aus dem Haus schlüpfte. Das Personal wusste Bescheid, verriet aber nichts.
Ein Problem beschäftigte Caitlin besonders: Die Briten hatten immer noch zwanzigtausend Soldaten in Irland stationiert. Dazu kamen noch die Royal Irish Constabulary, die königlich irische Schutzpolizei, und ironischerweise auch eine ganze Anzahl von Redmonds Volunteers, die den Briten für die Dauer des Krieges aushelfen sollten. Angesichts dessen war Caitlins Frage nahe liegend. »Wenn es je tatsächlich zu einem Aufstand kommen sollte«, sagte sie, »werden unsere Irish Volunteers viel mehr Waffen brauchen, als sie bisher besitzen. Wer versorgt sie? Eine Waffenladung, wie sie damals von der Asgard gebracht wurde, dürfte kaum ausreichen.«
Damals, 1914, hatte der reiche Schriftsteller Erskine Childers seine Segeljacht Asgard für eine Waffenlieferung zur Verfügung gestellt, die in Howth an Land gebracht wurde. Der Vorfall hatte seinerzeit großes Aufsehen erregt, doch brauchte man für einen wirklichen Aufstand sehr viel mehr Waffen. Caitlin fiel ein, was die alte Maureen ihr von den Maddens in Amerika erzählt hatte. »Würden die Amerikaner so etwas finanzieren?«, fragte sie.
»Vielleicht. Oder vielleicht sogar die Deutschen«, erwiderte Willy mit einem Schulterzucken. Sie warf ihm einen Blick zu, fragte aber nicht weiter. Sie meinte jedoch deutlich zu spüren, dass er mehr wusste, als er sagte.
Im April bemerkte sie eine Veränderung an ihm. Sie begegnete ihm und Rita eines Abends, und obwohl er redete wie immer, wirkte er abwesend. Die Osterwoche kam. Caitlin sah Rita am Palmsonntag und dann wieder am Mittwoch. »Es braut sich etwas zusammen«, vertraute Rita ihr bei der zweiten Gelegenheit an. »Ich weiß nicht was, aber in der ICA hat man uns gesagt, am Osterwochenende würden Manöver stattfinden.« Sie sah Caitlin bedeutungsvoll an. »Wichtige Manöver.« Am Donnerstagvormittag begegnete Caitlin dem jungen O’Byrne zufällig auf der Straße. Sie wechselten nur einige rasche Worte, und wieder meinte Caitlin eine unterdrückte Anspannung an ihm zu spüren.
Zu ihrer Überraschung sah sie Willy noch am selben Abend von den Quais kommend das College Green überqueren. Er schritt langsam und mit gesenktem Kopf dahin und schien in Selbstgespräche versunken. Sie kam vom Kunstunterricht, und als er an der Mauer des Trinity College entlang nach Osten ging, fuhr sie mit dem Fahrrad an ihm vorbei. Er bemerkte sie nicht, und sie sah sich nach ihm um, zögerte aber, ihn anzusprechen. Er wirkte so bedrückt, dass sie fünfzig Meter weiter bremste, den Fuß auf den Boden stellte und auf ihn wartete.
»Alles in Ordnung?«
Er sah sie gedankenverloren an. Sie fürchtete schon, ihn beim Nachdenken über persönliche Probleme gestört zu haben.
»Nein.« Er bedeutete ihr mit einem Nicken, dass sie bleiben sollte. Seinen Schal trug er an diesem Tag nicht. Caitlin stieg ab, und schweigend gingen sie hundert Meter. »Ich weiß, dass du nicht redest«, sagte er endlich.
»Nein.«
»Außerdem kommt es bald sowieso heraus.« Er schüttelte den Kopf. »Erinnerst du dich an deine Frage nach den Waffen?«
»Ja«, antwortete Caitlin.
»Sie sind heute eingetroffen. Ein gewisser Sir Roger Casement hat in unserem Auftrag über ein Jahr mit den Deutschen verhandelt. Klingt seltsam, nicht wahr? Ein englischer Beamter, der zum Ritter geschlagen wurde und trotzdem Sympathien für Irland hegt? Wir baten die Deutschen eigentlich um Soldaten, aber sie wollten keine schicken. Dafür sollte Casement heute mit zwanzigtausend Gewehren und einer Million Schuss in Kerry eintreffen. Er ist auch eingetroffen, aber etwas ist schiefgegangen. Das Schiff wurde abgefangen und Casement verhaftet.«
»Ich habe gehört, dass dieses Wochenende etwas passieren soll.«
»Gut möglich. Erzähle niemandem weiter, was ich dir gesagt habe, aber geh regelmäßig zur Liberty Hall. Wenn es etwas Neues gibt, erfährst du es dort. Aber man darf uns jetzt nicht zusammen sehen. Gute Nacht.«
***
Es folgten drei sehr merkwürdige Tage. Niemand schien zu wissen, was vor sich ging. Doch nach und nach erfuhr Caitlin, dass es tatsächlich Pläne für einen Aufstand gab. Die IRB stand dahinter. Sie hatte die Irish Volunteers im ganzen Land dazu aufgefordert, sich am Ostersonntag zu erheben. Nicht einmal Mac Neill, der die Volunteers anführen sollte, war vorher informiert worden. Da Casements Waffen verloren waren, widersetzte Mac Neill sich dem Befehl. Doch Tom Clarke, der unheimliche Tabakhändler, Pearse und die anderen Anführer der IRB wollten trotzdem losschlagen. Sie schickten junge Frauen der Cumann na mBan mit einem neuen Befehl für einen Aufstand am Montag los. Jedes Mal, wenn Caitlin zur Liberty Hall kam, war die Verwirrung noch größer. Am Sonntag traf sie dort Willy.
»Komm morgen früh«, sagte er bestimmt. »Es gibt viel für dich zu tun.«
***
Trotz seiner vielen Merkwürdigkeiten war der Osteraufstand ein höchst denkwürdiges Ereignis.
Caitlin stellte gleich bei ihrer Ankunft in der Liberty Hall am Montagmorgen fest, dass die Unsicherheit der letzten Tage einen schweren Tribut gefordert hatte. Die meisten Volunteers vor allem außerhalb Dublins glaubten, der Aufstand sei abgeblasen worden. Nur rund vierzehnhundert Irish Volunteers versammelten sich zusammen mit weiteren zweihundert Mitgliedern der gewerkschaftlichen ICA am Kai. Unter den Anwesenden entdeckte Caitlin auch Rita.
Die Anführer schienen einem bestimmten Plan zu folgen. Es war interessant zu sehen, dass einige von ihnen offenbar Mitglieder der geheimen IRB waren. Zu ihnen gehörten der Dichter Pearse und der hagere Tabakhändler Tom Clarke. Auch der Gewerkschafter James Connolly spielte eine führende Rolle. Willy O’Byrne gehörte zwar nicht zu den Anführern, doch merkte Caitlin deutlich, dass er deren Vertrauen genoss.
Trotz ihrer bescheidenen Anzahl planten die Aufständischen, eine Reihe strategisch wichtiger Orte der Stadt zu übernehmen. Hauptquartier sollte das Hauptpostamt in der Sackville Street gegenüber der Nelson-Säule sein. Besetzt werden sollten ferner das Gerichtsgebäude Four Courts etwas weiter stromaufwärts, die Burg und das Rathaus, Jacobs Keksfabrik südlich der Innenstadt, Bolands Mühle, eine weitere Fabrik im Südosten bei den Docks am Grand Canal, und verschiedene andere Orte. Gruppen für die verschiedenen Orte wurden eingeteilt.
Einen Moment lang fragte Caitlin sich, was sie hier eigentlich zu suchen hatte. Das Unternehmen schien überstürzt und zum Scheitern verurteilt. Die britischen Kräfte in Dublin waren ihrer Einschätzung nach denen der Aufständischen um das Dreifache überlegen. Doch dann sah sie Ritas freudig erregtes Gesicht und die Gesichter der anderen jungen Frauen, die sie kannte, und sie schalt sich für ihren Kleinmut. Wenn diese Frauen bereit waren, für Irland zu kämpfen, musste sie das auch sein. Sie überlegte, welcher Gruppe sie sich anschließen sollte. Jemand zeigte auf Caitlin und sagte, da sie so gut schießen könne, sollte sie als Heckenschütze eingesetzt werden. Einen Moment lang herrschte Unschlüssigkeit, dann tauchte Willy auf. Caitlin sah, wie er sich kurz mit einem Anführer beriet und auf sie zeigte. Dann kam er zu ihr.
»Bist du mit dem Fahrrad da?«
»Ja, warum?«
»Fahr schnell nach Hause.« Er musste ihre Enttäuschung bemerkt haben, denn er lachte. »Keine Sorge, du bekommst noch jede Menge Gelegenheit, dich erschießen zu lassen. Zieh dich bitte an, als würdest du zu einem Kunstvortrag oder ins Abbey Theatre gehen, und komm dann wieder. So kannst du uns mehr nützen.« Er grinste. »Du solltest aussehen wie eine junge Gräfin.«
»Aber meine Webley gebe ich nicht her.«
»Versteck sie unter den Kleidern.«
Nach einer halben Stunde kehrte sie zurück. Willy nickte billigend. Auf ihre Frage, was sie tun sollte, sagte er nur: »Wart ab.«
Um elf brachen die von den Aufständischen gebildeten Bataillone auf. Caitlin blickte ihnen nach. Aufgrund des Feiertags waren viele Menschen auf den Straßen, doch hatten sie die Volunteers schon bei früheren Gelegenheiten durch die Stadt marschieren sehen und nahmen offenbar an, dass es sich um eine Art Osterparade handelte. Niemand beachtete die Aufständischen weiter.
Eine Stunde später trat zum großen Erstaunen der Passanten der Redner Pearse vor das Hauptpostamt und rief die irische Republik aus.
Caitlin begriff schon bald, warum Willy sie gebeten hatte, sich umzuziehen. Schon einen Tag später gab es überall in der Innenstadt Absperrungen und Barrikaden. Vor allem das Hauptpostamt und das Gerichtsgebäude wurden unter heftigen Beschuss genommen. Auf den Dächern der Häuser lagen Heckenschützen. Immer mehr britische Soldaten trafen in der Stadt ein, um das gesamte Zentrum abzuriegeln. Einige Zeit später fuhr ein Kanonenboot den Liffey hinauf und beschoss die Stellungen der Rebellen. Caitlin konnte sich durch Botengänge nützlich machen, die keinen Verdacht erregten.
Jetzt war die Zeit gekommen, ihr schauspielerisches Talent einzusetzen. Sie tat es mit Erfolg. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie im Hauptpostamt ein- und ausgehen durfte. Dort betrieben die Frauen eine Küche und ein Feldlazarett. Auf Umwegen besuchte sie auch das Gerichtsgebäude. Über den Liffey gelangte sie zum St. Stephen’s Green, wo die Frauen ein weiteres Feldlazarett betrieben, zum Rathaus und zu anderen Orten. Allerdings wurde dies von Tag zu Tag schwerer. Stolz stellte sie fest, dass in den meisten besetzten Gebäuden schon bald Frauen die Männer als Heckenschützen ersetzten. Auf dem Weg zu Jacobs Keksfabrik begegnete sie einer bestens gelaunten Rita. »Die Fabrik hat mich gefeuert, also habe ich sie jetzt besetzt«, verkündete sie. »Und bevor wir gehen, essen wir noch alle Kekse auf!« Nur in Bolands Mühle begegnete Caitlin keiner Frau. Der Befehlshaber dort, ein hochgewachsener Ire amerikanischer Abstammung Anfang dreißig mit hagerem Gesicht und dem seltsamen spanischen Namen de Valera, sagte ganz offen: »Ich will keine Frauen unter meinem Befehl.«
»Weil Sie fürchten, dass wir wegrennen?«, fragte Caitlin.
»Überhaupt nicht.« De Valera lachte. »Die Frauen sind zu tapfer. Sie riskieren zu viel, und ich kann sie nicht zurückhalten.« Er schrieb eine Nachricht auf einen Zettel und bat sie, den Zettel zum Hauptpostamt zu bringen. »Was tun Sie mit dem Zettel, wenn Soldaten Sie festnehmen?«, fragte er.
»Ich esse ihn auf«, erwiderte Caitlin kurz.
Doch sie wurde nie von Soldaten festgenommen. Dagegen wäre sie ein Dutzend Mal fast von Heckenschützen erschossen worden. Sie erlebte oft, dass Dubliner, die eben mal hatten nachsehen wollen, was draußen passierte, von Heckenschützen oder Irrläufern getroffen wurden. Doch lernte sie rasch, welche Ecken und Kreuzungen gefährlich waren. Ein besonderes Geschick entwickelte sie darin, auf eine Gruppe englischer Soldaten zuzuradeln und sie um Hilfe für ihren weiteren Weg zu bitten. Eine Entschuldigung hatte sie immer parat. Sie musste ihren Kunstprofessor sprechen, im Theater den Text eines Schauspiels abholen oder ihre Großtante besuchen. Einmal lockerte sie die Fahrradkette, und als die Kette vom Zahnkranz sprang, ließ sie sich von Soldaten bei der Reparatur helfen. Manchmal wurde sie natürlich auch nicht durchgelassen und musste sich einen Umweg überlegen, um doch noch ans Ziel zu gelangen. Doch meist hielten die Soldaten die hübsche, höfliche junge Frau in den teuren Kleidern und mit den blitzenden grünen Augen für eine harmlose Adlige und ließen sie mit der Warnung passieren, sie solle sich in Acht nehmen.
Vorwerfen konnte man ihnen das nicht. Schließlich hatten die Volunteers sich in den besetzten Gebäuden verbarrikadiert, und die Frauen trugen fast alle die eine oder andere Art von Uniform, auch wenn einige behaupteten, sie seien Krankenschwestern. Und die meisten Einwohner Dublins waren von dem Aufstand überrascht worden und wollten nichts damit zu tun haben.
Was die ganze Aufregung solle, hörte Caitlin viele sagen, wo die Unabhängigkeit doch schon versprochen sei? Ladenbesitzer und Geschäftsleute waren über die Zerstörungen in der Stadt empört, zumal nachdem das Kanonenboot anfing, die Stellungen der Rebellen zu beschießen. »Die Sackville Street liegt bald in Schutt und Asche«, klagte ein Lebensmittelhändler Caitlin sein Leid. »Und wer bezahlt das alles? Natürlich wir, da können Sie Gift darauf nehmen.« Auf ihren Gängen durch die Liberties in der zweiten Wochenhälfte hörte sie mehr als einmal wütende Beschwerden von katholischen Müttern, weil sich infolge der Unruhen die Auszahlung des Lohns verzögerte, den sie von ihren Söhnen in der britischen Armee erhielten.
Doch steigerten solche Vorwürfe Caitlins Bewunderung für die Aufständischen nur noch – für ihren Mut, für die symbolische Bedeutung des Aufstands und, wer weiß, für seine Notwendigkeit, wenn Willy Recht hatte. Sie hätte ihn so gern gesprochen, doch sie hatte Willy O’Byrne seit Montag nicht mehr gesehen. Soviel sie wusste, hielt er sich im Gerichtsgebäude Four Courts auf.
Montagnacht hatte sie im Hauptpostamt geschlafen, Dienstagnacht wieder zu Hause. Dort hatte sie eine Nachricht von Sheridan Smith vorgefunden, der dringend wissen wollte, wo sie sich aufhielt. Am folgenden Morgen warf sie ihm in aller Frühe eine Antwort in den Briefkasten. Es gehe ihr gut, hatte sie geschrieben, sie sei mit ihrem Studium beschäftigt und werde ihn in einigen Tagen besuchen. Ob er ihr glauben würde, konnte sie nicht sagen, aber wenigstens hatte sie geantwortet und er wusste, dass sie lebte. Die folgende Nacht verbrachte sie mit Rita in der Keksfabrik. Am Donnerstag zeichnete sich ab, dass das Hauptpostamt nicht mehr lange gehalten werden konnte. Einige Frauen wurden nach Hause geschickt. Am Freitagmorgen stand das umliegende Viertel in Flammen und auch in dem Gebäude selbst brach Feuer aus.
Für Caitlin endete der Aufstand am Freitagmittag. Sie war die ganze Nacht auf den Beinen gewesen und nach Hause zurückgekehrt, um sich auszuruhen. Beim Betreten des Hauses am Fitzwilliam Square hatte sie gleich gespürt, dass etwas anders war. Das Dienstmädchen hatte sie seltsam angesehen. Sie hatte sich umgedreht. Zwischen ihr und der Haustür stand Sheridan Smith. Er musterte sie sehr ernst.
»Du wirst das Haus nicht wieder verlassen«, sagte er ruhig. »Notfalls werde ich dich daran hindern, Caitlin.«
Schweigend war sie die Treppe hinaufgestiegen. Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen. Auf dem Boden lag der Koffer, in den sie am Montag ihre grüne Uniform gepackt hatte. Er war leer.
»Ich habe sie verbrannt«, sagte Sheridan. »Deine Mutter befindet sich übrigens auf dem Weg nach Hause.«
Caitlin schwieg immer noch. Was hätte sie sagen sollen? Sie musste sowieso schlafen. Sie wollte die Tür schließen, doch Sheridan schüttelte den Kopf. »Ich lasse dich nicht aus den Augen«, sagte er. Es klang nicht unfreundlich. Caitlin setzte sich auf das Bett und lächelte in sich hinein.
»Einen kurzen Moment musst du mich aber allein lassen, Onkel Sheridan«, sagte sie.
Sie musste ihren Revolver verstecken.
***
Als sie aufwachte, gab es für sie nichts mehr zu tun. Das Hauptpostamt konnte nicht länger gehalten werden, seine tapferen Verteidiger, darunter Pearse, mussten abziehen. Am Sonntag war alles vorbei, und die letzten Garnisonen der Volunteers hatten kapituliert.
Am Sonntagvormittag kamen die Soldaten zum Fitzwilliam Square. Sie gingen von Tür zu Tür und verkündeten, sie suchten nach »Mitgliedern der Sinn Fein«. Caitlin war dieses Missverständnis auf Seiten der britischen Soldaten schon früher aufgefallen, sogar die britischen Zeitungen unterlagen ihm. Mitglieder der IRB wurden Fenier genannt – nach einem Begriff aus der irischen Mythologie – und offenbar nahmen die Briten irrtümlich an, die Fenier seien dasselbe wie Griffiths gewaltlose, nationale Partei Sinn Fein, die an dem Aufstand überhaupt nicht teilgenommen hatte. Wie typisch für die britischen Behörden, dachte Caitlin, dass sie nicht einmal wussten, wer genau ihr Gegner war.
Sheridan Smith hatte mit einem Besuch dieser Art gerechnet und entschieden, dass sie am besten beide zu Hause blieben. Er verhielt sich sehr geschickt, wie Caitlin zugeben musste. Gewiss half ihm sein Ansehen dabei. Es hielten sich keine Mitglieder der Sinn Fein im Haus auf, versicherte er den Soldaten, nur seine Großnichte, eine Studentin, und er selbst, der im Haus wohne, bis die Mutter des Mädchens aus dem Ausland zurückkehre. Trotzdem forderte er sie auf, das Haus gründlich zu durchsuchen. Die Soldaten sahen sich nur flüchtig um und verabschiedeten sich dann höflich. Caitlins Revolver hatten sie nicht gefunden.
Inzwischen ließ der britische General John Maxwell, der zur Niederschlagung des Aufstands nach Irland entsandt worden war, die Anführer des Aufstands in aller Eile vor ein Kriegsgericht stellen. »Etwa hundertachtzig Männer und eine Frau, die Gräfin Markievicz, sollen abgeurteilt werden«, teilte Sheridan Mitte der folgenden Woche Caitlin mit. Die Prozesse dauerten nicht lange. Am folgenden Tag kehrte er mit grimmigem Gesicht nach Hause zurück.
»Ich habe eine traurige Nachricht. Kanntest du einen Willy O’Byrne, der für mich arbeitete? Ich habe schon vermutet, dass er irgendwie mit drin steckt, als er nicht zur Arbeit kam, aber er muss mehr damit zu tun gehabt haben, als ich dachte. Jedenfalls ist er heute verurteilt worden.« Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Er soll erschossen werden.«
***
Einige Garnisonen schickten, bevor sie kapitulierten, die Frauen weg. Diese Frauen wurden von den britischen Offizieren verhört und dann meist nach Hause entlassen. Die Briten wussten nicht, was sie mit ihnen tun sollten. Neunundsiebzig Frauen wurden festgenommen. Dreiundsiebzig davon wurden ebenfalls schon bald wieder freigelassen. Zu Caitlins Freude gehörte auch Rita zu ihnen. Einige wenige Frauen wurden in Kilmainham festgehalten, anschließend in das Mountjoy-Gefängnis überführt und schließlich nach England gebracht, um dort Haftstrafen zu verbüßen. Nur die Gräfin Markievicz, die immer ihren Revolver bei sich getragen und andere dazu ermutigt hatte, es ihr gleichzutun, wurde zum Tod durch Erschießen verurteilt.
An die dreieinhalbtausend Männer wurden gefangen genommen. Fast fünfzehnhundert wurden wieder freigelassen, die anderen in England interniert, mit Ausnahme der hundertsechsundachtzig, die vor das Kriegsgericht kamen. Von ihnen wurden achtundachtzig zum Tod durch Erschießen verurteilt, darunter auch de Valera.
Die meisten Urteile wurden nicht vollstreckt. Die Gräfin wurde interniert, weil sie eine Frau war. De Valera kam frei, vielleicht weil man ihn für einen amerikanischen Staatsbürger hielt. Bis auf fünfzehn wurden auch die anderen Todesurteile in lebenslängliche Haftstrafen umgewandelt – darunter zu Caitlins großer Erleichterung auch das von Willy O’Byrne. Die meisten Männer kamen nach einem Jahr durch Amnestie wieder frei.
Doch fünfzehn Männer wurden hingerichtet, und sie dienten ihrer Sache besser, als sie es sich hätten vorstellen können. Pearse, der allseits beliebte Dichter, hatte die Rebellen zum Hauptpostamt geführt und die Republik ausgerufen. Er hatte damit rechnen müssen, erschossen zu werden. Doch sein jüngerer Bruder? Er war allgemeiner Ansicht nach nur deshalb verurteilt worden, weil er Pearses Bruder war. Der todkranke Joseph Plunkett heiratete wenige Stunden vor der Hinrichtung noch seine Liebste und wurde alsbald romantisch verklärt. Der Gewerkschafter James Connolly war so schwer verwundet, dass man ihn für die Hinrichtung auf einem Stuhl festbinden musste. Die Hinrichtungen erstreckten sich über zehn Tage, und obwohl es nur so wenige waren, erschienen sie zuletzt niemandem mehr gerechtfertigt.
Auch die öffentliche Meinung änderte sich allmählich. Im folgenden Jahr begann einer der Helden des Aufstands einen Hungerstreik. Er wurde zwangsernährt und kam dabei zu Tode.
Ende 1917 schlossen sich die Mitglieder der gemäßigten Sinn Fein, die von den Briten mit den Feniern verwechselt wurden, mit den militanten Nationalisten zu einer politischen Partei zusammen. Als ihren Anführer wählten sie de Valera. »Unser Ziel ist die irische Republik«, verkündeten sie freimütig, »und wir werden an lokalen und Parlamentswahlen teilnehmen.« Im Folgejahr verhafteten die Briten alle führenden Mitglieder der Partei.
Dann bedrohten die Briten, die für den Krieg gegen die Deutschen jeden Soldaten brauchten, die Iren plötzlich mit der Wehrpflicht, statt ihnen für ihre vielen Freiwilligen zu danken. »Da sieht man es mal wieder«, sagten Willy O’Byrne und andere, die dachten wie er. »Die Briten schließen Abkommen, aber man kann ihnen nicht trauen.«
Narren waren sie, sogar Sheridan Smith sagte das jetzt. »Wenn die Briten hätten beweisen wollen, dass die Rebellen von 1916 Recht hatten«, sagte er, »hätten sie es nicht besser anstellen können.« 1918 ging der Weltkrieg zu Ende und landesweite Wahlen wurden anberaumt. Redmonds alte Partei bekam nur sechs Sitze, die Partei der Unionisten, gleichbedeutend mit den Protestanten aus Ulster, sechsundzwanzig, die neue Sinn Fein dreiundsiebzig. »Die Welt hat sich von Grund auf geändert«, bemerkte Sheridan Smith.
Sie hatte sich noch mehr geändert, als die Menschen wahrnahmen. Denn nach der Wahl taten die Abgeordneten der Sinn Fein etwas, das ihrer Meinung nach nur konsequent war. Sie weigerten sich, ihre Sitze im britischen Parlament in Westminster einzunehmen, und sie gingen noch einen Schritt weiter. Sie riefen in Dublin ein eigenes irisches Parlament aus, das Dail Eireann. »Wir sind jetzt die Regierung Irlands«, sagten sie. Bis zum Frühjahr hatten sie verschiedene Ministerien unter Griffith, der Gräfin Markievicz, Graf Plunkett, MacNeill von den ehemaligen Volunteers, Collins, einem tatkräftigen jungen IRB-Mitglied, und anderen geschaffen. Präsident wurde de Valera. »Wir sind eine Republik«, hieß es. »Wir weigern uns, die englische Herrschaft weiterhin anzuerkennen.« Damit war im Frühjahr 1919 in Irland ein seltsamer Zustand eingetreten. Es gab eine britische Regierung mit Vorschriften, Verordnungen und Vertretern, die in der Burg von Dublin residierten, und ein zweites, bei weitem beliebteres Schattenkabinett, das behauptete, die rechtmäßige Regierung zu sein, obwohl ihm die Macht fehlte, sich durchzusetzen. Moralisch und politisch hatten die Mitglieder der Sinn Fein bereits gewonnen, die Engländer mussten es nur noch anerkennen. Niemand wusste eine Lösung.
***
Auch für Caitlin hatte sich die Welt auf unerwartete Weise verändert. Ihre Mutter war nach dem Aufstand 1916 nach Dublin zurückgekehrt und schien auch hier bleiben zu wollen. Niemand konnte sagen, ob sie rückblickend die Winter besser in Frankreich verbracht hätte. Jedenfalls breitete sich in Europa kurz nach Kriegsende eine schwere Grippeepide mie aus, der auch Caitlins Mutter zum Opfer fiel. Im Frühjahr 1919, kurz vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, war Gräfin Caitlin Birne plötzlich eine reiche Frau. Sie beschloss ganz vernünftig, vorerst nichts zu tun und fertig zu studieren.
Willy O’Byrne hatte sie lange Zeit nicht gesehen. Sie war deshalb einigermaßen überrascht, als er ihr im Sommer schrieb, er würde sie gern an einem Samstag besuchen und ausführen.
Sie wusste nicht, was er zurzeit trieb. Sie hatte ihn nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis nicht gesprochen, doch Sheridan Smith hatte ihr gesagt, dass Willy nicht mehr für ihn arbeite. »Er ist jetzt Partner von Father MacGowans Bruder im Buchladen.« Nach einer Pause hatte er hinzugefügt: »Zu seiner Tätigkeit gehört unter anderem, in Amerika Geld für politische Zwecke zu sammeln.« Er lächelte ironisch. »Soviel ich weiß, stammt das Geld zum Teil von meinen eigenen Verwandten, den Maddens.«
Willy fuhr in einem Auto vor. Er hatte sich nicht verändert, dachte Caitlin. Es schien ihm gut zu gehen. »Ich würde gern nach Rathconan fahren, wenn du Lust hast«, sagte er.
Es war ein herrlicher Tag. Eine enge Straße führte in die Wicklow-Berge hinein. Manchmal versperrten steinerne Mauern die Aussicht, manchmal konnte Caitlin aber auch bis zum Meer hinuntersehen. Willy schien sich zu freuen, die Heimat seiner Kindheit wiederzusehen.
»Die alte Rose Budge ist nicht da, das habe ich bereits überprüft«, sagte er schmunzelnd. »Dafür würde ich dich gern jemand anders vorstellen.«
»Deiner Mutter?«
»Nein, sie ist leider schon tot. Aber mein Vater lebt noch.« Aus einem unerfindlichen Grund schien dieser Gedanke ihn zu belustigen.
Sie hielten vor einem lang gestreckten kleinen Haus mit weiß gekalkten Wänden. Hier lebte der alte Fintan O’Byrne. Erfreut stellte Caitlin fest, dass er hochgewachsen und gut aussehend war, mit schütteren grauen Haaren und einem langen weißen Schnurrbart. Er hieß sie freundlich willkommen, sagte, sein Sohn habe von ihr gesprochen, und bewirtete sie mit einem schlichten Mahl aus Speck, Blutwurst und Kartoffeln. »Ich lebe einfach«, sagte er lächelnd, »doch hoffe ich noch eine Weile zu leben.« Und er fügte hinzu: »Die Luft hier oben muss gesund sein, denn die Menschen leben lang. Vielleicht hilft uns auch die Verwurzelung an einem bestimmten Ort. Wenigstens glaube ich das.«
»Mein Vater findet, Rathconan gehöre von Rechts wegen ihm«, sagte Willy ebenfalls lächelnd. »Er wird in seinem Grab keine Ruhe geben, bis die verrückte Alte ihm zumindest sein Land übereignet hat. Aber du musst wissen, dass Rathconan nie uns gehört hat, Vater.« Er klang geradezu schadenfroh. »Die rechtmäßige Erbin ist die junge Dame, die vor dir sitzt.« Er wandte sich mit einem Grinsen an Caitlin. »Ich habe wirklich den Tag herbeigesehnt, an dem die beiden Anwärter einander gegenübersitzen, Caitlin. Jetzt müsst ihr zwei den Streit austragen.«
Doch sein Vater lächelte Caitlin nur liebevoll an.
»Ich sehe schon, dass Sie eine O’Byrne sind«, sagte er. »Daran kann kein Zweifel bestehen. Die Frage, ob dieses Land nun Ihrem Zweig oder meinem gehört, ist so alt, dass sie nicht mehr entschieden werden kann.« Er wandte sich an Willy. »Aber ich habe auch eine Neuigkeit für dich und diese junge Dame. Es hat sich ein Erbe für Rathconan gefunden, ein Budge.« In seiner Stimme schwang leise Verachtung. »Ein Cousin, den niemand kennt, an den die alte Dame sich aber offenbar erinnert hat. Er soll Rathconan nach ihr bekommen, wenn er will. Und ich wage zu sagen, er will.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Willy. »Wie heißt er?«
»Victor Budge. Er lebt in England, steht aber seit einiger Zeit mit Mrs Budge in Briefkontakt. Er hat in der Armee gedient und arbeitet meines Wissens jetzt in einer Brauerei. Ich weiß nicht, in welcher Funktion.« Mit leichter Ironie fügte er hinzu: »Ich habe den Eindruck, dass er nicht immer Arbeit hat.«
Er zeigte ihnen Rathconan und stieg mit ihnen den Hang hinauf zu einer Stelle mit einer herrlichen Aussicht. Von dort zeigte er Caitlin die Stelle, an der man immer noch die Umrisse der Felder erkennen konnte, auf denen man vor der großen Hungersnot Kartoffeln angepflanzt hatte. Je länger Caitlin mit ihm zusammen war, desto mehr mochte sie ihn. Als sie sich schließlich verabschiedeten, tat sie dies mit aufrichtigem Bedauern.
Sie hätte gern gewusst, ob Willy sie seinem Vater noch aus einem anderen Grund vorgestellt hatte.
Denn auf der Rückfahrt schien ihm ein ganz anderes Thema am Herzen zu liegen.
»Du weißt, dass es wieder Kämpfe geben wird«, sagte er. Tatsächlich kam es schon seit einigen Monaten zu kleineren Scharmützeln zwischen den Truppen der britischen Regierung und der Irish Republican Army, wie die Irish Volunteers sich inzwischen nannten. »Solange die Briten und die Protestanten aus Ulster nicht Zugeständnisse machen, die für de Valera und die Abgeordneten der Sinn Fein annehmbar sind, ist das unausweichlich. Und dann …« Er warf ihr einen Blick zu. »Du weißt, dass die Frauen damals beim Aufstand eine wichtige Rolle gespielt haben. Sie werden in Zukunft eine noch wichtigere Rolle spielen. Auch du könntest eine wichtige Rolle spielen.«
»Ich war nur eine Botin.«
»Aber eine ausgezeichnete. Du hast großes Talent.« Er lächelte. »Dazu kommt natürlich, dass du aus hundert Meter Entfernung jeden Mann umlegen kannst.«
»Ich weiß nicht, ob ich das will«, sagte Caitlin. »Natürlich stehe ich auf eurer Seite, nur …« Sie wusste selbst nicht genau, warum sie nicht mehr am bewaffneten Kampf teilnehmen wollte – nicht aus Feigheit, dessen war sie sich ziemlich sicher. »Ich werde darüber nachdenken«, versprach sie Willy. »Wenn ich mitmache, gebe ich dir Bescheid.«
»Wie du willst.« Er nickte ihr zu und schien ihre Entscheidung zu respektieren. »Du weißt jedenfalls genau, was du willst, so viel steht fest.«
Er brachte sie zum Fitzwilliam Square zurück und ließ sie vor ihrem Haus aussteigen. Sie bedankte sich für den schönen Tag, und er schien sich darüber zu freuen. Sie war fast ein wenig enttäuscht, als sie im Anschluss daran über ein Jahr lang nichts mehr von ihm hörte.
* 1920 *
Er hatte natürlich Recht. Der Krieg war unvermeidbar, weil keine Seite nachgeben wollte. Er begann mit kleineren Auseinandersetzungen, die meist zwischen den Mitgliedern der IRA und ihren irischen Landsleuten von der Schutzpolizei ausgetragen wurden. Zusätzlich wurde die Atmosphäre durch das junge IRB-Mitglied Michael Collins angeheizt, der mit seinen waghalsigen, blitzschnellen Überfällen einige Berühmtheit erlangte. Doch noch waren das vereinzelte Erscheinungen. Die britische Regierung traf eine Abmachung mit den Protestanten von Ulster, die diesen ein eigenes Parlament zugestand. Das bedeutete allerdings, dass die Katholiken von Ulster wie schon im siebzehnten und im achtzehnten Jahrhundert der Vorherrschaft der Protestanten ausgeliefert waren. Schon bald kam es in Ulster zu ersten Unruhen.
Das übrige Irland sollte unterdessen noch einmal eine Invasion erleiden. Sie begann im Januar 1920.
»Wenn sie schon Hilfe schicken mussten, hätten sie nicht jemand Besseres finden können?«, klagte Sheridan Smith.
Die so genannten Black and Tans rekrutierten sich aus ehemaligen Soldaten und Matrosen. Sie waren im Grunde Söldner, die gegen Collins’ Guerillas von der IRA kämpfen sollten. Bei ihrem Eintritt in die Truppe oder bei der Ankunft in Irland erhielten sie die Uniformhosen der Armee in Khaki und die grünen Uniformjacken der Polizei. Die hässliche Farbmischung trug ihnen schon bald den Spitznamen Black and Tans ein, »Schwarze und Braune«. Gegen Ende des Jahres war ihre Zahl in Irland bereits auf zehntausend angewachsen. Ihre Taktik war einfach: zuschlagen und Vergeltung üben, zuerst schießen und dann Fragen stellen. Verdacht galt als Beweis, zumal wenn der Verdächtigte schon tot war. Recht und Gesetz galten diesen Männern wenig. Als Collins und seine Männer an einem Sonntagvormittag im November eine Gruppe britischer Geheimdienstagenten überfielen und töteten, versuchten die Black and Tans gar nicht erst, ihn ausfindig zu machen. Stattdessen begaben sie sich in das Dubliner Croke-Park-Stadion, in dem ein großes Footballspiel stattfand, und eröffneten das Feuer auf die Menge. Zwölf unschuldige Zuschauer starben.
Die Black and Tans verbreiteten Angst und Schrecken und erfüllten insofern ihren Zweck. Wen sie als Mitglied der Sinn Fein ausfindig gemacht hatten, den jagten sie wie eine Meute wild gewordener Hunde. Doch wurden sie verachtet.
***
Fünf Tage nach dem Massaker im Croke-Park-Stadion hörte Caitlin am frühen Nachmittag jemand an die Haustür klopfen. Da sie gerade im Flur war, machte sie selbst auf. Zu ihrer Überraschung schlüpfte Willy O’Byrne herein und zog hastig die Tür hinter sich zu.
»Willst du mir das Leben retten?«, fragte er.
»Wenn du mir sagst, wer hinter dir her ist.«
»Die Zeit drängt. Ich habe einen von den Black and Tans vom Croke-Park-Stadion erwischt, und jetzt ist sein bester Freund hinter mir her. Ich wollte ihn auch töten, aber er hatte Verstärkung dabei. Ich bin ihnen eben erst draußen in einer Gasse entwischt, aber sie gehen jetzt bestimmt von Haus zu Haus. Leider kennen sie mich.«
»Sie kennen deinen Namen?«
»Und mein Gesicht.« Er blickte gehetzt aus dem Fenster. »Ich muss verschwinden. Es sei denn, du schickst mich wieder nach draußen.«
»Hier lang.« Caitlin zeigte zum Salon, der nach hinten zum Garten hinaus lag.
»Du rätst nie, wie der Mann heißt, der mich verfolgt. Was für eine Ironie! Mein Gott, ich hätte ihn noch vor dem anderen erschießen sollen.«
»Wie heißt er?«
»Victor Budge, der Erbe der alten Rose Budge. Ein arbeitsloser Soldat und ein Teufel. Den lege ich noch um.«
Wieder ertönte der Türklopfer. Caitlin überlegte rasch. »Du könntest durch den Garten verschwinden, dahinter verläuft eine Gasse. Allerdings …«
»Richtig, dort haben sie bestimmt eine Wache aufgestellt.«
Caitlin betrachtete das Fenster, das zum Garten hinausging. Es hatte schwere Vorhänge, die wie eine lange Schleppe auf dem Boden auflagen. Ein passendes Versteck.
»Stell dich dahinter und rühr dich nicht«, sagte sie. Ihre Gedanken rasten.
Im nächsten Moment meldete das Dienstmädchen, einige Soldaten wünschten sie zu sprechen. Caitlin setzte sich auf einen Stuhl in der Mitte des Zimmers.
»Lass sie herein.«
Ein halbes Dutzend Soldaten traten ein. Ihr Anführer war ein hünenhafter Mann mit einem groben Gesicht. Caitlin lächelte ihn an.
»Wir suchen einen Flüchtling. Hat jemand dieses Haus betreten?«
»Nur Sie. Um was für einen Flüchtling handelt es sich? Bin ich in Gefahr?«
Die Vorstellung, dass sie in Gefahr sein könnte, schien die Männer nicht zu interessieren.
»Einen Mann mit schwarzen Haaren.« Der Anführer sah sich im Zimmer um.
»Ich bin Gräfin Caitlin Birne. Und wer sind Sie, Sir?«
»Entschuldigung. Hauptmann Budge.«
»Budge?« Caitlins Gesicht hellte sich auf, als hätte sie einen Hauptmann Budge schon immer kennen lernen wollen. »Sie sind nicht mit Rose Budge von Rathconan verwandt? Aber doch, Sie müssen sie kennen.«
»Sie ist eine Tante von mir.« Er wurde ein wenig freundlicher.
»Ich kann Ihnen nicht mit Ihrem Flüchtling weiterhelfen, Hauptmann Budge, aber ich hoffe doch, dass Sie mich einmal auf eine Tasse Tee besuchen werden.« Caitlin sah die anderen Männer an. »Ich kenne die Familie des Hauptmanns«, erklärte sie unnötigerweise und lächelte strahlend. »Setzen Sie sich. Ich lasse Tee kommen.«
»Wir haben wirklich keine Zeit«, sagte Budge.
»Ihre Tante ist wirklich eine unverwechselbare Persönlichkeit. Bestimmt wissen Sie, dass sie in ihrem nächsten Leben als Vogel nach Rathconan zurückkehren will? Ist das nicht herrlich?«
Budge senkte verlegen den Blick zu Boden.
»Es heißt, sie trage seit dreißig Jahren denselben Turban und habe ihn nicht ein Mal abgenommen«, fuhr Caitlin in einem scheinbar unbeschwerten Plauderton fort. »Bestimmt kennen Sie ihre Zeichnungen nackter indischer Tänzerinnen.«
Budge war rot geworden. Seine Männer hingen an Caitlins Lippen.
»Glauben Sie auch an die Seelenwanderung, Hauptmann Budge?«
»Nein. Meine Tante ist eine exzentrische alte Dame und Mitglied der Kirche von England. Ich muss jetzt gehen.«
»Wie sehr ich wünschte, dass Sie noch bleiben könnten«, sagte Caitlin bekümmert.
Doch Budge schob seine Männer bereits aus dem Zimmer. Die Haustür fiel ins Schloss, und Stille kehrte ein. Dann kam Willys Stimme von hinter dem Vorhang.
»Wenn ich gelacht hätte, wäre das mein Ende gewesen.«
»Du bleibst am besten eine Weile hier«, sagte Caitlin.
***
Am Abend aßen sie zusammen, dann saßen sie allein im Salon. Die Vor hänge hatten sie sorgfältig zugezogen. Nachdenklich betrachtete Caitlin Willy: ein verdammt gut aussehender Mann und gutherzig, auch wenn er, davon war sie überzeugt, nicht die Herzensgüte seines alten Vaters besaß. Immerhin hatte er in den meisten Dingen Recht gehabt. Wenn ihn das kalt machte, war es sein Schicksal.
Willy erwiderte ihren Blick.
»Hattest du je einen Freund?«, fragte er.
»Nein.« Sie schwieg. »In deinem Leben gab es vermutlich viele Frauen.«
»Einige, ja.« Er nickte, dann lächelte er. »Glaubst du, es ist an der Zeit?«
»Ja«, sagte sie, »das glaube ich.«
Das war es auch weiß Gott, für ihn wie für alle anderen, dachte sie. Willy versteckte sich zehn Tage lang bei ihr.
***
Ihrer Liebe war keine Dauer beschieden, doch war Caitlin deswegen nicht gekränkt. Wahrscheinlich hatte sie es erwartet. Willy war wieder nach Amerika gereist. Danach war er wieder verschwunden.
Sie war froh, dass sie nicht mehr an den Kämpfen teilgenommen hatte, denn sie hätte die darauf folgenden schmerzhaften Entscheidungen nicht treffen können. Ein Jahr später hatten die Unterhändler der Sinn Fein, darunter auch der skrupellose Collins, einen Vertrag mit England geschlossen, um den Konflikt zu beenden, doch der Vertrag hatte Mängel gehabt. Irland sollte ein Freistaat werden, ein Dominion des britischen Empire wie Kanada. Im Norden sollten sechs Grafschaften zusammengefasst werden. Die Protestanten würden dort unbehelligt leben können, die Katholiken würden unterdrückt werden. Nicht einmal der Verlauf der Grenze stand fest. Caitlin verstand, warum de Valera dem Vertrag seine Zustimmung verweigerte.
Sie selbst dagegen konnte wie die Mehrheit der irischen Bevölkerung auch mit einem unvollkommenen Vertrag leben, vielleicht nicht für immer, aber doch für eine Generation. Als de Valera und seine Anhänger einen zweiten Krieg begannen, diesmal gegen ihre eigenen Landsleute, fragte sie nicht mehr nach dem Grund, sondern nur noch nach dem Ende. Der irische Bürgerkrieg war voller Merkwürdigkeiten.
Collins, der Hitzkopf der IRB, verteidigte den Kompromiss mit England jetzt genauso skrupellos gegen die neue Armee der Republik, die so genannten Irregulars. Alte Kampfgenossen schossen aufeinander. Collins selbst kam noch vor Ende des Krieges ums Leben. Seltsamerweise hatten die meisten Frauen, die Caitlin von der Cumarin na mBan kannte, sich für de Valera entschieden, sogar die lustige, herzensgute Rita. Caitlin fand diesen Weg für sich verschlossen. Als der Krieg 1923 schließlich endete, war sie nur erleichtert, dass im irischen Freistaat trotz all seiner Mängel endlich Frieden einkehrte.
***
Nur einmal wurde sie noch aktiv. Ende Juli 1922 bekam sie einen unerwarteten Brief. Er wurde von einem Jungen persönlich abgegeben, der mit dem Fahrrad gekommen war und nicht bleiben wollte.
Sie las den Brief und handelte sofort. Zunächst ging sie zur Bank und hob Geld ab. Dann packte sie sorgfältig einige Sachen zusammen, darunter ein paar Dinge für den persönlichen Gebrauch. Sie besaß inzwischen ein Auto und fuhr es auch gerne selbst. Sorgfältig lud sie alles ein, sagte der Haushälterin, sie verreise für einige Tage, und fuhr nach Süden.
Sie fand das Bauernhaus auf Anhieb. Es lag in der Nähe des Dorfes Blessington an der westlichen Flanke der Wicklow-Berge.
Wieder hatte er sich bemerkenswert wenig verändert. Man sah ihm allerdings die Strapazen an, die er hinter sich hatte. Sie untersuchte sein Bein und sagte dann: »Es ist nicht gebrochen, aber verstaucht. Du musst es schonen.«
»Ich wusste, du würdest kommen«, sagte Willy. »Danke.«
»Was ist passiert?«, fragte sie.
Die Geschichte war schnell erzählt. Willy O’Byrne hatte im Bürgerkrieg auf der Seite der republikanischen Truppen gegen den Vertrag gekämpft. Er war nach Blessington gekommen, wo sich republikanische Soldaten aus allen Teilen der Insel sammelten. Die Soldaten waren von den Truppen der provisorischen Regierung übel zugerichtet worden und mussten sich zurückziehen. Von Blessington aus zerstreuten sie sich in alle Winde. Willy konnte mit seinem wunden Fuß nicht gehen und hatte sich außerdem mit dem Anführer der Männer zerstritten, die in die Berge gezogen waren, deshalb hatte er beschlossen, allein am Fuß der Berge zu warten. »Für mich ist der Krieg vorbei«, sagte er. »Es lohnt sich nicht mehr zu kämpfen.« Doch konnte er auch nicht einfach nur warten, bis die Soldaten der provisorischen Regierung ihn aufgriffen. Der Bürgerkrieg verlief weitaus blutiger als der Krieg davor gegen die Briten. »Wenn die mich hier finden, bin ich ein toter Mann«, sagte er ruhig.
»Ich kann dich in Dublin verstecken, wenn du willst«, sagte Caitlin.
»Nein, ich möchte nach Rathconan«, erwiderte er. »Mein Vater kann mich versorgen. Und wenn nicht …«
»Ich habe dir zweihundert Pfund mitgebracht«, sagte sie. »Damit kommst du notfalls nach Frankreich.«
»Meine einzige Sorge sind die Burschen, die vor mir in die Berge gegangen sind. Sie waren ein undiszipliniertes Gesindel und hatten nicht viel für mich übrig.«
»Ich fahre dich hin«, versprach Caitlin. »Und ich habe die Webley dabei.«
Die Straße wand sich in vielen Kurven den Berg hinauf. Hin und wieder sahen sie unter sich die weite Ebene des Liffey bis nach Kildare hin ausgebreitet. Willy saß neben Caitlin auf dem Beifahrersitz. Er blickte vor allem nach vorn. Einmal kamen sie an einem Hirten vorbei. Willy fragte ihn, ob am Vortag ein Trupp Soldaten auf der Straße entlanggekommen sei. Der Mann bejahte, sagte aber, die Soldaten seien nach Süden abgezweigt. Sie waren also nicht über die Berge nach Rathconan marschiert. Willy schien darüber mächtig erleichtert. »Bald sind wir da«, sagte er, »und du wirst meinen Vater wiedersehen.« Sie waren auf dem Pass angelangt und fuhren auf der anderen Seite hinunter. Die Straße war kaum mehr als ein Feldweg. Endlich näherten sie sich Rathconan. Einige Kinder am Straßenrand starrten sie neugierig an und rannten fort, um die anderen zu benachrichtigen. Ein Auto war hier oben eine große Seltenheit. Der schöne Ausblick auf die Irische See ließ Caitlin lächeln. Als sie am Tor des Gutshauses vorbeifuhren, knallte der Auspuff. Caitlin lachte. Wenn die alte Rose Budge zu Hause war, hielt sie den Knall womöglich für eine Botschaft aus der Geisterwelt.
Fintan O’Byrnes Häuschen schien verlassen. Caitlin sah hinein. Keine Spur von ihm.
»Soll ich dir nach drinnen helfen?«, rief sie.
»Nein«, sagte Willy. »Ich bleibe lieber hier in der Sonne sitzen. Geh die Straße entlang zu den Brennans. Die wissen wahrscheinlich, wo mein Vater steckt.«
»Und du kommst allein zurecht?«
»Natürlich, ich sitze doch vor dem Haus meines Vaters in Rathconan.«
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Caitlin.
***
Die Nachmittagssonne schien ihm angenehm warm ins Gesicht. Es wäre nicht das Schlimmste, sich nach Kriegsende in Rathconan niederzulassen, dachte er. Vielleicht fand er eine Frau. Es war Zeit, dass er heiratete. Was für eine Frau? Ähnlich wie Caitlin vielleicht, aber nicht genauso wie sie. Geld war bei näherer Betrachtung etwas Schreckliches. Das hatten ihn die zehn Tage gelehrt, die er in Caitlins vornehmem Haus am Fitzwilliam Square verbracht hatte. Das Haus war bequem gewesen, luxuriös sogar, aber erstickend. Am Ende der zehn Tage hatte er kaum noch Luft bekommen. Er hatte das Caitlin nicht gesagt, wozu auch? Schließlich hatte er sie geliebt. Ob er ihr das einmal sagen sollte? Er schloss die Augen.
Hätte er sich nicht in Rathconan in Sicherheit gewähnt, er hätte die Schritte aus größerer Entfernung gehört. Jetzt aber waren sie nur noch zwei Meter von ihm entfernt. Das Gras dämpfte sie. Er öffnete die Augen immer noch nicht und versuchte zu erraten, wem sie gehörten. Caitlin nicht, dazu waren sie zu schwer. Seinem Vater? Möglich. Oder einem der Brennans? Auch möglich. Er lächelte und wartete.
»Du schläfst?«
Er öffnete die Augen. Das feiste Gesicht lächelte, die Augen nicht. Die doppelläufige Schrotflinte war nur einen halben Meter von seiner Nase entfernt.
»Ich hörte den Auspuff eines Autos knallen und dachte, ich sehe mal nach. Man weiß dieser Tage nie, wer einen besucht.«
Victor Budge. Willy hatte ihn ganz vergessen. Er hatte geglaubt, Budge sei nach England zurückgekehrt. Wenn die alte Rose Budge gestorben wäre und Victor das Gut geerbt hätte, hätte er bestimmt davon gehört. Allerdings war er aufgrund des Krieges in den vergangenen Monaten so viel unterwegs gewesen, dass er leider kaum Kontakt mit seinem Vater gehabt hatte.
»Ist die alte Mrs Budge …?«
»Sie ist gesund und munter und wartet immer noch darauf, sich in einen Falken zu verwandeln.« Victor Budge klang belustigt, doch die Schrotflinte blieb unverwandt auf Willy gerichtet. »Wir sind übereingekommen, dass ich mich schon jetzt um das Gut kümmere. Ich bin seit zwei Monaten hier und habe mich schon gefragt, ob ich dir eines Tages hier begegnen würde.«
»Mast du keine Angst? Jemand wie du dürfte hier oben nicht sonderlich beliebt sein.«
»Ich lasse es drauf ankommen. Wir zwei haben noch eine Rechnung zu begleichen. Du hast einen Freund von mir getötet, erinnerst du dich?«
»Vielleicht. Das ist lange her.«
»Finde ich nicht.«
Caitlin hatte gesagt, sie hätte ihren Revolver dabei. Willy überlegte, wo er sein mochte. Caitlin trug ihn bestimmt nicht bei sich. Unter dem Sitz vielleicht? Er konnte versuchen, sich danach zu bücken, aber dann musste er sie auch finden. Gleich beim ersten Versuch. Vorausgesetzt, sein Bein ließ die Bewegung zu. Eine andere Möglichkeit fiel ihm nicht ein. Andererseits, wenn er sich nach der Waffe bückte, konnte es später so aussehen, als sei er zu feige gewesen, dem Tod ins Auge zu sehen.
Er konnte auch versuchen, den Lauf von Budges Flinte zu packen. Abwegiger Gedanke. Budge würde ihm zuvorkommen und er würde sterben und dabei aussehen wie ein Idiot. Also lehnte er sich zurück.
»Du willst mich einfach so kaltblütig erschießen?«
»Wie einen Hund.«
»Wie willst du das den anderen erklären?«
»Brauche ich wahrscheinlich gar nicht, in Zeiten wie diesen.«
»Dann sei verflucht im Namen Irlands.«
***
Caitlin hörte den Knall, als sie gerade vor der Hütte der Brennans stand. Sie rannte sofort los. Beim Näherkommen sah sie Willy auf dem Boden vor dem Auto liegen. Ein Mann entfernte sich. Er trug ein Gewehr. Sie sah zu Willy hinunter. Sein Gesicht hatte sich in eine rote Masse aus Fleisch und Schrotkörnern verwandelt.
Sie langte unter den Autositz und rief den Mann an. Der Mann drehte sich um. Sie erkannte ihn. Victor Budge, der Anführer der Black and Tans, die Willy gesucht hatten. Er erkannte sie auch. Das Mädchen, das die alte Rose gekannt hatte. Nachdenklich runzelte er die Stirn.
»Sie haben ihn getötet«, rief Caitlin.
»Na und?«
Der Schuss traf ihn genau zwischen die Augen. Caitlin hatte ihre Treffsicherheit nicht verlernt. Sie starrte Budge einen Moment lang an und nickte. Dann drückte sie den Revolver Willy in die rechte Hand und schloss seine Finger darum.
Sie hörte Stimmen und trat zurück. Einige Männer näherten sich, darunter der alte Fintan O’Byrne. Sie erkannte ihn sofort.
Zuerst starrte er verständnislos auf das blutig entstellte Gesicht auf dem Boden. Dann trat Caitlin zu ihm und fasste ihn am Arm, und er begriff. Er neigte den Kopf und sank auf die Knie.
So kniete er eine Weile neben Willy. Dann hob er den Kopf.
»Die beiden haben einander erschossen?«
»So muss es gewesen sein«, erwiderte Caitlin.
»Mir war, als hätte einige Zeit zwischen den beiden Schüssen gelegen.«
»Das ist unmöglich.«
Er musterte Caitlin lange.
»Nein. Offenbar habe ich mich geirrt.«
Er erhob sich steif und ging zu Victor Budge hinüber, sah das Loch zwischen den Augen und nickte. Er kehrte zu Caitlin zurück und drückte ihren Arm. »Danke«, sagte er leise.
***
Einige Jahre später entschlummerte Mrs Rose Budge friedlich und Gut Rathconan wurde verkauft. Wer ein solches Gut kauft, stößt bei den Dorfbewohnern zuweilen auf eine gewisse Reserviertheit. Die Dörfler haben schließlich gelernt, Fremden gegenüber auf der Hut zu sein, die sich auf ihrem Land breitmachen. Die neue Besitzerin von Rathconan dagegen, Caitlin mit ihren blitzenden grünen Augen, war samt Mann und Kindern von Anfang an stets willkommen. Schließlich gehörte sie hierher.