DIE REBELLEN

* 1796 *

Deirdre blickte unverwandt von Rathconan zum Meer hinunter. Eine halbe Stunde stand sie nun schon da. Der feuchte Frühlingswind bedeckte ihre Stirn mit winzigen Tröpfchen, doch sie bewegte sich nicht.

Sie wusste, er würde kommen.

Natürlich kursierten Gerüchte, die rasch auch in die Hochtäler um Rathconan vorgedrungen waren und denen zufolge er über kurz oder lang kommen würde. Doch nicht das machte sie so sicher. Sie spürte es, ohne dass sie hätte erklären können warum, mit einem Instinkt, dem sie gelernt hatte zu vertrauen.

Sie fürchtete ihn mehr als den Teufel persönlich: Patrick Walsh.

Aus gutem Grund. Er hatte ihr die Tochter weggenommen und sie auf schändliche Weise benutzt. Und jetzt fürchtete Deirdre etwas noch Schlimmeres: dass er ihr auch noch den Mann wegnehmen würde. Er würde ihr Conall wegnehmen, und – auch das spürte sie instinktiv – sie würde Conall nie wiedersehen.

Es hatte für sie nie einen anderen Mann als Conall gegeben. Ihr war, als gehörten sie zusammen wie zwei Felsen in den Bergen, die seit Anbeginn der Zeiten nebeneinander standen und bis zum Ende der Zeiten nebeneinander stehen würden. Conall hatte ihr schon als Kind alles bedeutet. Als man ihn fortgeschickt hatte, hatte sie gemeint, sterben zu müssen. Zehn Jahre lang hatte sie in einer Art Wüste gelebt.

Ihr Leben war ruhig und ereignislos verlaufen. Wer von Rathconan zur Küste hinunterstieg, kam zu einem Weg, auf dem die Postkutsche zwischen Dublin und Wicklow verkehrte. Mit ihr gelangte man in wenigen Stunden in die Hauptstadt. Wer dagegen den steilen Weg in die Berge um Rathconan und Glendalough hinaufstieg, geriet in eine weltabgeschiedene Gegend, in der die Zeit stillstand und sich nie etwas zu ändern schien. Deirdres Großvater, O’Toole, unterrichtete weiter in der Hedge School und alterte unmerklich. Von Conall sprach er nie, vielleicht, weil er Deirdre nicht wehtun wollte. Auch sonst sprach in Rathconan niemand von ihm – jedenfalls nicht in Deirdres Gegenwart. Budge hatte klar gemacht, dass er eine Rückkehr Conalls nicht wünschte, und da Conalls Vater Garret Smith vor lauter Trübsinn immer mehr im Alkohol versank, stieß Budge mit seinem Verbot in Rathconan nicht nur auf Ablehnung.

Nur einmal jedes Jahr, im Frühling, ging eine Veränderung mit Garret vor. Er hörte zu trinken auf, sprach wieder in verständlichen Sätzen und zog saubere Kleider an. Dann wanderte er zur Straße von Wicklow hinunter und bestieg die Postkutsche nach Dublin, um Conall zu besuchen. Manchmal begleitete Deirdres Großvater ihn die ersten Meilen des Weges, manchmal konnte er auch auf einem Fuhrwerk von Budge mitfahren. Der Herr von Rathconan schien keine Einwände gegen diese jährlichen Besuche zu haben. Er hatte seinen Willen längst durchgesetzt. Außerdem hatte Budge eine junge Dame aus Kildare geheiratet und war mit anderen Dingen beschäftigt.

Bei seiner Rückkehr fragte Deirdre Garret jedes Mal nach Conall, und Garret erzählte ihr das Neueste von ihm und wie er gewachsen war. Nach drei Jahren erfuhr sie, dass er die Schule verlassen würde, um bei einem Schreiner in die Lehre zu gehen. Deirdre war überrascht, aber sein Vater schien sehr zufrieden. Conall würde in Dublin bleiben. »Dort hat er es besser«, sagte er.

»Spricht er von mir?«, wagte sie einmal zu fragen.

Garret nickte. »Er erinnert sich noch gut an dich.« Es war schwer einzuschätzen, was das bedeutete. Einige Zeit später hörte sie, der Schreiner sei von Conalls Fähigkeiten sehr angetan gewesen und habe ihn zur Fortsetzung der Lehre zu seinem Bruder geschickt, einem Möbeltischler. »Ich glaube, er wird ein guter Tischler werden«, sagte Garret zu Deirdre.

Bei seinem nächsten Besuch kam es zu einem Zwischenfall. Garret hatte das ganze Jahr über kränklich gewirkt. An einigen Tagen war sein Gesicht unnatürlich gerötet gewesen, an anderen hatte Deirdre ihn bei ihren Besuchen aschgrau im Gesicht und mit zitternden Händen vorgefunden. Seine Vorbereitungen für die Reise nach Dublin waren diesmal weniger sorgfältig gewesen. Er hatte zwar saubere Kleider angezogen, mit dem Trinken aber erst ein, zwei Tage vorher aufgehört. Beim Rasieren hatte er sich mehrmals geschnitten. Der Fuhrmann hatte ihn zur Wicklower Straße hinuntergebracht, doch Deirdres Großvater hatte den Kopf geschüttelt und gemeint, er glaube nicht, dass Garret die Reise durchstehen werde.

Fünf Tage später war Garret auf dem Fuhrwerk eines Försters zurückgekehrt. Seine Kleider waren mit Staub und Sägespänen bedeckt. Er verschwand wortlos in seiner Hütte und tauchte erst am folgenden Tag wieder auf. Als Deirdre ihn nach Conall fragte, antwortete er nur mit einem gehetzten Blick: »Conall geht es gut, Deirdre, aber mir nicht.« Mehr wollte er nicht sagen. Ihrem Großvater aber gestand er einige Zeit später: »Ich habe mich in Dublin furchtbar aufgeführt und meinen Sohn vor seinen Freunden beschämt. Dann habe ich noch mit ihm gestritten.« Er hatte stumm den Kopf geschüttelt und in seinen Augen hatten Tränen gestanden. »Vielleicht hatte Budge doch Recht, meinen Sohn wegzuschicken.«

»Mach den Schaden wieder gut«, hatte O’Toole ihm geraten. »Hör auf zu trinken, fahr nach Dublin und versöhne dich mit deinem Sohn.« Garret hatte zwar genickt, den Rat aber nicht befolgt. Er kränkelte auch im Jahr darauf und wagte es überhaupt nicht mehr, nach Dublin zu fahren. Noch ein Jahr später konnte er seine Hütte nicht mehr verlassen.

Deirdre hatte sich die ganze Zeit über gefragt, was aus ihr werden sollte. Während Conall in Dublin war, wuchs sie zu einer jungen Frau heran. Einige junge O’Byrnes und Brennans machten ihr den Hof, doch sie zeigte nicht das geringste Interesse an ihnen. Sollte sie sich in Wicklow als Magd verdingen? Oder in Dublin? In Dublin würde sie wahrscheinlich Conall begegnen. Sie fragte ihren Großvater um Rat.

»Du wärst in Dublin nicht glücklich«, sagte er. »Die Berge würden dir fehlen. Du würdest täglich auf der Straße stehen und zu ihnen hinaufsehen. Sie scheinen zum Berühren nah und doch wären sie und alles, was dir lieb und teuer ist, für dich unerreichbar.«

»Vielleicht wäre ich ja nicht allein«, wagte Deirdre zu sagen. »Conall würde sich um mich kümmern.«

»Rechne nicht auf ihn.« Ihr Großvater hatte geseufzt. »Er war dein Kindheitsfreund, Deirdre, aber das ist lange her, und die Menschen ändern sich.«

Doch als im folgenden Jahr Garret nach dreiwöchigem Besäufnis im Sterben lag, hatte Deirdres Großvater Conall in einem Brief nach Rathconan bestellt.

Er war einen halben Tag zu spät eingetroffen. Deirdre hatte ihn schon von Ferne gesehen, wie er den Bergpfad heraufgestiegen kam, ein schlanker, gut aussehender junger Mann, der beherzt ausschritt. Dann hatte er sie auch gesehen und ihr Herz hatte einen Schlag ausgesetzt. Sie ließ ihn herankommen.

»Ich habe eine traurige Nachricht für dich, Conall. Dein Vater ist tot.«

Er nickte, als hätte er es erwartet. Zusammen kehrten sie nach Rathconan zurück.

Seltsam, dass es nach so vielen Jahren ganz natürlich schien, neben Conall zu gehen, als ob sie nie getrennt gewesen wären. Ob er genauso empfand? Deirdre hätte es gern gewusst.

Bei der Totenwache herrschte gedrückte Stimmung. Deirdre und ihr Großvater halfen Conall bei den Vorbereitungen. Alle Einwohner Rathconans kamen. Sogar Budge und seine Frau erschienen für kurze Zeit und erwiesen dem Toten ihre Reverenz. Den Priester begrüßten sie höflich. Bevor sie gingen, nahm Budge Conall zur Seite. Deirdre stand in der Nähe und hörte, was sie sagten.

»Dein Vater starb als Katholik«, sagte Budge leise. »Darf ich fragen, welcher Kirche du inzwischen angehörst?«

»Sir«, erwiderte Conall höflich, »ich bin, wie Sie wissen, in Dublin in die Schule der Kirche von Irland gegangen, deshalb besuchte ich auch den Gottesdienst dieser Kirche. Viele meiner Dubliner Freunde sind Protestanten. Dagegen sind diese lieben Menschen hier in Rathconan, darunter meine vielen Cousins und Cousinen, Katholiken. Um die Wahrheit zu sagen, hänge ich in Glaubensdingen keiner bestimmten Meinung an.«

»Aha.« In Rathconan selbst gab es keine Kirche, doch besuchten Budge und seine Familie von Zeit zu Zeit eine einige Meilen entfernte Kirche, um ihre Verbundenheit zu zeigen. Budge war ein überzeugter Anhänger der Kirche von Irland, doch hätte man ihn nicht fromm nennen können. Dem vorsichtigen Blick nach zu schließen, mit dem er Conall jetzt musterte, schien er mit dessen Antwort zufrieden.

Deirdre hatte Conall seit seiner Rückkehr kaum aus den Augen gelassen. Sie merkte schnell, dass die Jahre in Dublin ihn verändert hatten. Der Conall, den sie kannte und liebte, war zwar immer noch da, davon war sie überzeugt, doch strahlte der junge Mann eine Ruhe, Selbstsicherheit und Würde aus, die Deirdre viel mehr an ihren Großvater als an seinen Vater erinnerte. Zudem hatte Conall, wie sich zeigte, gelernt, dieses Selbstvertrauen mit höflichen Umgangsformen zu verbinden, die einem Mann wie Budge sichtlich gefielen.

»Gedenkst du bald wieder nach Dublin zurückzukehren?«, fragte Budge.

»Man sagt mir, dass ich als Möbeltischler in Dublin ein gutes Auskommen fände, Sir«, erwiderte Conall. »Doch vermisse ich die Berge meiner Kindheit. Ich überlege deshalb, ob ich nicht hier als Tischler unterkommen könnte.« Er sah Budge fragend an. »Wenn ich zeige, dass ich zuverlässig arbeite und nicht trinke.«

Budge betrachtete ihn forschend, dann nickte er kurz und sagte, Conall solle nach der Beerdigung seines Vaters zu ihm kommen. Kurz danach ging er.

»Du willst hierher zurückkehren, nachdem du in Dublin warst?«, fragte Deirdre.

»Ich überlege es, ja«, antwortete er. »Ich denke daran, zu heiraten und mich niederzulassen.«

»Oh.« Deirdre rang für einen Moment um ihre Fassung. »Und wer ist die Glückliche?«, fragte sie mit bangem Herzen.

»Du«, sagte er.

***

Wenn Budge Bedenken gegen einen weiteren aufsässigen Smith als Pächter hatte, ließ er sie sich nicht anmerken. Am Tag nach Conalls Umzug nach Rathconan hatte er ihn persönlich in seinem Häuschen aufgesucht.

»Ich habe mir vor einigen Jahren eine Haustür machen lassen, die jedoch nicht gut schließt. Kannst du mir eine neue machen?« Und nachdem Conall die Tür aus bester Eiche geschreinert und eingepasst hatte, hatten Budge und seine Frau sie bewundert und Budge hatte gesagt: »Eine vortreffliche Arbeit, Conall, das muss ich sagen. Eine vortreffliche Arbeit.« Und Conall war gut bezahlt worden.

Weitere Aufträge des Gutsherrn und seiner Freunde waren gefolgt. Einige Zeit später hatte Conall sich mit einem Empfehlungsschreiben Budges zu einem Möbeltischler nach Wicklow begeben. Daraus hatte sich eine anhaltende Geschäftsbeziehung entwickelt. Der Tischler aus Wicklow schickte Conall Aufträge, und alle paar Wochen begab Conall sich mit einem Karren nach Wicklow hinunter, auf den er einen Tisch, einige Stühle oder einen fein gearbeiteten Schrank geladen hatte. Wie um den Ruf seines Vaters vergessen zu machen, lieferte er immer pünktlich und seine Arbeit war ohne Makel. Nach einigen Jahren wollte der Schreiner aus Wicklow Conall als Geschäftspartner aufnehmen. Conall hätte in Wicklow gewiss besser verdient, doch er und Deirdre wollten in Rathconan, in den Bergen leben.

Conall trank gelegentlich Bier, doch immer in Maßen. Er sagte oder tat nichts, das Budge und die Seinen hätte kränken können. In späteren Jahren pflegte der Gutsherr Conall oft als Beweis dafür zu zitieren, dass man aus einem Iren mit fester Hand und ein wenig Überredung nicht selten »einen arbeitsamen und ehrbaren Handwerker« machen könne.

Was Deirdre betraf, so hatte sie ihr Glück und ihre Bestimmung gefunden. Wenige Tage vor ihrer Hochzeit mit Conall hatte ihr Großvater sie zur Seite genommen und sie gefragt, ob sie Conall denn wirklich heiraten wolle. Die Frage hatte sie überrascht. Sie hatte ihm versichert, dass sie das tatsächlich wollte, und er hatte nichts mehr gesagt. Die ersten Monate ihrer Ehe hatten sie in ihrer Entscheidung auch vollkommen bestätigt.

Damals vor Jahren war Conall ein kleiner Junge gewesen, den sie beschützt hatte und dem sie eine unentbehrliche Spielkameradin gewesen war. Jetzt hatte sie in dem jungen Mann ihren Prinzen gefunden. Wenn sie sich liebten, war ihr, als seien sie aus derselben Form geschaffen. In ihrem gemeinsamen Leben klangen sie zusammen wie zwei Saiten desselben Instruments.

Zugleich umgab Conall immer etwas Geheimnisvolles. Gelegentlich saß er tief in Gedanken versunken da, und Deirdre musste warten, bis er zu ihr zurückkehrte. Eines Tages machten sie einen Ausflug nach Glendalough. Nebeneinander standen sie in der Stille der Berge am oberen See, und Deirdre war plötzlich ganz seltsam zumute: als schwebten sie beide wie Dunst über dem Wasser. Ich bin nicht nur mit einem Mann verheiratet, dachte sie, sondern auch mit einem Geist. Sie waren schon fast ein Jahr verheiratet, als er ihr die Wahrheit über seine Schulzeit in Dublin erzählte.

»Die Schule war schrecklich, Deirdre. Wir waren nur wenige katholische Jungen, und wir sollten dort bekehrt werden. Die Schulmeister betrachteten uns als wilde Tiere, die gebändigt werden mussten. Sie behandelten uns auch wie Tiere. Im Morgengrauen trieben sie uns mit Fußtritten aus den Betten. Dann mussten wir die Böden schrubben, bevor die protestantischen Jungen aufstanden. Auch den restlichen Tag über wurden wir außerhalb des Unterrichts wie Sklaven behandelt. Wer sich wehrte, bekam Prügel. Und der Unterricht …« Er schüttelte den Kopf.

»War anstrengend?«

»Anstrengend? Von wegen. Lächerlich war er. Die protestantischen Jungen wussten so viel weniger als wir. Ich habe bei deinem Großvater mehr gelernt als sie in ihrer ganzen Schulzeit.«

»Sind alle Protestanten so ungebildet?«

»Das würde ich nicht sagen. Aus Trinity College sind schon berühmte Gelehrte hervorgegangen. Aber an einer Armenschule wie meiner haben katholische Kinder keine Chance. Deshalb habe ich die Schule so bald wie möglich verlassen und bin Tischler geworden.«

»Hast du mit deinem Vater darüber gesprochen?«

»Nein.« Conall schwieg einen Augenblick. »Was für einen Sinn hätte das gehabt? Der Arme hatte genug Probleme.«

Er sprach nie von dem Streit zwischen seinem Vater und ihm, und Deirdre fragte ihn auch nicht danach. Doch schien er über das traurige Ende seines Vaters zutiefst bekümmert und beschämt, genauso wie er entschlossen schien zu beweisen, dass er anders war als sein Vater. »Ich erinnere mich noch an ihn, als ich klein war«, sagte er einmal. »Ich wünschte, er wäre so geblieben, wie er damals war, und hätte seine Enkel noch erlebt.«

An Enkeln mangelte es nicht. Deirdre hatte über die Jahre ein Dutzend Kinder geboren. Einige davon waren Krankheiten oder Unfällen zum Opfer gefallen, doch sieben waren zu starken, gesunden Männern und Frauen herangewachsen.

Deirdre und Conall hatten ihre Entscheidung, ihre Kinder droben in Rathconan aufzuziehen, nie bereut. Hier hatten sie ihre eigene Kindheit verbracht, hier lebte Deirdres Großvater, den sie beide liebten, und, am wichtigsten, hier waren sie und ihre Kinder von der großartigen Bergwelt umgeben. Die Brennans waren, wie Deirdres Großvater ihnen versicherte, nicht dümmer und nicht gescheiter als in den vergangenen Generationen, und die O’Byrnes bildeten sich nach wie vor ein, Rathconan gehöre mit allem Drum und Dran von Rechts wegen ihnen, doch Deirdre und Conall waren zusammen mit ihnen aufgewachsen und sie gehörten wie die anderen Familien zur Landschaft.

Wenn Deirdres Großvater Bedenken gegen Conall als Ehemann gehegt hatte, so begrub er sie schnell. Schon nach wenigen Monaten hatten die beiden zu einem freundschaftlichen Umgang miteinander gefunden, der die Jahre überdauern sollte. Einmal in der Woche verbrachten sie einen Abend zusammen. Natürlich wurde dabei auch das eine oder andere Glas getrunken, aber vor allem rezitierten sie Gedichte oder lasen zusammen Bücher – sodass Conall einmal lachend zu Deirdre sagte: »Gut, dass wir geheiratet haben. So kann ich die Schule doch noch abschließen.« Der Alte war hager geworden, doch sein Verstand war so wach wie immer, und er arbeitete weiter als Schulmeister des Dorfes und erzählte von Zeit zu Zeit auf einer ceili seine Geschichten oder trug Gedichte vor. Er wurde über achtzig und unterrichtete bis eine Woche vor seinem Tod.

Seine Totenwache war ein denkwürdiges Ereignis. Zu seinen Ehren trafen Besucher aus fünf Grafschaften ein. Allerdings kam es dabei auch zu einem unangenehmen Zwischenfall.

Verursacht wurde er durch Finn O’Byrne, der im Dorf noch nie eine große Rolle gespielt hatte. Etwa gleich alt wie Conall, hatte er bei der Aufzucht von Rindern einiges Geschick bewiesen. Außerdem hatte er auch eine ganze Schar Kinder in die Welt gesetzt. Doch obwohl er mit den Brennans verkehrte, hatten er und Conall einander nie viel zu sagen gehabt. Conall hatte ihm trotzdem einmal einen guten eichenen Stuhl geschreinert, und Finn hatte sich damit auch sehr zufrieden gezeigt. Deshalb rechnete Conall nicht mit Streit, als er Finn am langen Abend der Totenwache unsicher und offenbar schon etwas angetrunken auf sich zuschwanken sah – eine kleine Gestalt mit einer zotteligen Mähne schwarzer Haare, die ihm in verfilzten Locken bis auf die Schultern fiel.

»Bestimmt wirst du der neue Schulmeister«, sagte Finn. »Gebildet, wie du bist.«

In seinem Ton lag etwas unbestimmt Kränkendes, das Conall sich nicht erklären konnte.

»Ich glaube nicht, Finn«, erwiderte er. »Ich habe zu viel anderes zu tun.« Zwar hatte er mit O’Toole in den vergangenen Jahren tatsächlich einige Male über die Möglichkeit gesprochen, ihm als Schulmeister nachzufolgen, doch verspürte er dazu keine rechte Neigung.

»Er hätte gewollt, dass es in der Familie bleibt, Conall – schließlich ist Deirdre seine Enkelin, und du warst doch oft mit ihm zusammen. Stundenlang habt ihr jede Woche zusammen gelesen.« Finn sprach das Wort »gelesen« aus, als handle es sich um etwas Anrüchiges. »Nein, Conall, nur du warst gut genug, ihm dabei Gesellschaft zu leisten.«

Es wäre Conall nie eingefallen, dass seine Abende mit dem Alten Finn O’Byrne kränken könnten, doch offenbar war es so gewesen.

»Er hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, wenn du uns Gesellschaft geleistet hättest«, sagte er. Das war natürlich gelogen, aber aus Höflichkeit.

»Ha! Finn O’Byrne zusammen mit dem Alten und seinem Liebling. Dem ganz besonderen Kind, dem Fürsten, wie wir dich nannten, als wir zu ihm in die Schule gingen. Bis du dann gehen musstest.« Er grinste hämisch. »Wegen deines Vaters. Hat ja auch viel gelesen, heißt es.«

Es war schwer zu sagen, was Conall mehr erschreckte – dass dieser Mensch ihn so sehr verabscheute oder dass er davon all die Jahre keine Ahnung gehabt hatte. Er erinnerte sich noch gut an ihre gemeinsame Schulzeit. Finn war kein guter Schüler gewesen, wenn auch vielleicht ein wenig besser als die Brennans. Und jetzt hatten der Tod des alten O’Toole und zweifellos ein kleiner Schluck aus der Flasche seine aus der Kindheit herrührende Missgunst zu Tage gefördert. Conall musste Finn allerdings unbewusst mit Widerwillen angesehen haben, denn dieser rief plötzlich bitter: »Ah, seht euch sein Gesicht an. Er hält sich für etwas Besseres.«

»Hast du keinen Respekt vor den Toten, Finn?«, fragte Conall beherrscht und schickte sich an zu gehen.

»Geh nur.« Finn verneigte sich spöttisch. »Der große Conall Smith redet nur mit seinesgleichen.« Er spuckte aus. »Respekt vor den Toten. Auch vor deinem Vater?«

Das war zu viel.

»Du warst schon damals ein Dummkopf, Finn O’Byrne, und bist es heute noch«, rief Conall wütend. »Das musst du mir nicht erst beweisen, ich weiß es schon.« Damit ging er.

Einige Tage später erzählte er Deirdre von dem Vorfall. Finn dagegen sprach nie davon, sie nahmen deshalb an, dass er ihn vergessen hatte.

Einige Monate lang hatte Conall aushilfsweise unterrichtet, während nach einem Nachfolger gesucht wurde. Nur den Katechismusunterricht wollte er nicht selbst erteilen, sondern ließ dafür den Priester aus dem Tal kommen. Nach einiger Zeit übernahm ein älterer Mann aus Wicklow den Unterricht und Conall wandte sich wieder seiner Tischlerei zu. Er war überzeugt, dass Budge von seiner Tätigkeit als Lehrer wusste, doch der Gutsherr sagte nie etwas.

Das war vor zwanzig Jahren gewesen. Seit damals hatte Friede in Rathconan geherrscht. Nur wenig hatte sich geändert, ungeachtet der Vorgänge, die sich im Rest der Welt abspielten.

Etwas hatte sich allerdings doch geändert, zwar ganz allmählich, aber doch bemerkbar. Deirdres Großvater hatte gelegentlich eine Bemerkung darüber gemacht, als er schon älter war, und in den zwanzig Jahren seit seinem Tod fiel es Deirdre zunehmend auf.

Die Bevölkerung von Rathconan wuchs.

Deirdre hatte sieben Kinder, Budge und seine Frau hatten drei Töchter und zwei Söhne, und so war es auch in den anderen Familien. Doch in der Vergangenheit waren die Kinder als Erwachsene oft weggezogen. Doch jetzt übernahm nicht mehr der älteste Sohn den elterlichen Besitz, sondern mehrere Kinder, welche die Felder unter sich aufteilten. Dadurch wuchs die Bevölkerung des Dorfes. Und es stand zu erwarten, dass in wenigen Jahren einer der Brennans seinen Besitz erneut aufteilen würde. In der Vergangenheit hatten solche kleinen Parzellen keine Familie ernähren können. Jetzt hatte sich das geändert. Der Grund dafür lag auf der Hand.

»Dafür, dass meine Verwandtschaft so rasch wächst, haben wir der Kartoffel zu danken«, bemerkte Conall trocken.

Alle Einwohner Rathconans bauten inzwischen Kartoffeln an. Budge hatte zwei große Kartoffelfelder. Die Brennans bauten zwar auch noch andere Feldfrüchte an und ließen ihre Schafe und wenigen Rinder an den Berghängen weiden, doch bestellten sie den größten Teil ihrer Parzellen mit Kartoffeln. Die Knolle aus der Neuen Welt war so nahrhaft, dass man sich ausschließlich von ihr ernähren konnte, ohne davon Schaden zu nehmen. Und nicht nur das, die Kartoffel war ungeheuer ergiebig: Vom Ertrag eines einzigen kleinen Feldes konnte eine ganze Familie leben. In Rathconan lebten inzwischen doppelt so viele Brennans wie zu Deirdres Kindheit, und sie hätten ihre Felder noch einige Male teilen können, ohne deshalb Hunger leiden zu müssen. Außerdem konnten sie ihre Erzeugnisse aufgrund des allgemeinen Bevölkerungswachstums zu guten Preisen verkaufen. Ihre mit Rasen gedeckten Hütten mochten weiterhin ärmlich aussehen, doch es ging den zahlreichen Brennans und ihren Nachbarn besser als zuvor. Sogar die O’Byrnes konnten ihre Pacht zahlen.

Dieselbe Entwicklung hatte ganz Irland erfasst. Die Städte wuchsen – die Bevölkerung Dublins hatte sich in drei Generationen verdreifacht – und auch die Landbevölkerung vermehrte sich.

Deirdre und Conall hatten kaum materielle Sorgen. Zwei Töchter lebten in Wicklow. Beide waren mit recht wohlhabenden Männern verheiratet, die eine mit einem Metzger, die andere mit einem Bierbrauer. Die beiden ältesten Söhne waren nach Dublin gezogen. Der eine hatte als Drucker ein gutes Auskommen gefunden, der andere, ein Tabakhändler, schien weniger erfolgreich und lebte in ärmlichen Verhältnissen in den Liberties im Westen der Altstadt. Die beiden Jüngsten waren in Rathconan geblieben. Der Junge, Peter, trat als Tischler in die Fußstapfen seines Vaters, seine Schwester arbeitete als Magd in Budges Haus.

Blieb noch Brigid. Und der Teufel Patrick Walsh.

Dass Brigid mit Patrick durchgebrannt war, hatte Deirdre erst einen Monat danach erfahren. Sie hatte einen Brief vom Verwalter von Mount Walsh erhalten, der darauf anspielte. Deirdre musste annehmen, dass die beiden nach Dublin gegangen waren, auch wenn das nicht im Brief stand.

»Haben sie denn geheiratet?«, fragte sie Conall.

»Das hätten wir von Brigid gehört«, antwortete er.

»Dann müssen wir Brigid suchen und retten, bevor ihr Ruf ruiniert ist«, sagte Deirdre verzweifelt.

»Dazu ist es wahrscheinlich zu spät«, murmelte Conall. Er traf allerdings noch am selben Tag Vorbereitungen, zusammen mit Deirdre in die Hauptstadt aufzubrechen.

Sie war noch nie in Dublin gewesen und staunte über die Größe der Stadt. Sie kamen kurz nach Mittag an und begaben sich sofort zum Haus ihres Sohnes in einer schmalen Gasse, die von der Dame Street abzweigte. Er erklärte ihnen, wo sie Patrick Walsh finden würden. Unverzüglich machten sie sich auf den Weg. Sie gingen zum College Green und überquerten die Brücke über den Liffey. Auf dem Nordufer wuchsen in einiger Entfernung rechts von ihnen die Grundmauern eines gewaltigen klassizistischen Gebäudes in die Höhe, das, wie sie erfuhren, einmal das neue Zollhaus sein würde. Die Stadt wuchs unaufhörlich, und das Viertel im Norden mit seinen großen Straßen und Plätzen stand dem Viertel um den St. Stephen’s Green an Pracht und Eleganz kaum nach. Ehrfürchtig bestaunte Deirdre die großen Adelspalais auf beiden Seiten der breiten Sackville Mall, die fünfhundert Meter lang nach Norden führte, auf die schöne Fassade des Entbindungsheims und den eleganten Rutland Square dahinter zu. Patrick Walshs Haus stand in einer schmaleren, aber gepflegten Straße.

Zur Eingangstür führten einige Stufen hinauf, zum Lieferanteneingang im Keller führte eine Treppe hinunter. Conall zögerte einen Moment, dann stieg er zur Eingangstür hinauf.

Das Mädchen, das ihnen öffnete, schien zunächst verwirrt über ihre einfache Kleidung und fragte, ob sie Händler seien. Doch Conall nannte ihr seinen Namen, und wenige Augenblicke später kehrte sie zurück und führte die beiden durch einen Flur in ein kleines Empfangszimmer. Sie mussten nur kurz warten, dann trat Patrick Walsh in das Zimmer. Er lächelte.

»Sie suchen bestimmt Brigid«, sagte er, bevor sie ihr Anliegen vorbringen konnten. »Ich dränge sie seit einem Monat, Ihnen zu schreiben.«

»Dann wohnt sie also hier?«, fragte Conall.

»So ist es, Mr Smith, und sie wird gleich bei uns sein«, erwiderte Patrick Walsh freundlich, als sei alles in bester Ordnung.

Deirdre starrte ihn an. Ein kluges Gesicht, freundliche Augen, ein einnehmendes Wesen, ein Gentleman durch und durch. Doch sie ließ sich keine Sekunde täuschen.

»Was haben Sie mit meiner Tochter gemacht?«, fragte sie.

»Ich habe sie nicht entführt, Mrs Smith«, sagte er ruhig. »Sie war im Haus meines Cousins Lord Mountwalsh angestellt, wie Sie wissen.« Wenn die Anspielung auf die Bedeutung seiner Familie Deirdre einschüchtern sollte, verfehlte sie ihren Zweck. »Jetzt hat sie eingewilligt, mir hier als Haushälterin zu dienen.« Er blickte Deirdre unverwandt an.

»Als Haushälterin? In ihrem Alter?«

»Ich habe kein großes Haus.« Er hob den Kopf. »Da kommt sie ja.«

Brigid war in die Tür getreten, und Deirdre stockte der Atem. Das magere Mädchen, das sie in Mount Walsh zurückgelassen hatte, gab es nicht mehr. Brigid war aufgeblüht wie ein Zweig, dessen fest geschlossene Knospen im Frühjahr aufbrechen. Aufrecht stand sie vor ihren Eltern, in einem strengen Kleid und mit straff nach hinten gekämmten schwarzen Haaren, der Inbegriff einer tüchtigen jungen Haushälterin. Doch ihre Mutter sah auch, dass sie Brüste bekommen hatte. Vor ihr stand eine stolze junge Frau. Brigids Haut schimmerte, und in ihren Augen lag ein ganz neuer Glanz.

»Ich möchte allein mit meiner Tochter sprechen«, sagte Deirdre bestimmt.

Brigid bewohnte ein schönes Zimmer im dritten Stock, unmittelbar unter dem Dachgeschoss, in dem der Rest des Personals untergebracht war. Auf dem Boden lag ein Teppich, auf dem Bett eine Decke und in der Ecke stand ein Polstersessel. Brigid setzte sich auf das Bett und bedeutete ihrer Mutter, auf dem Sessel Platz zu nehmen.

»Es tut mir leid, dass ich nicht geschrieben habe.«

»Das ist jetzt unwichtig«, fiel ihre Mutter ihr ins Wort. »Du bist nicht seine Haushälterin.«

»Doch. Ich schwöre es.«

»Und mehr nicht?«

Brigid schwieg.

»Was fällt dir ein, Brigid?«, rief ihre Mutter verzweifelt. »Merkst du nicht, was du aus dir machst? Du musst hier sofort weg.« Brigid fing an den Kopf zu schütteln, doch Deirdre redete weiter. »Was haben sie dir in Mount Walsh getan? Haben sie dich schlecht behandelt? Warst du unglücklich? Du hättest es mir nur zu sagen brauchen.«

»Anfangs war ich einsam, Mutter. Ich habe euch so sehr vermisst. Aber alle waren sehr lieb zu mir. Und dann …« Sie lachte. »Ich glaube, mir war langweilig. Bis Patrick auftauchte.«

Dieses Lachen. Und wie sie ihn Patrick nannte.

»Du meine Güte, Kind. Du bist seine Geliebte.« Deirdre starrte ihre Tochter an. »Glaubst du, du findest noch einen ehrbaren Mann, wenn das herauskommt? Dieser feine Herr wird dich niemals heiraten. Er benützt dich, Brigid, aber was wird aus dir, wenn er mit dir fertig ist? Hast du daran gedacht?« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist meine Schuld. Ich hätte dich warnen müssen, aber ich glaubte, in Mount Walsh könnte dir nichts passieren. Ich hätte nie gedacht …«

»Es ist überhaupt nicht deine Schuld, Mutter.«

»Du kehrst sofort nach Rathconan zurück.«

»Was soll ich dort? Einen Brennan heiraten?« Brigid schwieg und fügte ruhig hinzu: »Ich sage dir, Patrick ist ein guter Mensch. Ich werde keinen besseren finden.«

»Du bildest dir ein, er liebt dich?«

»Ich glaube, ich interessiere ihn. Er mag mich.«

»Er nützt dich aus. Du bist für ihn nur eine Magd.«

»Das war ich auch in Wexford.«

»Komm mit uns, Brigid.«

»Verzeih mir, Mutter, aber ich will nicht.«

»Dein Vater wird es dir befehlen.«

»Er kann mich nicht zwingen.« Ruhig und entschlossen saß sie auf dem Bett.

Deirdre war so schockiert und wütend, dass sie nicht einmal weinen konnte. Sie stand auf.

»Dann habe ich dir nichts mehr zu sagen, Brigid.« Auf der Treppe nach unten sagte sie trotzdem noch: »Wir werden einige Tage bei deinem Bruder wohnen. Ich hoffe, du änderst deine Meinung.«

Deirdre wollte nicht mehr mit Patrick sprechen, sondern bedeutete Conall, sie sollten sofort gehen.

Sobald sie draußen standen, brach es aus ihr heraus.

»Weißt du, was sie ist? Seine Geliebte.«

»Das habe ich mir gedacht.« Conalls Stimme klang ruhig.

»Und du willst nichts dagegen tun? Du willst deine Tochter nicht retten?«

»Ist sie gegen ihren Willen hier?«

»Sie weigert sich zu gehen.«

»Was soll ich deiner Meinung nach tun, Deirdre? Patrick Walsh erschießen?«

»Er ist der Teufel in Person.«

»Vielleicht.« Conall klang nicht überzeugt.

»Was hat er gesagt?«

»Über Brigid? Nicht viel. Sie hat ihm geholfen, ein Bücherverzeichnis für eine Bibliothek zu erstellen.« Er schwieg, während seine Frau ihn ungläubig anstarrte. »Er hat die Gedichte deines Großvaters gelesen. Und sein Vater, der alte Doktor Walsh, scheint meinen Vater als Kind gekannt zu haben. Es hat sich herausgestellt, dass wir sogar entfernt verwandt sind.«

»Glaubst du, er würde Brigid heiraten?«

»Ich glaube, der heiratet überhaupt nicht«, erwiderte Conall nachdenklich.

***

Womit er Recht behielt. Deirdre schickte ihn noch einmal zu Brigid und Patrick, bevor sie Dublin verließen, doch konnte er nichts ausrichten. Ein Jahr später gebar Brigid ein Kind. Deirdre schickte Conall nach Dublin, und er berichtete, Mutter und Kind seien wohlauf, sie lebten zufrieden in Walshs Haus, und weder Patrick noch Brigid schienen an einer Veränderung der Situation interessiert.

Jahre vergingen. Brigid gebar weitere Kinder. Niemand schien Einwände zu haben und Deirdre konnte nichts dagegen tun.

Eines hatte sie allerdings nicht vorausgesehen: dass ihr Mann sich mit Walsh anfreunden würde.

Das erste Mal war Patrick auf dem Weg nach Glendalough durch Rathconan gekommen. Brigid und das kleine Baby hatten ihn begleitet. Sie sollten bei Brigids Eltern bleiben, während er die alte Klosterruine besuchte. Deirdre vermied es möglichst, mit ihm zu sprechen, doch als er Conall beiläufig fragte, ob er ihn begleiten wolle, stimmte dieser zu.

»Du kannst es offenbar nicht erwarten, einen Tag mit dem Mann zu verbringen, der das Leben deiner Tochter ruiniert hat«, sagte Deirdre vorwurfsvoll zu ihm.

Sie erfuhr nie, was an jenem Tag in Glendalough zwischen den beiden Männern vorging, doch bei ihrer Rückkehr war klar, dass sie sich angeregt unterhalten hatten. Danach war Patrick jedes Jahr im Sommer zurückgekehrt, und jedes Mal hatten die beiden Männer die Zwillingsseen besucht. Der Besuch war zu einem jährlichen Ritual geworden. Manchmal, wenn Brigid nicht reisen konnte, kam Patrick allein. Zu Deirdres Leidwesen aß er mit ihnen zu Abend und übernachtete am Abend seiner Ankunft in ihrer Hütte und dann noch einmal am Abend des Tages in Glendalough, bevor er am nächsten Morgen die Heimkehr antrat. Nach seiner Abreise fragte Deirdre Conall, über was sie während ihres gemeinsamen Ausflugs gesprochen hätten, und er antwortete ihr ausweichend. Doch wenn sie sich abfällig über Patrick äußerte, pflegte Conall ihn zu verteidigen. »Er ist ein Mann von großem Verstand«, sagte er etwa, oder: »Er hat das Herz am rechten Fleck.« Einmal sagte er sogar: »Er ist ein guter Katholik«, worauf Deirdre erwiderte: »Wenn er das wäre, hätte er deine Tochter geheiratet, statt sie als Konkubine zu benutzen.« Conall hatte darauf nur nachdenklich gesagt: »Jedenfalls liebt er Irland.«

Deirdre war froh, dass Patrick nur einmal im Jahr kam. Doch hatte sie über die Jahre immer stärker das Gefühl, dass ihr Mann sich auf eine schwer zu fassende, heimtückische Art von ihr entfernte. Das lag allerdings nicht nur an seinem Umgang mit Patrick. Noch eine andere Veränderung hatte sich in ihrem Leben ereignet.

Sie hatte sich zuerst gefreut, als Conall eines Abends zu ihr gesagt hatte: »Es ist wirklich schade, dass niemand mehr die Lieder deines Großvaters aufführt. Natürlich sind einige gedruckt worden, aber ich habe noch viel mehr aufgeschrieben. Und Geschichten gibt es auch von ihm, wunderbare Geschichten.«

»Vielleicht solltest du sie vortragen, Conall«, hatte Deirdre gesagt. »Ich wüsste nicht, wer das besser könnte.«

Also hatte er angefangen, sich abends wieder mit den Werken von Deirdres Großvater zu beschäftigen. Nach einer Weile hatte er die Nachbarn eingeladen und ihnen Gedichte und Geschichten vorgetragen, wie der Alte es früher getan hatte. Alle waren begeistert gewesen und die Kunde davon hatte die Runde gemacht. Einen Monat später war er zu einem Vortrag an einen einige Meilen entfernten Ort eingeladen worden, dann zu einem zweiten und einem dritten. Noch bevor ein Jahr vergangen war, verreiste er jeden Monat anderswohin. Manchmal war er gleich mehrere Tage weg.

Deirdre hatte nicht gewusst, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht. Natürlich war sie stolz auf Conall und freute sich, dass auf diese Weise ihr Großvater wieder zu Ehren kam. Sie freute sich auch für ihren Mann. Sie wollte nicht, dass er seine Fähigkeiten vernachlässigte, und sie wusste, dass seine einsamen Wanderungen immer für ihn wichtig gewesen waren. Andererseits war er noch nie so viel gewandert, und sie fragte sich unwillkürlich, ob das am Ende mit ihr zu tun hatte. Brauchte er nach so vielen Jahren mehr Abstand? Waren die Auftritte nur ein Vorwand, um nicht mit ihr Zusammensein zu müssen? Ein- oder zweimal sprach sie ihn vorsichtig darauf an. Er schien darüber unglücklich und erbot sich sogar, nicht mehr wegzugehen. Das hatte sie einigermaßen beruhigt. Denn wann immer er zu Hause war, war er ein fürsorglicher, liebevoller Ehemann. Sie beschloss also, ihre unguten Gefühle zu begraben und sich zu freuen, dass die Nachbarn mit neuem Respekt von ihrem reisenden Mann sprachen.

Doch ein Vorfall vor wenigen Jahren hatte sie zutiefst beunruhigt.

Obwohl das neue unabhängige Parlament genug zu regeln gehabt hatte, war für einige Jahre Ruhe in Irland eingekehrt. Dann, 1789, hatte die Nachricht von der Französischen Revolution Europa wie ein Donnerschlag erschüttert. Deirdre wusste noch aus ihrer Kindheit, wie aufregend die Amerikanische Revolution gewesen war, doch die Französische Revolution schien eine Umwälzung ungeheueren Ausmaßes. 1776 hatten die Iren erlebt, wie die Neue Welt sich von der Alten ablöste. Jetzt dagegen schien es, als wollte die Alte Welt sich selbst in einer Orgie der Gewalt und des Blutvergießens ein neues Gesicht geben. Deirdre fühlte sich von dem gewaltigen Experiment abwechselnd angezogen und abgestoßen. Von einem neuen Zeitalter der Vernunft war die Rede, vom Ende der gesellschaftlichen Klassen, von religiöser Toleranz und sogar von der Herrschaft des Atheismus.

Und während sich diese erstaunlichen Ereignisse in Frankreich zutrugen, war Patrick zu seinem jährlichen Besuch eingetroffen, diesmal allein. Die beiden Männer hatten sich wie gewöhnlich nach Glendalough begeben. Nach ihrer Rückkehr hatten sie sich zum Abendbrot niedergelassen. Angeregt von Walsh, hatte Conall mehr getrunken als sonst. Sie sprachen über die jüngste Entwicklung der Französischen Revolution und ihre Bedeutung für Europa. Fest stand, dass die anderen europäischen Monarchien den Umsturz der gesellschaftlichen Ordnung in ihrer Mitte nicht hinnehmen würden.

»Du weißt, was das meiner Meinung nach für Irland bedeuten könnte«, sagte Patrick mit gesenkter Stimme.

Conall hatte ihn unverwandt angesehen und dann ganz ruhig, aber mit einer Leidenschaft, wie Deirdre sie noch nie in seiner Stimme gehört hatte, geantwortet: »Ich werde bereit sein, wenn die Zeit reif ist, das versichere ich dir.«

Als Deirdre ihren Mann am folgenden Tag fragte, was er damit gemeint habe, hatte er nur den Kopf geschüttelt und gesagt: »Es gibt Dinge, die du besser nicht weißt.« Die herablassende Antwort machte sie wütend und sie spürte, wie er ihr in diesem Moment fremd wurde.

Einige Wochen später war er nach Dublin gefahren, um seine Söhne zu besuchen, wie er sagte. Doch hatte Deirdre das ungute Gefühl gehabt, dass es noch einen anderen Grund gab, der etwas mit Walsh zu tun hatte. Sie verfluchte den Tag, an dem Patrick Walsh in ihr Leben getreten war.

Denn damit hatte der Alptraum begonnen, der bis zu diesem Tag andauerte.

Deirdre blickte ins Tal hinunter.

Von ferne schien es zunächst, als ändere das Wesen, das den gewundenen Pfad heraufkam, seine Gestalt. Im einen Moment schien es ein einzelner Reiter, im nächsten ein Hirsch mit einem großen Geweih. Erst dann erkannte Deirdre, dass es sich nicht um einen, sondern um zwei Reiter handelte. Der erste war unverkennbar Patrick. Hinter ihm ritt ein hochgewachsener Mann, den Deirdre noch nie gesehen hatte.

Plötzlich wusste sie mit größter Bestimmtheit, dass diese Männer ihr Conall wegnehmen würden. Instinktiv wollte sie zu Conall zurückrennen und ihn vor den beiden verstecken – doch im selben Moment merkte sie, dass er neben sie getreten war.

»Warum kommen sie hierher?« fragte sie, und ihre Stimme klang schrill und aufgeregt.

Conall legte den Arm um sie. »Bisher konnte ich dir nichts sagen, Deirdre«, sagte er ruhig. »Aber jetzt sollst du alles wissen.« Er drückte sie an sich. »Ich brauche deine Hilfe.«

 

Patrick war gern in Rathconan. Er genoss das Gefühl, in den Bergen zu sein, doch verschwendete er keine Zeit. Sobald er Conalls Hütte betreten hatte, stellte er ihm John MacGowan vor. Deirdre war den Männern gefolgt. Patrick sah Conall fragend an, und dieser sagte ruhig: »Es ist Zeit, dass wir sie einweihen.«

Patrick musterte ihn einen Moment lang nachdenklich, dann nickte er. Er wusste, dass Deirdre ihn nicht mochte, doch nahm er es ihr nicht übel.

»Sie wissen vielleicht, dass ich jahrelang dem so genannten Katholischen Komitee angehörte, Deirdre«, begann Patrick.

Deirdre zuckte die Schultern. »Ich wusste nie genau, was das war.«

»Eine ziemlich große Gruppe von Leuten, die sich für die irischen Katholiken verantwortlich fühlten. Wir hofften auf Freiheit für sie, doch wappneten wir uns mit Geduld. Ich fühlte mich den Überzeugungen verpflichtet, für die meine katholische Familie seit dreihundert Jahren steht. Als Henry Grattan sein unabhängiges irisches Parlament bekam, sollte das zu einer allmählichen Verbesserung unserer Lage als Katholiken führen. Zumindest glaubten wir das damals alle. Doch wir hatten die Rechnung ohne die protestantische Oberschicht und die Herren in der Burg gemacht. Denn der harte Kern der protestantischen Siedler im irischen Parlament wollte uns keinerlei Macht zugestehen, und die gemäßigten Protestanten scheuten vor einer Auseinandersetzung zurück. Die Patrioten waren isoliert. Dennoch hatte ich gehofft, unsere stille Diplomatie würde eines Tages Veränderungen bewirken«, fuhr Patrick fort. »Dann brach die französische Revolution aus. Unruhe erfasste die Menschen. Und einige Katholiken, besonders unter den städtischen Kaufleuten von Dublin, riefen nach radikalen Maßnahmen und öffentlichen Aktionen …«

»Uns fiel ein, was die schottischen Covenanter vor langer Zeit getan hatten«, fiel John MacGowan ihm ins Wort. »Warum sollten sich die irischen Katholiken nicht zu einem ähnlichen Bündnis zusammenschließen?« Er grinste. »Patrick fand das schrecklich. Er wollte nichts davon hören.«

»Man muss sagen, dass die Französische Revolution die Protestanten genauso beeinflusste«, fuhr Patrick fort. »Ein Verwandter von mir, ein Doyle, berichtete mir davon. Er hatte sich damals den Volunteers angeschlossen und war ein radikaler Kopf. Als nun eine neue Gruppe entstand, die United Irishmen, wie wir sie nannten, trat er ihr bei. ›Patrick‹, pflegte er zu sagen, ›Irland muss eine unabhängige Republik wie Frankreich werden mit religiöser Freiheit und allgemeinem Wahlrecht.‹ Er diskutierte mit Leidenschaft über solche Themen. Mehr als ein Debattierklub waren die United Irishmen damals offen gesagt auch nicht. Aber über die Volunteers hatte mein Verwandter sich mit einer Familie namens Law angefreundet, Presbyterianern aus Belfast. Sie luden ihn ein, die United Irishmen von Belfast zu besuchen. Er sagte mir, so etwas hätte er noch nicht erlebt. Am Tag des Sturms auf die Bastille veranstalteten sie eine riesige Kundgebung und sie waren straff organisiert. Den Presbyterianern aus Belfast war es wirklich ernst – sie lehnen die Herrschaft der Engländer noch entschiedener ab als wir.«

»Sagst du«, murmelte MacGowan lächelnd.

»Und ein Protestant brachte uns dann richtig auf Trab. Du hast vielleicht schon von Wolfe Tone gehört, Deirdre, einem Mann mit bemerkenswertem Charme. Er hat die Presbyterianer von Belfast dazu überredet, mit den Katholiken gemeinsame Sache zu machen – schon allein, weil wir so viele sind. Er hat auch viele vom Katholischen Komitee auf seine Seite gebracht.«

»Aber dich nicht«, warf John MacGowan ein.

»Vollkommen richtig. Ich hielt die Presbyterianer für gefährlich. Doch dann kam das schreckliche Parlament von ’92, an das du dich sicher erinnerst, und ich änderte meine Meinung.« Patrick seufzte. »Meine Bekehrung verdanke ich meinem Cousin Hercules.«

Alle Iren erinnerten sich an dieses Parlament. In England drängten damals die Whigs auf die Lockerung der alten Strafgesetze. Burke überzeugte sogar Premierminister Pitt und seine Tories davon. In Dublin traten der Herzog von Leinster und seine Freunde dafür ein. Es bestand bereits Einvernehmen darüber, dass Katholiken wieder als Anwälte zugelassen werden sollten. Als die gemäßigten Mitglieder des Katholischen Komitees eine gemäßigte Petition beim irischen Parlament einreichten, hatte Patrick deshalb erwartet, dass diese zumindest auf offene Ohren stoßen würde. Doch die irischen Parlamentarier führten sich auf wie eine blutdürstige Hundemeute. Die Vorschläge wurden mit der erstaunlichen Mehrheit von 205 zu 27 Stimmen abgelehnt und die Katholiken mit Schimpf überhäuft. Es war, als hätte sich seit der Schlacht am Boyne nichts geändert. Am meisten hatte Patrick allerdings die Rede von Hercules geschmerzt.

»Was für billige Tricks und Vorwände die Katholiken auch verwenden, man darf ihnen niemals trauen. Irland ist ein protestantisches Land und daran soll sich auch nichts ändern – nicht in diesem Jahrhundert und nicht im nächsten und nicht in tausend Jahren!«

Die Rede war mit Jubel gefeiert worden. Später, beim Hinausgehen, hatte Patrick seinen Cousin in einem Säulengang stehen sehen. Ein hochgewachsener Mann war soeben zu ihm getreten und schüttelte ihm die Hand: FitzGibbon, der mächtigste Mann jenes Dreigestirns, der Troika, die die Regierungsgeschäfte in der Burg führte.

»Nach dieser Abstimmung und den beleidigenden Worten meines Cousins Hercules begriff ich, dass John MacGowan und seine Freunde Recht hatten«, fuhr Patrick an Deirdre gewandt fort. »Die protestantischen Machthaber werden den Katholiken niemals irgendwelche Zugeständnisse machen.«

»Das behaupten Sie«, erwiderte Deirdre feindselig. »Aber im darauf folgenden Jahr erhielten die Katholiken das Wahlrecht. Meine Schwiegersöhne haben es beide.«

Tatsächlich hatte die Londoner Regierung, die inzwischen Krieg gegen die französische Republik führte und Unruhen in Irland befürchtete, das widerstrebende irische Parlament 1793 gedrängt, den Katholiken einige Wünsche zu erfüllen.

»Das ist doch eine Farce«, platzte John MacGowan heraus. »Jeder Mann mit einem Besitz, der vierzig Schillinge abwirft, darf wählen. Ich selbst darf auch wählen. Aber was nützt es mir? Überhaupt nichts – da kein Katholik im Parlament sitzen darf. Ich darf zwar wählen, aber nur einen Protestanten. Und da die meisten Wahlkreise nach wie vor von einigen wenigen Protestanten beherrscht werden, wird sich nichts ändern. Ich habe auch das Recht, Vollmitglied einer Gilde zu werden – vorausgesetzt, die bisherigen protestantischen Mitglieder laden mich dazu ein. Das Ganze ist ein Possenspiel, ein Schwindel.«

»Und jetzt hat sich die Troika auch noch an König Georg gewandt«, fügte Patrick hinzu. »Wie man aus London hört, ist er fest entschlossen, keine Katholiken ins Parlament zu lassen.«

Dabei handelte König Georg III. wie immer nur nach bestem Wissen und Gewissen, wie damals, als er gemeint hatte, an den amerikanischen Kolonien festhalten zu müssen. Jetzt hatte der durchtriebene FitzGibbon ihn davon überzeugt, dass sein Krönungseid ihn nicht nur zur Wahrung des protestantischen Glaubens verpflichtete, sondern auch dazu, den Katholiken jede politische Vertretung zu verweigern. »Als ein irischer Vizekönig sich einmal mit der Troika anlegen wollte – Lord Fitzwilliam, übrigens ein anständiger Mensch –, wurde er sofort zurückgerufen«, sagte Patrick.

»Wenn wir also machtlos sind, warum sind Sie dann hier?«, fragte Deirdre.

Patrick sah sie ernst an. »Vor etwas über einem Jahr wurde Wolfe Tone wegen aufrührerischer Umtriebe verhaftet und verbannt«, begann er ruhig. »Er ging nach Amerika – nach Philadelphia. Die Heimat Benjamin Franklins.« Er machte eine kurze Pause. »Dort gewann er viele Freunde, bedeutende Männer, die am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg teilgenommen hatten. Er lernte auch Vertreter Frankreichs kennen. Man glaubt hier, er sei immer noch in Amerika, doch das stimmt nicht. Er hat sich wie Benjamin Franklin nach Frankreich begeben, in das revolutionäre Frankreich. Er möchte die Franzosen dazu bringen, jetzt den Iren so zu helfen wie einst den Amerikanern.«

»Und werden sie das?«

»Wir wissen es nicht. Doch müssen wir vorbereitet sein, falls sie es tun. Wir müssen dann rasch und wirksam handeln. Je größer und besser organisiert der Aufstand ist, desto geringer das Blutvergießen. Die United Irishmen haben uns gezeigt, was es heißt, brüderlich vereint zu handeln. Ich glaube, dass ganz Irland sich erheben wird. Wir werden eine Republik bekommen und religiöse Freiheit wie in Amerika und Frankreich.«

»Und was in Gottes Namen hat das mit meinem Mann zu tun?«, wollte Deirdre wissen.

Conall meldete sich erstmals zu Wort. »Ich soll den Aufstand hier vorbereiten, Deirdre. Von hier bis hinunter zur Grenze von Wexford.« Leiser fuhr er fort: »Ich habe schon vor Monaten damit angefangen.«

»Sie Teufel!« Wütend funkelte Deirdre Patrick an. »Können Sie uns nicht in Ruhe lassen? Wollen Sie uns alle vernichten?«

Doch Conall schüttelte den Kopf. »Du hast mich missverstanden, Deirdre. Nicht Patrick hat mich dazu aufgefordert.« Er lächelte, vielleicht ein wenig traurig. »Sondern ich ihn.«

Deirdre starrte ihn an. »Du bist deshalb herumgereist …? Mit den Gedichten meines Großvaters? Nur deshalb?«

»Nein, Deirdre, das hätte ich sowieso getan. Aber es war ein willkommener Anlass, mit anderen in Kontakt zu treten.«

Deirdre hob in stummer Verzweiflung die Hände.

»John MacGowan ist einer unserer Anführer in Dublin«, erklärte Patrick. »Und da Ihre beiden Söhne ihm unterstellt sind, hielt ich es für gut, dass ihr euch kennen lernt.«

Deirdre starrte ihn entsetzt an. »Unsere Söhne sind auch …?«

»Sie wollten es beide«, sagte Conall ruhig.

»Wie viele Leute habt ihr inzwischen?«, fragte MacGowan.

»In Rathconan ein Dutzend. Im ganzen Gebiet hundert, auf die ich mich verlassen kann.«

»Wer in Rathconan?«, fragte Deirdre aufgebracht.

Conall nannte einige Brennans und Angehörige anderer ortsansässiger Familien. »Besonders eifrig unterstützt uns Finn O’Byrne.«

»Finn O’Byrne?« Deirdre musterte ihn verächtlich. »Der größte Narr von allen. Und er kann dich nicht leiden.«

»Egal.« Conall lächelte. »Er kämpft für uns, weil er glaubt, dass Rathconan ihm gehört, wenn wir gewinnen.«

»Warum tust du das eigentlich, Conall?«, rief Deirdre plötzlich. »Dein Leben lang hast du Streit gemieden – warum jetzt das?«

Patrick hielt die Frage für überflüssig und MacGowan schien derselben Meinung zu sein. Offenbar konnte Conall ihre Gedanken lesen.

»Nein«, sagte er ruhig, »Deirdres Frage ist berechtigt.« Er überlegte kurz. »Es stimmt, dass ich immer versucht habe, nicht dieselben dummen Fehler zu machen wie mein Vater. Ich habe immer nur mäßig getrunken und meine Gedanken für mich behalten. Ich habe auch für Männer, die ich verachte, nach bestem Können Möbel geschreinert und ihnen höflich für ihr Geld gedankt.« Seine Stimme wurde schärfer. »Aber ich habe nicht vergessen, dass ich in Dublin an der Schule für protestantische Jungen, die mir weder an Verstand noch an Bildung ebenbürtig waren, wie ein Hund behandelt wurde. Als Erwachsener erlebe ich, wie meine Landsleute von denselben frömmelnden Toren drangsaliert werden. Ich lernte sie zu hassen. Doch Hass ist sinnlos und Auflehnung ein Verbrechen und dumm, wenn die Mittel zum Erfolg fehlen. Ich sagte mir deshalb: ›Warte. Warte notfalls dein Leben lang, aber warte, bis die Zeit reif ist.‹ Ich glaubte lange, dass ich diese Zeit nicht mehr erleben würde. Doch jetzt ist sie, wie ich meine, gekommen. Und selbst wenn jede Schnitzerei und jedes Möbelstück von meiner Hand dadurch vernichtet würde, würde ich doch frohen Herzens rufen: ›Zündet ihre Häuser an, auf dass sie alle verbrennen.‹«

»Ach Conall.« Deirdre schüttelte den Kopf. »Ich hoffe zu Gott, dass du Recht hast. Sonst ist das unser aller Ende.«

»Du willst uns also helfen?«

»Ich bin deine Frau, Conall.« Deirdre seufzte. »Ich habe nur eine Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Frage mich nie, ob ich an eure Sache glaube.«

***

Patrick und MacGowan verließen Rathconan und ritten nach Glenda lough, das der Dubliner MacGowan noch nicht kannte. In den Dörfern, durch die sie kamen, sahen die beiden Männer sich aufmerksam um. Patrick war mit dem Tag sehr zufrieden. Conall und seine Leute in den Bergen würden in den bevorstehenden Auseinandersetzungen zwar nur eine Nebenrolle spielen, doch war er stolz darauf, dass es sogar hier oben eine organisierte Anhängerschaft gab. »Außerdem weiß man nie, wen man noch braucht«, bemerkte MacGowan. Am Abend begaben sie sich nach Wicklow hinunter, wo sie bei Einbruch der Dämmerung eintrafen.

Von Conall wussten sie, dass seine beiden Schwiegersöhne sich nicht für die Sache interessierten, doch Patrick kannte einen Kaufmann, der sich ihnen freiwillig angeschlossen hatte und sie am nächsten Morgen herumführte.

Es gab in Wicklow wie in den meisten irischen Städten der damaligen Zeit eine Kaserne mit einer starken Garnison. Die Offiziere waren Protestanten, die Soldaten Katholiken. Die Soldaten schienen diszipliniert und trugen flotte Uniformen. »Wir wollten einige überreden, sich uns anzuschließen – natürlich unter vier Augen«, berichtete der Kaufmann. »Allerdings bisher vergeblich.« Trotzdem hatte er in der Stadt bereits zwanzig tüchtige Männer für die Sache geworben. Am späteren Vormittag verabschiedeten sich Patrick und MacGowan von ihm und traten die Rückkehr nach Dublin an.

Etwa zehn Meilen vor Dublin trafen sie auf Hercules, von Arthur Budge begleitet wurde.

***

Hercules hatte seit vielen Jahren nicht mehr mit seinem Cousin gesprochen. Auch damals, 1792, als Patrick ihn vor der Parlamentsdebatte angesprochen hatte, hatte er kein Wort zu ihm gesagt. Jetzt dagegen, als Patrick in Gesellschaft des verhassten katholischen Kaufmanns John MacGowan aus Wicklow auf ihn zu ritt, zögerte er nicht lange.

»Was haben Sie hier zu suchen?«, fragte er grob.

»Ich habe Mr MacGowan Glendalough gezeigt«, erwiderte Patrick mit einem höflichen Lächeln. »Sind Sie noch nie dort gewesen, Hercules? Ein bezaubernder Ort. Die Einsiedelei des heiligen Kevin kann man immer noch sehen.«

Hercules musterte die beiden Männer mit Widerwillen.

Sie waren alle gleich, diese Katholiken, dachte er. Spitzzüngig und hinterlistig, Jesuiten, wie sie im Buche standen. Er würde nie vergessen, wie John MacGowan sich für einen Protestanten ausgegeben hatte, um von den Ratsherren von Skinners Alley aufgenommen zu werden. Einmal ein Lügner, immer ein Lügner, glaubte zumindest Hercules. Und was Patrick betraf, so war seine Abneigung gegen den katholischen Cousin über die Jahre noch gewachsen. In jungen Jahren war er eifersüchtig auf die Zuneigung gewesen, die seine Mutter Patrick entgegenbrachte. Sie mochte ihn mehr als ihren eigenen Sohn, hatte er manchmal geargwöhnt. Später, als sein Großvater Patrick mit der Erbschaft bedachte, hatte er erkannt, dass sein Cousin nur deshalb bevorzugt wurde, weil er sich katholischer Ränke bediente. Verlogenheit, darauf lief alles hinaus. Für Patricks Versuch, ihn vor der Parlamentsdebatte zu einer anderen Meinung zu überreden, hatte er nur Verachtung übrig. Bildete der falsche Katholik sich wirklich ein, ihn mit scheinheiligen Appellen an seine Gutmütigkeit überreden zu können – ein Mann, der selbst seit Jahren mit einer Konkubine in Sünde lebte? Nein, Patrick war ein Niemand.

Doch was machte er hier? Dass er MacGowan Glendalough gezeigt hätte, war ganz offensichtlich ein Märchen, mit dem er ihn verspotten wollte. Was steckte dahinter?

Hercules stand mit seinem Misstrauen gegenüber den Katholiken nicht allein. Die Angst vor den unterdrückten Katholiken war in den herrschenden Kreisen so verbreitet, dass geradezu alles, was ein Katholik tat, als Anzeichen einer Verschwörung galt. Als es in Ulster zu Spannungen zwischen protestantischen und katholischen Textilarbeitern gekommen war und die Katholiken Gruppen so genannter Defenders gegründet hatten, um sich gegen den protestantischen Mob zu verteidigen, hatte die Regierung darin eine Verschwörung gesehen. In Reaktion darauf hatten die Defenders sich ausgebreitet und zu eben der umstürzlerischen Geheimgesellschaft entwickelt, vor der die Regierung Angst hatte. Auch einige ländliche Proteste gegen den hohen Zehnten und andere von der Kirche erhobene Abgaben waren schnell als Angriff der Katholiken auf Recht und Anstand beschimpft worden. Der Vorwurf war zwar aus der Luft gegriffen, doch Hercules wollte ihm glauben, obwohl die Ländereien seiner Familie in der betreffenden Gegend lagen und er es hätte besser wissen müssen.

In den vergangenen drei Jahren war aus dieser Angst Panik geworden. Die katholischen Defenders schienen sich immer weiter auszubreiten und mit den United Irishmen zu verschmelzen. Wolfe Tone und seine Freunde führten zweifellos etwas im Schilde, nur was? In der Dubliner Burg zerbrach man sich vergeblich den Kopf. Würde das revolutionäre Frankreich versuchen, in Irland Unruhe zu schüren? Gut möglich, auch wenn eindeutige Beweise fehlten. FitzGibbon und die Troika gedachten freilich keineswegs tatenlos abzuwarten, bis es zu Unruhen kam. Sie ergriffen die Initiative. In den Kasernen exerzierten Soldaten. Sympathisanten der United Irishmen wurden durch Überfälle auf Mitglieder der Organisation abgeschreckt, Grundbesitzer zur Wachsamkeit angehalten. Neue Friedensrichter wurden ernannt und mit zusätzlichen Vollmachten für die Fahndung nach Verdächtigen und ihre Verhaftung ausgestattet.

Die neue Entwicklung war auch der Grund für die Reise der beiden Männer. Hercules ritt nach Wexford. Zwar hatte sein Vater ihm sorglos wie immer versichert, in Wexford sei alles ruhig, doch Hercules wollte sich selbst davon überzeugen. Arthur Budge dagegen war in offizieller Mission unterwegs. Sein Vater drängte ihn schon seit längerem, nach Rathconan zurückzukehren und das Gut zu übernehmen. Jetzt hatte er die Behörden zudem gebeten, Arthur an seiner Stelle als örtlichen Friedensrichter zu ernennen. Arthur kehrte deshalb als Friedensrichter für einen Monat nach Rathconan zurück, um dort nach etwaigen Unruhestiftern Ausschau zu halten. Er hatte Hercules, mit dem er in Dublin freundschaftlich verkehrte, eingeladen, ihn zu begleiten und in Rathconan zu übernachten, bevor er seine Reise fortsetzte.

Sobald sie an Patrick und MacGowan vorbeigeritten waren, wandte Hercules sich an seinen Gefährten.

»Ich hasse die beiden«, sagte er. »Wenn es nach ihrem Willen ginge, würde Irland ins Chaos stürzen.«

»Sie fürchten das Chaos«, erwiderte Budge grimmig. »Aber vergessen Sie nicht, ich fürchte etwas noch Schlimmeres.«

»Was könnte schlimmer sein?«

»Die Herrschaft der Katholiken.«

»Keine Sorge«, sagte Hercules ruhig. »Wir werden sie vernichten.«

 

Patrick freute sich, nach Hause zurückzukehren. Er und Brigid Smith liebten einander immer noch. Den Vorwand, dass Brigid ihm das Haus führe, hatten sie über die Jahre stillschweigend fallen lassen. Brigid hatte ohnedies eine neue Beschäftigung gefunden.

Sie war Schauspielerin geworden. Das alte Smock Alley Theatre hatte zwar inzwischen geschlossen, doch das in einer Nebenstraße der Dame Street genau zwischen Burg und Trinity College gelegene Crow Street Theatre war eine große, lebendige Bühne und zog Zuschauer aller Gesellschaftsschichten an. Die schlanke Brigid mit den schwarzen Haaren und den grünen Augen hatte dort schon bei ihrem ersten Auftritt beträchtliches Aufsehen erregt. Sie verfügte nach einiger Übung über eine angenehme, tragende Stimme und zeigte ein unerwartetes komödiantisches Talent. Sie war beliebt und ihre Vorstellungen waren gut besucht, zumal sie nur gelegentlich auftrat; ihre Kinder – zwei Jungen und zwei Mädchen im Alter von drei bis dreizehn Jahren – hatten für sie immer Vorrang.

Mit der neuen Rolle hatte sich auch ihre gesellschaftliche Stellung verändert. Die Dubliner Gesellschaft war freizügig und aufgeschlossen. Selbst in den vornehmsten Adelshäusern herrschte ein sehr viel unbeschwerterer Ton als in den stolzen Herrenhäusern Londons. An öffentlichen Versammlungsorten wie den Rotunda Gardens neben dem Entbindungsheim verkehrte die elegante Welt freizügig mit Kaufleuten und Händlern. War Brigid allein unterwegs, fand sie als schöne und begabte Schauspielerin an vielen Orten freundliche Aufnahme. Dass sie zufällig die Geliebte eines Gentleman war – nun, damit musste man bei Leuten rechnen, die mit dem Theater zu tun hatten. Schwieriger wurde es, wenn sie und Patrick als Paar auftraten. Georgiana fasste das Dilemma der respektablen Bewohner der georgianischen Häuserzeilen und Plätze einmal treffend zusammen: »Diese Leute haben das Gefühl, dass sie Brigid nicht als Patricks Freundin einladen können, und als seine Frau kann sie auch nicht gehen.«

Allerdings hatte Brigid sowieso kaum Interesse daran, Leute zu besuchen, die sie insgeheim verachtete. Sie mochte Georgiana, die gelegentlich kam, und sie hatte eigene Freundinnen, die sie nach Belieben besuchte. Wenn Patrick auswärts zum Essen eingeladen war, war sie erleichtert, dass sie ihn nicht begleiten musste.

Patrick zeigte sich zunächst vollkommen zufrieden damit, sie als Geliebte zu haben. Er hatte taktvoll aufgehört, um zwei Frauen zu werben, die beide gute Partien gewesen wären, allerdings nicht nur, weil er sich leidenschaftlich in das Dienstmädchen mit den grünen Augen verliebt hatte. Etwas in ihm sträubte sich gegen das Joch der Ehe, vielleicht nur der normale Eigennutz des Junggesellen, vielleicht aber auch das Bedürfnis nach mehr Freiheit und Ungebundenheit – ein Bedürfnis, das die Liebe zu diesem seltsamen Mädchen aus den Bergen ganz anders befriedigen konnte als geordnete eheliche Verhältnisse. Er hatte seitdem nicht aufgehört, Brigid leidenschaftlich zu lieben, und er hatte ihre Verwandlung von einem einsamen Mädchen zur selbstbewusst in der Öffentlichkeit auftretenden, schönen Frau erlebt. Sie hatte gut aussehende Kinder geboren und sie hingebungsvoll aufgezogen.

»Meinen Sie nicht, Sie sollten Brigid nach all den Jahren um der Kinder willen heiraten?«, fragte Georgiana ihn gelegentlich. Doch als er Brigid endlich die Heirat angeboten hatte, hatte diese ihn zu seiner Überraschung ausgelacht und sich geweigert.

»Die Menschen in Dublin tolerieren mich zwar«, hatte sie geantwortet, »aber sie vergessen nie, wer man ist. Für deine Freunde bin ich nach wie vor das Dienstmädchen, dessen Vater Tischler in Rathconan ist. Sie würden mich nie als deine Frau annehmen. Es ist besser für mich, wie es ist. Außerdem«, sie hatte gelächelt, »könnte ich dich so jederzeit verlassen und mit den Kindern in die Berge zurückkehren.« Er kannte ihren unbeugsamen Stolz und wusste, dass sie jedes Wort ernst meinte.

Jetzt, nachdem seine Kinder ihn liebevoll umarmt und über ihn geklettert waren, berichtete er Brigid von seiner Reise mit MacGowan und erzählte ihr, was zwischen ihm und ihren Eltern vorgefallen war.

Brigid hatte zwar immer geahnt, dass Patrick für die United Irishmen tätig war, doch bisher hatte er sie noch nicht eingeweiht. Angesichts der neuen Entwicklungen hatte Patrick allerdings das Gefühl, sie vor möglichen Gefahren warnen zu müssen. »Irgendwann«, erklärte er, »werden wir wahrscheinlich Waffen verteilen.«

Brigid hörte ihm aufmerksam zu, und als er zu Ende gesprochen hatte, stellte sie nur eine Frage.

»Glaubst du aufrichtig an das, was du tust, Patrick?«

»Ja«, erwiderte er.

»Dann denk dran, mir ein Gewehr zu geben, wenn es losgeht«, sagte sie.

 

Georgianas Abendessen fand Anfang der folgenden Woche statt. Die Vorbereitungen waren nicht ganz unkompliziert gewesen.

»Kann ich Doktor Emmet überhaupt einladen?«, hatte sie ihren Mann gefragt. »Er ist zwar ein Mensch ohne jeden Harm, doch war er immer Mitglied der Patrioten. Und Patrick? Was würde Hercules sagen, wenn sein Sohn bei uns Leute kennen lernt, die er verabscheut?«

Doch Lord Mountwalsh hatte ihre Bedenken zerstreut.

»In unserem Haus waren immer Menschen jeglichen Glaubens willkommen, vorausgesetzt, sie äußern ihre Überzeugungen mit der nötigen Zurückhaltung. Und das ändern wir nicht wegen Hercules. Außerdem wird der junge William auch am Trinity College Menschen der verschiedensten Überzeugungen kennen lernen. Und was Patrick betrifft: Hercules mag ihn vielleicht nicht, aber hin und wieder sollte William den Cousin schon sehen.«

Am Morgen der Einladung klagte der Lord darüber, dass er schlecht geschlafen habe und ihm nicht wohl sei. Georgiana hatte gefragt, ob sie das Essen absagen solle.

»Keineswegs, meine Liebe«, hatte er entschieden geantwortet. »Ich werde mich im türkischen Bad von Mr Joyce erholen.«

In England war der Kurort Bath mit seinen über alten römischen Bädern erbauten Kuranlagen in Mode gekommen, und auch Dublin verfügte inzwischen über ein eigenes römisches Badehaus, das freilich der neuesten Mode entsprechend »türkisches Bad« genannt wurde. Gegründet hatte es ein Türke mit dem klangvollen Namen Doktor Borumborad. Er hatte mit seinem buschigen Bart und den orientalischen Gewändern einiges Aufsehen in Dublin erregt – bis er zuletzt die Verkleidung abgelegt hatte und zu einem Mr Patrick Joyce aus Kilkenny geworden war. Dem Erfolg seines Bades hatte das keinen Abbruch getan. Es enthielt die üblichen Dampfbäder und ein prächtiges Tauchbecken. Ein Freund hatte Mountwalsh einst zu einem Besuch überredet, und er war zu einem Stammgast geworden, der stets mit offenen Armen willkommen geheißen wurde. Am frühen Nachmittag kehrte er mit rosigen Wangen zu seiner Frau zurück.

»Und jetzt, meine Liebe«, rief er munter, »freue ich mich auf unsere Gäste.«

Als die Gäste am Abend eintrafen, begrüßte er Patrick besonders herzlich. Den eintreffenden Gästen präsentierte er stolz seinen jungen Enkel, der auch bei den Gesprächen im Salon vor dem Essen nicht von seiner Seite weichen durfte.

Der grauhaarige, aber lebhafte Doktor Emmet hatte wie gewünscht seinen jüngsten Sohn mitgebracht. Georgiana hatte die beiden jungen Leute miteinander bekannt gemacht, sobald sie William von seinem Großvater lösen konnte.

Es war interessant, die beiden nebeneinander zu sehen. Georgianas Enkel war der Größere der beiden. Robert Emmet war klein, mit einem Schopf schwarzer Haare und kleinen Augen, mit denen er seine Umgebung ruhig, aber hellwach musterte. Georgianas Enkel mit seinem breiten, offenen Gesicht wirkte neben ihm wie ein gutmütiger Hühnerhund neben einem schwarzhaarigen Terrier. Doch schien Robert Emmet angeregt mit ihm zu plaudern.

Auch die anderen Gäste unterhielten sich lebhaft. Georgiana sah, wie Patrick ihre Tochter Eliza und Fitzgerald herzlich begrüßte und auch mit einigen anderen Gästen sprach. Dann vertiefte er sich in ein Gespräch mit Doktor Emmet.

***

Patrick mochte den alten Emmet, den er auf knapp siebzig Jahre schätzte und der auf einem kleinen, aber schönen Anwesen im Süden der Stadt lebte. Er hatte jahrelang das mit der großzügigen Erbschaft von Dekan Swift gegründete Hospital geleitet und Patricks Vater gut gekannt. Er erzählte Patrick gern Anekdoten aus der Jugend seines Vaters. Dass Doktor Emmet die Anliegen der irischen Patrioten und Katholiken unterstützte, war allgemein bekannt. »Obwohl ich sagen muss, dass wir im jetzigen Klima nicht zu laut davon sprechen sollten«, bemerkte er zu Patrick. »Gefährliche Zeiten, Walsh, gefährliche Zeiten.«

»Aha«, sagte Patrick unverbindlich. Der alte Emmet mochte mit den Patrioten und Katholiken sympathisieren, doch beim besten Willen konnte Patrick sich den braven Doktor nicht mit einer Muskete auf der Straße vorstellen. Außerdem wusste er nicht, wieweit er sich auf dessen Verschwiegenheit verlassen konnte.

»Sie haben Ihren jüngsten Sohn mitgebracht«, sagte Patrick also, um das Thema zu wechseln.

»Robert. Sie kennen ihn nicht?«

»Nein.« Tatsächlich war Patrick dem jungen Mann noch nie begegnet. Er kannte allerdings dessen Bruder, den Anwalt Tom Emmet. Und er wusste, dass Tom Emmet mit Wolfe Tone befreundet war und ganz sicher über dessen Reise nach Frankreich im Bilde war. Ob der alte Doktor davon auch gehört hatte? Wohl kaum. Patrick hörte also stumm zu, während Emmet sich über die mathematischen Fähigkeiten Roberts erging. Dann wurden die Gäste zum Essen gerufen.

Die Speisen waren von erlesener Qualität. Bereits am Vortag war ein Wagen aus Fingal eingetroffen, beladen mit Gemüse, verschiedenen Käsesorten, einem halben Ochsen, geräucherten Schinken und eingemachtem sowie frischem Obst, aus dem der Koch verschiedene Desserts zubereitet hatte. Das Essen wurde von zehn Dienern serviert. Das chinesische Geschirr, auf dem das Familienwappen und die Baronskrone prangten, verlieh dem geselligen Beisammensein etwas Herrschaftliches.

Lord und Lady Mountwalsh saßen wie immer in der Mitte der Tafel einander gegenüber, und da mehr Männer als Frauen anwesend waren, saßen Patrick und der junge William nebeneinander am einen Ende der Tafel, was Patrick nur recht war. Dank Hercules’ Abneigung gegen ihn hatte er kaum je Gelegenheit, mit William zu sprechen, und William stellte sich zu seinem Entzücken als liebenswürdiger und aufgeschlossener junger Mann heraus. Er machte einen aufgeweckten Eindruck und sah dem alten Fortunatus verblüffend ähnlich. Patrick mied sorgfältig politische Themen, die den Vater des Jungen hätten verärgern können. Zu seinem Leidwesen konnte er William auch nicht zu sich nach Hause einladen und ihn Brigid und den Kindern vorstellen. Als sie das Früchtegelee-Dessert verspeisten, kam William zu Patricks Überraschung selbst auf das Thema zu sprechen.

»Warum verstehen Sie und mein Vater sich eigentlich nicht?«, fragte er ohne Ankündigung.

Patrick zögerte. Er wollte William eine ehrliche Antwort geben, musste aber vorsichtig sein.

»Dein Vater ist ein tüchtiger Mann«, begann er. Eine notwendige Lüge, wie er fand. »Er genießt meine Hochachtung.« Noch eine Lüge. »Aber ich entstamme der katholischen Linie der Familie und unterstütze politische Ziele, die dein Vater für falsch und sogar gefährlich hält. Er hat also allen Grund, mich nicht zu mögen, und statt es zum Streit kommen zu lassen, weicht er mir lieber aus.«

»Können solche Meinungsverschiedenheiten denn verwandtschaftliche Bande sprengen?«

»Leider ja.«

»Aber ich finde Sie gar nicht schlimm.«

Patrick lächelte. »Du kennst mich nicht. Wer von seinem Cousin gekränkt wird, tut vielleicht gut daran, die Beziehung zu ihm zu beenden. Dein Vater hat wahrscheinlich Recht.«

In diesem Augenblick trat Hercules Walsh durch die Tür des Speisezimmers.

***

Patrick sah von seinem Platz, wie Georgianas Gesicht plötzlich versteinerte. Lord Mountwalsh dagegen, von einem halben Jahrhundert diplomatischer Erfahrung gestählt, verzog keine Miene. Dann strahlte er und rief: »Mein lieber Sohn! Willkommen daheim in Dublin. Leisten Sie uns Gesellschaft.« Er winkte einem Diener. »Bring ihm einen Stuhl. Wie ich mich freue, Sie zu sehen.«

»Ich ging zuerst zu mir nach Hause und erfuhr dort, mein Sohn sei hier«, erwiderte Hercules ruhig.

»Das ist er tatsächlich«, rief Mountwalsh. »William, komm und begrüße deinen Vater.«

Doch es war zu spät. Hercules ließ den Blick bereits den Tisch entlangwandern. Er musterte Doktor Emmet kurz und verächtlich, übersah den Geistlichen und einen gemäßigten Politiker und starrte dann William und Patrick unverwandt an.

»Steh auf, William«, sagte er kalt. »Du gehst sofort.«

Die Gäste verstummten.

Lord Mountwalsh brach das Schweigen. »Sie befinden sich in meinem Haus, Hercules«, sagte er unwillig. Hercules beachtete ihn nicht. Er starrte nur weiter seinen Sohn an und winkte ihm ungeduldig mit der Hand.

»Ich sagte, Sie befinden sich in meinem Haus, mein Herr«, wiederholte der Lord lauter.

Hercules würdigte seinen Vater keines Blickes. »Aber ich lege keinen Wert auf die Gesellschaft, die ich hier vorfinde.« Der junge William wurde rot vor Verlegenheit und stand verwirrt auf. Plötzlich drehte Hercules sich zu seinem Vater um und sah ihn anklagend an. »Ich lege auch keinen Wert darauf, dass Sie meinen Sohn hinter meinem Rücken mit solchen Gästen zusammenbringen.«

»Das ist ungerecht, Hercules«, rief seine Mutter.

»Ich finde es verlogen!« Hercules hatte die Stimme erhoben und spuckte das letzte Wort förmlich aus.

Patrick sah, wie Georgiana zusammenzuckte, doch Lord Mountwalsh ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Mit feuerrotem Kopf rief er: »Sie wagen es, Ihre Eltern in ihrem eigenen Haus und vor ihren Gästen zu beschimpfen? Verlassen Sie dieses Haus, und zwar sofort.« Er stand auf. »Verlassen Sie es«, schrie er, so laut er konnte, »und kommen Sie bitte nie wieder!«

Hercules verbeugte sich verächtlich vor den Gästen, drehte sich um und verschwand durch die Tür, gefolgt von seinem unglücklichen Sohn.

Das Abendessen ging weiter, doch die Stimmung blieb gedrückt.

Eine Viertelstunde nach Mitternacht erlitt Lord Mountwalsh, der wütend in seinem Ankleidezimmer auf und ab marschiert war, einen Schlaganfall und stürzte zu Boden. Als seine Frau herbeieilte, war er schon tot.

***

Im Herbst desselben Jahres begann der junge William Walsh sein Studium am Trinity College. Er hatte nur eine Bitte. »Ich möchte nicht zu Hause wohnen wie der Sohn von Doktor Emmet, sondern im College wie mein Vater.« Zu Williams Freude wurde ihm die Bitte gewährt.

Am Tag seines Umzugs ins College rief sein Vater ihn für ein Wort unter vier Augen in sein Ankleidezimmer.

Mit dem Tod des alten George hatte sich Hercules’ gesellschaftlicher Rang verändert. Er war jetzt Lord Mountwalsh. Auf den Sitz im irischen Unterhaus hatte er verzichtet, denn dass man sich dort einer Wahl stellen musste – wenn auch einer Wahl durch drei Freunde der Familie und ein Dutzend gefügiger Grundbesitzer –, hatte ihn schon immer empört. Stattdessen würde er kraft unantastbaren ererbten Rechts dem irischen Oberhaus angehören. Vom Tag der Beerdigung seines Vaters an redeten ihn Diener und Lieferanten respektvoll mit »Euer Lordschaft« oder »Mylord« an. Noch mehr hatte ihm vielleicht der Brief eines anderen Adligen geschmeichelt, der ihn charmant mit »mein lieber Lord« angeredet hatte. Aus seinem polternden Marschieren war auf unerklärliche Weise ein staatsmännisches Schreiten geworden, und er redete mit dem Selbstbewusstsein eines Menschen, der weiß, dass er Recht hat – nicht aufgrund einer banalen Einsicht, sondern allein weil er es ist, der spricht. Innerhalb weniger Wochen hatte er sich vollkommen in einen Lord verwandelt, der sich seiner Bedeutung bewusst war.

Er musterte seinen ältesten Sohn freundlich.

»Du brichst also zum Trinity College auf, William.«

»Ja, Vater.«

»Ich habe dort glückliche Jahre verbracht und du wirst das bestimmt auch tun.« Er lächelte. »Bevor du gehst, William, möchte ich dir als dein Vater noch ein, zwei Dinge sagen.« Er zeigte auf ein Sofa an der Wand. »Setz dich zu mir, mein Junge.«

William hatte noch nie ein vertrauliches Gespräch mit seinem Vater geführt. In Erwartung wichtiger Enthüllungen lauschte er aufmerksam.

»Du bist nun bald zu einem jungen Mann herangewachsen«, sagte sein Vater. »Oder eigentlich denke ich, du bist schon einer. Und ich weiß, du hast ein gutes Herz.«

»Danke, Vater.«

»Eines Tages wirst du wahrscheinlich dem Parlament angehören wie ich. Und später wirst du natürlich mir nachfolgen.« Er legte William einen Moment lang die Hand auf die Schulter. »Das sind die Privilegien unseres Standes, William, aber dazu gehören auch bestimmte Verpflichtungen, denen wir genügen müssen. Bestimmt willst du das auch.«

»Ja, Vater.«

»Gut. Ich vertraue niemandem so sehr wie meinem eigenen Sohn, und du weißt hoffentlich, dass auch du mir immer vertrauen kannst.«

»Danke, Vater.«

»Ab jetzt arbeiten wir beide zusammen.« Er machte eine Pause. »Es gibt einige Dinge, die ich vorerst nicht einmal dir sagen kann, William. Doch meine letzten Informationen sind alarmierend, das kann ich dir versichern. Eine Gruppe von Leuten, viele davon hier in Dublin, plant etwas, das Irland vernichten würde. Diese Leute sprechen von Freiheit und einige von ihnen glauben vielleicht wirklich daran, aber wenn man sie gewähren ließe, hätte das verheerende Folgen. Ich spreche von einer Invasion unserer Feinde, von Blutvergießen auf den Straßen und dem Tod nicht nur von Soldaten, William, sondern Tausender unschuldiger Menschen. Frauen und Kinder. Es wäre nicht das erste Mal und kann jederzeit wieder passieren. Wollen wir das?«

»Nein, Vater.« William war ein wenig enttäuscht, denn er hatte von diesen Dingen schon gehört.

»Glücklicherweise«, fuhr sein Vater fort, »sind wir besser informiert, als diese Leute denken. Überall in Irland halten tüchtige Männer Wache: Gentlemen und ehrbare Händler, auch ärmere Leute – Männer mit guten Herzen. Wir wissen viel von dem, was vorgeht, und wie einfache Menschen leider oft in die Irre geführt werden. Wir wissen auch, dass einige dieser Leute mit der Universität zu tun haben und dass sie alle jungen Menschen verführen wollen, derer sie habhaft werden können. Sie tun zunächst ganz freundlich, haben aber nur ein Ziel: die unglücklichen jungen Menschen auszunützen und zuletzt zu vernichten.«

»Ich werde aufpassen, Vater.«

»Dich würden sie natürlich nie auf ihre Seite bekommen, aber andere schon. Du sollst deshalb mehr als nur aufpassen, William, du sollst dich wachsam umsehen. Wenn dir etwas auffällt, das dir verdächtig scheint – man weiß nie, was am Ende wichtig ist –, rede mit niemandem darüber, sondern berichte es mir. Ich werde dann die entsprechenden Nachforschungen anstellen. Damit kannst du deinem Land einen großen Dienst erweisen.« Er machte erneut eine Pause, musterte William eindringlich und legte ihm wieder die Hand auf die Schulter. »Du magst einwenden, das sei nicht ehrenhaft gehandelt. Die fragliche Person könnte ja ein Freund sein. Aber wir beide, du und ich, wir sind etwas Höherem verpflichtet. Und ich versichere dir, du erweist deinem Freund den besten Dienst, indem du ihn vor einem Tun bewahrst, das er später bitter bereuen würde.«

»Ja.« William wartete. »Noch etwas, Vater?«

»Nein, William, das ist, glaube ich, alles.« Hercules nickte. Dann fügte er, wahrscheinlich in Erinnerung an etwas, das sein Vater einst zu ihm gesagt hatte, hinzu: »Gott segne dich, mein Sohn.«

Zehn Minuten später saß William auf seinem Bett und starrte niedergeschlagen zum Fenster hinaus. So traf ihn sein jüngerer Bruder an.

»Was ist denn, William?«

»Vater wollte mich sprechen.« William starrte weiter aus dem Fenster.

»Ah. Was hat er gesagt?«

»Er sagte, ich solle an der Universität meine Freunde ausspionieren.«

»Ach William, so was tust du doch nicht.«

»Ich solle ein Spitzel der Behörden sein. Das sei meine Pflicht.« William schwieg einen Augenblick. »Sonst hatte er mir nichts zu sagen, nichts.« Er sah seinen Bruder an. In seinen Augen standen Tränen. »Offenbar gibt es nicht mehr zu sagen. Das ist seine Art, seine Liebe auszudrücken.«

***

In den folgenden Monaten genoss William das Collegeleben in vollen Zügen und widmete sich seinem Studium. Der Unterricht in Dublin galt als noch anspruchsvoller als der von Oxford und Cambridge. Die Lage der Universität war unvergleichlich.

***

Die großen Innenhöfe und Gebäude des Trinity College bildeten ein beeindruckendes Ensemble. Trat man durch den Haupteingang zum College Green hinaus, grüßte einen direkt von gegenüber das großartige Parlamentsgebäude. Dahinter führte die Dame Street am Theater vorbei zur Burg und zur königlichen Börse, gleichfalls einem schönen klassizistischen Gebäude. Schlenderte man die wenigen Meter zum Ufer des Liffey, sah man auf der anderen Seite des Flusses die stattliche Fassade des wenige Jahre zuvor fertig gestellten Zollhauses. Blickte man stromaufwärts, kam der Blick auf der Rotunde und der Kuppel des Gerichtsgebäudes Four Courts zu ruhen. Überall, auf beiden Seiten des Flusses, erstreckten sich bis zum Hafen die breiten Straßen und weitläufigen Plätze des georgianischen Dublin.

Gelegentlich sah William seinen Vater aus dem Parlamentsgebäude treten, und zwei- oder dreimal besuchte ihn seine Großmutter Georgiana. Sie ließ sich dann von ihm das College zeigen, und wenn sie einem seiner Professoren oder Kommilitonen begegneten, wollte sie dem Betreffenden vorgestellt werden. Ihr Ruf eilte ihr voraus. Selbst diejenigen Kommilitonen, die William sonst eher mieden, lächelten, wenn sie der gütigen alten Lady Mountwalsh begegneten.

Leider wurde William von einer ganzen Reihe von Studenten gemieden.

Nicht alle Studenten hatten eine ausgeprägte politische Meinung – vielleicht die Hälfte, vermutete er. Er wusste nicht einmal, ob er selbst eine hatte. Es gab gegenwärtig vor allem zwei Lager: das der Anhänger der Französischen Revolution und das ihrer Gegner. Unter den überzeugten Anhängern der revolutionären Ideale war es Mode geworden, sich die Haare nach dem Beispiel Lord Edward Fitzgeralds kurz zu schneiden. Croppies, Kurzhaarige, wurden sie von ihren konservativen Gegnern deshalb verächtlich genannt. Doch den meisten Studenten sah man nicht an, welchem Lager sie angehörten.

Nach einigen Wochen merkte William freilich, dass man ganz leicht unterscheiden konnte, wer welche Sympathien hatte. Die Revolutionäre mieden ihn. Er beschloss, sich Robert Emmet anzuvertrauen.

Trotz des peinlichen Vorfalls im Haus seiner Großeltern war der junge Emmet sehr freundlich zu ihm gewesen und hatte ihn kurz nach seiner Ankunft aufgesucht und ihn auch mit einigen netten Leuten bekannt gemacht. War er mit William allein, äußerte er sich immer sehr offen und vertraute ihm sogar sehr persönliche Dinge an. Allerdings mied er es, über Politik zu sprechen.

»Warum meiden mich eigentlich so viele?«, fragte Patrick eines Tages Emmet ganz unverblümt.

»Hm«, hatte Emmet nach einer Pause gesagt, »was glaubst du denn?«

»Sie denken wahrscheinlich, weil Lord Mountwalsh mein Vater ist, müsste ich auch seine politischen Ansichten teilen.«

»Und tust du das?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte William aufrichtig.

Emmet betrachtete ihn neugierig. »Du sagst mir die Wahrheit?«

»Ja.«

»Willst du wissen, was sie wirklich denken? Sie halten dich für einen Spion. Sie glauben, alles, was sie sagen, erfährt sofort dein Vater und über ihn die Burg und die Troika.«

William wurde rot und schlug die Augen nieder.

»Ach so.« Er seufzte. »Und glaubst du das auch? Glaubst du, ich wäre zu einer solchen Gemeinheit fähig?«

»Ich weiß es nicht. Du kannst uns das nicht vorwerfen.«

»Nein.« William nickte traurig. Dann platzte er unglücklich heraus: »Aber ich würde lieber sterben als jemanden ausspionieren. Was kann ich denn tun?«

»Nichts«, erwiderte sein Freund nüchtern. »Wenn du zu beweisen versuchst, dass du kein Spion bist, machst du die Leute nur noch misstrauischer. Hab einfach Geduld.«

William ging also weiter seinem Studium nach und versuchte möglichst kein Aufsehen zu erregen. Die Weihnachtszeit kam, und Ende 1796 verbrachte er einige Wochen zu Hause. Er wusste immer noch nicht, welche Meinung er zu den wichtigen politischen Fragen hatte, und wollte über Weihnachten auch nicht darüber nachdenken. Doch da stürzte zwei Tage vor Heiligabend sein Vater aufgeregt ins Haus.

»Es geht los«, rief er. »Ich habe es doch geahnt. Die Franzosen sind da. In Cork. Man hat die französische Flotte in der Bucht von Bantry gesichtet.«

***

Wolfe Tone war mit seinen Bemühungen in Frankreich bemerkenswert erfolgreich gewesen. Er hatte das Direktorat, das die neue revolutionäre Republik regierte, so sehr für seine politischen Ziele eingenommen, dass es nicht nur eine symbolische Streitmacht, sondern eine ganze Flotte von dreiundvierzig Schiffen mit fünfzehntausend Soldaten entsandt hatte. Außerdem waren auf den Schiffen Waffen für fünfundvierzigtausend Mann. Und am wichtigsten war vielleicht, dass die Armee unter dem Befehl eines Generals namens Hoche stand. Lazare Hoche war der Rivale des neuen Sterns am Himmel der Republik, Napoleon Bonaparte. Wenn er Irland eroberte, konnte er den Emporkömmling Bonaparte damit womöglich ein für alle Mal ausstechen.

Als die französische Flotte in See stach, war sie schon bald von Nebel eingehüllt. Der Nebel wurde immer dicker, und bald hatte die Hälfte der Schiffe die Orientierung verloren. Die andere Hälfte geriet in heftige Stürme. Als die Schiffe die Bucht von Bantry erreichten, konnten sie nicht landen. Täglich starrte Wolfe Tone durch die Gischt auf die irischen Berge, die sich quälend nah am Horizont hoben und senkten. Er hatte schon den Kapitän seines Schiffes dazu überredet, trotz des Wetters anzulegen, doch die anderen Schiffe folgten ihm nicht, und am fünften Tag kehrte die Flotte schließlich wieder um. Wäre das Wetter besser gewesen und hätte die ganze Streitmacht landen können, sie hätte womöglich erfolgreich gekämpft. So aber schützten die Naturgewalten Weihnachten 1796 die Herrschaft der Protestanten. Die Männer in der Dubliner Burg behaupteten denn auch sofort, darin zeige sich die Hand Gottes.

***

Die französische Invasion war gescheitert. Doch als die Nachricht in Rathconan eintraf, war Conall nicht niedergeschlagen, sondern verspürte im Gegenteil neue Zuversicht.

»Ich hätte nie gedacht, dass die Franzosen überhaupt kommen«, gestand er Deirdre. Ende Januar besuchte er Patrick in Dublin und erfuhr, dass andere ähnlich dachten.

»Sie waren einmal da, sie kommen bestimmt wieder«, meinte Patrick. »Schon jetzt ist die Wirkung beträchtlich. Überall schöpfen die Menschen Hoffnung und stoßen zu uns. Bis zum Sommer haben wir eine über ganz Irland verteilte Armee, die bereit ist, loszuschlagen. Das einzige Problem ist, Waffen für sie zu beschaffen.«

Das absolute Waffenverbot für Katholiken war zwar 1793 aufgehoben worden, doch hatten die Katholiken hundert Jahre lang keine Waffen besitzen dürfen, und Musketen und Pistolen waren schwer zu bekommen.

»Wir werden unser Bestes tun«, hatte Conall ihm versprochen. Bei seiner Rückkehr nach Rathconan war ihm Hilfe von einer ganz unerwarteten Seite zuteil geworden.

Er hatte mit Finn O’Byrne über den Mangel an Waffen gesprochen und der kleine Mann mit der Haarmähne hatte eifrig genickt. Wenige Tage später hatte er stolz vor Conalls Tür gestanden, in den Händen ein in eine Decke eingewickeltes Bündel.

Das Bündel enthielt ein bemerkenswertes Sammelsurium: eine alte Pflugschar, zwei Sensen, das Blatt einer Axt und sogar einen alten metallenen Brustpanzer.

»Was willst du denn damit, Finn?«, fragte Conall.

»Suche einen guten Schmied, schmelze das Zeug und mach Spieße daraus. Du selbst bist Schreiner. Du könntest die Schäfte herstellen.«

»Stimmt.«

»Ich bringe noch mehr«, versprach Finn. Kaum eine Woche verging, ohne dass er mit irgendwelchem Metallschrott aufgetaucht wäre, den er in der Umgebung aufgetrieben hatte, darunter die kuriosesten Sachen, manche brauchbar, andere nicht. Conall nahm das Altmetall auf seinen monatlichen Fuhren nach Wicklow zusammen mit seinen Möbeln mit und brachte sie einem Schmied in der Stadt. Im Sommer waren an einem halben Dutzend Stellen in Rathconan dreißig Piken versteckt.

Der Landungsversuch der Franzosen hatte zwar die United Irishmen und ihre Freunde mit neuer Hoffnung erfüllt, er hatte aber auch noch zwei andere Folgen.

Wolfe Tone und seine Anhänger mochten mit den Katholiken zusammenarbeiten, um einen neuen, toleranten Staat zu schaffen, doch viele Presbyterianer der alten Schule aus Ulster lehnten eine Verbindung mit den Papisten nach wie vor ab – die Papisten waren schließlich immer noch die Handlanger des Antichristen. Um den wachsenden Einfluss der Papisten zu bekämpfen, gründeten sie eigene geheime Vereinigungen, die sie zum Gedenken an König Wilhelm III. von Oranien Oranier-Logen nannten. Als die Bedrohung durch eine Invasion wuchs, breiteten sich diese Logen über die Enklaven in Ulster hinaus aus.

Mehr Sorge bereitete Conall allerdings eine andere Entwicklung. Die Troika hatte in Garnisonsstädten wie Wicklow und Wexford zwar britische Soldaten und irische Milizen stehen, doch genügte ihr das nicht. Deshalb hatte sie eine dritte Kraft ins Leben gerufen, eine Freiwilligentruppe.

»Sie nennen sich Freisassen«, sagte Conall. »Ich sage Banditen dazu.«

Die Freisassen sollten als Mischung aus politischer Kraft und Bürgerwehr auf lokaler Ebene agieren. Der jeweilige Grundbesitzer rekrutierte und führte die Mitglieder an. Budges jüngerer Sohn Jonah befehligte die Truppe, die für das Gebiet zwischen Rathconan und Wicklow zuständig war. Da Arthur Budge Rathconan inzwischen häufig besuchte und sein alter Vater immer noch ein scharfes Auge auf Recht und Ordnung im Dorf hatte, auch wenn seine Schritte ein wenig steifer geworden waren, hatten Jonah Budge und seine Freisassen keinen Grund, die dörfliche Ruhe zu stören. Doch gab es mit ihnen noch mehr wachsame Augen, und Conall fürchtete stets, auf dem Weg nach Wicklow hinunter angehalten und durchsucht zu werden.

Das Frühjahr 1797 verstrich ohne besondere Vorfälle, und auch der Sommer begann ruhig. Im August reiste Conall für zwei Tage nach Dublin. Er besuchte seine beiden Söhne und wohnte bei Patrick und Brigid. Am Abend vor seiner Rückkehr kam John MacGowan und die drei Männer unterhielten sich einige Stunden lang. Die Stimmung war verhalten, doch Patrick zeigte sich zuversichtlich.

»Lord Edward schätzt, dass bis Jahresende eine halbe Million Männer in Irland den Eid geleistet haben werden«, sagte Patrick. Das war eine bemerkenswerte Zahl, da es inzwischen als Straftat galt, sich eidlich den United Irishmen zu verpflichten. »Wenn die Franzosen das nächste Mal kommen, werden sich so viele erheben, dass keine englische Streitmacht etwas gegen sie ausrichten wird.«

»Die Engländer sind entschlossen, uns zu vernichten, bevor dieser Fall eintritt«, sagte MacGowan. Tatsächlich zog eine britische Armee unter einem brutalen Befehlshaber namens Lake auf der Suche nach presbyterianischen oder katholischen Aufwieglern durch Ulster. »Sie verbreiten in Ulster Angst und Schrecken«, fuhr er fort. »Zwei Angehörige der mir bekannten Familie Law wurden verhaftet, einer davon, ein ehrbarer Mann, wurde ausgepeitscht. Unsere Leute in Belfast sind zum Teil stark verunsichert. Und wir sind als Nächste dran.«

»Das ändert sich alles, wenn die Franzosen kommen und der Aufstand beginnt«, versicherte Patrick.

»Wann wird das sein?«, fragte Conall.

»Wir werden es von Wolfe Tone erfahren, keine Sorge. Bis dahin bereitet euch vor.«

Bei seiner Rückkehr am folgenden Tag stellte Conall fest, dass Jonah Budge und zwei Dutzend seiner Freisassen kurz vor ihm eingetroffen waren. Jonah Budge sah vom Rücken seines Pferdes aus zu, wie seine Männer von Haus zu Haus gingen. Der alte Budge stand mit mürrischem Gesicht an seiner Seite. Jonah war hochgewachsen und hatte ein kantiges Gesicht.

»Wo waren Sie?«, fragte er Conall kurz angebunden.

»Ich habe meine Kinder in Dublin besucht«, erwiderte Conall ruhig.

»Ihr Haus wurde bereits durchsucht, Conall«, sagte der alte Budge mit einem verärgerten Blick auf seinen Sohn.

»Und haben Sie etwas Interessantes gefunden?«, fragte Conall unschuldig, doch Jonah Budge würdigte ihn keiner Antwort.

Auch in den anderen Häusern wurde nichts gefunden. Die Waffen waren gut versteckt.

»Ich habe meinem Sohn gesagt, es gäbe hier nichts zu finden«, brummte der alte Budge, nachdem Jonah und seine Männer gegangen waren. Er war sichtlich empört über die Unterstellung seines Sohnes, er könnte verdächtige Umtriebe unmittelbar vor seiner Nase übersehen haben.

»Das freut mich«, antwortete Conall wahrheitsgemäß.

»Ich wusste sowieso, dass Sie kein solcher Narr sein würden, Conall.« Der Gutsbesitzer klang fast schon vertraulich.

Conall berichtete Deirdre später von der Unterhaltung. Deirdre fand sie nicht lustig.

»Danken wir Gott, dass sie nichts gefunden haben, Conall«, sagte sie. »Aber ihr müsst euch nicht nur vor den Budges in Acht nehmen. Habe ich es nicht schon einmal gesagt? Behaltet Finn O’Byrne im Auge.«

»Du hast ein schreckliches Vorurteil gegen ihn«, erwiderte Conall. »Ich mag ihn auch nicht besonders, aber er steckt so tief drin wie wir alle.«

Conall schien Recht zu behalten. Im Herbst versorgte Finn weiterhin Conall eifrig mit Dingen, die er für nützlich hielt. Conall selbst unternahm weiterhin unbelästigt seine Fahrten nach Wicklow.

***

Die neue Militarisierung war sogar bis auf das abgeschirmte Gelände von Trinity College vorgedrungen. Das College hatte eine eigene Freiwilligentruppe aufgestellt. Studenten, die ihre herrschaftstreue Gesinnung zeigen wollten – und das waren viele –, konnten jetzt eine Uniform anziehen und nach Herzenslust exerzieren. Die Mitglieder der inzwischen verbotenen United Irishmen durften zwar nicht in der Öffentlichkeit auftreten, doch wurde es unter den Croppies und ihren Anhängern Mode, heimlich den illegalen Eid zu schwören. Das war gefährlich, romantisch und aufregend zugleich. Einige Studenten gebärdeten sich vor ihren Freunden auch so, als seien sie in alle möglichen revolutionären Umtriebe verwickelt, was in Wirklichkeit gar nicht stimmte.

Auf welcher Seite Robert Emmet stand, blieb offen. Einige glaubten, er habe den Eid abgelegt, andere nicht. William Walsh sagte nichts und schloss sich auch niemandem an.

In der zweiten Novemberwoche erhielt er Besuch von seinem Vater, zum ersten Mal. Lord Mountwalsh sah sich in seinem Zimmer um, begutachtete seine Bücher und schien zu billigen, was er sah, denn er lächelte.

»Ich hatte heute Morgen ein Gespräch mit Lord Clare, William. Wir sprachen über dich.«

FitzGibbon, der gefürchtete Anführer der Troika, war seit neuestem auch noch Lord Clare. Er regierte Irland und war daneben Vizekanzler des Trinity College, was offenbar bedeutete, dass er, wenngleich aus erhabener Höhe, seinen Adlerblick auch auf die geringsten der Studenten gerichtet hielt. William konnte sich allerdings nicht erklären, warum FitzGibbon sich ausgerechnet für ihn interessierte.

»Er sprach als Freund mit mir, was eine große Ehre ist«, fuhr sein Vater fort. »Er macht sich Sorgen um dich. Du wirst oft mit dem jungen Robert Emmet zusammen gesehen.«

»Emmet ist sehr nett zu mir, Vater, aber ich könnte nicht sagen, dass er ein enger Freund ist.«

»Richtig. Sein Vater hat, wie du weißt, abstruse Ansichten, ist aber relativ harmlos. Anders verhält es sich mit seinem älteren Bruder Tom Emmet. Von ihm ist bekannt, dass er eng mit den Anführern der United Irishmen zusammenarbeitet. Er ist gefährlich, William. Kennst du ihn?«

»Nein, Vater.« William kannte ihn tatsächlich nicht.

»Das habe ich auch nicht angenommen. Lord Clare glaubt das übrigens auch nicht. Aber du kennst den jungen Robert. Man fürchtet, dass er seinem Bruder nachschlägt, eine nahe liegende Befürchtung, wie du bestimmt zugeben wirst. Hat er mit dir über Politik gesprochen?«

»Er spricht mit mir nicht über so etwas, Vater. Er ist sehr still und lernt viel.«

»Mag sein. Jedenfalls tauchte die Befürchtung auf, er könnte versuchen, dich auf Abwege zu führen. Ich erklärte, dass ihm das unmöglich gelingen könnte. Du hast dafür einen viel zu starken Charakter und Verstand, wie ich weiß.«

»Danke, Vater.«

»Lord Clare sah das ein. Ich konnte ihn allerdings noch weiter beruhigen. Ich erklärte, wir beide seien vor längerer Zeit übereingekommen, dass du mir sofort berichten würdest, solltest du etwas sehen oder hören, das dich an der Gesinnung eines Studenten zweifeln ließe. Hast du mir jetzt etwas zu sagen, insbesondere über Emmet?«

»Nein, Vater, nichts.«

»Das überrascht mich. Jedoch habe ich Lord Clare versichert, du würdest deine Wachsamkeit noch steigern. Ich hoffe, dass wir uns auf diese Weise nützlich machen können. Ich glaube auch nicht, dass du deinen Umgang mit dem jungen Emmet einschränken solltest. Ganz im Gegenteil. Es ist durchaus möglich, dass er in einem vertraulichen Moment achtlos eine interessante Bemerkung macht, die womöglich für unser Land wichtig ist, William. Ich bitte dich deshalb, in deinen Beobachtungen eifrig fortzufahren. Ich weiß, du hast das Herz auf dem rechten Fleck, deshalb verstehst du mich sicher.«

»Ja, Vater. Ist das alles?«

»Dein Studium macht gute Fortschritte, hoffe ich?«

»Ja, Vater.«

»Sehr schön. Hoffentlich höre ich bald etwas über Emmet. Auf Wiedersehen, mein Sohn.«

»Auf Wiedersehen, Vater.«

***

An einem der letzten Novembertage erhielt Patrick Walsh unerwartet Besuch von einem Verwandten, dem jungen William. Der junge Mann wirkte erregt und wollte Patrick unter vier Augen sprechen.

»Wissen Sie, was mein Vater von mir verlangt?«, platzte er heraus.

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Patrick freundlich.

»Ich soll meine Freunde am Trinity College ausspionieren. Sie könnten ja Verräter sein, wie er sie nennen würde. Ist das nicht verachtenswert?«

»Angenehm ist es nicht, zugegeben.«

»Mein Vater ist gemein und hinterhältig.«

»Ich bin nicht deiner Meinung«, entgegnete Patrick. »Dein Vater und ich, wir mögen uns nicht, aber er ist zutiefst davon überzeugt, dass er Recht hat. Jeder Mensch, der wahrhaftig an eine Sache glaubt, würde handeln wie er, William. Du darfst ihm das nicht vorwerfen.« Ich frage mich allerdings, dachte er bei sich, ob Hercules an meiner Stelle genauso verständnisvoll über mich gesprochen hätte.

»Jedenfalls werde ich mich nicht mit Emmet anfreunden, nur um ihn an meinen Vater und FitzGibbon zu verraten. Ich bin kein Judas.«

Patrick hörte ihm aufmerksam zu, doch in seinem Gesicht regte sich kein Muskel.

»Warum bist du hier?«, fragte er.

»Ich habe in Trinity sämtliche Argumente für und gegen die United Irishmen gehört.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Und die Argumente der United Irishmen leuchten mir mehr ein.« William schlug die Augen nieder. »Ich würde sogar gern den Eid ablegen. Aber nicht in Trinity. Die anderen sollen es nicht wissen.«

»Warum bist du zu mir gekommen?«

»Weil ich überzeugt bin, dass Sie zu den United Irishmen gehören.«

»Aha. Aber selbst wenn das so wäre, wie sollte ich wissen, dass du kein Spion bist?«

William sah ihn so entsetzt und zugleich gekränkt an, dass Patrick fast gelacht hätte. Der beste Schauspieler der Welt hätte sich nicht so verstellen können – und dieser unschuldige junge Mann war überhaupt kein Schauspieler. Er betrachtete William, der dem alten Fortunatus so ähnlich sah, und eine Welle der Zuneigung stieg in ihm auf.

»Deine Aufrichtigkeit und dein Mut gereichen dir zu Ehre«, sagte er gerührt. »Aber du bist noch zu jung für so etwas, William. Wenn du willst, komme in einigen Jahren wieder. Auch deine Kommilitonen sind noch jung und wissen nicht, was sie tun. Studiere weiter und warte ab. Deine Zeit wird kommen. Doch ich fühle mich geehrt, dass du dich mir anvertraut hast.«

»Sie wollen mir den Eid nicht abnehmen?«

»Nein. Lass die Finger davon.«

Der junge William ging geknickt. Patrick setzte sich, schloss die Augen und lächelte.

Wenn der Junge volljährig wird, dachte er, ist das neue Irland schon da, so Gott will. Der junge William Walsh war der geborene Anführer, einer der besten. Patrick war unwillkürlich ein wenig stolz auf seine Familie.

***

Es ist schrecklich für eine Frau, ihren einzigen Sohn zu hassen. Doch Georgiana konnte nicht anders, sie hasste ihren Sohn. Sie gab ihm die Schuld am Tod seines Vaters – die Szene, die Hercules in ihrem Haus gemacht hatte, hatte zweifellos seinen Schlaganfall verursacht. Ihr Mann hatte sich seit Jahren nicht mehr so aufgeregt und hätte in Anbetracht seines ruhigen Lebensstils noch zehn Jahre oder mehr leben können. Beim Begräbnis hatte Hercules zwar eine angemessen ernste Miene aufgesetzt, aber Georgiana glaubte nicht, dass er wirklich trauerte. Als sie ein, zwei Tage später in einem Wutanfall geschrien hatte, er habe ihn getötet, hatte er diesen Vorwurf nur kurz angebunden als absurd zurückgewiesen. Auch dass die Dubliner Gesellschaft mit Georgiana einer Meinung war, tröstete sie nicht.

Um des Ansehens der Familie willen verbarg sie in der Öffentlichkeit ihren Hass auf Hercules.

Ihr Trost waren ihre Tochter Eliza, die in der Nähe wohnte, Patrick, den sie häufig sah, und ihre Enkel, vor allem natürlich ihr Lieblingsenkel William, den sie gelegentlich in Trinity besuchte. Der Tod ihres Mannes hatte Georgianas Leben noch auf andere Weise verändert. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ihr Mann sie beschützt hatte. Das Tun der Troika, die radikalen Ideen Patricks und seiner Freunde und die Zornesausbrüche Hercules’ mochten sie erregt und beunruhigt haben, doch an der Seite ihres Mannes mit seinen unerschütterlichen politischen Überzeugungen hatte sie sich immer geborgen gefühlt. Jetzt dagegen fühlte sie sich vielem schutzlos ausgeliefert und sie empfand eine ganz neue Unruhe und Sorge. Einige hässliche Vorfälle verstärkten dieses Gefühl.

Von Doyle erfuhr sie mit Schrecken von der Verhaftung und Auspeitschung der mit ihr verwandten Laws in Ulster. Auch die Andeutung Patricks, die Franzosen würden bald ein zweites Mal kommen, beunruhigte sie.

Anfang November verließ Georgiana Dublin in aller Stille und kehrte für den Winter nach Mount Walsh zurück.

Zu Georgianas Überraschung half ihr das Leben in Wexford, die politischen Stürme besser zu verstehen, die in der Hauptstadt wüteten. Im Haus war die Stelle eines Dienstmädchens frei geworden. Die Haushälterin hatte wie üblich im Voraus zwei oder drei Mädchen ausgewählt, unter denen dann Georgiana ihre Wahl treffen sollte, hatte aber dazu bemerkt, sie hätte aus fünfzig Bewerberinnen auswählen können. Auf Georgianas überraschte Frage hin hatte sie erklärt: »Mindestens fünfzig, Mylady, und zur Hälfte des Lohns, den wir bieten. Es gibt heutzutage so viele junge Menschen, dass sie für beinahe nichts zu haben sind.«

Georgiana hatte zeit ihres Lebens verfolgt, wie Dublin immer größer und prächtiger wurde und wie die Stadt eine ganze Armee von Handwerkern, Händlern und Dienern anzog. Doch hatte sie nie daran gedacht, dass diese Armee zu einem großen Teil aus den ungeheuer gewachsenen Dörfern des Landes kam. Die Bevölkerung Irlands hatte sich in den vergangenen fünfzig Jahren auf fünf Millionen Menschen verdoppelt.

»Leiden diese Menschen Not?«, fragte sie.

»Sie sind empört darüber, dass Nahrung so teuer ist, Mylady, aber sie leiden keinen Hunger.« Die Stimme der Haushälterin nahm einen warnenden Ton an. »Doch ich persönlich halte es für schlimm, wenn die einfachen Leute unzufrieden sind und nichts zu tun haben.«

Im November war die schlechte Stimmung unter den Bauern der Dörfer nicht mehr zu übersehen. Die militärischen Aktionen der Troika kosteten Geld. Neue Steuern wurden erhoben. Georgiana wusste aus den Büchern von Mount Walsh, dass die Abgaben auf Salz und Malz die Grundbesitzer und Bauern trafen. Vor allem in Wexford schmälerte die Malzsteuer den Ertrag der kostbaren Gerste. Überall wurde Murren laut. »Wenn ein Mitglied der Troika Feuer finge«, bemerkte ein benachbarter Grundbesitzer zu Georgiana, »wüsste ich keinen einzigen Bauern der Umgebung, der ihm mit einem Eimer Wasser zu Hilfe käme.«

Georgiana dachte an Patrick und fragte sich, wie die Stimmung unter den Katholiken in ihrer Umgebung sein mochte. Kelly klärte sie darüber auf.

Georgiana hatte zu ihrer Überraschung festgestellt, dass Kelly und Patrick weiter miteinander befreundet waren, obwohl Patrick doch angeblich Kellys Schwester den Hof gemacht und sie dann sitzen gelassen hatte. Doch Kellys Schwester war längst verheiratet, und Kelly sprach nur gut von Patrick. Georgiana hatte bei ihren Besuchen gefunden, dass er von ihren Nachbarn der freundlichste war. Er sprach ganz offen mit ihr.

»Wir Katholiken erhoffen uns vom Parlament in Dublin nichts mehr«, sagte er. »Kompromisse sind unmöglich geworden. Das könnte ernste Folgen haben.«

»Aber die katholische Kirche wiegelt die Menschen doch nicht auf?«

»Nein, die Kirche hat Angst vor den Radikalen. Sie fürchtet alles, was nach Revolution aussieht. Die französischen Revolutionäre sind in den Augen Roms Gottlose, die einen katholischen König ermordet haben – von den Massakern an Priestern, Mönchen, Nonnen und gläubigen Katholiken ganz zu schweigen – und die sich gegen eine natürlich vorgegebene Ordnung auflehnen. Die Kirche verhandelt lieber mit dem protestantischen König Georg. Alle Priester, die ich hier in der Gegend kenne, predigen Geduld und Gehorsam. Was nicht heißt, dass ihre Schäfchen ihnen auch zuhören.« Kelly grinste. »Die Hälfte von ihnen hört lieber eine gute Ballade über einen tapferen Strauchdieb als eine Predigt. Wenn es zu einem Aufstand kommt, wird man sie nicht lange bitten müssen.«

Eines Abends traf Hercules unangemeldet in Mount Walsh ein und verkündete, er wolle ein paar Tage hierbleiben. Georgiana freute sich nicht, ihn zu sehen, gab sich aber nach außen freundlich und mied politische Themen. Doch am folgenden Morgen kam Kelly vorbei, der von Hercules’ Ankunft nichts ahnte. Er wurde in die Bibliothek gebeten und traf dort Georgiana und ihren Sohn an.

Viele Menschen hassten oder fürchteten Hercules. Kelly konnte unmöglich Gefallen an ihm finden, doch begegnete er ihm mit einem gewissen Interesse und hatte ihn schon bald in ein Gespräch verwickelt. Seine Lordschaft ging bereitwillig darauf ein und sprach schon bald über sein Lieblingsthema, die Ordnung, die es aufrechtzuerhalten gelte. Er gab seinem Gast auch ganz unbekümmert zu verstehen, dass es ihm egal sei, wenn er ihn durch eine Bemerkung kränke. Schon bald äußerte er sich verächtlich über katholische Priester. Georgiana hätte Kelly keine Vorwürfe gemacht, wenn er ihrem Sohn eine Ohrfeige gegeben hätte, doch Kelly schwieg nur und hörte Hercules geduldig zu.

»Aber das Problem mit euch irischen Papisten sind weniger eure Priester«, fuhr Hercules fort, »als die vielen Schulmeister. Die sorgen für Unfrieden.«

Kelly war keineswegs verärgert, sondern lächelte vielmehr und bemerkte zu Georgiana: »Er hat vollkommen Recht.«

»Freut mich, dass Sie mit mir einer Meinung sind«, sagte Hercules. »Die Lehrer unterrichten die Einheimischen in ihrer Muttersprache und tragen so dazu bei, dass sie eine zu hohe Meinung von sich bekommen.«

Kelly lachte hell auf. »Verzeiht, Euer Lordschaft, doch da irrt Ihr Euch. Es stimmt zwar, dass an den Landschulen meiner Kindheit überwiegend in Irisch unterrichtet wurde. Doch in der letzten Generation hat sich das geändert. Die Eltern wollen es nicht mehr, weil sie glauben, dass ihre Kinder dadurch benachteiligt werden. Sie wollen, dass in Englisch unterrichtet wird. Und wisst Ihr auch mit welchem Ergebnis? Wer lesen kann – und viele können das –, liest die revolutionären Schriften aus Amerika und die radikalen englischen Flugblätter aus Belfast und Dublin.« Er lächelte Hercules fröhlich an. »Wenn die Revolution kommt und Euer Lordschaft hinwegfegt – was Gott verhüten möge –, dann sind die französischen Soldaten und die englische Sprache daran schuld. Seid dessen versichert.«

Hercules nickte nur kurz und ließ Kelly und Georgiana in der Bibliothek allein. Kelly blieb nicht mehr lange, versprach aber, an einem anderen Tag wiederzukommen. Nachdem er gegangen war, sagte Hercules: »Auf diesen Mann muss man aufpassen.« Am Abend sagte er noch etwas anderes, das Georgiana auf einmal um Patrick fürchten ließ.

»Diese Revolution wird nie kommen. Wir sind besser informiert, als die Verräter glauben.«

Als Kelly wiederkam, war Hercules zum Glück schon abgereist. Georgiana plauderte angeregt mit ihm und nutzte die Gelegenheit, sich für das Benehmen ihres Sohnes zu entschuldigen.

Bevor Kelly ging, fragte sie ihn noch etwas. »Was passiert Ihrer Meinung nach mit uns hier auf Mount Walsh, wenn die Franzosen kommen?«

Er sah sie an und überlegte.

»Man mag Sie hier in der Gegend«, sagte er dann. »Ich glaube nicht, dass Ihnen etwas passieren würde. Aber vielleicht sind Sie in Dublin besser aufgehoben.«

»Aha.« Georgiana spürte, wie sie ein wenig erbleichte. »Meinen Sie, ich sollte bald aufbrechen?«

»Das weiß ich leider nicht.«

Nachdem er gegangen war, ging sie in ihren Garten. Dort wuchsen bereits die ersten Schneeglöckchen. Nein, beschloss sie, sie hatte noch Zeit.

Es wurde Februar und die Krokusse blühten lila, orange und goldgelb.

* 1798 *

Es war ein Märztag. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu und ein nasser Wind strich an den Fensterscheiben entlang. Brigid saß im Zimmer. An der Haustür klopfte jemand.

Brigid wusste, dass Soldaten auf den Straßen von Dublin patrouillierten. Vor kurzem war das Kriegsrecht verhängt worden, was immer das bedeutete. Wahrscheinlich eine abendliche Ausgehsperre, obwohl das Theater immer noch spielte und die Wirtshäuser voll waren. Doch an diesem Tag waren die Patrouillen angeblich verstärkt worden.

Wieder klopfte es. Brigid spähte durch das Fenster. Es nieselte, und die grauen Stufen vor der Haustür glänzten nass. Soldaten waren nicht zu sehen. Da sah sie dicht an der Tür die Spitze eines Hutes.

Sie öffnete selbst und eine hochgewachsene Gestalt trat eilig ein. Sie trug einen schweren Mantel und hatte den großen Dreispitz tief ins Gesicht gedrückt. Erst beim Betreten des Salons nahm sie ihn ab. Darunter kam ein ebenmäßiges, vornehmes Gesicht zum Vorschein.

Vor Brigid stand Lord Edward Fitzgerald.

»Ist Patrick zu Hause?«

»Ich erwarte ihn in Kürze.«

»Gott sei Dank. Niemand sah mich kommen. Ich habe aufgepasst.« Er legte den Mantel ab, wollte sich aber nicht setzen, sondern begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich war gerade in einer Besprechung, als sie mich holen wollten. Einige von uns konnten durch den Hinterausgang entkommen. Aber sie werden nach mir suchen. Ich muss mich verstecken.«

»Kann nicht Eure Familie …?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn die Troika mich verhaften will, kann nicht einmal der Herzog mir helfen. Die würden notfalls sogar den Herzogspalast abreißen.« Er setzte seinen Gang durch das Zimmer fort. »Ich will nicht lange bleiben. Glauben Sie, dass auch Patrick gesucht wird?«

Brigid überlegte.

»Eher nicht«, antwortete sie. Patrick war zwar ein wichtiger Mann und ein Freund Fitzgeralds, doch gehörte er nicht zum engeren Kreis der Anführer. Brigid lächelte. »Ich habe meine Spione in der Burg.«

Es war nur natürlich, dass sie als Schauspielerin Bewunderer hatte. Sie wusste als Schauspielerin auch, wie sie mit solchen Bewunderern umzugehen hatte. Sie war Patrick nie untreu gewesen, doch hatte sie mit einer Reihe von Männern geschickt romantische Freundschaften aufgebaut. Sie flirtete nicht mit ihnen und machte ihnen auch keine Hoffnung. Sie ließ ihnen nur den unausgesprochenen Gedanken, dass sie eine Chance gehabt hätten, wenn Patrick nicht gewesen wäre. Und einige Männer waren es zufrieden, auf dieser Grundlage mit ihr Umgang zu haben. Brigid schätzte ihre Freundschaft, und die Männer hatten nichts dagegen, Brigid gelegentlich einen kleinen Gefallen zu erweisen.

Ein Bewunderer aus der Burg hatte Brigid vor einem Jahr gewarnt, Patrick würde verschwörerischer Umtriebe verdächtigt. Brigid hatte ihre dunklen Augen auf ihn gerichtet. »Warum?«

»Sein Cousin, der neue Lord Mountwalsh, behauptet es.«

»Sie wissen wahrscheinlich, dass Hercules meinen Mann nicht ausstehen kann. Er verabscheut ihn seit Kindertagen. Er ist ein boshafter Mensch.« Brigid lächelte. »Ich würde nie zulassen, dass Patrick eine Verschwörung anzettelt.« Dann hatte sie gelacht. »Jedenfalls kann ich Ihnen versichern, er könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.«

Einige Zeit später hatte derselbe Freund gesagt: »Übrigens, was Patrick angeht: Ich habe Ihre Bemerkung an FitzGibbon persönlich weitergegeben.«

»Was hat er dazu gesagt?«

»Er nickte nur und sagte: ›Ich weiß.‹«

Die Männer in der Burg gingen zweifellos davon aus, dass Patrick mit den United Irishmen sympathisierte, doch das taten alle möglichen Leute. Patrick war immer vorsichtig gewesen, deshalb hatten sie wahrscheinlich nichts gegen ihn in der Hand. Und weil die Abneigung Hercules’ gegen ihn bekannt war, hatte Brigid gedacht, wirkte Patrick wahrscheinlich weniger verdächtig, als es sonst der Fall gewesen wäre.

Trotzdem war sie jetzt erleichtert, als sie Schritte vor der Tür hörten und Patrick eintrat.

Die Nachricht von der Verhaftung einiger Anführer der United Irishmen hatte sich bereits verbreitet. Er stimmte auch sofort zu, dass Fitzgerald nicht lange bleiben dürfe.

»Ich habe Vertrauen zu unseren Dienern. Sie würden Euch nicht verraten. Trotzdem muss damit gerechnet werden, dass dieses Haus früher oder später durchsucht wird, und ich kann Euch nirgends verstecken.«

Die beiden Männer prüften einige verlassene Orte in und außerhalb der Stadt auf ihre Eignung als Versteck. »Auch ein Schiff kommt nicht in Frage«, sagte Patrick. »Man wird alle Häfen überwachen.«

Brigid hatte schließlich den erlösenden Einfall. »Das sicherste Versteck liegt nicht irgendwo abseits von allem, sondern mitten in Dublin, keine anderthalb Kilometer von der Burg entfernt.« Sie lächelte. »Wenn Euch die Umgebung nichts ausmacht, solltet Ihr Euch in den Liberties verstecken.«

Die Liberties, ein wimmelndes, stinkendes Labyrinth, hatten einst auf kirchlichem Gebiet gelegen und beherbergten jetzt die ärmsten Einwohner Dublins. Dort lebten ehrliche katholische Weber, protestantische Arbeiter, Huren und gemeine Diebe. Man liebte seinen Nachbarn oder trachtete danach, ihn umzubringen, doch egal, wer man war, eines verband alle Bewohner des Viertels: ein tiefes Misstrauen gegen die Behörden. Sogar die patrouillierenden Soldaten hielten sich lieber von den Liberties fern.

Lord Edward hatte nur eine Frage. »Wie stelle ich das an?«

»Überlasst das mir«, erwiderte Brigid. »Aber haltet Euch bei Einbruch der Dämmerung bereit.« Sie ging aus dem Zimmer und blieb über eine Stunde weg.

Ungestört saßen die beiden Männer zusammen. Es gab viel zu besprechen. Eine besonders wichtige Frage betraf die Waffen. »Wir haben so viele Verstecke in der Stadt, dass die Soldaten bestimmt nicht alle finden werden«, meinte Fitzgerald. »Aber ich vertraue Ihnen diese Liste zur sicheren Aufbewahrung an. Verstecken Sie sie gut, auf ihr sind alle Waffenlager verzeichnet. Wenn Ihnen etwas zustößt, muss Brigid die Informationen weitergeben.«

Sie stimmten beide darin überein, dass es ab sofort entscheidend wichtig war, die Moral der Anhänger aufrechtzuerhalten, damit sie bereit waren loszuschlagen, wenn die Zeit reif war.

Doch wann würde das sein?, wollte Patrick wissen. Hatte Fitzgerald Nachricht von Wolfe Tone in Paris?

»Nichts Genaues. Aber sowohl der für die auswärtigen Angelegenheiten zuständige Talleyrand wie General Bonaparte sind geneigt, uns zu helfen. Tone hofft auf eine Expedition noch vor dem Sommer.«

»Sehr gut.« Patrick erschien das viel versprechend.

Lord Edward betrachtete ihn nachdenklich. »Nicht unbedingt, Patrick, nicht unbedingt. Genau darüber wollten wir heute auf der Ratssitzung sprechen. Denn ich bin anderer Meinung. Wenn die Troika uns weiter so zusetzt, müssen wir unsere Strategie ändern.« Er machte eine Pause. »Wir müssen uns sehr bald erheben, mit oder ohne die Franzosen.«

»Nur wir? Ohne eine ausgebildete Armee?«

»Bezogen auf Irland insgesamt, könnten wir eine Viertelmillion Menschen bewaffnen.«

»Daran habe ich nie gedacht«, gestand Patrick. »Aber das Risiko …«

»Nur Mut, Patrick«, sagte Fitzgerald.

Brigid kehrte mit einem Bündel unter dem Arm zurück. Sie hatte ihren Bruder besucht, den Tabakhändler, und er hatte versprochen, bei Einbruch der Dämmerung ein Zimmer bereitzuhalten, in dem Lord Edward zumindest vorerst wohnen konnte. Brigid bemerkte, dass vor allem Patrick etwas ängstlich wirkte. Er fragte sie nervös, ob sie auf den Straßen Patrouillen begegnet sei.

»An jeder Ecke«, antwortete sie munter. »Aber keine Sorge, ich weiß schon, wie wir dorthin kommen.« Sie wickelte das Bündel auf.

Nur gut, dass ich am Theater arbeite, dachte sie.

Ein halbe Stunde später hatte sie ihr Werk vollendet. Stolz betrachtete sie das Ergebnis. Statt des hochgewachsenen, schwarzhaarigen und jugendlichen Adligen stand vor ihr ein gebückter, grauhaariger Mann in einem schmutzigen Hemd und einem schäbigen alten Mantel. Seine Stiefel waren abgenutzt, und er stützte sich beim Gehen schwer auf Brigids Schulter. Was sie selbst betraf, so war sie ganz offensichtlich eine Dame der Halbwelt, die bessere Tage gesehen hatte.

»Ihr seid mein Vater«, wies sie Lord Edward an, »und ich bringe Euch nach Hause. Morgen bekommt Ihr Eure eigenen Kleider wieder, aber auf der Straße dürft Ihr sie nicht tragen.«

»Welche Strecke gehen wir?«, fragte er.

»Die, die ein Flüchtling niemals gehen würde«, erwiderte Brigid. »Geradewegs am Tor der Burg vorbei.«

Es begann zu dämmern, und sie machten sich auf den Weg. Sie überquerten den Liffey, gelangten zum College Green und gingen von dort die Dame Street entlang und an der Burg vorbei. Die Posten vor dem Tor sahen ihnen mitleidig, aber uninteressiert nach. Wenig später tauchte eine Patrouille vor ihnen auf. Der Offizier trat Brigid in den Weg, um sie zu befragen. Doch Brigid sagte scharf, sie müsse ihren Vater noch vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause in die Liberties bringen. Sie fügte einen Schwall von Obszönitäten hinzu, sodass der Offizier erschrocken zurückwich.

Unter anderen Umständen wären weder Brigid noch Lord Edward zu so später Stunde ohne schützende Begleitung in der Stadt unterwegs gewesen. Wenn sich die Dunkelheit über Dublin senkte, zeigte die Stadt ihr anderes Gesicht: Die Häuser verwandelten sich in schwarze Kulissen, durch die gelegentlich der Schein einer Kerze drang, die Straßen in Schluchten, die Gassen in höhlenartige, dunkle oder von Laternen erleuchtete Eingänge und die Menschen in flüchtige Schatten. Diese Schatten aber waren gefährlich. Ob vor der Christ-Church-Kathedrale oder in der Dame Street oder auch auf dem vornehmen, ruhigen St. Stephen’s Green: Die Gestalt, die in einer Gasse oder am Fuß eines Baums kauerte, konnte ein schlafender Betrunkener oder Almosenempfänger sein, sie konnte aber auch plötzlich aufspringen, einem das Messer an die Kehle setzen und Geld verlangen.

Brigid und ihr Gefährte gelangten unbehelligt in die Liberties.

Sie bogen in eine kleine Straße ein und von dort in eine stinkende Gasse. Vor einer Tür blieben sie stehen, und dort erwartete sie Brigids Bruder. Er führte sie eine knarrende Treppe hinauf und schloss oben ein Zimmer auf. Der bleiche Schein seiner Laterne fiel auf einen hölzernen Stuhl. Auf dem Boden lag Stroh. Hier also sollte Lord Edward Fitzgerald, Nachfahr eines bedeutenden Geschlechts und vieler Fürsten des alten Irland und an das Leben im riesigen Herzogspalast gewohnt, eine kalte Märznacht verbringen.

***

Als am 18. April 1798 die gesamte Belegschaft des Trinity College dazu aufgefordert wurde, vollzählig dem Besuch des gefürchteten Vizekanzlers am folgenden Tag im großen Speisesaal beizuwohnen, wusste der junge William Walsh schon den Grund.

Nach der Verhaftung führender Mitglieder der United Irishmen im März hatte man zur Jagd auf Lord Edward geblasen. Gerüchten zufolge hielt er sich noch in Dublin auf, einige meinten aber auch, er sei bereits nach Frankreich oder sogar Amerika geflohen.

Die Verhaftungen hatten ein neues Ziel ins Blickfeld der Ordnungshüter gebracht: Trinity College. Einige der Verhafteten, darunter Robert Emmets älterer Bruder Tom, hatten dort studiert. Sogar Wolfe Tone war ein Ehemaliger und hatte immer noch Freunde in der Fakultät. FitzGibbon musste sich zu seinem Ärger sagen lassen, dass die Universität, deren Vizekanzler er war, offenbar eine Brutstätte aufrührerischer Gedanken war. Jetzt versuchte man mit allen Mitteln, Unruhestifter auszumerzen. Zwei Studenten, die nachweislich den Eid auf die United Irishmen abgelegt hatten, wurden der Universität verwiesen. Jetzt wollte FitzGibbon eine öffentliche Befragung der gesamten Studentenschaft durchführen. Am Nachmittag davor begegnete William zufällig Robert Emmet und wollte von ihm wissen, wie er sich zu verhalten gedachte.

»Wirst du etwas sagen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet?«, fragte er.

Denn in den vergangenen Monaten hatte Robert Emmet am Trinity College für eine Überraschung gesorgt. Er war als Student nie aufgefallen, und als er der Historischen Gesellschaft beitrat, hatte niemand erwartet, dass er sich in deren Debatten hervortun würde. Doch gleich bei seiner ersten Wortmeldung hatte er ein bemerkenswertes Redetalent gezeigt. »Er sitzt da still wie eine Maus«, hatte ein Mitglied der Gesellschaft William berichtet, »und dann steht er auf und verwandelt sich in einen Löwen.«

Doch auf Williams Frage schüttelte Emmet den Kopf.

»FitzGibbon kommt nicht zum Diskutieren zu uns, William. Dies ist eine Gerichtsverhandlung mit anschließender Bestrafung. Und ich bin bestimmt eines der Opfer. FitzGibbon hat meiner Familie nie getraut. Inzwischen wurde sogar mein Bruder verhaftet. Bestimmt schließt er mich von der Universität aus. Ich werde ihm aber nicht die Gelegenheit geben, mich in aller Öffentlichkeit zu demütigen. Ich gehe nicht hin. Er muss mich schon ohne Befragung ausschließen und dabei sein wahres Gesicht zeigen.«

»Du hältst ihn für einen solchen Despoten?«

»Gründet nicht die ganze Herrschaft der Protestanten auf Despotie?« Emmet lächelte grimmig. »Du wirst es morgen erleben, sei darauf gefasst.«

Als er am folgenden Tag zur Versammlung aufbrechen wollte, erhielt William die Nachricht, er solle sich unverzüglich in die Zimmer des Provosts verfügen. Bei seiner Ankunft dort wurde er sofort in ein Zimmer geführt, in dem ihn anstelle des Provosts FitzGibbon persönlich erwartete.

William war FitzGibbon noch nie begegnet, deshalb betrachtete er ihn unwillkürlich mit einer gewissen Neugier. Der Anführer der Troika war eine Furcht einflößende Gestalt, doch trotz der Angst, die er verbreitete, wusste William, dass er sich als Anwalt und Richter einen guten Ruf erworben hatte und sogar als gerechter Richter galt. Gefährlich wurde er, sobald er sich Regierungsgeschäften zuwandte. Seltsamerweise kam diese Säule der protestantischen Oberschicht aus einer Familie, die erst zur offiziellen protestantischen Kirche konvertiert war. Vielleicht erfüllte ihn gerade deshalb ein unversöhnlicher Hass auf alle Katholiken und Radikalen. Wie das Bronzestandbild eines grimmigen römischen Statthalters stand er jetzt in seinem Talar vor William.

Er streckte William die Hand hin.

»Ah, William.« FitzGibbon wählte die vertrauliche Anrede mit dem Vornamen, obwohl sie sich noch nie begegnet waren. Er lächelte sogar. »Ihr Vater versicherte mir, ich könnte mich auf Sie verlassen, und ich sehe an Ihrem ehrlichen Gesicht, dass ich das kann. Wir haben heute wichtige Dinge vor.«

»Mylord?«

»Ich zähle auf Ihre Hilfe.«

William nickte, obwohl er nichts verstand.

»Sie sind noch jung.« FitzGibbon klang freundlich. »Doch heute werden alle geprüft. Heute gilt es, für seine Überzeugung einzustehen. Ich zähle auf Sie.« Er bedeutete William mit einem kurzen Nicken, dass das Gespräch beendet sei.

Der große Speisesaal war bereits überfüllt, als William eintraf. Auf einem Podium am Ende des Saals standen ein Tisch und zwei Sessel. Davor, im Hauptteil des Saals, saßen der Rangfolge nach geordnet auf Bänken sämtliche Mitglieder des College: in der ersten Reihe der Provost und seine Mitarbeiter, dann die Dozenten, die älteren und jüngeren Studenten und sogar die Hausmeister. William setzte sich rasch auf einen Platz. Sobald alle saßen, wurden die Türen geschlossen. Jetzt betraten FitzGibbon und der zweite Richter mit versteinerten Mienen den Saal und setzten sich auf ihre Throne. Sie verharrten einen Augenblick schweigend, bevor FitzGibbon sich erhob.

Er sprach deutlich, wie ein Ankläger, der einen Fall vorträgt. Die Studenten dürften ihre privilegierte Situation nicht vergessen, sagte er. Sie seien die künftigen Führer des Landes. Die meisten wichtigen Stellen Irlands würden mit Absolventen des Trinity College besetzt. Doch Privilegien, erinnerte er sie, gingen mit Verantwortung einher und bargen auch Gefahren. Seine Stimme nahm einen warnenden Unterton an. Der Besuch der Universität eröffne glänzende Aussichten, ein Ausschluss von der Universität dagegen zerstöre jede Hoffnung auf eine Karriere. Einige Anwesende würden gleich diese schreckliche Lektion lernen. Denn er verfüge über unwiderlegbare Beweise, dass sie mit dem Gedanken an Hochverrat gespielt hätten.

Während er sprach, ließ er seinen Anwaltsblick anklagend über die Versammlung wandern, als könnte er in jeden Anwesenden hineinsehen und seine geheimsten Gedanken erraten.

Was nun von ihnen verlangt würde? Nur die einfachste, nahe liegendste Sache der Welt. Er würde sie einzeln vortreten lassen. »An einige von euch habe ich Fragen und ich rate euch, sie wahrheitsgemäß zu beantworten.« Die anderen würde er nur bitten, einen einfachen Eid abzulegen. Er nickte dem anderen Richter zu und der zog eine Bibel hervor, hielt sie hoch und legte sie auf den Tisch. Sie sollten einen Treueeid auf die Krone schwören und schwören, dass sie Fragen nach Kommilitonen nach bestem Wissen beantworten würden. Nichts dürfte verheimlicht werden, erklärte FitzGibbon. Kein staatstreuer Mensch könnte Einwände gegen einen solchen Eid haben, das würden sie ihm bestimmt zugeben. Wieder ließ er die Augen durch den Saal wandern. William bildete sich ein, dass sie einen Augenblick auf ihm ruhten. Er erwiderte den Blick. Die Augen des Vizekanzlers sahen aus wie zwei dunkle Strudel.

Im Verlauf der Veranstaltung wurde deutlicher, worauf FitzGibbon hinauswollte. »Er will uns einschüchtern«, flüsterte Williams Nachbar. Alle jüngeren Studenten, die er aufrief, standen im Ruf, mit den United Irishmen zu sympathisieren. Sie wurden einzeln vernommen.

Der Erste bestritt ruhig, zu den Irishmen zu gehören.

»Kommen Sie, Sir«, rief FitzGibbon, »ich habe Zeugen.« Und weiter: »Sie wurden am 10. Februar gesehen, als sie ein Haus betraten, in dem, wie wir von gleichfalls anwesenden Augenzeugen wissen, eine Versammlung der United Irishmen stattfand.«

Auf seine Worte folgte Schweigen.

»Sind Sie bereit zu schwören«, fuhr der Vizekanzler fort, »dass Sie uns Ihre Tätigkeit und die Ihrer Gefährten offenlegen werden?«

»Nein.«

»Sie können sich setzen, Sir.«

Andere wurden auf ähnliche Weise zur Rede gestellt und gaben ähnliche Antworten. Ein besonders mutiger Student wehrte sich.

»Auf wessen Anordnung erfolgt diese Untersuchung?«, wollte er wissen.

»Auf meine, Sir. Mir ist an dieser Universität niemand übergeordnet.«

»Sie verlangen von mir, dass ich meine Freunde verrate?«

»Ich verlange von Ihnen, dass Sie Ihr Land nicht verraten.«

»Ich weigere mich, dieses Verfahren anzuerkennen, und ich weigere mich, den Eid zu schwören.«

»Dann werden Sie aus der Universität ausgeschlossen, Sir.«

Eingeschüchtert verfolgten die Studenten dieses und ein Dutzend weiterer Verhöre. Eines erregte ihr besonderes Mitleid.

Der Student war klein, nicht einmal ein Meter fünfzig groß. Er hieß Moore. Seine Mutter war die Witwe eines armen Ladenbesitzers, und die Universität bedeutete für ihren Sohn einen Ausweg aus der Armut, in die er geboren worden war. Die meisten Studenten, die aus betuchten Verhältnissen stammten, verachteten Kommilitonen wie ihn, die oft niedrige Arbeiten im College verrichten mussten, um ihren Unterhalt bezahlen zu können. Jetzt freilich musterten sie ihn mit einem gewissen Interesse. Gehörte dieser ängstliche Bursche wirklich den United Irishmen an? Ihres Wissens nein.

Doch Moore war eines anderen Verbrechens schuldig: Er war katholisch.

Fünf Jahre zuvor wäre er gar nicht zur Universität zugelassen worden. Erst auf Druck der britischen Regierung hatten die Dubliner Behörden den Katholiken einige Zugeständnisse gemacht, und FitzGibbon hatte wider seine Überzeugung einige wenige Katholiken in die Dubliner Universität aufgenommen.

Geduckt stand der kleine Student vor dem so viel größeren Vizekanzler. Er zitterte vor Angst, und wer hätte es ihm verdenken können? Fitz-Gibbon nahm die Bibel, hielt sie ihm hin und befahl ihm, den Eid zu schwören. William hätte Verständnis dafür gehabt, wenn Moore geschworen hätte. Was bedeutete der Eid schon? Er konnte FitzGibbon sowieso nichts Wichtiges sagen. Leg den Eid ab und setz dich wieder, betete er lautlos. Doch Moore schüttelte den Kopf.

Auf FitzGibbons Gesicht erschien so etwas wie die Andeutung eines Lächelns. Was belustigte ihn? Er drückte Moore die Bibel in die rechte Hand, doch Moore zog die Hand hastig zurück und versteckte sie hinter dem Rücken. FitzGibbon betrachtete ihn wie eine Katze eine Maus, die sie gefangen hat. Dann drückte er ihm die Bibel in die linke Hand. Moore zog auch diese Hand rasch zurück, als sei die Bibel eine ansteckende Krankheit. Er hielt jetzt beide Hände hinter dem Rücken. Wehrlos stand er vor FitzGibbon, aber er war nicht bereit nachzugeben.

Unter den Anwesenden und sogar einigen Freisassen breitete sich Mitleid mit dem tapferen Burschen aus.

FitzGibbon musterte ihn immer noch mit schräg gelegtem Kopf. Dann drückte er ihm die Bibel an die Brust. Moore wich zurück. FitzGibbon machte einen Schritt nach vorn und Moore wich noch weiter zurück. Das wiederholte sich mehrere Male, und so bewegten der Vizekanzler und der Katholik sich über das Podium. Immer wieder streckte FitzGibbon die Hand mit der Bibel aus und Moore wich zurück. Endlich stand er mit dem Rücken zur Wand. Er saß in der Falle. Entweder der Vizekanzler zwang ihn jetzt, das Buch zu essen, oder er ließ von seinen Versuchen ab. Einige Freisassen lachten. William lachte nicht. Er verspürte nicht einmal Angst, nur Überdruss und Abscheu.

»Setzen Sie sich, Sir.«

FitzGibbon kehrte zum Tisch zurück und legte die Bibel darauf. Dann rief er den nächsten Namen auf.

»Mr Robert Emmet.«

Stille.

»Mr Emmet.«

Stille.

»Ist Mr Emmet nicht anwesend?« FitzGibbon schien nicht überrascht. »Wir haben viele Beweise für seine verschwörerischen Umtriebe.« Er machte eine Pause und starrte auf die Bibel. Ihm schien etwas eingefallen zu sein. Bis jetzt hatte er nur widerspenstige Studenten befragt. Vielleicht hielt er es für an der Zeit, jemanden aufzurufen, der zur Zusammenarbeit bereit war. Er ließ den Blick über die Anwesenden wandern.

»Der Ehrenwerte William Walsh.« Er sah William an. »Mr Walsh.«

William ging langsam nach vorn. Er spürte die Blicke der Anwesenden auf sich. Er konnte sich in etwa vorstellen, was sie dachten. Die, die ihn kannten, mochten überlegen, ob er nicht trotz seiner Zurückhaltung unter dem Einfluss von Emmet zu einem Anhänger der revolutionären Sache geworden war. Die meisten würden allerdings annehmen, dass er als Sohn von Lord Mountwalsh den Behörden nahe stand. Sie glaubten bestimmt, dass es sich hier um eine vorher arrangierte Befragung handelte und FitzGibbon ihn aufrief, weil er jemanden denunzieren sollte. William ließ sich Zeit, weil er immer noch keine Ahnung hatte, was er gleich sagen würde.

Doch dann war er auf dem Podium angelangt und FitzGibbon blickte ihm entgegen, keineswegs drohend, wie es schien. William meinte beim Näherkommen sogar zu bemerken, dass der zweite Richter ihn mit einem kaum merklichen Nicken begrüßte.

»Mr Walsh.« Die Anrede schien an alle gerichtet. »Sie haben gehört, wie einige Mitglieder dieser Universität sich weigerten, den ihnen angebotenen Eid zu schwören. Sie hatten dafür jeweils einen bestimmten Grund: nämlich dass sie nachweislich in aufrührerische Umtriebe verwickelt sind. Doch sind sie, wenn ich so sagen darf, die schlechten Äpfel im Korb. Viele Mitglieder dieser Universität – bei weitem die meisten, sollte ich sagen – sind vernünftige und staatstreue Bürger und bereit, einen Eid abzulegen, der sie lediglich dazu verpflichtet, sich des Hochverrats zu enthalten und Verräter anzuzeigen, wenn sie auf solche aufmerksam werden. Ich reiche Ihnen jetzt die Heilige Schrift, Mr Walsh, und bitte Sie, diesen Eid abzulegen.« Lächelnd nahm er die Bibel und hielt sie William hin.

William wusste immer noch nicht, was er tun sollte. Er starrte das Buch an.

FitzGibbon bemerkte sein Zögern und runzelte mehr verwirrt als verärgert die Stirn. Er wies mit einem Nicken auf das Buch, als hätte William vergessen, was er tun sollte.

»Legen Sie Ihre Hand auf das Buch«, sagte er ruhig.

William rührte sich immer noch nicht. Seltsamerweise hatte er keine Angst. Er sah, wie ein gefährliches Funkeln in FitzGibbons Augen trat, und da wusste er plötzlich, was er sagen wollte.

»Ich kann den Eid nicht ablegen, Mylord«, sagte er ruhig und deutlich. Sogar die Hausmeister am hinteren Saalende konnten ihn hören.

»Sie können nicht, Sir?«

»Kein Gentleman könnte diesen Eid ablegen.«

»Kein Gentleman, Sir?« Der Vizekanzler hatte die Stimme erhoben. Er war wütend und zugleich ratlos. »Ich selbst wäre stolz darauf, ihn abzulegen, Sir«, rief er.

»Dann seid Ihr kein Gentleman«, hörte William sich sagen.

Im Saal wurde es totenstill. FitzGibbon starrte William wie vom Donner gerührt an. Dann knallte er das Buch so laut auf den Tisch, dass alle zusammenzuckten.

»Und was Sie sind, junger Mann, das werden wir noch sehen. Eine solche Schamlosigkeit! Setzen sie sich, Sir, denn Sie werden hier nie wieder sitzen.«

Zwanzig Studenten wurden an diesem Tag der Universität verwiesen. Bevor der Vizekanzler ihre Namen verlas, erklärte er den Anwesenden, was dieser Verweis bedeutete. Niemand solle glauben, dass sie nur in Dublin nicht mehr die Universität besuchen dürften. Auch alle gelehrten Schulen Englands und Schottlands würden schriftlich verständigt, damit sie auch dort keine Aufnahme fänden. Damit sei ihnen jede Aussicht auf eine Karriere genommen.

Die Ausschlüsse, darunter natürlich auch der Robert Emmets, waren alle von vornherein beschlossene Sache gewesen. Nur ein Name war überraschend hinzugekommen, der des Verräters William Walsh. Die ganze Wut des Vizekanzlers entlud sich über dem jungen Adligen, der sich so unerwartet gegen seinesgleichen gewandt und ihn so schrecklich gedemütigt hatte.

Noch am Abend desselben Tages schrieb FitzGibbon einen geharnischten Brief an Lord Mountwalsh.

***

Georgiana konnte es nicht fassen. Sie war noch keinen Monat nach Dublin zurückgekehrt, da stand ihr Enkel vor der Tür. Sie hatte noch am selben Tag von seinem Universitätsverweis gehört und sich sofort zu Hercules begeben. Dort hatte sie jedoch nur ihre Schwiegertochter angetroffen und von ihr erfahren, dass Hercules soeben einen Brief FitzGibbons erhalten und sich wutschnaubend zur Universität begeben habe. Sie musste sich wohl oder übel bis zum folgenden Tag gedulden. Soeben hatte sie erneut zu Hercules’ Haus am St. Stephen’s Green aufbrechen wollen, da traf William ein und sagte, er habe kein Zuhause mehr.

FitzGibbon war außer sich gewesen, doch die Wut Hercules’ sprengte alle Grenzen. Der Vizekanzler glaubte, William habe seinen Stand verraten, doch Hercules sagte seinem Sohn ins Gesicht: »Du hast mich verraten.« FitzGibbon hatte ihn der Universität verwiesen, Hercules zeigte sich noch unversöhnlicher. »Du wirst dieses Haus nie mehr betreten. Von jetzt an bist du auf dich gestellt. Du bist nicht mehr mein Sohn.« Noch am selben Tag hatte Hercules den Anwalt der Familie beauftragt, zu prüfen, ob man William vom Erbe des Familientitels ausschließen könne. Kitty, seine Frau, liebte ihren Sohn zwar und hoffte auf eine Versöhnung, doch war sie genauso schockiert wie ihr Mann und fand, dass ein Vater berechtigt sei, so zu handeln. Williams jüngerer Bruder bekam zu hören, William habe ein schreckliches Verbrechen begangen, über das man nicht sprechen dürfe.

Also zog der junge Mann bei Georgiana ein. Zwar forderte Hercules Georgiana schriftlich auf, William wieder vor die Tür zu setzen, weil man ihr unangebrachtes Mitleid als Vertrauensbruch ihm gegenüber auslegen könnte, doch das kümmerte sie nicht. Sie freute sich sogar, dass ihr Enkel jetzt bei ihr wohnte. Sie mochte sein liebenswertes und aufrichtiges Wesen, das sie so sehr an ihren Mann erinnerte, während sein Gesicht an den alten Fortunatus gemahnte. Ihr war, als hätte sie in William gleichsam Mann und Schwiegervater wiederbekommen. Und sie spürte, dass auch der Junge an ihr hing. Über seine Gefühle gegenüber seinen Eltern sprach er selten.

»Ich mag meine Mutter«, sagte er einmal, »aber sie folgt in allem meinem Vater.« Und über Hercules: »Ich ehre ihn, weil er mein Vater ist, aber ich mag ihn nicht wirklich.« Georgiana wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.

Es waren unsichere Zeiten. Immer mehr Soldaten bevölkerten die Straßen. In allen Stadtteilen bildeten sich Freiwilligenregimenter. Einige Anlieger des Merrion Square stellten eine eigene Truppe auf. Diese Männer waren schon recht betagt. Zwei von ihnen ließen sich gar von pflichtbewussten Dienern auf Sänften um den Platz tragen. Immerhin waren sie alle mit Degen oder Duellpistolen bewaffnet. Im Unterschied zu diesem eher komischen Häuflein wirkten die übrigen bewaffneten Patrouillen gefährlich.

Natürlich bereiteten ihre Gegner sich ebenfalls auf den Kampf vor. Die United Irishmen mochten unsichtbar sein, aber alle spürten ihre Gegenwart, auch Georgiana. Die Spannung wuchs. Und was hatte ihr eigensinniger Enkel vor? Er hatte FitzGibbon beleidigt, aber hatten die United Irishmen ihn dazu überredet, bei ihnen mitzumachen? Sie fragte ihn.

»Nein«, erwiderte er. »Aber ich würde ihnen gegen Leute wie Fitz-Gibbon und meinen Vater helfen.«

»Mach keine Dummheiten, William«, sagte Georgiana. »Ich verbiete es dir.« Darauf erwiderte er nichts.

Was sollte sie tun? Ihn in seinem Zimmer einsperren? Unmöglich. Zwei, drei Wochen vergingen. William verhielt sich ruhig und leistete ihr Gesellschaft. Manchmal ging er aus und blieb viele Stunden weg – um Freunde zu besuchen, wie er sagte. Sie hatte keine Ahnung, was er in dieser Zeit tat. In der dritten Maiwoche machte die Stadt den Eindruck eines waffenstarrenden Lagers kurz vor Beginn der Schlacht. Die Spannung war unerträglich.

Dann, eines Morgens, schien etwas verändert. Unablässig zogen Patrouillen durch die Stadt. Gegen Mittag hörte Georgiana, man habe einen Schmied bei der Herstellung von Piken erwischt. Den ganzen Tag und auch am folgenden Tag wurde die Stadt durchsucht. Die Patrouillen zogen von Tür zu Tür. Georgiana dachte sich einen Vorwand nach dem anderen aus, um ihren Enkel am Ausgehen zu hindern. Dann schlug eine neue Nachricht ein wie ein Blitz.

»Man hat Lord Edward Fitzgerald verhaftet.« Die näheren Umstände waren unklar. Er war ins Gefängnis gebracht worden. Es hieß, er sei schwer verwundet, ja, er liege im Sterben. Sobald der junge William es hörte, eilte er aus dem Haus. Georgiana konnte ihn nicht zurückhalten.

Erst einige Tage später wurden die genaueren Umstände bekannt. Der junge Adlige war verraten und in seinem Versteck in den Liberties gestellt worden. Er hatte sich gewehrt, und es war zu einem Handgemenge gekommen. Schüsse waren abgefeuert worden und hatten ihn schwer verletzt.

Inzwischen ging die Suche nach Aufständischen weiter. Auf Rattigans Holzlagerplatz in der Dirty Lane hatte man ein Waffenlager gefunden. »Man hat Rattigans sämtliche Möbel nach draußen getragen und sie verbrannt«, hörte Georgiana. Jemand anders wurde ausgepeitscht. Würden die Revolutionäre zum Gegenschlag ausholen?

Tag für Tag verschwand William stundenlang, ohne dass Georgiana erfahren hätte, wo er sich aufhielt. Er wich all ihren Fragen beharrlich aus. Zwei weitere Tage verstrichen. Auf die Einhaltung der abendlichen Ausgangssperre wurde jetzt strenger geachtet. Niemand durfte sich nach neun Uhr noch auf der Straße blicken lassen.

Am 23. Mai schien William ungewöhnlich erregt. Er ging am frühen Abend aus und kehrte nicht zurück. Die Sperrstunde brach an, doch er blieb verschwunden. Unruhig ging Georgiana in ihrem Zimmer auf und ab. Sie konnte nichts tun, doch sie hätte jetzt auch keinen Schlaf gefunden. Die Stunden verstrichen. Gegen Mitternacht hörte sie ganz in der Nähe Trommeln. Sie riefen im St. Stephen’s Green die Freisassen zu den Waffen.

Überall in der Stadt erklangen jetzt Trommelwirbel. Wenig später schlug jemand an ihre Tür. Georgiana eilte selbst hinunter. Vor der Tür stand einer der alten Herren von der Patrouille vom Merrion Square. Er hielt eine Laterne, in seinem Gürtel steckten zwei Duellpistolen, und er schien sich zu freuen wie ein Schneekönig. »Schließt die Fensterläden«, schrie er. »Es geht los. Ich versichere Ihnen, wir werden kämpfen wie die Teufel.«

»Wo?«, rief sie ihm nach.

»Sie können es aus den Fenstern im obersten Stock sehen«, antwortete er. Georgiana eilte hinauf und sah von dort auf den Vorbergen im Süden Feuer brennen.

Im Morgengrauen schlug derselbe alte Herr wieder an die Tür.

»Die Rebellen haben die Postkutschen angehalten«, berichtete er. Er schien begeistert. »Es kann keinen Zweifel mehr geben, dass das ganze Land in Aufruhr ist.«

Zwei Stunden nach Ende der Ausgangssperre kehrte der junge William zurück. Er sagte nicht, wo er gewesen war, und Georgiana wollte ihn auch nicht fragen. Er verschwand in seinem Zimmer, um zu schlafen.

Eine halbe Stunde später war sie bei Hercules. »Nimm ihn wieder bei dir auf«, flehte Georgiana. »Ich kann die Verantwortung für ihn nicht tragen und weiß nicht, was er sich noch antut.«

Doch Hercules blieb unerbittlich. »Zu spät«, erwiderte er. »Für mich ist er tot.«

Erst jetzt wandte Georgiana sich in ihrer Verzweiflung an die einzige Person, auf die ihr Enkel vielleicht hören würde.

***

Brigid hatte nur kurz gezögert, dann war ihr Entschluss gefasst. Sie würde Patrick auf jeden Fall begleiten.

Mit dem jungen William hatten sie beide nicht gerechnet.

Auf Georgianas Hilfegesuch hatte Brigid zunächst ablehnend reagiert, doch Patrick hatte Georgiana verstanden. »Sie ist seine Großmutter, er bedeutet ihr alles und sie hat das Gefühl, ihm nicht helfen zu können. Sie ist der Verantwortung nicht gewachsen. Ich kann ihr nicht vorwerfen, dass sie mich um Hilfe bittet. Vielleicht hat sie ja Recht und der Junge hört auf mich.« Er hatte zugestimmt, William am Nachmittag bei Georgiana zu besuchen.

Sein Plan, in den er Georgiana nicht eingeweiht hatte, war recht drastisch, eine List im Grunde, aber eine notwendige. »Ich bringe ihn zu unserem Verwandten Doyle«, sagte er zu Brigid. »Dort sperren wir ihn in den Keller. Er bleibt bei Doyle, bis alles vorbei ist, egal wie die Sache ausgeht.« Leider hatte Doyle Patricks Vorschlag abgelehnt. »Er meint, das sei ihm zu heikel«, berichtete Patrick. Also mussten sie tun, was Georgiana vorgeschlagen hatte – den Jungen mit nach Wexford nehmen.

Patrick hatte Georgiana vor den Risiken gewarnt. Er hatte ihr sogar gestanden, dass er selbst Mitglied der United Irishmen war. Georgiana schien darüber nicht sonderlich überrascht zu sein.

»Sie wissen schon, wie Sie ihn schützen können«, hatte sie gesagt. »Bringen Sie ihn doch nach Mount Walsh. Wenn Sie ohnehin nach Wexford reiten, liegt das auf dem Weg.«

Brigid und Patrick hatten gefährliche Wochen hinter sich, seit sie Lord Edward in das Versteck in den Liberties gebracht hatten. Besprechungen hatten stattgefunden und immer neue Befehle waren überbracht worden. Die ganze angeschlagene, aber noch funktionsfähige Organisation der United Irishmen war von dem kahlen Zimmer in der schmutzigen Gasse aus geleitet worden. Brigid und Patrick waren nicht aufgeflogen. Mitte Mai war die Entscheidung gefallen: Der Aufstand sollte am dreiundzwanzigsten des Monats stattfinden.

Patrick hatte Bedenken geäußert. »Es ist Tollheit, ohne die Franzosen anzufangen«, hatte er zu Brigid gesagt. Doch obwohl man ihm vertraute, gehörte er nicht zum Kreis derer, die letztlich entschieden, und Lord Edward und einige andere schienen geradezu besessen von der Idee zu sein, möglichst bald loszuschlagen. Die Vorbereitungen wurden in Gang gesetzt. Als Lord Edward verhaftet wurde, schien nichts mehr den Aufstand aufhalten zu können.

Die Ziele waren hoch gesteckt – Dublin sollte eingenommen werden. Danach sollte sich das ganze Land erheben. Doch die Abstimmung zwischen den einzelnen Gruppen war mangelhaft. Die Organisation in Ulster war in den vergangenen Monaten zersprengt worden und handelte eigenmächtig. Das Anhalten der Postkutschen am Abend zuvor war als Signal gedacht gewesen – wenn die Post in verschiedenen Städten nicht eintraf, würden die Leute wissen, dass auch der Aufstand begonnen hatte. Doch die Post nach Wexford war durchgekommen. Im Morgengrauen war deshalb beschlossen worden, dass Patrick am folgenden Tag nach Süden aufbrechen und sich darum kümmern sollte, dass dort alles seinen geplanten Gang nahm.

Dass er William nach Mount Walsh brachte, lieferte ihm einen ausgezeichneten Vorwand für die Reise. Georgiana wollte ihm noch einen entsprechenden Brief mitgeben. »Wenn Sie in Mount Walsh Quartier nehmen«, hatte sie listig hinzugefügt, »können Sie gleich mein Haus vor Ihren Freunden schützen. Es täte mir leid, wenn die Bibliothek, die Sie aufgebaut haben, verbrennen würde.«

Dann war sie gegangen.

»Ich muss das tun«, sagte Patrick zu Brigid.

»Ich weiß.« Sie lächelte. »Und ich begleite dich.« Patrick wollte zuerst nichts davon wissen, aber sie beharrte darauf.

Am Nachmittag suchte Patrick den jungen William auf. Er erklärte ihm, wie er und Brigid Lord Edward geholfen hatten und dass William ihn jetzt auf eine wichtige Reise in den Süden begleiten sollte. William stimmte freudig zu. Am Vormittag des folgenden Tages brachen sie auf.

***

Brigid hatte gezögert, ihre Kinder zurückzulassen. Die Kinder hatten für sie immer an erster Stelle gestanden. Doch sie hatte den größten Teil ihres Lebens mit diesem liebenswerten und ein wenig egozentrischen Idealisten verbracht. Vielleicht trieb ein tief verwurzelter Instinkt sie dazu, ihrem Mann in den Krieg zu folgen, wie Frauen es seit Jahrhunderten taten. Was auch immer der Grund war, nach allem, was sie und Patrick in der letzten Zeit durchgemacht hatten, wusste sie, dass sie jetzt an seine Seite gehörte. Er hatte gefragt, ob die Kinder sie nicht bräuchten. »Nein«, hatte sie nur gesagt. »Jetzt brauchst du mich.« Sie ließ die Kinder in der Obhut ihres wohlhabenden Bruders in einer Nebenstraße der Dame Street zurück.

Sie waren alle drei zu Pferde. Einmal, am südlichen Stadtrand, wurden sie angehalten. Doch als der Anführer der Freisassen erfuhr, dass sie Mitglieder der Familie von Lord Mountwalsh waren, unterwegs nach Süden, um das Anwesen der Familie zu sichern, ließ er sie passieren und mahnte sie lediglich zur Vorsicht. Westlich von Dublin, zwischen Meath und Kildare, sei es zu Unruhen gekommen. Dort seien bereits zahlreiche Truppen ausgerückt. »Trotzdem Vorsicht«, warnte er. »Bestimmt greifen die Unruhen auf Wicklow und Wexford über.«

Sie kamen an einigen niedergebrannten Häusern vorbei, doch sonst zeugte wenig von einem organisierten Aufstand. In einem Dorf wurde ihnen freudig mitgeteilt, der Gutsherr sei geflohen. Einige Meilen weiter berichtete eine kleine Gruppe ortsansässiger Freisassen stolz, die Rebellen seien vernichtet worden. Auf der Straße, die in die Berge hinaufführte, begegneten sie nur noch wenigen Menschen und noch weniger Anzeichen des Aufruhrs.

Am späten Nachmittag trafen sie in Rathconan ein. Sie begaben sich geradewegs zu Conalls Haus und trafen dort Deirdre, Conall und Finn O’Byrne an. Brigid bewunderte die Gelassenheit, mit der Patrick jetzt William bat, die Pferde zu versorgen, während die anderen nach drinnen gingen. Sobald die Männer drinnen und außer Hörweite waren, begannen sie erregt miteinander zu flüstern. Conall bestätigte, was die anderen bereits gefürchtet hatten. Es hatte Missverständnisse gegeben. In Wexford wusste man nicht, was man tun sollte, und wartete noch ab. Drunten in der Küstenebene schritt der Aufstand langsam und von Gemeinde zu Gemeinde nach Süden fort. »Gott sei Dank seid Ihr hier«, schloss Conall. »Der alte Budge ist allein zu Hause. Arthur Budge ist nach Wicklow geritten, sein Bruder Jonah ist mit seinen Freisassen drunten an der Küste. Meine Leute stehen bereit. In einer Stunde haben wir Rathconan in unsere Hand gebracht. Wenn es nach dem ginge«, er wies mit einem Nicken auf Finn O’Byrne, »hätten wir schon längst zugeschlagen. Aber ich habe die Leute zurückgehalten, weil ich zuerst sicher sein wollte, dass der Aufstand begonnen hat.«

»Das war richtig«, sagte Patrick.

»Aber jetzt geht es los.« Finns Augen glänzten vor Aufregung. »Die Männer können in einer Minute bereitstehen. Die Waffen sind alle in der Nähe versteckt.« Er grinste mit boshafter Freude. »Wir stecken den Kopf des alten Budge auf einen Spieß, dann kann er noch heute Abend den Sonnenuntergang bewundern.« Er nickte mit tiefer Befriedigung. »Heute Abend wärmen wir uns an seinem brennenden Haus.«

Falls Finn immer noch glaubte, dass Rathconan von Rechts wegen seiner Familie gehörte, schien er jedenfalls das Haus entbehren zu können.

Patrick schüttelte den Kopf.

»Nein, wir dürfen noch nicht losschlagen. Wenn wir Rathconan jetzt übernehmen, können wir es nicht halten, Finn. Schon Jonah Budge mit seinen Freisassen wäre uns wahrscheinlich überlegen und sein älterer Bruder würde bestimmt mit weiterer Verstärkung anrücken. Es wäre sinnlos. Nein, wartet auf den allgemeinen Aufstand. Wenn Wexford sich erhoben hat, dann übernehmt Rathconan und sagt den anderen Dörfern Bescheid. Sollen die Budges sich doch bis dahin in Sicherheit wiegen. Wenn die Zeit kommt, werden wir sie überrumpeln. Aber ihr dürft erst losschlagen, wenn ich euch Nachricht gebe.« Er sah Finn fest an. »Es wäre doch schade, ganz umsonst zu sterben.«

Finn wirkte enttäuscht, fügte sich aber.

Die Familie und der junge William aßen schweigsam zu Abend und legten sich bei Einbruch der Dämmerung schlafen. Im Morgengrauen brachen sie auf. Bevor sie auf die Pferde stiegen, hatte Brigid noch eine kurze, aber ernste Unterredung mit ihrer Mutter. Danach küsste Deirdre sie. Der weitere Ritt verlief ohne Zwischenfälle. Am Abend desselben Tages trafen sie in Mount Walsh ein.

***

Es berührte Brigid merkwürdig, in das große Haus zurückzukehren, in dem sie einst als Magd angestellt gewesen war. Einige Bedienstete kannte sie noch von damals. Nachdem der junge William sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, begaben sie und Patrick sich in die Bibliothek, in der sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Sie zündeten Kerzen an und sahen sich die Bücher an.

»Zu wenig Theaterstücke«, befand Brigid.

»Shakespeare ist da.«

»Aber nicht Sheridan.«

»Du hast Recht. Wenn das alles vorbei ist«, Patrick zögerte einen kurzen Moment, »werde ich diese Lücke schließen.«

»Das wäre schön.«

»Hier begann mein Leben, Brigid, als ich dich kennen lernte.«

»Meines auch.«

Um elf gingen sie zu Bett. Ihr Schlaf war leicht. Fackelschein, der von draußen hereinfiel, und Schläge an der Haustür weckten sie. Im Nachthemd eilte Patrick nach unten, gefolgt von Brigid. Auch der junge William und einige Diener trafen in der Halle ein. Von draußen ertönte eine Stimme.

»Kommt raus, oder ihr verbrennt.«

»Was wollt ihr?«, rief Patrick.

»Das Haus des Schurken Lord Mountwalsh niederbrennen«, schrie die Stimme. »Kommt raus, dann passiert euch nichts.«

Patrick befahl den anderen, Platz zu machen, dann winkte er einem Diener.

»Mach auf. Ich werde mit ihnen reden.«

Die Gefahr war bald abgewendet. Vor dem Tor standen rund fünfzig Männer der United Irishmen. Sie kamen nicht aus dem Dorf, sondern von etwas weiter weg. Auf dem Weg zu einer großen Musterung der Rebellen am folgenden Tag hatten sie einen Abstecher gemacht, um das Haus anzuzünden, das ihrer Meinung nach dem verhassten Hercules gehörte.

»Es gehört nicht ihm, sondern seiner Mutter, einer Anhängerin der Patrioten«, sagte Patrick. »Sie hat mich hierher geschickt.« Er erklärte ihnen rasch, wer er war und was er hier zu tun hatte. Er konnte die Männer unschwer von der Wahrheit seiner Worte überzeugen. »Das Haus steht für unsere Sache«, sagte er. »Es darf nicht angerührt werden.«

Nur der Anführer der Gruppe war noch nicht ganz zufrieden. Seinem Dialekt nach zu schließen kam er aus Ulster.

»Ich heiße Law«, sagte er, »und habe auch für diese Dame keine Sympathie, doch werden wir tun, was Ihr sagt.«

Patrick zeigte sich überrascht, einen Mann aus Ulster in Wexford zu finden.

»Es gibt hier einige von uns«, sagte Law. »Ich persönlich brauchte eine Luftveränderung, nachdem ich ausgepeitscht wurde.«

Patrick fragte ihn, wie es um die Bereitschaft der Truppen bestellt sei.

»Wexford war spät dran«, sagte Law, »aber dann hatten wir regen Zulauf. Die ortsansässigen Adligen haben zum Teil eine ähnliche Einstellung wie Lord Mountwalsh. Sie haben Oranier-Logen gegründet und werden sogar von den gemäßigten Protestanten abgelehnt. Doch waren sie an der Küste um Arklow hinter uns her und haben im Süden von Wicklow und im Norden von Wexford eine Reihe von Leuten verhaftet. Das hat uns ein bis zwei Tage zurückgeworfen. Heute Nachmittag allerdings waren ganze Kompanien unserer Leute unterwegs. Einige sagten, sie wollten Torfstechen gehen. Bei Einbruch der Dämmerung waren alle bewaffnet. Heute Nacht wird sich ganz Wexford erheben.«

»Wie stark sind unsere Gegner?«

»Drunten in der Stadt Wexford liegt eine Garnison von zweitausend Mann mit Artillerie. Eine zweite Garnison bewacht den Hafen von Waterford, für den Fall, dass die Franzosen eintreffen. Davon und von einer Garnison Freisassen in Enniscorthy abgesehen gibt es nur kleinere Garnisonen in kleineren Orten. Wir können sie leicht überwältigen.« Er sah Patrick an. »Begleitet uns zur großen Musterung morgen, dort könnt Ihr die Anführer kennen lernen.«

Patrick hatte das sowieso beabsichtigt und stimmte sofort zu.

»Ruhen Sie sich mit ihren Leuten einige Stunden bei uns aus«, schlug er vor. »Bei Tagesanbruch brechen wir gemeinsam auf.«

Law war einverstanden und auch Patrick legte sich mit Brigid noch einmal für einige Stunden hin.

Brigid konnte nicht mehr schlafen, sondern wachte neben ihm, bis der Tag graute.

Bevor Patrick aufbrach, erteilte er dem jungen William noch einige Instruktionen. »Halte dich bereit und warte auf Nachricht von mir. Vielleicht habe ich etwas für dich zu tun. Bis dahin beschütze Brigid.« Zu Brigid sagte er leise: »Halte ihn um jeden Preis hier und pass auf, dass ihm nichts zustößt.«

***

Brigid genoss den Frieden des herrschaftlichen Hauses. Die Stille der Landschaft erschien ihr wie ein stummes Echo ihrer Kindheit in Rathconan. Doch die Ruhe konnte nicht ihre wachsende Sorge um Patrick überdecken. Sie versuchte sich mit Beschäftigungen abzulenken. Einen großen Teil der Zeit verbrachte sie mit dem jungen William. Zu ihrer Freude interessierte er sich für die Bibliothek. »Obwohl unsicher ist, ob ich mein väterliches Erbe je antreten werde«, sagte er traurig. Er fand Vergnügen daran, abends im Wechsel mit ihr aus Büchern vorzulesen. Schwieriger war es, ihn im Haus und in der näheren Umgebung zu halten. An den ersten beiden Tagen ritt er aus, um sich Bewegung zu verschaffen. Am dritten Tag hätte er sich am liebsten den Wexforder Rebellen angeschlossen. »Patrick hat gesagt, du solltest hier warten, und er hatte sicher einen guten Grund dafür«, erinnerte Brigid ihn. »Er hält viel von dir, also enttäusche ihn nicht.« William fügte sich nur widerstrebend, und Brigid wusste nicht, wie lange sie ihn noch halten konnte. Trotz ihrer Abneigung gegen den Adel hatte sie ihn ins Herz geschlossen.

Am Abend des fünften Tages kehrte Patrick zu ihrer Erleichterung zurück.

Er kam in Gesellschaft seines Freundes Kelly, des benachbarten Landbesitzers. Die beiden wirkten stolz und glücklich wie zwei kleine Jungen.

»Du wirst nicht glauben, wie gut alles geklappt hat«, sagte Patrick.

Die United Irishmen waren erstaunlich erfolgreich gewesen. Schon am Nachmittag der Musterung waren sie von einer aus Munster anrückenden Truppe angegriffen worden, der Miliz aus North Cork. »Wir haben sie in die Flucht geschlagen«, rief Kelly triumphierend. Zu Tausenden waren die Rebellen in die Dörfer ausgeschwärmt und hatten die dort stationierten kleinen Garnisonen vertrieben. Eine Garnison hatte in ihrer Panik ein riesiges Waffenlager zurückgelassen. »Wir konnten unser Glück kaum glauben«, berichtete Patrick. »Sie schenkten uns sozusagen achthundert Karabiner und mehrere Wagenladungen Munition.« Tags darauf hatte sich die Garnison von Enniscorthy ergeben, die keine Artillerie besaß. Weitere Rebellenkontingente waren eingetroffen. »Wir lagerten auf dem Vinegar Hill vor der Stadt«, fuhr Patrick fort. »Ein schöner Ort.« Am nächsten Tag war dann ein ganz außergewöhnlicher Glücksfall eingetreten. Eine Abteilung Soldaten war leichtsinnig in einen Hinterhalt der Rebellen gelaufen und hatte ihre Kanonen zurücklassen müssen. Die Rebellen, inzwischen auf ein gewaltiges Heer angewachsen, verfügten damit nicht nur über Feuerwaffen und Piken, sondern auch über Artillerie. Angesichts dessen hatte der Befehlshaber der Garnison von Wexford, der einzigen ernstzunehmenden Garnison der Gegend, in Panik zum Rückzug geblasen.

»Wexford ist ab heute die Modellstadt des neuen, vereinigten Irland«, berichtete Patrick. »Wir haben einen Senat mit acht Gouverneuren geschaffen, vier Katholiken und vier Protestanten. Auch die Befehlshaber unser Truppen sind Protestanten und Katholiken, und es stehen ungefähr zehntausend Mann unter Waffen.« Er lächelte. »Ich habe einen Boten nach Rathconan geschickt – es wird Zeit, loszuschlagen.«

***

Finn O’Byrne blickte zum Himmel auf. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. Am Vortag war die Nachricht von Patrick eingetroffen. Conall war seit Morgengrauen unterwegs und gab die Botschaft weiter. Heute Nacht würden sie losschlagen. Auf Conalls Anweisung hatte Finn bereits Vorkehrungen getroffen, damit nach Einbruch der Dunkelheit die Waffen aus den Verstecken geholt würden. Kurz nach Mitternacht würde das Signal zum Angriff erfolgen.

Ihr Ziel war das Gutshaus, in dem der alte Budge wohnte. Sie würden ihn gefangen nehmen und einsperren. Finn hatte dafür plädiert, ihn umzubringen. Aber Conall hatte nur den Kopf geschüttelt. »Sei nicht so blutrünstig, Finn. Als Geisel ist er doch viel mehr wert.« Budges Hausangestellte ahnten nichts von alledem, doch da sie aus dem Dorf stammten, würden sie sicher keine Schwierigkeiten machen. Man würde sie einfach wegschicken. Aber was war mit seinen beiden Söhnen? Wenn sie da waren, würden sie sich sicher wehren.

»Nach Möglichkeit werden wir sie gefangen nehmen, aber notfalls töten wir sie«, hatte Conall gesagt.

Jonah Budge und seine Freisassen waren zuletzt zehn Meilen entfernt gesehen worden, sein Bruder Arthur hingegen war nach Wicklow geritten. Finn hatte den alten Budge am Morgen an der Tür stehen sehen und ihn nach Arthur gefragt. »Er kommt heute Nachmittag wieder«, hatte der Alte gesagt. Finn hatte es für sich behalten.

Denn er hatte eine Entscheidung treffen müssen. Und davor hatte er lange überlegt.

Er hatte sein ganzes Leben lang auf diesen Aufstand gewartet. Monatelang hatte er sich in Vorfreude ergangen. Manchmal schmeckte er die kommenden Freuden geradezu. Als Patrick vor einer Woche zur Geduld gemahnt hatte, war er wütend geworden.

Die Vorstellung, alle Budges zu töten – und außerdem noch alle Protestanten –, war zu verlockend. Conall hatte zwar gesagt, es gäbe bei den United Irishmen auch gute Protestanten, aber was wusste der schon?

Doch er durfte bei allem Hass keine Dummheit begehen. Es gab in der gegenwärtigen Situation wichtige Dinge zu bedenken. Dinge, die einen ins Grübeln bringen konnten.

Die Rebellen drunten in Wexford mochten Erfolge feiern, doch wussten sie wahrscheinlich nicht, dass der Aufstand anderswo weniger glänzend verlief.

In Dublin sorgten die protestantischen Machthaber mit eiserner Hand für Ruhe und Ordnung. Lord Edwards zerstreute Anhänger waren nicht wirklich bereit, Munster und Connacht hatten sich überhaupt nicht erhoben. Die Aufstände in Meath und Kildare waren auf Widerstand gestoßen und inzwischen, nach den Niederlagen an den alten Stätten Tara und Curragh, so gut wie beendet. Im Osten Ulsters schienen sich jetzt die Presbyterianer zu erheben, doch ob das reichen würde, die Regierung in Dublin zu stürzen? Die Aufständischen drunten in Wexford hatten Glück gehabt, aber sie waren isolierter, als sie wussten. Selbst wenn Wicklow sich ihnen anschloss, blieben die Aussichten trübe.

Es sei denn, die Franzosen kämen. Das würde alles ändern.

Die Protestanten würden Rathconan und die anderen Dörfer zurückerobern und drei Wochen später würden alle Rebellen im Gefängnis sitzen oder ausgepeitscht werden. Finn sah es in aller Klarheit voraus. Natürlich würde man sich Conall als Rädelsführer gesondert vornehmen. Doch er selbst kam bestimmt gleich nach Conall. Der Gedanke machte ihm Angst.

Jetzt hatte er sich entschieden. Im Grunde blieb ihm keine andere Wahl. Aber er musste alles gut überlegen und hatte nicht mehr viel Zeit.

Natürlich konnte er gleich den alten Budge aufsuchen. Man würde ihn sehen. Und er wusste nicht, wie Budge reagieren würde. Vielleicht blieb der Alte einfach im Haus und schlug auch keinen Alarm.

Oder er ging nach Wicklow hinunter. Aber dazu war es womöglich zu spät. Und die andern würden wissen, dass er sie verraten hatte. Er wäre gezeichnet und bekäme früher oder später ein Messer in den Rücken. Oder noch schlimmer.

Nein, er wusste jetzt, was er tun musste.

Er ging den Weg entlang, der ins Tal hinunterführte. An dem Weg lag in einiger Entfernung ein Waffenlager, eine gute Entschuldigung, in diese Richtung zu gehen, falls ihn jemand sehen sollte. Doch niemand sah ihn. An einer Biegung standen einige Bäume. Er kletterte die Böschung hinauf und versteckte sich. Dann wartete er.

Eine Stunde verging, dann noch eine. Wenn Arthur Budge nicht bald auftauchte, war sein Plan gescheitert. Vielleicht hatte der alte Budge etwas verwechselt, oder Arthur hatte sich anders entschieden und kam nicht.

Oder jemand anders hatte die Aufständischen schon verraten. Was, wenn im nächsten Augenblick beide Budge-Söhne mit zwei Dutzend Freisassen um die Ecke bogen? Dann brauchte er nichts mehr zu sagen, dann war es zu spät. Sie würden ihn als Rebellen verhaften. Lieber Gott, er spürte schon den Strick um den Hals. Der Schweiß brach ihm aus. Vielleicht sollte er einfach alles auf eine Karte setzen und den alten Budge jetzt noch aufsuchen. Er überlegte in qualvoller Unentschiedenheit hin und her, und eine weitere halbe Stunde verstrich.

Auf dem Weg unter ihm tauchte ein einsamer Reiter auf, Arthur Budge. Finn stieg eilig zu ihm hinunter.

»Herr, man darf Euch nicht sehen …« Er erklärte die Lage in wenigen Sätzen. Budge starrte ihn wütend an, hörte aber zu.

»Wer ist der Anführer?«

»Conall Smith. Er ist gerade dabei, die anderen Dörfer aufzuwiegeln.«

»Mitternacht, sagst du?«

»Oder kurz danach. Ihr müsst mich aber zusammen mit den anderen verhaften, Herr. Wenn sie erfahren, dass ich Euch gewarnt habe, bin ich tot.«

Arthur Budge brummte nur vor sich hin.

»Eurem Vater wollte ich lieber nichts sagen«, fuhr Finn fort. »Damit er nicht aus Versehen etwas ausplaudert und alles verrät.«

»Warum hast du mir nicht früher Bescheid gegeben?«

»Der Beschluss wurde erst heute Morgen gefasst«, erwiderte Finn wahrheitsgemäß.

Budge nickte kurz angebunden, wendete sein Pferd und verschwand.

Finn ging zu dem Waffenlager weiter und begutachtete die Piken. Er ordnete sie neu und deckte sie wieder zu.

Conall hatte ausgespielt. Man würde ihn hängen. Und davor wahrscheinlich foltern und aufschneiden, wie bei Verrätern üblich.

Conall war genauso eingebildet wie sein Vater. Die Smiths mit ihrer Bildung hatten sich immer für etwas Besseres als die Brennans und die O’Byrnes gehalten. Sogar Conalls leise Stimme und sein freundliches Lachen hatten etwas Herablassendes. Mit dem Strick um den Hals würde ihm das Lachen vergehen. Wer war also letzten Endes der Klügere?

Unter solchen Gedanken machte Finn sich auf den Rückweg nach Rathconan.

 

In Rathconan blieb an diesem Abend alles ruhig. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit verließen fünfzehn Männer wie geplant heimlich das Dorf und holten, von Finn angeführt, die Piken aus den verschiedenen Verstecken. Zwei Waffenlager blieben unberührt. Anschließend warteten die Männer wie vereinbart bis Mitternacht in ihren Häusern. Kurz danach klopfte es leise an Finns Tür. Finn trat heraus. Zusammen mit Conall ging er zu sieben weiteren Häusern und holte weitere Rebellen ab.

Zwei Männer trugen Laternen, die noch abgedeckt waren.

Stumm machten sie sich auf den Weg zum Gutshaus. Sie würden nicht versuchen, die schwere Eichentür aufzubrechen, die Conall selbst gezimmert hatte, sondern wollten durch ein Fenster einsteigen. Der Lärm würde niemanden stören. Die Männer kannten jeden Winkel des Hauses und wussten, wo dessen Bewohner schliefen.

Langgezogene Wolken schoben sich vor die Sterne und verdunkelten die Mondsichel. Die Anführer blieben vor dem Haus stehen. Stille umfing sie.

Plötzlich tauchten hinter ihnen Fackeln und Laternen auf. Gestalten stürzten aus der Nacht auf sie zu. Tür und Fenster vor ihnen flogen krachend auf und im Schein der Laternen sahen sie Musketenläufe auf sich gerichtet.

»Keine Bewegung. Wer sich rührt, wird erschossen.« Jonah Budges Stimme klang hart und bestimmt.

Aus der Tür ertönte die Stimme seines Bruders Arthur. »Ihr seid verhaftet. Conall, treten Sie vor.«

***

Sie wurden bis zum Morgengrauen im Haus festgehalten. Als es hell wurde, führte man sie in Handschellen und Ketten zu Fuß den langen Weg nach Wicklow hinunter.

Am Ende des Dorfes sah Finn O’Byrne Deirdre am Wegrand stehen. Sie hatte Conall unglücklich nachgesehen, doch jetzt war ihr Blick auf Finn gerichtet. Unverwandt starrte sie ihn an.

Sie wusste es, er sah es ihren Augen an. Ein furchtbarer Blick. Er wandte sich ab. Er hatte keine Ahnung, woher sie es wusste. Gesehen haben konnte sie ihn nicht. Offenbar Intuition.

 

So aufgekratzt Patrick von seinen Erfolgen war, am Tag nach seiner Rückkehr wirkte er sehr müde. Brigid hatte kein Mitleid mit ihm.

»Du kannst jetzt sowieso nichts mehr tun«, sagte sie. »Du hast getan, was du konntest.«

Den jungen William zu beschäftigen erwies sich als vergleichsweise einfach. Einmal schickte Brigid ihn zum Nachbargut zu Kelly hinüber. Ein anderes Mal schickte sie ihn auch nach Wexford, von wo er die neuesten Nachrichten mitbringen konnte. Während seiner Abwesenheit hatte sie Patrick für sich. Einige Tage lang genossen die beiden das große Haus und den Park wie ein frisch verliebtes Paar.

Am Ende der ersten Juniwoche kehrte William mit schlechten Nachrichten aus Wexford zurück.

Nach ihren mühelosen Anfangserfolgen waren die Rebellen leichtsinnig geworden. Bei New Ross, das von einer kleinen, aber gut ausgebildeten Garnison von Regierungstruppen gehalten wurde, hatten sie eine vernichtende Niederlage erlitten und zweitausend Mann verloren. Auf dem Rückzug übte eine Rebellenkompanie Selbstjustiz und trieb in einem Dorf namens Scullabogue zweihundert angeblich regierungstreue Protestanten in der Kirche zusammen und verbrannte sie bei lebendigem Leibe.

»Katholiken, die Protestanten verbrennen!«, hatte Patrick gequält gerufen. »Wie zu Cromwells Zeiten! Genau das wollten wir doch verhindern.«

Aus dem Norden trafen weitere Schreckensmeldungen ein. Lord Edward war im Gefängnis von Dublin gestorben. Als er dann auch noch hörte, dass der Aufstand in Rathconan verraten worden war und Conall des Hochverrats angeklagt werden sollte, vergrub er das Gesicht in den Händen.

»Ich bin daran schuld«, stöhnte er und sah Brigid unglücklich an. »Ich habe deinen Vater auf dem Gewissen.« Auch Brigid litt unter dieser Vorstellung, doch versuchte sie Patrick zu trösten. Conall habe aus eigener Überzeugung gehandelt.

Am folgenden Tag bekam Patrick Fieber. Brigid wunderte es nicht.

Verursacht wurde das Fieber in ihren Augen nicht zuletzt dadurch, dass er nichts unternehmen konnte. Sie wusste, dass Patrick sofort mit ihr nach Rathconan geritten wäre, doch kam das angesichts der Freisassen, die dort die Gegend unsicher machten, nicht in Frage. Auch die Katastrophe im Süden hatte er nicht verhindern können. Seine Hilflosigkeit und Enttäuschung deswegen mochten seinen Zustand noch verschlimmern. Am dritten Tag stieg das Fieber so hoch, dass Brigid sich schwere Sorgen machte. Der junge William half ihr nach Kräften. Einige Tage später erholte Patrick sich schließlich wieder etwas, wenngleich er noch geschwächt war. Brigid schickte William erneut nach Nachrichten aus und erfuhr, dass eine andere Abteilung der Rebellentruppen an der Küste nach Norden vorzustoßen versuchte. Ihr Anführer war Father Murphy, ein Priester, der trotz der Missbilligung der Kirche am Aufstand teilnahm.

Das Wetter blieb trocken. Ein Teil des Grases war, ungewöhnlich für die Jahreszeit, bereits verdorrt.

Brigid hielt Patrick dazu an, einige Zeit in der Sonne zu verbringen. Er erholte sich jetzt zusehends, und nach einer weiteren Woche war er fast wiederhergestellt. Doch trafen weiter schlechte Nachrichten ein. Father Murphy war gefallen, die Rebellenarmee an der Grenze zu Wicklow unter Druck geraten. Von Dublin, hieß es, sei eine große Armee im Anmarsch.

Dann regnete es zum ersten Mal seit Wochen. Am selben Tag traf Kelly auf Mount Walsh ein. Er begrüßte Brigid lächelnd, doch Brigid spürte seine Erregung.

»Geht es Patrick besser?«, fragte er. »Kann er reiten?«

»Warum?«

»Die Regierungstruppen nähern sich von Norden. Alles weicht vor ihnen zurück. Patrick darf nicht hierbleiben. Man kennt ihn. Wenn man ihn hier findet …«

»Wohin soll er fliehen?«

»Er kann mit mir kommen. Drunten in Wexford steht immer noch eine große Rebellenarmee. Dort müsste er sicher sein.« Kelly grinste. »Seien Sie unbesorgt, Brigid. Notfalls bringe ich ihn in Wexford auf ein Schiff nach Frankreich.«

»Umso besser«, sagte Brigid, »denn ich komme mit.«

Doch Patrick wollte, als er zu ihrem Gespräch dazukam, nichts davon hören.

»Denk an die Kinder«, sagte er. »Du hast mit dem Aufstand nichts zu tun. Nur hinter mir sind sie her. Und du bist hier sicherer als sonst wo.« Er wandte sich an William. »Du passt auf sie auf, William, ich verlasse mich auf dich. Versprichst du mir das?«

Kelly unterstützte ihn nach Kräften.

»Wenn sie Patrick hier nicht finden, gehen sie wieder«, sagte er. Er sah William an. »Und ob sie nun von Ihrem Streit mit Ihrem Vater wissen oder nicht, jedenfalls brauchen Sie nur zu sagen, Sie seien der Sohn von Lord Mountwalsh und in Mountwalsh befänden sich keine Rebellen, und man wird nicht wagen, Sie zu belästigen.«

Brigid wusste, dass die beiden Männer Recht hatten. Es war die einzige Lösung. Sie sah Patrick lange an, dann sagte sie: »Ich helfe dir beim Packen.«

Zehn Minuten später war Patrick reisefertig.

Sie standen an der Tür. Patricks Pferd wurde aus dem Stall geführt. Es regnete lautlos, und die Landschaft hinter der Rasenfläche vor dem Haus verschwand im Nebel. Brigid wusste nicht, wie ihr geschah, so schnell war alles gegangen.

»Mir wird nichts passieren«, sagte Patrick. Er wandte sich noch einmal an William. »Denk an dein Versprechen.«

»Ich werde auf eine Nachricht von dir warten.« Brigid stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Patrick auf die Wange. Sie spürte den Regen im Gesicht. »Danke für mein Leben«, flüsterte sie.

Er tat, als habe er sie nicht gehört.

»Wenn du die Kinder vor mir siehst, grüße sie zärtlich von mir.«

William half Patrick in den Sattel. Patrick ritt neben Kelly her, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Brigid starrte ihm regungslos nach. Der lautlos fallende, graue Regen hüllte alles ein – wie ein Vorhang, so schien es ihr, der sich am Ende eines Theaterstückes senkte.

 

Es war eine Nacht kurz vor der Sommersonnenwende. Unter ihnen lag die kleine Stadt Enniscorthy. Die Tore waren geschlossen und mit Wachen besetzt. Hunderte von Rebellen hatten in der Stadt Quartier bezogen, genug jedenfalls, um sie zu verteidigen. Doch die Hauptarmee lagerte hier oben auf den lieblichen Hängen des Vinegar Hill.

***

Es war Kellys Idee gewesen. »Wir ziehen nach oben, Patrick«, hatte er gesagt. »Unsere Größe gibt uns Sicherheit.«

Patrick hatte sich gefreut. Die Sommernacht war warm und klar. Über seinem Kopf funkelten für einige kurze Stunden bis zur Morgendämmerung hell und ewig die Sterne.

Die Stellung war gut gewählt. Die Vorausabteilungen der United Irishmen hatten General Lake, der von Norden heranrückte, nicht aufhalten können. Doch in Enniscorthy erwartete die Briten eine viel größere Streitmacht, an die zwanzigtausend Mann, bewaffnet mit Karabinern und Geschützen. »Wir sind doppelt so viele«, hatte Kelly gesagt. »Und auch das Gelände ist für uns vorteilhaft.« Der Vinegar Hill ließ sich hervorragend verteidigen. Um sich den droben verschanzten Rebellen zu nähern, mussten die Briten auf allen Seiten steile Hänge erklimmen. Von einem ähnlichen Hügel aus hatten die Rebellen erst vor einem Monat und noch ohne die Feuerwaffen die gut ausgebildete Miliz von North Cork vertrieben. Deshalb erfüllte sie jetzt Zuversicht.

Patrick war glücklich. Er war freiwillig hier. Er hätte auch nach Wexford reiten und ein Schiff besteigen oder sich in den ein Dutzend Meilen entfernten Bergen verstecken können. Doch er hätte sich schuldig gefühlt, seine Kameraden jetzt im Stich zu lassen, nachdem er schon die vielen Rückschläge der vergangenen drei Wochen versäumt hatte. Tüchtige Burschen waren sie allesamt. Zuneigung für Kelly, für die Tausende unbekannter Gesichter auf dem Hügel und sogar für die Briten erfasste ihn. Schließlich waren sie alle seine Mitmenschen. Wie schrecklich, dass am folgenden Tag wahrscheinlich viele sterben mussten. Was für ein Jammer, dass so viel Blut vergossen und so viele Opfer gebracht werden mussten, um in Irland eine neue Gesellschaft zu schaffen.

Dass das neue Irland kommen würde, daran zweifelte er nicht. Nicht wegen des gegenwärtigen Aufstands, dessen Ausgang noch ungewiss war, sondern weil die ganze Entwicklung sich nicht mehr aufhalten ließ. Überall auf der Welt wurden die Tyrannen verjagt und die Fesseln gesprengt, die Körper und Geist gefangen hielten. In Amerika und Frankreich konnten die Menschen ihre Regierungen jetzt selbst wählen, sich ihre eigenen Gesetze geben und nach Belieben eine Religion ausüben oder nicht. Endlich würde es keine Unterdrücker und Unterdrückte mehr geben, keinen Streit zwischen Katholiken und Protestanten. Das Zeitalter der Vernunft war angebrochen, und es bedurfte gewiss nur noch eines letzten Anstoßes und das morsche staatliche Gefüge würde von selbst zusammenbrechen. Patrick war dankbar dafür, dass er die Heraufdämmerung der neuen und besseren Welt miterleben durfte.

Eine bessere Welt auch für seine Kinder. Gerührt dachte er an sie. Vor fast einem Monat hatte er sie zuletzt gesehen. Er wünschte sich Flügel. Dann wäre er durch die Nacht geflogen und hätte eine Stunde mit ihnen verbracht und sie getröstet. Auch an Brigid dachte er. Irgendwann würde alles vorbei und die Welt verändert sein. Dann würde er Brigid noch einmal fragen, ob sie ihn heiraten wollte, aber diesmal mit mehr Nachdruck. Vielleicht würde sie seinen Antrag diesmal annehmen.

Eine seltsame Stimmung erfasste ihn. Ihm war, als hätte die Abendsonne den Hügel mit ihrem orangefarbenen Licht gleichsam der Zeit entrückt und an einen anderen Ort versetzt – und als warteten auf dem Hügel Tausende von Menschen wie eine Versammlung aus grauer Vorzeit darauf, die aufgehende Sonne im Osten zu begrüßen.

***

General Lake wartete nicht bis zum Sonnenaufgang. Er war ein brutaler Mensch. Im Frühjahr hatte er in Ulster haufenweise Rebellen gehängt oder auspeitschen lassen, um ihren Widerstand zu brechen. Zugleich war er ein tüchtiger Feldherr. Im Angesicht der doppelt so starken gegnerischen Armee, die sich auf einem runden Hügel verschanzt hatte, tat er, was jeder gute Feldherr getan hätte: Er besann sich auf seine Stärken.

Er stellte seine Kanonen so nahe am Hügel auf wie möglich und wartete nicht auf den Morgen, nicht einmal auf das erste Morgengrauen im Osten. Dass die Verteidiger so viele waren, gereichte ihnen jetzt zum Nachteil, weil sie den Hügel so dicht bedeckten, dass der General nicht einmal besonders genau zielen musste. Er ließ die Kanonen mit Kugeln und Kartätschen laden. Die erste Salve krachte durch die Nacht.

»Ich schieße die Rebellen im Dunkeln zusammen«, sagte der General.

***

Kelly und Patrick standen nebeneinander und erschraken beide. Zischend flogen die Kanonenkugeln über ihre Köpfe. Erdfontänen stiegen zum nächtlichen Himmel auf und überall brach Geschrei aus.

»Will er uns wirklich im Dunkeln angreifen?«, fragte Kelly verwundert.

Doch das wollte General Lake keineswegs. Er rückte keinen Zentimeter vor, sondern ließ seine Kanonen die Arbeit für ihn tun. Die Kanonen spuckten die ganze Nacht Feuer, bis der Morgen dämmerte und die Sonne aufging. Sie wussten nichts von Freiheit, von grauer Vorzeit oder dem Anbruch eines neuen Zeitalters, sondern folgten nur ihrer eigenen unerbittlichen Logik der Verwüstung und Vernichtung, bis der ganze Hügel mit Kratern übersät war und Blut über seine grünen Flanken lief.

Die englische Artillerie konnte mit noch einer weiteren Überraschung aufwarten. Patrick sah mit eigenen Augen, wie etwa fünfzig Meter vor ihm eine Granate landete, noch ein Stück über den Boden sprang und neben einer Gruppe von Pikenieren liegen blieb. Die Pikeniere betrachteten die Granate misstrauisch. Dann zuckte ein greller Blitz auf und sie wurden zerrissen. Die mit dem neuen Verzögerungszünder ausgestattete Granate war explodiert. Die Iren kannten solche Granaten noch nicht. Schon bald brach auf dem Hügel Panik aus. Überall versuchten Männer überstürzt vor Granaten zu fliehen, die in ihrer Nähe landeten.

Es gab nur einen Ausweg. Die Rebellen mussten angreifen, um die Engländer mit dem schieren Gewicht ihrer Übermacht aus den Stellungen zu drängen. Patrick und Kelly standen mit gezogenen Pistolen und Degen am hinteren Ende der Streitmacht, hinter einer Reihe von Pikenieren. Sie gelangten nie zum Fuß des Hügels. Der Angriff kam im gegnerischen Feuer zum Stehen. Die Rebellen flohen wieder den Hügel hinauf. Die Engländer nutzten die allgemeine Verwirrung, ihre Kanonen weiter nach vorn zu schieben. Patrick bemerkte es erschrocken und feuerte seine Pistole ab, doch sah er niemanden fallen.

Wenig später versuchten die Rebellen einen zweiten Angriff, doch mit dem gleichen Ergebnis.

Drunten vor Enniscorthy versuchten englische Soldaten die Brücke zu erobern, die in die Stadt führte, um den Iren den Fluchtweg abzuschneiden. Doch wenigstens in der Stadt behielten die Rebellen die Oberhand und schlugen die Briten erfolgreich zurück.

Die Zeit verging. Der Beschuss durch die Kanonen hielt an, die Hitze war unerträglich. Patrick stellte fest, dass er die Kanonen kaum noch hörte, obwohl sie weiter donnerten. Eine seltsam unwirkliche Stille hatte sich über den Hügel gesenkt. Er sah sich um. Wie viel war von der Rebellenarmee noch übrig? Die Hälfte? Vermutlich. Doch schienen die Männer in ihren Bewegungen verlangsamt, als hätten sie alle Zeit der Welt. Apropos Zeit, wie spät war es überhaupt? Auch das wusste er nicht. Die Sonne stand hoch am Himmel.

Eine neue Entwicklung schien eingetreten. Kelly rief ihm etwas zu und lud seine Pistole. Die Engländer kamen. Sie kamen die Rückseite des Hügels herauf. Patrick nickte und richtete die Pistole hangaufwärts. Er jedenfalls war bereit.

Er hörte ein Zischen und einen Schrei. Er spürte, wie Kelly ihn unsanft am Kragen packte und von etwas weg zerrte. Er stolperte, ein Blitz zuckte auf und im nächsten Moment lag er auf dem Boden. Kelly lag neben ihm, seltsam aufgestützt, als versuche er ein Buch unmittelbar vor seiner Brust zu lesen. Doch die eine Seite seines Kopfes war nur noch ein klaffendes, blutiges Loch. Patrick starrte ihn an. Kelly war tot. Patrick selbst schien nichts zu fehlen. Doch als er aufstehen wollte, versagte sein linkes Bein den Dienst. Seltsam. Er streckte die Hand danach aus und runzelte die Stirn. Das Bein fühlte sich nass an. Er sah an ihm hinunter. Aus einem langen Schnitt entlang des Oberschenkels rann Blut, in der Wunde steckte ein Metallsplitter. Schmerzen hatte er kaum. Er würde sich gleich darum kümmern. Zuerst musste er noch etwas anderes tun.

Er sah zur Kuppe des Hügels hinauf. Von dort rückten die Engländer an. Schwarz hoben sie sich vom Himmel ab. Einige Rebellen leisteten ihnen tapfer Widerstand, andere flohen. Patrick hob die Pistole und versuchte sie ruhig zu halten. Jetzt war die Gelegenheit zum Schuss gekommen, und diesmal würde er treffen.

***

Jonah Budge hatte die Schlacht auf keinen Fall versäumen wollen. Er und ein Dutzend seiner Freisassen hatten sich Lakes Armee auf dem Weg nach Süden angeschlossen. Seine restlichen Männer hatte er unter dem Befehl eines Stellvertreters zurückgelassen, einem vertrauenswürdigen Kaufmann aus Wicklow.

Er hatte an diesem Tag schon eine wertvolle Lektion gelernt. Damals nach der Verschwörung in Rathconan, als er die Dörfer in den Wicklow-Bergen von Rebellen gesäubert hatte, erwarb er sich einen Ruf für schnelles Handeln, auf den er sehr stolz war. Sobald er auf Widerstand traf oder eine Scheune brannte – was nicht selten vorkam –, handelte er sofort. Durch seine Schnelligkeit und Brutalität hatte er zweimal verhindert, dass Protestanten ermordet oder bei lebendigem Leibe verbrannt wurden.

Lake dagegen, wenngleich nicht weniger brutal, ging vorsichtiger zu Werk. Jonah Budge wäre am liebsten schon im Morgengrauen den Hügel hinaufgestürmt, doch Lake wartete ab und zermürbte die Rebellen mit seiner Artillerie, als seien sie eine Festung, deren Mauern in Trümmer geschossen werden müssten.

»Die Rebellen sind eine Armee und werden auch wie eine kämpfen«, hatte er gemahnt. »Wenn ich zu früh angreife, verliere ich die Hälfte meiner Männer.« Die Rebellen in der Stadt hatten sich auch tatsächlich wacker geschlagen und dem Gegner eine blutige Abfuhr erteilt. Lake wusste deshalb, was er tat, und das verdiente Respekt. Während die armen Teufel auf dem Hügel jämmerlich zugrunde gingen, hatte er kaum einen Mann verloren.

Doch jetzt konnte er endlich loslegen, dachte Budge und stürmte hangaufwärts. Die erschöpften Rebellen leisteten erbittert Widerstand. Regierungssoldaten fielen. Doch die Rebellen konnten sie auf Dauer nicht aufhalten. Sie wichen zurück.

Kaum hatte Budge die Kuppe des Hügels überquert, musste er verärgert feststellen, dass Laws Truppen schlecht aufgestellt waren. Am Fuß des Hügels klaffte in ihren Reihen eine Lücke. Ein Befehlshaber hatte dort seine Position nicht eingenommen. Auch die Rebellen hatten es bemerkt. Sie leisteten auf der Kuppe zwar noch heftig Widerstand, doch dann konnten die Engländer sich sammeln und stürmten in geordneten Reihen hangabwärts. Die Rebellen lösten sich auf und flohen. Sie rannten auf die Lücke zu. Einige Reiterschwadronen wollten ihnen den Weg abschneiden, doch zu spät, wie es Budge schien.

Seine Aufgabe war dagegen einfach: die Gegner in seiner Reichweite überwältigen und vernichten. Er rückte mit seinen Männern hangabwärts vor, da sah er den Mann zwanzig Meter links vor ihm auf dem Boden liegen. Der Mann hielt eine Pistole. Jetzt hob er sie quälend langsam und zielte damit auf Budge. Er war ganz offensichtlich verwundet und wollte einen letzten Schuss abgeben. Budge schritt ohne zu zögern geradewegs auf ihn zu. Er hatte keine Angst, denn er sah mit geübtem Blick, dass der Mann ihn nicht treffen würde. Die Pistole knallte und ein Rauchwölkchen stieg auf. Die Kugel flog pfeifend über seinen Kopf. Budge ging weiter. Der Mann sah ihn an und schien erstaunt. Er hatte ein edel geschnittenes Gesicht, das musste man ihm lassen. Wenige Schritte vor ihm blieb Budge stehen, zog seine Pistole, hob sie und zielte sorgfältig. Der Mann zuckte nicht zusammen.

»Leg dich hin, Croppy«, sagte Budge leise und feuerte. Patrick sank leblos zusammen. Budge ging weiter.

***

Brigid sah die Frau kommen und wusste sofort Bescheid. Die Besucherin war Kellys Schwester. Ihr Mann hatte ihr aus Wexford geschrieben.

Die beiden Frauen begrüßten einander leise. Sie hatten sich viele Jahre nicht gesehen. Der Brief aus Wexford schilderte kurz die Schlacht am Vinegar Hill und wie Patrick und Kelly gefallen waren.

»Mein Beileid zum Tod Ihres Bruders«, sagte Brigid. »Es war sehr freundlich von Ihnen zu kommen.« Und sie fügte hinzu: »Ich würde Patrick gerne begraben.« Doch Kellys Schwester schüttelte den Kopf.

»Das ist bereits geschehen«, sagte sie. »Gehen Sie nicht hin. Bleiben Sie hier, außer Sichtweite.«

Die Engländer hatten auf ganzer Linie gesiegt, General Lake hatte kaum hundert Mann verloren. Allerdings waren auch einige Rebellen entkommen und hatten sich in Wexford gesammelt. Einige von ihnen wollten nach Westen nach Kilkenny, um den Aufstand dort neu zu entfachen, andere wollten an Lake vorbeischlüpfen und weiter nach Norden, nach Wicklow, ziehen.

»Gehen Sie vorerst nicht nach Norden«, warnte die Besucherin Brigid. »In ganz Wicklow, und darüber hinaus gärt es.«

Danach war es auf Mount Walsh still geworden. Die Tage verstrichen, ohne dass ein Besucher gekommen wäre. Brigid hatte sich damit abgefunden, warten zu müssen. Der junge William wollte sich unbedingt den überlebenden Rebellen anschließen, doch Brigid hielt ihn zurück. Er könne den Rebellen nicht helfen, sagte sie entschieden, und er habe Patrick versprochen, auf sie aufzupassen. »Willst du mich ganz allein nach Dublin zurückkehren lassen?«, fragte sie ihn. Widerstrebend hatte er sich gefügt.

Eine Woche verging, dann noch eine. Nachrichten aus der weiteren Umgebung trafen ein: Katholiken hatten das Haus eines Protestanten niedergebrannt, Mitglieder einer Oranier-Loge einige katholische Familien verprügelt. Der Aufstand verkam in Ermangelung einer straffen Führung zu einem hässlichen konfessionellen Kleinkrieg. Brigid und William hörten, die nördliche Abteilung der United Irishmen habe sich in die Berge zurückgezogen. Die Männer seien an Rathconan vorbeigekommen und zuletzt in die Ebene von Kildare hinuntergestiegen. Erst jetzt, drei Wochen nach der Nachricht vom Tod ihres Geliebten, sagte Brigid zu William: »Wir kehren nach Hause zurück.«

***

Finn O’Byrne beobachtete die Ankunft von Brigid und William misstrauisch. Er selbst war erst vor wenigen Tagen nach Rathconan zurückgekehrt.

Arthur Budge hatte mit den Verschwörern von Rathconan kurzen Prozess gemacht. Er hatte sie nach Wicklow gebracht und Conall noch am selben Tag zum Tode durch den Strang verurteilt und gehängt. Die übrigen saßen fünf Wochen lang im Gefängnis, während Jonah Budge und seine Freisassen die Berge säuberten. Erst dann wurden die Gefangenen auf Geheiß von Arthur Budge freigelassen. Bei der nächsten Verfehlung, so wurde ihnen knapp mitgeteilt, mussten sie mit dem Tod rechnen.

Auf dem Weg aus Wicklow hinaus sahen sie Conall. Man hatte ihn an einer Brücke aufgeknüpft, und dort hingen die schwärzlichen Überreste seiner Leiche noch immer. Sie blieben in stummer Ergriffenheit stehen.

»Es hätte jeden von uns treffen können«, sagte einer von den Brennans. »Vor allem dich, Finn.«

»Ich weiß«, erwiderte Finn ernst, der sich freute, dass Conall tot war. »Schrecklich.«

Schweigend, doch als Helden kehrten sie nach Rathconan zurück.

Nur zwei Bewohner des Dorfes behandelten Finn nicht mit dem Respekt, den er sich wünschte. Der eine war überraschenderweise der alte Budge. Er wusste zwar, dass Finn sein Haus vor der Zerstörung bewahrt und ihm selbst womöglich das Leben gerettet hatte, und Finn hatte dafür Dank erwartet. Doch obwohl Budge die Rebellen und alles, was damit zu tun hatte, hasste und obwohl er Conall für das, was er getan hatte, selbst ohne zu zögern an den Galgen gebracht hätte, betrachtete er Finn manchmal mit einem Blick, aus dem die uralte, instinktive Verachtung für einen Verräter sprach.

Deirdre hatte aus ihrer Verachtung kein Geheimnis gemacht. Gleich nach Finns Rückkehr suchte sie ihn auf.

»Glaubst du, ich weiß nicht, was du bist?«, hatte sie leise gesagt. »Ich weiß, was du getan hast.«

»Gar nichts weißt du«, hatte er kaltschnäuzig geantwortet. Sie konnte nichts wissen, es war absolut unmöglich. Und doch wusste sie es.

»Judas«, sagte sie. Aber niemand schenkte ihr Glauben. Die anderen nahmen an, das Unglück habe ihr den Verstand verwirrt. Immer wenn sie in Finns Nähe kam, zischte sie: »Schlange.«

Finn hatte keine Schuldgefühle. Er hatte getan, was er sich vorgenommen hatte. Doch hasste er Deirdre für die Verachtung, die sie ihm zeigte.

Auch Deirdres jüngster Sohn und ihre jüngste Tochter, die noch im Dorf wohnten, begegneten ihm mit Misstrauen. Andere freilich, darunter Finns Mithäftlinge, versuchten sie eines Besseren zu belehren. Deirdre irre sich, sagten sie. Bald sah Finn in ihren Augen Zweifel aufkeimen. Die Vorwürfe gegen ihn würden sich im Lauf der Zeit legen, hoffte er. Doch Deirdre schien darauf aus, sämtliche Mitglieder der Familie Smith gegen ihn einzunehmen. Auch bei Brigids Ankunft würde sie es versuchen. Wie auch immer, es gefiel ihm jedenfalls überhaupt nicht, dass diese Schauspielerin nach Rathconan kam und so tat, als sei sie Menschen wie ihm, die doch vor Gott und jedem vernunftbegabten Menschen gewiss etwas Besseres waren als sie, haushoch überlegen.

Den jungen William konnte er nicht richtig einordnen. Er kam von Mount Walsh, dem Sitz seiner Familie, und musste steinreich sein. Jetzt kehrte er nach Dublin zurück. Conall oder auch Patrick hatten in Finns Gegenwart nie von ihm gesprochen. Ihm war damals aufgefallen, dass Patrick den jungen Adligen vor jeder Besprechung des Aufstands nach draußen geschickt hatte. Vermutlich gehörte William einer ganz anderen Welt an als ich, schloss Finn, einer Welt, von der ich nichts weiß und die mich deshalb auch nicht interessiert.

Brigid und William trafen am Nachmittag ein und begaben sich zum Haus Deirdres. Danach begegneten sie auch Finn. Sie schritten nur wenige Meter an ihm vorbei. Brigid sah ihn im Vorbeigehen an. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke.

Der Atem stockte ihm. Jeder Mann hätte bei diesem Blick aus Brigids blitzenden grünen Augen die Luft angehalten. Finn hatte Empörung erwartet, Wut, Zorn darüber, dass er ihren Vater getötet hatte. Doch auch wenn all dies für einen flüchtigen Moment zu sehen war, vermischte es sich doch mit etwas anderem. Mit Ekel. Brigid sah ihn an wie eine schmutzige, ekelerregende Kreatur, die aus einem Loch in der Erde gekrochen war. Dass er, Finn O’Byrne, sich das bieten lassen musste! Als hätte sie nicht einmal die Schuhe an ihm abstreifen wollen. Dann waren sie und der junge Mann verschwunden.

Den ganzen Abend musste Finn O’Byrne an diesen Blick denken.

Am folgenden Morgen reisten Brigid und William wieder ab. Die Gegend zwischen Rathconan und Dublin war zwar noch nicht wieder ganz sicher, doch Brigid zog es zu ihren Kindern zurück und sie wollte nicht länger warten. Die beiden entschieden sich für den Weg über den Bergrücken, auf dem niemand unterwegs war. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie Randalierern begegneten, war William mit Degen und Pistole bewaffnet. Brigid trug unter ihrem Reitumhang einen Zierdolch, eine zwar kleine, aber wirksame Waffe. Wichtiger schien ihnen allerdings, dass der Boden fest war und sie gute Pferde hatten.

 

Nur eine Stunde nach ihrem Aufbruch war Finn O’Byrne das Glück hold. Jonah Budge und ein Dutzend berittene Freisassen trafen in Rathconan ein. Finn begriff schnell, was für eine Möglichkeit sich ihm eröffnete. Er suchte unter einem Vorwand das Gutshaus auf und fand dort ohne Schwierigkeiten Gelegenheit zu einigen vertraulichen Worten mit Budge. Als er fertig war, stellte Budge rasch noch einige Fragen.

»Der junge Protestant, Lord Mountwalshs Sohn, war also nicht eingeweiht? Ich würde den Sohn eines so mächtigen Mannes nur ungern verhaften.«

»Das ist auch nicht notwendig. Er wusste nichts. Solange er im Zimmer war, wurde nicht über den Aufstand gesprochen.« Finn überlegte und fügte dann hinzu: »Ich glaube, er lieferte den anderen nur den Vorwand für die Reise nach Wexford.«

»Brigid Smith ist also Conall Smiths Tochter und außerdem die Frau von Patrick Walsh?«

»Und Patrick Walsh gab das Zeichen für Conall, mit dem Aufstand hier in Rathconan zu beginnen.«

»Und du kannst gegen sie aussagen? Du hast Beweise für ihre aktive Beteiligung?«

Finn zögerte. »Aussagen? Nein. Ihr habt mir versprochen, mich aus allem herauszuhalten. Ich kann nichts beschwören, außer dass Brigid mit Patrick zusammen war. Aber sie war ganz bestimmt eingeweiht. Es muss so gewesen sein. Wer weiß, was Ihr bei einem Verhör alles aus ihr herausquetschen könnt?« Die Vorstellung schien ihm Vergnügen zu bereiten.

»Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte Jonah Budge. Wenig später brachen er und seine Männer erneut auf.

Finn O’Byrne sah ihnen lächelnd nach. Was sie mit Brigid tun würden? Es würde Brigid lehren, ihn zu verachten.

***

Brigid und William waren fast an der Stelle angelangt, an der die Hochebene der Wicklow-Berge steil zum Becken des Liffey hin abfiel, da hörten sie hinter sich drei Reiter näher kommen.

Sie sahen, dass die Männer Uniform trugen und waren deshalb nicht übermäßig besorgt. Sie hatten sich auf dem Weg durch die Berge Zeit gelassen. Es war angenehm warm. Die drei Männer hatten sie fast erreicht, und William und Brigid wichen zur Seite, um sie vorbeizulassen. Doch die Männer ritten nicht vorbei.

Sie waren seit einigen Stunden unterwegs. Sie waren müde und schlecht gelaunt. Es gab verschiedene Wege über die Berge, und nachdem Jonah Budges Suche zunächst erfolglos geblieben war, hatten die Männer sich in kleinere Gruppen aufgeteilt, die jeweils einen Weg absuchten. Sie wussten wenig über die Gesuchten, nur dass der junge Mann ein Protestant aus einer wichtigen Familie war und ihm nichts passieren durfte, während die Frau, die Tochter des Papisten Conall Smith, verhört werden sollte.

Die Freisassen waren eine bunt zusammengewürfelte Schar. Selbst zu Jonah Budges kleiner Truppe gehörten brave Bürger und andere, die nur auf Schlägereien aus waren.

Die Männer befahlen William und Brigid abzusteigen. Da sie bewaffnet waren, schien es besser zu gehorchen. Auch ein Freisasse, ein Bursche mit strohblonden Haaren und etwas älter als die anderen, stieg ab und wandte sich an Brigid.

»Sie sind Brigid Smith?«

»Ich bin der Ehrenwerte William Walsh«, fiel William ihm ins Wort. »Mein Vater ist Lord Mountwalsh, und diese Dame steht unter meinem Schutz. Lassen Sie uns weiterziehen.«

»Ihr könnt jederzeit gehen, junger Herr«, knurrte der Freisasse, »aber nicht diese Frau. Hauptmann Budge will sie verhören. So lauten meine Befehle.« Er musterte Brigid mit gierigen Augen. Die Freisassen hatten in den vergangenen Wochen papistische Rebellen aus ihren Hütten vertrieben und er hatte dabei verschiedentlich schöne Frauen kennen gelernt. Vor allem an eine junge Frau erinnerte er sich. Er hatte sie bei einem nächtlichen Streifzug allein in einem leeren Kuhstall entdeckt. Sie hatte geschrien, aber seine Gefährten, die das Geschrei gehört hatten, hatten nur gelacht. Eine appetitliche Frau war das gewesen. Die grünäugige Frau hier war zwar wie eine Dame gekleidet, aber war sie nicht die Tochter des Mannes, der an der Brücke von Wicklow hing? Hier waren sie ungestört. »Ich warte hier auf den Hauptmann«, sagte er zu den anderen beiden. »Ihr begleitet den jungen Herrn zur Straße nach Dublin hinunter.«

»Ich gehe nicht«, sagte William.

»Was sollen wir also tun, Nobby?«, fragte einer der anderen mit einem selbstgefälligen Grinsen.

Unter normalen Umständen, dachte Nobby, hätte er den jungen Mann einfach getötet und mit der Frau angestellt, was er wollte. Nur weil Budge Zurückhaltung befohlen hatte, konnte der adlige Welpe ihm auf der Nase herumtanzen.

Nobby überlegte. Wenn der junge Mann sich zum Schutzherrn der Frau eines papistischen Rebellen aufspielte, stimmte mit ihm selbst etwas nicht. Er würde den beiden zeigen, dass sie ihn nicht zum Narren halten durften. Er sah seine Gefährten an und nickte vielsagend.

»Begleitet den jungen Herrn zur Straße.«

William protestierte, doch die beiden Reiter grinsten nur. Einer von ihnen hatte die Zügel von Williams Pferd gepackt. Plötzlich trieben sie ihre Pferde an und nahmen William zwischen sich. Sie beugten sich aus dem Sattel und packten ihn so schnell an den Armen, dass er keine Zeit hatte sich zu wehren. Dann begannen sie zu reiten und trugen ihn mehr oder weniger mit sich fort. William strampelte mit den Beinen und sah über die Schulter zurück. Wie um ihm seine Machtlosigkeit vor Augen zu führen, trat Nobby zu Brigid und packte sie an den Brüsten.

»Jetzt werden wir uns allein vergnügen müssen«, sagte er.

Brigid schrie. William konnte sich mit einem Ruck losreißen. Die beiden Freisassen ritten lachend noch ein paar Meter und wendeten dann. Doch William rannte so schnell er konnte zu Brigid zurück. Dann zog er den Degen.

Mit einem Fluch riss Nobby Brigids Mantel auf, dann ließ er sie los und drehte sich zu William um. Brigid griff mit funkelnden Augen in ihren Mantel und zog den Dolch heraus. Nobby sah es nicht. Vor ihm stand keuchend und mit gezogenem Degen William.

»Finger weg, Sie Flegel, oder Sie werden es mir büßen«, schrie er.

Nobby lief dunkelrot an vor Wut. Er ließ sich doch nicht vor seinen Kameraden von diesem Lümmel beschimpfen. Er vergaß seine Befehle, fluchte noch einmal, zog seinen Degen und stürzte sich auf William.

William seinerseits war kreideweiß vor Zorn. Er hatte noch nie um sein Leben gekämpft, aber im Unterschied zu Nobby hatte er Fechtunterricht erhalten. Als der Freisasse jetzt auf ihn losging und nach seinem Hals stach, wich er ihm elegant aus, lenkte den Stich ab und machte einen Ausfallschritt. Nobby erstarrte und sein Mund klappte auf. Williams Degen hatte sein Herz durchbohrt. Er sank auf die Knie. William zog den Degen heraus. Nobby fiel mit dem Gesicht voraus auf den Boden.

Die beiden Freisassen sahen einander verdattert an. Damit hatten sie nicht gerechnet. Sollten sie den jungen Mann töten? William hatte sich bereits zu ihnen umgedreht. Unschlüssig betrachteten sie ihn. Er war bleich, aber gefasst. Er hielt den vom Blut geröteten Degen in der Hand, griff aber nicht an, sondern wartete. Brigid ordnete ihre Kleider. Mit der Hand umklammerte sie den Dolch. Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen.

Auf dem Weg hinter ihnen näherten sich wieder Reiter. Sie waren noch etwa eine halbe Meile entfernt.

»Das ist der Hauptmann«, rief einer der beiden Freisassen erleichtert.

Jonah Budge hatte die Situation sofort erfasst und brauchte nicht erst zu fragen, was passiert sei. Er kannte Nobby und sah die Verwirrung und Unschlüssigkeit auf den Gesichtern der beiden Freisassen, die Fassungslosigkeit Brigids und die aufrichtige Empörung Williams.

Jonah Budge war ein großer, ungeschlacht wirkender Mann, doch er konnte sehr schnell denken. Er stieg ab, trat ruhig zu William, neigte leicht den Kopf und bat um seinen Degen. William übergab ihn. Dann trat er vor Brigid und streckte höflich die Hand aus. Brigid reichte ihm zögernd den Dolch.

»Danke«, sagte Budge.

Er ging zu Nobbys Leiche, drehte sie um, bückte sich darüber und betrachtete sie aufmerksam. Dann steckte er mit einer demonstrativ langsamen Bewegung Brigids Dolch in die offene Wunde und drückte ihn hinein. Anschließend wischte er Williams Degen mit einem Büschel Gras ab und richtete sich wieder auf.

»Offenbar hat die Frau den Mann erstochen, als er sie verhaften wollte«, sagte er an Nobbys Gefährten gewandt.

Die beiden starrten ihn verständnislos an, doch dann hellten ihre Mienen sich auf.

»Jawohl, Sir. Genauso war es, Sir.«

»Aber nein!«, rief William verwirrt und empört.

»Ihr könntet das auch beschwören?«, fuhr Budge fort, ohne auf William zu achten.

»Jawohl, Sir, selbstverständlich.«

»Aber so war es doch überhaupt nicht«, rief William. »Der Bursche näherte sich dieser Frau in unsittlicher Weise, und als ich ihn zur Rede stellte, griff er mich an. Ich habe ihn getötet.«

Budge sah die beiden Männer und auch die Freisassen, mit denen er gekommen war, unverwandt an.

»Es darf kein Zweifel bestehen, verstanden? Von jetzt an.«

»Gewiss nicht, Sir«, versicherten die Männer hastig. »Die Frau hat ihn erstochen.«

»Nun, wenn das so ist«, sagte Jonah Budge kalt, »kann ich Eurer Aussage keinen Glauben schenken, Mr Walsh. Auch ein Gericht wird Euch nicht glauben, seid versichert.« Er nickte kurz. »Ihr könnt gehen, denn wir wissen, wo Ihr zu finden seid. Euren Degen werdet Ihr zu gegebener Zeit zurückerhalten.« Er wies die beiden Freisassen an, Nobbys Leiche aufzuheben und an seinem Pferd festzuschnallen. »Und ihr«, wandte er sich an die anderen Freisassen, »setzt die Frau auf ihr Pferd und führt das Pferd am Zügel. Sie kommt mit uns nach Wicklow.«

»Ihr seid doch nur ganz gemeine Verbrecher«, sagte Brigid mit tiefer Verachtung.

»Und Sie, Madam, sind des Mordes angeklagt.« Jonah Budge stieg auf und bedeutete seinen Freisassen, aufzubrechen. William protestierte immer noch wütend. Budge ließ seine Männer ein kurzes Stück vorausreiten, dann drehte er sich noch einmal zu ihm um.

»Eure Tapferkeit ehrt Euch, junger Mann. Sie ist bestimmt lobenswert. Doch abgesehen davon habe ich Euch soeben einen großen Gefallen erwiesen.«

***

Für Georgiana war der Sommer 1798 eine Zeit der Ernüchterung.

Während Patrick und seine Freunde drunten in Wexford unterwegs waren, waren Berichte von dem Aufstand der United Irishmen in Ulster eingetroffen. Protestanten und Presbyterianer vor allem, idealistische Vorkämpfer einer neuen Welt, Menschen wie die Angehörigen ihres geliebten Vaters, hatten den Regierungstruppen nach anfänglichen Erfolgen nicht standhalten können und waren noch vor Vinegar Hill vernichtet worden. Georgiana trauerte um sie.

Gegen Ende des Sommers trafen endlich die Franzosen ein. Eine kleine Streitmacht unter einem gewissen General Humbert landete im August 1798 an der Westküste Irlands, in Killala in der Grafschaft Mayo. Die etwa tausend Franzosen kämpften wacker und konnten sich sogar eine Weile gegen General Lake behaupten. Doch sie waren allein. Die United Irishmen hatten im Westen kaum Anhänger. Zwar schlossen sich einige tapfere Seelen den Franzosen an, doch der größte Teil der Bevölkerung ließ die Franzosen, gewarnt durch das Scheitern des Aufstands im Osten, ihren Feldzug allein führen. Jean-Joseph Humbert stieß ins Landesinnere vor, erkannte dann aber die Aussichtslosigkeit seines Tuns und gab auf.

Zwei Monate später erschien eine größere französische Flotte weiter im Norden vor der Küste Donegals. Sechs ihrer Schiffe wurden von den Regierungstruppen gekapert. Auf einem entdeckte man Wolfe Tone persönlich in den Kleidern eines französischen Generals. Er wurde sofort vor ein Kriegsgericht gestellt und beging in seiner Gefängniszelle Selbstmord. Damit war der Aufstand von 1798 endgültig gescheitert.

So deprimierend diese schicksalhaften Ereignisse sein mochten, andere Vorfälle im Zusammenhang mit dem Aufstand betrafen Georgiana näher und setzten ihr noch mehr zu.

Sie war erleichtert über Williams wohlbehaltene Rückkehr gewesen. Doch von ihm erfuhr sie von Patricks und Conalls Tod und von Brigids Verhaftung, und tiefe Trauer erfüllte sie. Als sie von ihm auch noch hörte, dass er und nicht Brigid den Freisassen getötet hatte, war sie hell entsetzt.

»Brigid ist unschuldig«, erklärte William. »Ich werde bei ihrem Prozess für sie aussagen.«

»Willst du selbst des Mordes angeklagt werden?«

»Es war kein Mord. Ich habe Brigid verteidigt.«

Georgiana konnte sich vorstellen, warum das Gericht Brigid, die Tochter beziehungsweise Geliebte zweier bekannter Revolutionäre, verurteilen würde. Aber auch der junge William musste ihm verdächtig sein, seit man ihn der Universität verwiesen hatte. Wenn er die Behörden verärgerte, indem er sich in Brigids Prozess einmischte, ließen sie ihn das am Ende noch büßen.

Sie versuchte William umzustimmen. Er wies das Ansinnen empört zurück.

In ihrer Not wandte sie sich schließlich an Hercules.

Sie empfand keine Achtung mehr für ihren Sohn, trotzdem machte seine Antwort sie fassungslos. Hercules war außer sich darüber, dass sein Sohn mit einem Mord zu tun haben sollte, und als Georgiana zu bedenken gab, dass er ja nur Brigid verteidigt hatte, schien er der Auffassung zu sein, William hätte die Freisassen nur gewähren lassen sollen. »Wenn ich ihm heute helfe, demütigt er mich morgen«, sagte er.

»Sie wollen Ihrem eigenen Sohn nicht helfen?«

»Nein.«

Georgiana wusste, was sie zu tun hatte. Der junge William musste vom Schauplatz entfernt werden. Man musste ihn fortschicken, notfalls entführen. Er durfte nicht vor Gericht aussagen. Brigid mochte für sich sprechen und hoffen, dass das Gericht ihr Glauben schenkte, doch der junge William würde nicht anwesend sein. Georgiana war zu ehrlich mit sich selbst, um die schreckliche Wahrheit zu verdrängen: Brigid war ihr Schützling und ihre Freundin, aber William war ihr Enkel. Sie musste Brigid opfern.

Doch wie sollte sie William aus der Gefahrenzone schaffen? Sie grübelte und grübelte, fand aber keine Lösung.

 

Zwei Tage nach ihrem unerfreulichen Gespräch suchte Hercules seine Mutter auf.

»Der Prozess gegen Brigid Smith wird erst in vielen Monaten stattfinden«, erklärte er. »Es wurden viele tausend Rebellen gefangen genommen, und das Kriegsgericht wird bis weit ins nächste Jahr hinein tagen. In der Zwischenzeit werde ich veranlassen, dass William England besucht. Er weiß nichts davon, aber man wird ihn dort über den Prozess hinaus festhalten.«

»Warum dieser Gesinnungswandel?«

»Arthur Budge hat mir einen Besuch abgestattet. Sein Bruder hat Brigid verhaftet. Er wäre froh, wenn William keine Aussage machte. Es könnte … unangenehm sein.«

»Sie helfen Ihrem Sohn also nur, damit die Regierenden und ihre Handlanger nicht in Verlegenheit kommen?«

»Ich halte es für die beste Lösung. Doch brauche ich dazu Ihre Hilfe. Sie sollen William dazu überreden, zusammen mit Ihnen London zu besuchen. Für dort werde ich entsprechende Vorbereitungen treffen.«

Georgiana blieb mit ihrem Enkel bis Mitte November in London. Danach nahm ein gefälliger Grundbesitzer William zu seinem abgelegenen Gut irgendwo auf dem Land mit. Sein Vater hatte ihm in einem Brief versichert, der Prozess gegen Brigid werde erst im Frühjahr stattfinden.

Er fand am Tag nach Georgianas Rückkehr nach Dublin statt.

Georgiana wäre gern hingegangen, um Brigid wenigstens zu sehen. Doch sie brachte es nicht fertig. Wie konnte sie der Frau ins Gesicht sehen, die sie soeben verraten hatte?

»Was wird aus ihr werden?«, fragte sie Hercules.

»Man hat ihr ein Angebot gemacht«, erwiderte der. »Bis jetzt beharrt sie darauf, unschuldig zu sein. Zwar würden die Richter ihr nicht gegen die Aussage der Freisassen glauben, doch könnte eine Verhandlung vor dem Kriegsgericht zu peinlichen Enthüllungen führen. Und als Schauspielerin hat sie in Dublin viele Verehrer. Deshalb soll das Verfahren möglichst abgekürzt werden. Man will Milde walten lassen. Wenn sie sich schuldig erklärt, wird sie nicht zum Tod verurteilt.«

»Gott sei gedankt.«

»Sie wird nach Australien deportiert.«

»Nach Australien? Die Strafkolonie? Selbst wenn sie die Reise überlebt, von der sie nie zurückkehren wird: Ist das nicht fast so schlimm wie ein Todesurteil?«

»Keineswegs. Das Klima ist ausgezeichnet, und an Gesellschaft wird es ihr dort unten nicht mangeln. Wir werden eine beträchtliche Anzahl Rebellen nach Australien deportieren.«

Georgiana lag das Schicksal von Brigids Kindern am Herzen. Sie waren schließlich auch Patricks Kinder. Georgiana wusste zwar, dass Brigids Bruder sie bei sich aufgenommen hatte, doch jetzt überlegte sie, ob sie als Wiedergutmachung an Brigid und um Patricks willen etwas für sie tun konnte. Doch sie erfuhr, dass Brigids Mutter Deirdre beim Prozess gewesen war und die Kinder auf Brigids ausdrückliche Bitte zu sich genommen hatte. Offenbar wollte Brigid, dass sie den Rest ihrer Kindheit nicht in Dublin, sondern oben in den Wicklow-Bergen verbrachten.

William entdeckte erst sechs Wochen später, dass man ihn getäuscht hatte. Er schrieb Georgiana einen bitteren Brief, in dem er allerdings ausschließlich seinem Vater die Schuld an der Intrige gab. Außerdem schrieb er:

***

Ich habe beschlossen, vorerst nicht nach Irland zurückzukehren, sondern nach Paris zu reisen. Da ich kaum Geld bei mir habe, hoffe ich, dass Sie mir vielleicht etwas schicken werden. Mein Vater ist dazu gewiss nicht bereit.

***

Georgiana schickte ihrem Enkel schon am nächsten Tag hundert Pfund, doch böse Vorahnungen quälten sie. Was hatte William in Paris vor?