DIE GROSSE HUNGERSNOT

* 1828 *

Keiner war wie ihr Vater. Wenn er sie mit seinen großen, starken Armen hochhob und mit seinen lachenden Augen ansah, wusste sie, dass niemand in der ganzen Grafschaft Clare so mutig und stark war wie er.

Deshalb hatte Maureen kaum zugehört, als ihr Mutter sagte, sie habe Angst davor, was Mr Callan, der Agent, ihm antun könnte. Mein Vater, dachte sie bei sich, kann doch den kleinen Mr Callan mit einer Hand zerquetschen.

Es gab nicht viele Männer, die es gerne mit Eamonn Madden aufgenommen hätten. Obwohl der jüngste von vier Brüdern, war er der größte. Stolz waren sie alle. »Väterlicherseits sind wir mit den Maddens verwandt, die in vielen Teilen Irlands schöne Landgüter besitzen«, hatte ihr Vater einmal zu Maureen gesagt. »Mütterlicherseits stammen wir direkt von dem großen Brian Boru ab, der 1002 der erste unumstrittene irische Hochkönig geworden war und 1014 in der Schlacht von Clontarf den Tod fand. Natürlich«, wie er einräumte, »zusammen mit all den anderen O’Briens.«

Ein vornehmer O’Brien war der Besitzer des großen Schlosses und Landguts Dromoland in der fruchtbaren Parklandschaft bei Limerick, und mehrere O’Briens zählten zu den bekannten Grundbesitzern in Clare. Die Vorfahren ihrer Mutter mochten nur Pachtbauern gewesen sein, aber sie fühlten sich als Nachkommen dieser bedeutenden Sippe, auch wenn sie nur entfernt mit ihr verwandt waren.

Eamonn war nicht nur groß und stark, er konnte auch rennen wie ein Hirsch. Er spielte gern Hurling. Wie er mit einer einzigen Bewegung den Ball aus der Luft pflückte und damit losrannte, war herrlich anzuschauen. Außerdem war er »ein wunderbarer Tänzer«, wie sie von ihrer Mutter wusste.

Als sehr junger Mann, bevor er ihre Mutter heiratete, war Eamonn für alle möglichen verwegenen Streiche bekannt gewesen. Vor zwölf Jahren, als ein Gutsherr einer Witwe keinen Monat, nachdem ihr Mann gestorben war, damit gedroht hatte, sie aus ihrem Cottage zu vertreiben, waren in der Nacht auf seinem Land eine Scheune in Flammen aufgegangen und mehrere Stück Vieh verstümmelt worden. Für den Gutsherrn war eine Botschaft hinterlassen worden, und die Witwe hatte bleiben dürfen, ohne Pachtzins zu bezahlen. Die meisten Leute glaubten, dass Eamonn Madden hinter dem Anschlag steckte, und das hatte ihn in der Gegend zu so etwas wie einem Helden gemacht.

Ungerechtigkeiten gehörten seit jeher zum Leben auf dem Land. Manchmal lösten sie lokale Aufstände aus, häufiger jedoch blieb es bei vereinzelten Zwischenfällen. Zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten wurden die Männer, die sich zu Banden zusammenschlossen, unterschiedlich genannt, doch im Allgemeinen waren sie unter Namen wie Ribbonmen oder Whiteboys bekannt. Aber was immer Eamonn Madden früher getan haben mochte, jetzt lehnte er Gewalt ab.

»Es gibt bessere Wege, sich Recht zu verschaffen, als Vieh zu verstümmeln, Maureen«, pflegte er zu sagen. Obwohl sie erst neun war, vertrauten Vater und Mutter ihr manchmal ihre Gedanken an, weil sie die Älteste war. »Das hat uns Daniel O’Connell gezeigt.«

O’Connell, der Befreier, der bedeutendste Mann in Irland. Wenn ihr Vater ein Held war, dann war O’Connell ein Gott. Doch gerade O’Connells wegen war ihre Mutter jetzt so in Sorge.

»Diesmal ist er zu weit gegangen«, sagte sie zu Maureen. »Bete zu Gott, mein Kind, dass es uns nicht Haus und Hof kostet, und alles, was wir besitzen.«

Wenn Eamonn und seine Brüder stolz waren, dann nicht nur deshalb, weil sie sich wie viele Iren als Nachkommen der Prinzen verstanden. Sie waren es vor allem deshalb, weil die Familie früher viel mehr Land bewirtschaftet hatte. Vor drei Generationen war ihr Urgroßvater noch Pächter eines stattlichen Gutshofs gewesen, auch wenn der eigentliche Besitzer ein in England lebender Grundherr war. Später war dieser Pachtbesitz unter Söhnen aufgeteilt worden, von denen einige ausgewandert waren. In der letzten Generation hatte Eamonns Vater nur noch etwa zwanzig Morgen erhalten, und selbst die waren jetzt in vier Teile aufgeteilt. Doch nach Eamonns eigenem Empfinden vertrat er zumindest noch den Pachtbesitz seines Großvaters, an den sich einige ältere Nachbarn noch erinnern konnten. Und das Land, das er gepachtet hatte, betrachtete er insgeheim als sein eigenes.

Maureen liebte die Landschaft der Grafschaft Clare. Vom breiten Unterlauf des Shannon im Süden bis zu der eigenartigen, kargen Felslandschaft im Norden verströmte Clare einen ganz eigenen Zauber. Während unten im südlichen Munster die vorherrschenden Südwestwinde große Regenmengen an den Bergen von Cork und Kerry abluden, fegten hier in Clare die Atlantikwinde ungehindert über Hügel und Moore, Steinfelder und Feuchtwiesen. Manchmal, an stürmischen Tagen, bogen sich die kleinen Dornensträucher und Bäume, die das Land sprenkelten, so im Wind, dass es Maureen nicht gewundert hätte, wenn sie sich von ihren Wurzeln losgerissen und, wie so viele Hexen, übermütig ins Innere der Insel geflogen wären.

Unten am Shannon war der Boden fruchtbar. Hier, im Inneren der Grafschaft rings um die Marktstadt Ennis, war die Landschaft abwechslungsreich, der Boden aber verhältnismäßig unfruchtbar. Gleichwohl wurden hier Weizen und Hafer, Gerste und Flachs angebaut. Und natürlich Kartoffeln.

Die Maddens lebten recht gut, obwohl sie nur ein paar Morgen Land hatten. Sie hielten eine Milchkuh, Schweine, ein paar Hühner und einen Hund. Außerdem besaßen sie einen Esel, der den Karren zog. Sie bauten hauptsächlich Gemüse und Kartoffeln an.

Das stabile, zweistöckige Bauernhaus ihres Urgroßvaters stand noch. Eamonns Haus war bescheidener, ein lang gestrecktes, einstöckiges Cottage mit dicken Trockensteinmauern und Strohdach. Wie alle hier verfeuerten sie Torf, denn Torf gab es reichlich und Holz so gut wie gar nicht. Und wenn der Wind durch die Trockensteinmauern pfiff, so war das nicht weiter schlimm, denn das Klima in Clare war mild. Bis jetzt gab es in der Familie drei Kinder: Maureen, ihre jüngere Schwester Norah und ihren kleinen Bruder William. Ein weiteres Kind war unterwegs. Sie trugen gute Leinenhemden, die ihre Mutter genäht hatte, Kleider und Strümpfe aus Wolle und im Winter feste Stiefel. Sie konnten sich nicht beklagen.

Und sie aßen gut, gewöhnlich dreimal am Tag. Wenn ihr Vater zum Markt fuhr, brachte er manchmal etwas Fleisch oder Fisch mit. Oft gab es Kohl oder ein anderes grünes Gemüse. Doch ihr Hauptnahrungsmittel, das sie alle gesund und bei Kräften hielt, war die nahrhafte Kartoffel.

Die Kartoffel war ein Segen. »Ein Manna vom Himmel«, wie ihr Vater immer sagte. »Amerikas Geschenk an Irland.«

Ihr Vater war ein kluger Mann. Er konnte lesen und schreiben und trug dafür Sorge, dass Maureen es ebenfalls lernte. Er war immer wissbegierig und lernte gern Neues hinzu. Und da sie sein ältestes Kind und sein Sohn noch ein Säugling war, unterhielt er sich gern mit ihr. Daher wusste sie, dass die Kartoffel vor vielen Generationen aus der Neuen Welt zu ihnen gelangt war. Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte er sie mit ihren Besonderheiten vertraut gemacht.

»Siehst du das, Maureen?« Er hielt ihr eine Saatkartoffel hin, aus der kleine weiße Knospen sprossen wie kleine gekrümmte Hörner. »Nur ganz wenige Knollen bilden eigene Knospen aus, aber die Kartoffel tut es. Diese Knospen enthalten die Nährstoffe für die neuen Sprosse, die sich aus ihnen entwickeln. Die Sprosse wachsen zu Ausläufern mit eigenen Stängeln und Blättern aus, daraus entstehen die neuen Kartoffeln. Mehr brauchst du nicht zu tun: Du gräbst die Kartoffeln aus, behältst einige zum Pflanzen und legst sie im Frühjahr aus, dann bekommst du im Herbst eine neue Ernte. Und sie mögen unser mildes, feuchtes Wetter.«

»Essen die Indianer in Amerika nur Kartoffeln, die sie in der Wildnis finden?«, fragte sie ihn einmal.

»Das könnte man meinen. Aber so ist es nicht. Überlässt man sie sich selbst, drängen die Sprosse der Saatkartoffel nach oben zum Licht. Dann wachsen die neuen Kartoffeln dicht unter der Oberfläche und werden grün und bitter. Die würdest du nicht essen wollen. Deshalb lagern wir die Saatkartoffeln an einem dunklen Ort und häufen Erde darüber, sobald wir sie gepflanzt haben.«

Ihr Land lag in felsigem Gelände. Aber man hatte die Steine von den Ackern ausgelesen und für Trockensteinwände verwendet, die stellenweise mehrere Fuß dick waren. Wie seine Nachbarn pflanzte Eamonn Madden Kartoffeln für eine frühe Ernte im August und eine spätere im Oktober oder November. Der Nährwert der Knollen war unvergleichlich. Zusammen mit etwas Butter und Milch, Gemüse oder Fisch konnten sie ein Volk von gesunden Riesen hervorbringen, vorausgesetzt natürlich, man aß genug davon. Und das taten die Iren. Wenn Eamonn Madden schwere Feldarbeit verrichtete, verzehrte er an einem einzigen Tag vierzehn bis fünfzehn Pfund Kartoffeln.

Gab es etwas, das gegen den Anbau von Kartoffeln sprach?

»Sie ist anfällig für Krankheiten«, räumte Eamonn ein. In den letzten Jahrzehnten hatte es bereits zahlreiche Kartoffelfäulen gegeben, einige mit ziemlich ernsten Folgen. Eamon Madden bearbeitete das Kartoffelfeld mit einem Spaten, und bei der Ernte half die ganze Familie. Die Schweine, die sie hielten, wurden teilweise mit Kartoffelschalen gefüttert und lieferten Dünger für die Äcker. Einmal im Jahr schlachtete die Familie ein Schwein für den Eigenbedarf, die übrigen wurden gemästet und auf dem Markt verkauft. »Damit bezahlen wir die Pachtzinsen«, erklärte ihr der Vater. Diese Wirtschaftsweise ermöglichte es ihm, etliche Monate im Jahr für andere zu arbeiten. Außerdem verdiente er Geld als Fuhrmann, wobei er mit seinem Karren mitunter ziemlich weite Strecken zurücklegte.

Manchmal nahm er Maureen mit. Einmal fuhren sie durch die weite Steinlandschaft des Burren. Dessen karge Schönheit hatte sie beeindruckt, und sie war überrascht gewesen, Schafe dort weiden zu sehen. »Man sollte nicht meinen«, sagte ihr Vater, »dass sie hier genug Nahrung finden, nicht wahr? Aber sie finden welche, und die Kräuter, die zwischen den Felsen wachsen, geben ihrem Fleisch ein besonders feines Aroma.« Sie hatten auch die mächtigen Klippen von Moher besucht, die fast hundert Meter tief in die aufgewühlten Fluten des Atlantiks stürzten. Der Anblick verschlug Maureen den Atem. Ihr Vater hielt sie fest und sagte: »Lehne dich vor.« Ein Prickeln durchlief sie, als sie sich über die Klippe hinauslehnte und die Kraft des Atlantikwinds spürte, der an die Felswand prallte und nach oben jagte, sie trug und nach hinten drückte. »Hier ist nichts mehr zwischen uns und Amerika«, rief ihr Vater, »nur noch die wogende See.« Sie wusste nicht, warum sie diese Vorstellung so erregend fand.

»Werden wir dorthin gehen?«, rief sie. Viele Bauernfamilien, die sie kannte, hatten Verwandte in Amerika. Auch einer von Eamonns Brüdern und zwei seiner Onkel waren mit ihren Familien dorthin ausgewandert. Es waren die besser gestellten Familien, die nach Amerika gingen. Die Armen hatten kein Geld für die Überfahrt.

»Wieso? Willst du denn weg aus Clare?«, schrie er.

»Niemals.«

Ein andermal fuhren sie an den Shannon-Fluss und sahen den Fischern zu, die in kleinen, mit Häuten bespannten Booten hinausfuhren.

»Dieser Landstrich hier am Shannon heißt Corcasses«, erklärte Eamonn. »Die blauen Corcasses, wie wir sie nennen, sind ein wunderbarer Boden. Aber der schwarze Corcass ist so fruchtbar, dass man zwanzig Ernten aus ihm herausholen kann, bevor man düngen muss.« Er sagte das mit so viel Stolz, als ob das Land ihm gehöre.

Am häufigsten fuhr er mit dem Wagen ins nahe Ennis, wobei er am frühen Morgen aufbrach und erst in der Abenddämmerung wiederkam. Doch jedes Mal, wenn er sie fragte, ob sie ihn nicht begleiten wolle, suchte sie nach einer Ausrede. Sie fürchtete sich vor der Stadt.

Ennis war nicht groß, aber doch recht bedeutend. Boote brachten Waren vom Nordarm des Shannon den River Fergus herauf. Es gab einen Viehmarkt und ein Gerichtsgebäude, und man konnte dort alle erdenklichen Dinge kaufen. Einmal, so erinnerte sie sich, hatte ihr Vater auf dem Markt eine Wagenladung billigen Seetang erworben, der von der Shannon-Mündung stammte. Wieder zu Hause, half sie ihm dabei, den Tang auf dem Kartoffelacker zu verteilen. »Er düngt den Boden«, sagte er. »Unten an der Küste verwendet man ihn anstelle von Mist.«

Maureen verabscheute jedoch die Straße nach Ennis.

Landlose Menschen gab es in Irland seit Jahrhunderten. In gewisser Weise waren sie Teil eines natürlichen Prozesses. Wenn das Land eines Clanchefs unter seinen Söhnen aufgeteilt wurde, übernahmen diese wenig später die Ländereien der größeren Pächter und zwangen sie, sich mit kleineren Gütern zu begnügen. Auch diese Pächter teilten ihr Land auf, und so ging es immer weiter bis hinunter zum Cottier, der nur ein oder zwei Morgen bewirtschaftete, und dem unter ihm stehenden landlosen Arbeiter. Selbst Cromwell hatte, als er eine Schicht irischer Grundbesitzer vertrieb und durch Engländer ersetzte, den endlosen Wellen der Verdrängung im Lauf der Generationen nur eine weitere hinzugefügt.

Dieser Prozess hatte sich, bedingt durch die Einführung der nahrhaften Kartoffel, im letzten Jahrhundert rapide beschleunigt. Eamonns Vater und Großvater hatten jeweils früh geheiratet und viele Kinder gezeugt, da sie trotz kleinerer Höfe genug zum Leben erwirtschaften und es sich leisten konnten, auf dem Land zu bleiben. Eamonn war erst zwanzig, als er heiratete, und wer wusste, wie viele Kinder er bekommen würde? Selbst ein armer Cottier mit einer bescheidenen Parzelle konnte überleben. Als Folge davon war die Bevölkerung Irlands enorm gewachsen. Ihre Zahl lag mittlerweile bei über sieben Millionen, und sie stieg weiter. Irland gehörte zu den am dichtesten besiedelten Ländern Europas. Da so viele ernährt werden mussten, stiegen zwangsläufig auch die Preise für Lebensmittel und Grundstücke. »Der Grundbesitzer kann einen höheren Pachtzins für sein Land bekommen, und die reicheren Bauern können ihn bezahlen«, erklärte Eamonn Maureen. »Wir haben noch Glück, aber etliche arme Cottiers können kaum noch ihren Zins aufbringen.« Wer ihn nicht aufbringen konnte, wurde von seinem Land vertrieben und musste als Tagelöhner sein Dasein fristen. In den Elendsvierteln von London oder in den Dubliner Liberties waren Arme längst ein gewohntes Bild. Aber nun war auch in den ländlichen Gebieten Irlands ein neues Phänomen zu beobachten: Elendsquartiere der entwurzelten Armen.

In Ennis begannen sie etwa eine Meile vor der Stadt. Da sah man Katen mit Dächern, aber auch offene Erdhütten, die einfach in die Böschung gebaut waren. Manche Familien konnten wenigstens für ein Jahr einen kleinen Kartoffelacker pachten, andere hatten nicht einmal das. Sie nahmen jede Arbeit an. Nur gab es nicht immer welche. An jeder Straße, die nach Ennis führte, bot sich das gleiche Bild. Jedes Mal, wenn sie daran vorbeifuhren und Maureen die unglücklichen Gesichter der zerlumpten Männer, Frauen und Kinder sah, schauderte sie.

»Kann das auch mit uns geschehen?«, hatte sie einmal, als sie fünf war, ihren Vater gefragt.

»Niemals«, antwortete er selbstbewusst.

»Können wir ihnen nicht helfen?«

»Es sind so viele.« Er lächelte milde. »Aber es freut mich, dass du es möchtest.«

Der Anflug von Resignation in seiner Stimme hatte sie erschreckt. Bis dahin hatte sie immer geglaubt, ihr Vater könnte alles. Er wusste, dass sie ihm jedes Mal, wenn sie zusammen in die Stadt fuhren, so lange in den Ohren lag, bis er den Kindern am Straßenrand ein paar Pennys gab. Doch wenn sie es auch nie aussprach, die armseligen Hütten waren der Grund, warum sie gewöhnlich den Kopf schüttelte, wenn er sie fragte, ob sie mit in die Stadt wolle. Letztes Jahr hatte sie jedoch eine andere Frage gestellt: »Kann denn Daniel O’Connell etwas für sie tun?« Die Miene ihres Vaters hatte sich ein wenig aufgehellt.

»Vielleicht.« Er hatte genickt. »Wenn es überhaupt jemand schafft, dann O’Connell.«

Deshalb stimmte es sie jetzt traurig, dass ihre Eltern zum ersten Mal, seit sie denken konnte, miteinander stritten und dass der Grund ihres Streits Daniel O’Connell war.

Sie hatte ihn einmal gehört. Ihr Vater hatte sie mitgenommen, ihre Mutter hatte nicht gewollt. Der große Mann war aus seiner Heimat in den Bergen von Kerry gekommen und sprach zu einer riesigen Menschenmenge, die sich auf einer Wiese bei Limerick versammelt hatte. Er stand auf einem Wagen. Sie und ihr Vater bekamen nur einen Platz ziemlich weit hinten, aber sie konnten ihn trotzdem gut sehen, denn er war sogar noch größer als Eamonn, ein Mann mit einem breiten, fröhlichen Gesicht und langen, gewellten braunen Haaren.

Er sprach auf Irisch und Englisch zu ihnen. Tatsächlich wechselte er, wie viele Leute in dieser Gegend, mühelos von einer Sprache in die andere und vermischte sie manchmal sogar. Maureen begriff nicht alles, was er sagte, aber die Menge brüllte zustimmend. Am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben war ihr allerdings nicht, was er sagte, sondern wie er es sagte, der wunderbar melodische Klang seiner Stimme, die mal ganz leise wurde, mal zu donnernder Lautstärke anschwoll. Und wenn er die Stimme senkte, wurde es in der Menge mucksmäuschenstill, sodass man jedes Wort verstehen konnte. »Er besitzt die Stimme eines Engels«, hatte ihr Vater einmal gesagt und beifällig hinzugefügt: »Und die List eines Teufels.«

Seit nunmehr dreißig Jahren verteidigte O’Connell als brillanter Anwalt Katholiken gegen die protestantische Vorherrschaft – die Ascendancy. Doch der Anwaltsberuf diente ihm nur als Broterwerb. Seine eigentliche Begabung lag auf dem Gebiet der Politik. Vor fünf Jahren hatte er mit einer Gruppe Gleichgesinnter die Katholische Vereinigung gegründet. Früher hatte es Komitees katholischer Gentlemen oder die Patrioten gegeben, die sich für die katholische Sache einsetzten, oder die Volunteers, die lokale Aufstände initiierten. Aber O’Connells Katholische Vereinigung war etwas Neues: eine friedliche politische Bewegung, eine Massenbewegung, die jedem Katholiken in Irland offen stand, der den Mindestmitgliedsbeitrag von einem Penny im Monat aufbringen konnte. Raffiniert wie er war, ließ O’Connell diese Pennys von den Priestern der jeweiligen Gemeinde einsammeln. Sie führten genau Buch über die Abgaben und leiteten das Geld weiter.

Auch Eamonn Madden war der Bewegung sofort beigetreten.

O’Connell legte Wert darauf, dass seine Anhänger die Gesetze achteten. Bei der Versammlung, die Maureen mit ihrem Vater besucht hatte, war eine Abteilung Soldaten aufmarschiert, um bei etwaigen Ausschreitungen einzugreifen, und O’Connell hatte die Menge aufgefordert, sie mit Hochrufen zu begrüßen.

Natürlich war es auch für die Kirche ein neuer Weg. »Ich bin mir nicht sicher«, hatte Father Casey, ihr freundlicher, grauhaariger Priester, zu Eamonn gesagt, »ob mein Vorgänger es getan hätte. Er wurde in Rom ausgebildet, müssen Sie wissen, und glaubte noch an das alte Wort: ›Gehorchet euren Lehrern und wisset, wo euer Platz ist.‹« Doch dreißig Jahre zuvor hatte die Regierung der katholischen Kirche gestattet, in Maynooth westlich von Dublin ein Priesterseminar einzurichten, und die Priester, die dort ausgebildet worden waren, vertraten modernere und nationalere Ansichten. »Wir sammeln das Geld«, sagten sie. Und die Summen, die der Vereinigung zuflossen, waren enorm. Die Organisation zählte über eine Million Mitglieder und nahm pro Jahr erstaunliche einhunderttausend Pfund ein.

»Wofür ist denn das ganze Geld, das er einsammelt«, wandte Maureens Mutter, eine kleine, dunkelhaarige Frau, immer wieder ein. »Damit ein Katholik ins britische Parlament einzieht?«

»Das ist das erste Ziel«, erwiderte Eamonn. »Findest du es denn nicht merkwürdig, dass ich als Katholik und Vierzig-Shilling-Freisasse zwar wahlberechtigt bin, aber nur einen Protestanten zu meinem Repräsentanten wählen darf?«

Die städtischen Wahlbezirke waren noch fest in der Hand reicher und einflussreicher Gentlemen und ihrer Anhänger. Doch auf dem Land war die alte Vierzig-Shilling-Wahlqualifikation gelockert worden, sodass jetzt auch ein katholischer Pächter, der jährlich vierzig Shilling an Pacht entrichtete, wählen durfte. Natürlich nur einen Protestanten. König Georg III. hatte inzwischen das Zeitliche gesegnet, und sein künstlerisch veranlagter Sohn Georg IV. saß auf dem Thron, aber in der Frage, ob Katholiken ins Parlament einziehen sollten, blieb er ebenso unnachgiebig wie sein Vater.

»Was soll uns das nützen, Eamonn?«, fragte seine Frau. »Ein paar Katholiken im Parlament ändern für dich und mich doch nichts.«

»Nicht sofort, das gebe ich zu. Aber es wäre das Eingeständnis, dass ein Katholik ebenso viel wert ist wie ein Protestant.«

Maureen glaubte zu wissen, was er meinte, aber ihre Mutter zuckte nur mit den Schultern.

»Und wer soll mit deiner gütigen Mithilfe jetzt in diesem Parlament sitzen, wenn nicht Daniel O’Connell selbst? Du tust das alles doch nur für ihn.«

»Wer wäre dafür denn besser geeignet?«, fragte Eamonn mit einem Lächeln.

Maureen wusste aus den Predigten Father Caseys, welche Demütigungen die katholische Kirche immer noch hinnehmen musste. So maßte sich die britische Regierung an, jede Ernennung eines ihr missliebigen katholischen Bischofs zu untersagen. Und noch immer hatten die Katholiken jeder Gemeinde eine Abgabe zu leisten, den so genannten Zehnten, der nicht ihrem eigenen Priester, sondern dem protestantischen Geistlichen zugute kam. Und waren nicht fast alle Grundherren, Friedensrichter und Armeeoffiziere nach wie vor Protestanten? Unlängst erst hatte ein hiesiger Grundherr namens Synge seinen Pächtern mit Vertreibung gedroht, wenn sie nicht zum Protestantismus übertraten. An wen sollten sich einfache Katholiken in Anbetracht solcher Drohungen wenden? Natürlich an die Katholische Vereinigung.

Statt die Scheune eines schlechten Grundherrn niederzubrennen, konnten sich die Opfer ungerechter Behandlung jetzt an O’Connell wenden, und der wiederum würde mit dem Grundherrn sprechen. Der Anwalt konnte nicht jedes Unrecht wiedergutmachen, aber es war wenigstens ein Anfang.

Doch nun gab es neue Aufregung. Der Abgeordnete der Grafschaft Clare, ein protestantischer Befürworter der katholischen Sache, war in ein Regierungsamt berufen worden, und wie üblich stellte er sich, bevor er den Posten übernahm, noch einmal dem Wähler. Zu seiner grenzenlosen Überraschung sprach sich die Katholische Vereinigung plötzlich gegen ihn aus: Daniel O’Connell trat höchstpersönlich gegen ihn an.

Der Fehdehandschuh war geworfen. Zum ersten Mal stand ein Katholik zur Wahl.

»Das Schöne daran ist«, erklärte Eamonn lachend seiner Familie, »dass nach britischem Gesetz die Kandidatur eines Katholiken gar nicht verboten ist. Aber er kann das Mandat im britischen Unterhaus nur antreten, wenn er den protestantischen Eid leistet, und das wird er niemals tun, das hat er geschworen. So wird er die Engländer mit ihren eigenen Regeln blamieren. Wenn er gewählt wird, bringt er sie in eine unmögliche Lage.« Es war ein gewitzter Schachzug, der die irische Seele so entzückte, wie er die englische entsetzte.

»Und was willst du Mr Callan sagen, der schon dreimal hier gewesen ist und nach dir gefragt hat?«, fragte sie mit einem zornigen und vorwurfsvollen Blick. »Was willst du ihm sagen, Eamonn? Dass er deine Frau und deine Kinder vor die Tür setzen soll, sodass sie in Ennis um Brot betteln müssen?«

Maureen bekam immer Angst, wenn ihre Mutter solche Dinge sagte. Sie konnte nichts dagegen machen.

»Dazu wird es nicht kommen«, entgegnete ihr Vater.

»Und wieso nicht? In Waterford ist es dazu gekommen.«

Tatsächlich waren die Vierzig-Shilling-Pächter zwar alle wahlberechtigt, aber das hieß nicht, dass sie auch wählen durften, wen sie wollten. Die Grundherren erwarteten, dass ihre Pächter so stimmten, wie sie es ihnen vorschrieben. Die Stimmabgabe war nicht geheim. Jeder Pächter, der so unvernünftig, töricht und treulos war, gegen die Wahlvorgabe seines Grundherrn zu stimmen, erklärte sich zum Feind des Mannes, dessen Land er gepachtet hatte. Der Grundherr oder sein Agent warfen ihn dann vom Hof und suchten sich an seiner Stelle einen neuen Pächter. Die Botschaft war klar und einfach: gehorche oder hungere.

Vor nicht allzu langer Zeit hatten O’Connell und seine Vereinigung einen Kandidaten – natürlich einen protestantischen Gentleman, der aber aktiv für die katholische Sache eintrat – gegen den Spross einer der größten Ascendancy-Familien der Gegend antreten lassen. Zum Entsetzen der örtlichen Grundbesitzer hatten O’Connell und seine Leute die Pächter dazu gebracht, ihre traditionelle Loyalität aufzugeben und für den Störenfried zu stimmen. Wut und Bestürzung waren die Folge – und Vertreibungen. Es war also durchaus gefährlich.

»Wir sind hier nicht in Waterford«, sagte Eamonn. »Wir sind hier in Clare.«

Es stimmte, dass die hiesige Gentry, obwohl ungefähr ein Drittel der Grundbesitzer gar nicht hier lebte, überwiegend aus alten irischen Familien wie den O’Briens oder altenglischen wie den Fitzgeralds bestand, die seit sechshundert Jahren in Irland ansässig waren. Sie alle, Altengländer wie Iren, waren Protestanten geworden, um ihre Ländereien zu behalten.

»Glaubst du etwa, Mr Callan schert sich darum, ob wir hier in Clare, in Waterford oder sonst wo sind?«, schrie seine Frau. »Oder dass ein O’Brien mehr Skrupel als ein Engländer hätte, einen Pächter fortzujagen?«

»Und was ist mit Father Casey? Was würdest du ihm sagen?«, fragte Eamonn Madden.

Bei der Sonntagsmesse hatte der Priester seine Haltung unmissverständlich klargemacht, als er, vor dem Altar stehend, zu ihnen sagte: »Jede Stimme für O’Connell ist eine Stimme für eure Religion. Daher kann es keinen Zweifel geben, was Gott verlangt.«

Mrs Madden war freilich nicht so leicht zu beeinflussen. Maureen war bereits aufgefallen, dass sie, obwohl sie regelmäßig zu Messe und Beichte ging und darauf bestand, dass ihre Kinder ihren Katechismus lernten, zu manchen Dingen eine ganz eigene Meinung hatte.

»Father Casey«, sagte sie tonlos zu ihrem Mann, »hat keine Frau und keine Kinder zu versorgen.«

Als der Wahltag näher rückte, fragte Maureen ihren Vater: »Was wirst du unternehmen?« Und zum ersten Mal, so weit sie zurückdenken konnte, wirkte ihr großer, starker Vater besorgt und unschlüssig.

»Ehrlich gesagt, mein Kind«, antwortete er, »ich weiß es nicht.«

***

Stephen Smith trug ein grünes Ordensband mit einer großen Medaille da ran, und er war glücklich. Was für ein außergewöhnlicher Tag. Sie schrieben Geschichte.

Ganz Irland, ganz Großbritannien sah zu. Aus diesem Grund war auch der Earl of Mountwalsh nach Ennis gekommen, und Stephen freute sich darüber. Allerdings fragte er sich, wer der ernste kleine Mann war, den Seine Lordschaft mitgebracht hatte.

Man musste William Mountwalsh einfach mögen. Seine Frau war zwar einfältig – aber sehr nett. Und manch einer mochte über diesen korpulenten Aristokraten mittleren Alters sogar schmunzeln, der sich in den Kopf gesetzt hatte, kein wichtiges Ereignis zu verpassen und, wie er Stephen einmal vergnügt gestanden hatte, »jede interessante Persönlichkeit in Irland kennen zu lernen«. Als steinreicher Mann und Mitglied des Oberhauses hatte der Earl überall die Hand im Spiel. Er konnte fast alles für einen tun, wenn er wollte. Und er war ein unterhaltsamer Gesprächspartner. Schließlich war er nicht nur der Sohn des berüchtigten Hercules, sondern auch ein Freund Robert Emmets gewesen. Er hatte in Paris und Amerika gelebt und als junger Mann am Trinity den schrecklichen Fitz-Gibbon öffentlich gedemütigt.

Aber für Stephen Smith, mit seinen zwanzig Jahren schon ein zynischer und desillusionierter junger Mann, war das Besondere an Seiner Lordschaft, dass er einen im Unterschied zu den meisten Aristokraten nicht einfach fallen ließ, wenn er seine Neugier befriedigt hatte. Mit ihm hatte man einen Freund fürs Leben.

Jetzt winkte William Mountwalsh ihm von den Eingangsstufen des besten Gasthauses in der Stadt zu, und Stephen ging mit aufrichtiger Freude zu ihm.

»Hab ich mir doch gedacht, dass ich Sie hier treffen würde, Stephen«, sagte der Earl freundlich. »Was ist das für ein Ordensband, das Sie da tragen?«

»Es hängt auch eine Medaille daran«, erwiderte Stephen und grinste. »Der Orden der Befreier. Den hat der große Mann kreiert. Wenn ich ihn trage, komme ich mir gleich vornehmer vor.«

Seine Lordschaft schüttelte amüsiert den Kopf, dann stellte er seinen Begleiter vor, einen ernsten, stillen Mann Mitte zwanzig, der mit ihm in Mount Walsh geweilt hatte. Samuel Tidy, so erklärte er, sei Quäker. Stephen war überrascht, dass ihn Seine Lordschaft mit einem Aufenthalt in Wexford beehrt hatte. Tidy machte nämlich einen recht langweiligen Eindruck.

»Wir sind vor dem Morgengrauen in Limerick aufgebrochen, Stephen«, erklärte der Earl. »Erzählen Sie uns, was hier los ist.« Er deutete mit dem Kopf auf die bunten Fahnen, die aus den Fenstern hingen.

»Natürlich haben wir alles gründlich vorbereitet«, erklärte Stephen. »Bei O’Connells Ankunft hier sind Tausende von Menschen gekommen. Er hat an alle namhaften Bürger geschrieben. Außerdem lebt ein Cousin von ihm hier.« Er deutete auf ein gediegenes Haus mit Balkon ein Stück die Straße runter. »Dort wohnt er. Ich muss gleich wieder zu ihm.«

»Wir haben hier schon jede Menge Priester gesehen«, bemerkte Mountwalsh, und Stephen lachte.

»Einhundertundfünfzig, nach der letzten Zählung. Sie haben die ganze Stadt übernommen. Ein paar haben sogar an den Wahllokalen Posten bezogen, um sicherzustellen, dass keiner umfällt. Es ist ein Kreuzzug. Und die Vorschriften sind geradezu beängstigend. Ale ist erlaubt, aber es darf kein Tropfen Whiskey getrunken werden, und gnade Gott jedem guten Katholiken, der mit schwarz gebranntem Kartoffelschnaps erwischt wird. In diesem armseligen Nest gibt es siebenundzwanzig Gasthäuser, Mylord, und die Priester behalten alle im Auge. Es ist schrecklich, so viele wackere Männer in nüchternem Zustand zu sehen.«

Er glaubte zu bemerken, wie Tidy bei diesen Worten zusammenzuckte.

»Meine Großmutter kannte O’Connell, als er noch jung war«, sagte William Mountwalsh. »Zu jener Zeit, so erzählte sie mir, sei er nicht annähernd so katholisch, sondern eher ein Deist gewesen.«

»Nun ja, heute ist er gewiss ein guter Sohn der Kirche«, sagte Stephen. »Seine ganze politische Karriere fußt darauf. Und sehen Sie sich das Ergebnis an.«

»Ein Mann kann seine Meinung ändern«, flocht der Quäker freundlich ein. »Mr O’Connell ist ohne Zweifel aufrichtig in seinem Glauben.«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Stephen ganz offen, »ob ein richtiger Politiker jemals weiß, woran er glaubt.«

Lord Mountwalsh kicherte, aber Tidy blickte verdutzt.

»Sie müssen wissen«, sagte der Earl zu dem Quäker, »dass Stephen mich trotz seiner Jugend seit Jahren in der Politik unterweist.«

Stephen war erst sechzehn gewesen, als er zu O’Connell gestoßen war. Als Empfehlung hatte er damals nichts anderes vorzuweisen als eine schnelle Auffassungsgabe. Er hatte sich vom Kanzleigehilfen zum Wahlkampfagenten emporgearbeitet und dabei seine politische Begabung unter Beweis gestellt. Im letzten Jahr hatte er so viele Leute beeindruckt, dass William Mountwalsh von ihm erfuhr und ihn zu sich einlud. Anscheinend war auch der Earl von ihm beeindruckt, und möglicherweise hatte er dem jungen Mann mehr Beachtung geschenkt, als dieser eigentlich verdiente, nachdem er festgestellt hatte, dass sie durch familiäre Bande verbunden waren.

»Wenn Sie aus Rathconan stammen, haben Sie vielleicht die alte Deirdre gekannt, die Frau von Conall Smith?«, hatte ihn der Earl gefragt.

»Meine Urgroßmutter«, antwortete Stephen. »Ich erinnere mich kaum an sie. Sie muss also schon sehr alt gewesen sein, als ich noch ein kleines Kind war.«

»Dann kennen Sie wohl auch die Kinder meines Verwandten Patrick Walsh, der am Vinegar Hill gefallen ist?«

»In der Tat, Mylord. Ich kenne sie alle.«

Das interessierte Seine Lordschaft sehr.

»Meine Großmutter Georgiana war im Jahr vor ihrem Tod oben in Rathconan«, erinnerte er sich. »Sie hatte Patrick sehr nahe gestanden und wollte wissen, was aus seinen Kindern geworden war. Sie sagte, dass keines von ihnen nach Dublin wolle. Hätten sie es getan, hätte sie ihnen nämlich Geld gegeben, glaube ich.«

»Sie wollten mit Dublin nichts zu tun haben«, bestätigte Stephen. »Dafür dürfte die alte Deirdre gesorgt haben. Sie haben O’Tooles, O’Byrnes, Brennans und dergleichen geheiratet. Man könnte sie jetzt nicht mehr auseinanderhalten.«

»Und Brigid?«, erkundigte sich der Earl. »Wissen Sie etwas über sie?«

»Gewiss. Sie hat Deirdre mehrere Male aus Australien geschrieben. Sie hatte wieder geheiratet. Ich glaube, sie bekam noch weitere Kinder. Vor zwölf Jahren besaß sie ein kleines Gasthaus in Neusüdwales. Mehr weiß ich nicht.«

Von solchen familiären Dingen abgesehen, wollte William Mountwalsh alles über Stephens Werdegang wissen und darüber, was sich ein junger Mann seiner Generation von der Zukunft erhoffte.

»Langfristig die Aufhebung der Union und ein unabhängiges Irland«, antwortete Stephen. »Aber bis dahin ruhen unsere Hoffnungen auf der liberalen Partei der Whigs in England. Immerhin war es die Partei Sheridans. Die Whigs stehen den irischen Katholiken wohlwollend gegenüber. Was O’Connell angeht, so glaube ich, dass er mehr für uns tun kann als jeder andere Zeitgenosse.«

Stephen hatte auch erkannt, dass Seine Lordschaft nichts mehr liebte als den neuesten politischen Klatsch, und ein junger Mann, der mitten im Wahlkampfgetümmel stand, hatte immer etwas zu erzählen. Und je pikanter die Geschichte, desto besser gefiel sie dem Earl.

Aber was war mit dem Quäker? Stephen wusste nicht viel über die Quäker, aber er hegte den Verdacht, dass der Mann viel zu ernst war für seinen weltlichen Geschmack.

»Waren Sie eigentlich schon immer Quäker, Mr Tidy?«, erkundigte er sich höflich.

»Mein Vater gehörte der Staatskirche an«, antwortete Samuel Tidy, »aber meine Mutter war Quäkerin. Mein Vater starb, als ich zehn war, und mit den Jahren fühlte ich mich immer stärker zur Gesellschaft der Freunde hingezogen.« Stephen fiel erst jetzt die leicht gebeugte Haltung des kleinen Mannes auf. Sein dünnes, rotblondes Haar ließ ihn alterslos erscheinen.

»Einer aus seiner Familie arbeitete als Butler für den großen Dekan Swift und danach für keinen geringeren als den Herzog von Devonshire. Habe ich Recht?«, fragte Lord Mountwalsh.

»Der Großonkel meines Vaters«, bestätigte Tidy.

»Und was halten Sie von unserer Wahl?«, fragte Stephen.

»Mir war gar nicht bewusst«, antwortete der Quäker, »welche Wirkung O’Connell auf das breite Volk hat.«

»Er ist wie ein irischer Prinz.«

»Waren die O’Connells Prinzen?«

»Nein.« Stephen lächelte. »Aber sie haben ein kleines Vermögen gemacht.«

»Womit?«

»Mit Schmuggel«, antwortete Stephen vergnügt.

»Oh.« Der Quäker wirkte leicht schockiert.

»Die Katholiken vertrauen ihm«, fuhr Stephen fort, »weil sie wissen, dass er alles für sie tun würde. Das hat er als Anwalt bewiesen. Kennen Sie die Geschichte, wie er einen Mann verteidigte, der des Mordes angeklagt war?«

»Ich glaube nicht.«

Der Earl gab zu verstehen, dass er die Geschichte kannte, aber gerne noch einmal hören würde.

»Kein anderer wollte dem armen Teufel helfen. Also tritt O’Connell vor den Richter hin und sagt ihm ordentlich die Meinung. ›Ich kann diesen armen Katholiken nicht verteidigen‹, ruft er, ›weil ich ganz genau weiß, dass er zum Tode verurteilt ist, noch bevor der Prozess beginnt. Wozu also Zeit verschwenden? Da Euer Lordschaft ihn auf jeden Fall zu hängen gedenken, können Sie ihn ebenso gut gleich verurteilen. Ich spiele da nicht mit. Aber eines sage ich Ihnen‹, und er sah den Richter Furcht erregend an, ›sein Blut wird an Ihren Händen kleben!‹ Und damit stürmte er aus dem Gerichtssaal.«

»Und was geschah dann?«, fragte Tidy.

»Der Richter war so erschrocken, dass er den Mann laufen ließ.«

»Dann wurde also der Gerechtigkeit Genüge getan?«

»Keineswegs. Ich habe den großen Mann persönlich danach gefragt. ›Ich hatte keine andere Wahl‹, sagte O’Connell, ›denn in der Verhandlung hätte ich auf verlorenem Posten gestanden. Der Mann war so schuldig wie die Sünde.‹«

William Mountwalsh gluckste anerkennend. Tidy blickte ernst drein und sagte nichts.

»Und hat er hier eine Rede gehalten?«, fragte der Earl nach kurzem Schweigen. »War sie gut?«

»Unerhört«, antwortete Stephen lächelnd. »Sein Kontrahent Fitzgerald ist abgesehen davon, dass er die größten Grundbesitzer der Gegend vertritt, ein Mann mit liberalen Grundsätzen. Sein Anstand wird von Protestanten und Katholiken gleichermaßen bewundert. Also steht unser Mann auf und hält eine Rede, wie ich sie in dieser Art noch nie gehört habe. Er beleidigt ihn ganz offen. Man hätte meinen können, Fitzgerald sei ein Anhänger Cromwells, der mit jedem Frömmler in der Ascendancy gemeinsame Sache macht. Die Menge tobte. Schon allein die Unlauterkeit der Rede war eine Kunst.« Er schüttelte bewundernd den Kopf. »Natürlich wird O’Connell sich hinterher bei Fitzgerald entschuldigen müssen. Aber darauf versteht er sich bestens.«

Das war Samuel Tidy zu viel. »Hat dieser Mann denn überhaupt kein Gewissen?«, rief er vorwurfsvoll.

»Nein«, erwiderte Stephen Smith entschieden, »erst nach der Wahl.«

In diesem Augenblick ertönte vom anderen Ende der Straße lautes Geschrei, und die erste Gruppe von Wählern kam in Sicht.

Wahlen auf dem Land waren eigentlich eine recht langwierige Angelegenheit. Die Leute kamen aus einer Entfernung von bis zu vierzig Meilen, und die Wahlstuben blieben fünf Tage geöffnet. Gewöhnlich fuhr der Grundherr in einer Kutsche an der Spitze seiner Pächter, die ihm zu Fuß folgten. Er führte sie wie ein General seine Truppen: Er erwartete unbedingten Gehorsam. In der Wahlstube des Gerichtsgebäudes angekommen, stimmte jeder Mann öffentlich so ab, wie es sein Grundherr vorgegeben hatte – wenn er klug war.

Heute jedoch boten die Männer einen ungewohnten Anblick. Denn die Gruppe, die mit wehenden Fahnen die Straße heraufkam, wurde nicht von einem Grundherrn angeführt, sondern von mehreren Priestern. Hinter den Priestern marschierten Spielleute mit Querpfeifen und Dudelsäcken. Die Schaulustigen am Straßenrand jubelten dem Haufen zu.

Stephen wandte sich an Mountwalsh. »Beeindruckend, nicht wahr?«, fragte er. Dann entschuldigte Stephen sich mit den Worten, dass er O’Connell aufsuchen müsse, versprach aber, bald zurückzukehren.

***

Im Haus herrschte gespannte Erwartung, als Stephen eintrat. O’Connells Cousin Charles stand in dem großen Zimmer im Obergeschoss am Fenster und beobachtete die vorbeimarschierenden Männer. Daniel O’Connell selbst war von Sympathisanten und Helfern umringt.

»Da marschieren sie«, rief Charles begeistert. »Noch einmal fünfzig. Tapfere Burschen.«

Doch während alle anderen strahlten, wirkte der große Mann selbst überraschend nachdenklich.

»Ganz recht, Charles«, sagte er, »tapfere Burschen. Denn jeder von ihnen riskiert die Vertreibung. Das wollen wir nicht vergessen.« Er wandte sich an seinen Stellvertreter. »Shiel, ab sofort müssen Sie sich vorrangig um die Grundherren kümmern. Die Orangeisten glauben, dass das gesamte katholische Irland zum Aufstand bereit ist und dass ich der Einzige bin, der ihm Einhalt gebieten und die Flut eindämmen kann. Natürlich irren sie, aber wir können aus ihrer Angst Kapital schlagen. Sie müssen ihnen klarmachen, dass ich für nichts garantieren kann, wenn sie sich mit Vertreibungen rächen.«

»Ich werde ihnen sagen, dass jede Vertreibung gegen ihre eigenen Interessen wäre«, erklärte Shiel.

»Genau! Machen Sie ihnen das begreiflich.«

Charles O’Connell blickte die Straße entlang. »Ach«, sagte er, »da kommt ein trauriger Haufen.«

Stephen trat zu ihm ans Fenster. Ungefähr vierzig Männer schritten die Straße herauf. Ein älterer Priester begleitete sie, doch an ihrer Spitze marschierte ein kleiner, dunkelhaariger Mann, der grimmig, aber entschlossen dreinblickte.

»Das ist Callan, der Agent«, sagte Charles. »Der Grundherr lebt in England. Der alte Priester heißt Casey. Ein guter Mann, aber ich weiß nicht, ob er sie bei der Stange halten kann.«

»Was?« Daniel O’Connell eilte quer durchs Zimmer. »Öffnet das große Fenster«, befahl er und trat auf den Balkon hinaus. Die Männer unten sahen ihn. Die Zuschauer am Straßenrand spendeten Beifall. O’Connell hob die Hand. Die marschierenden Männer blieben stehen, die Menge verstummte.

»Sind die Vierzig-Shilling-Freisassen Sklaven?« Seine Stimme donnerte vom Balkon und erfüllte die Straße. Die Männer schauten zu ihm auf, und als er ihre Blicke erwiderte, verströmte seine hünenhafte Gestalt wie durch Zauberei Stärke und Zuversicht. »Sind sie wie Neger, die man mit der Peitsche zum Sklavenmarkt treibt?« Seine Augen suchten jeden Mann. »Ich glaube das nicht.«

Callan runzelte die Stirn. Die Menge jubelte. Auch die Männer jubelten, aber es war ihnen anzumerken, dass sie Angst hatten. Offensichtlich hatte Callan ihnen gedroht. Stimmen aus der Menge riefen: »Los, Leute. Stimmt für die alte Religion.«

Stephen stach besonders ein Mann ins Auge. Ein großer, gut aussehender Bursche mit blauen Augen. Er hatte aus Respekt vor O’Connell die Mütze abgenommen, drehte sie aber, augenscheinlich von Zweifeln gequält, in den Händen.

O’Connell trat zurück. »Arme Teufel«, sagte er. »Der kleine Agent hat ganze Arbeit geleistet, wie man sieht.«

»Hat er ihnen mit Vertreibung gedroht?«, fragte Stephen.

»Nein. Er hat etwas noch Wirkungsvolleres getan. Er hat ihren Frauen gedroht.«

Die Männer wollten sich gerade wieder in Bewegung setzen, als sie abermals angehalten wurden, diesmal von einem Priester, der mit ihrem Auftreten offensichtlich unzufrieden war und beschlossen hatte, das Feuer ihrer Begeisterung zu schüren. »Das ist Father Murphy«, sagte Charles O’Connell. »Jetzt gibt’s was zu hören.« Er öffnete das Fenster wieder.

Father Murphy war ohne Frage eine eindrucksvolle Erscheinung. Groß, hager, mit langem weißem Haar, das ihm glatt auf die Schultern fiel, und Augen, die wie Kohlen glühten, funkelte er die Männer an wie ein alter Prophet und begann, ihnen auf Irisch eine flammende Rede zu halten.

***

William Mountwalsh war froh, dass er nach Ennis gekommen war. Er glaubte nicht, dass er die vollen fünf Wahltage bleiben würde, aber es war ein historisches Ereignis, und er würde jedem erzählen können, dass er dabei gewesen war.

Den jungen Stephen Smith fand er amüsant. Gewiss, der Junge war zynisch und hart, und er hielt das Leben für ein Spiel. Aber William hatte die Erfahrung gemacht, dass junge Männer um die zwanzig entweder zu idealistisch oder zu zynisch waren. Mit der Zeit würde er sich bessern.

Und seinen neuen Freund, den Quäker Tidy, mochte William erst recht.

Die Quäker bildeten in Dublin und Cork eine ziemlich rührige Gemeinde, deshalb hatte er sich gesagt, es sei an der Zeit, sie besser kennen zu lernen. Er musste zugeben, dass er aus ihnen nicht recht schlau wurde. Statt einen Gottesdienst abzuhalten, saßen sie in ehrfürchtigem Schweigen in ihren Bethäusern, und wenn sich einer dazu gedrängt fühlte, stand er auf und ergriff das Wort. Sehr merkwürdig. Doch ein paar Tage mit Tidy reichten, um den Earl tief zu beeindrucken. Der Quäker übte keine Kritik an anderen Konfessionen, und er versicherte William, dass seine Glaubensbrüder niemals versuchten, Andersgläubige zu bekehren. Samuel Tidy rechtfertigte nicht, er verurteilte nicht, er versuchte nur, seinen Nächsten in gottgefälliger Weise zu behandeln. Taten statt Worte, so schien sein Leitsatz im Alltag zu lauten.

Hier in Ennis merkte der Lord Tidy aber an, dass er ziemlich schockiert war, und er konnte es ihm nicht verdenken.

»Was ich hier sehe, gefällt mir nicht, Mr Tidy. Ihnen?«

»Wir Quäker glauben an etwas anderes.«

William nickte und schürzte die Lippen. Das Dumme war, dass er das alles schon einmal erlebt hatte. Er hatte miterlebt, wie die Französische Revolution in Terror und Diktatur mündete. Wie schnell der Unterdrückte zum Unterdrücker werden konnte. Seit seiner Kindheit unterstützte er die Emanzipation der Katholiken, und wenn die friedliche Armee O’Connells militant wurde, so war das weiß Gott verständlich. Doch wenn er sah, wie eine Phalanx von Priestern mit Spielleuten und wehenden Fahnen vor ihren Männern hermarschierte, meinte er eine Selbstgefälligkeit zu spüren, die ihm Unbehagen bereitete.

Vielleicht lag es am Alter, aber je älter er wurde, desto größer wurde seine Achtung vor dem Kompromiss. Aus seiner Sicht gingen diese Priester hier weiter als nötig. Gewiss, Reformen waren unumgänglich, aber zu Feindseligkeit bestand kein Grund. Mittlerweile unterhielt die britische Regierung zum Vatikan recht freundliche Beziehungen. In den Jahren, in denen Napoleon Europa beherrschte und die katholischen Monarchen bedrohte, war Rom froh gewesen, dass England ein Bollwerk gegen ihn gebildet hatte. Und als zwölf Jahre zuvor, nach Napoleons endgültiger Niederlage, auf dem Wiener Kongress Europa territorial neu geordnet wurde, waren es die Briten gewesen, die darauf bestanden, dass der reiche italienische Kirchenstaat an den Papst zurückfiel, wofür dieser den Briten bis heute dankbar war. O’Connell und die Gemeindepriester hatten zwar völlig Recht, wenn sie den Zehnten anprangerten, aber ihre Empörung über den Einspruch des Premierministers gegen die Ernennung von Bischöfen war unangebracht. Wie William aus zuverlässiger Quelle wusste, verständigten sich die britische Regierung und der Vatikan über die Besetzung der wichtigsten Kirchenämter zur beiderseitigen Zufriedenheit diskret hinter den Kulissen.

»Ich bin wie O’Connell für die Gleichstellung der Katholiken«, sagte er zu Tidy. »Und da ich nie für die Union war, würde ich auch die von ihm geforderte Aufhebung der Union unterstützen. Aber die Zeiten ändern sich, und man muss sehen, was praktikabel ist. Diese Militanz ist gefährlich.«

William Mountwalsh verbrachte gewöhnlich drei Monate im Jahr in London. Er genoss es, im britischen Oberhaus zu sitzen und sich über das aktuelle Geschehen auf dem Laufenden zu halten. Außerdem konnte man dort viel bewirken. Selbst Henry Grattan war dieser Meinung gewesen, denn er hatte die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens im Londoner Parlament zugebracht. Und trotz der Angst vor dem Katholizismus, die in der englischen Volksseele tief verankert war, wie er mittlerweile begriff, gab es im britischen Parlament und insbesondere unter den liberalen Whigs viele, die ehrlich bemüht waren, die Forderungen der irischen Katholiken zu erfüllen. Erst in diesem Frühjahr waren die Dissenter von den letzten rechtlichen Benachteiligungen befreit worden. Auf Dauer war es unvermeidlich, dass die Katholiken ähnlich behandelt wurden. Geduld war gefragt.

Doch was er hier sah, war Krieg. Ein Krieg zwischen Pächtern und Grundherren, ein Krieg zwischen Katholiken und Protestanten.

»Außerdem befürchte ich«, fügte Samuel Tidy jetzt hinzu, »dass das bei den Presbyterianern und Orangeisten die schlimmsten Befürchtungen wecken wird.«

»Wie Recht Sie haben«, pflichtete William bei. Seit seiner Jugendzeit hatten die Presbyterianer ihre Haltung völlig geändert. Damals strebten die meisten Presbyterianer in Ulster noch nach Unabhängigkeit von England und seiner Kirche, die sie zu Bürgern zweiter Klasse stempelten. Heute jedoch, da ihre Rechte gesichert waren, traten sie entschieden für die Union ein. »Vereint mit England und Schottland sind wir Teil der protestantischen Mehrheit«, erklärten sie. »Ohne England werden wir zu einer Minderheit in einem Meer irischer Papisten.« Und getrieben von dieser Angst schlugen ihre Prediger ähnlich scharfe Töne an wie in den Tagen Cromwells. Als sie vom Marsch der Priester und Pächter in Clare lasen, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen wach.

Und plötzlich musste William Mountwalsh voller Wehmut an die Tage seiner Jugend denken. Er sehnte sich nach den alten Patrioten oder den Männern von ’98, Männern wie Patrick Walsh oder den vortrefflichen jungen Robert Emmet. Sie alle hatte eine gemeinsame Vision verbunden, der Traum von einem freien Irland, in dem Katholiken und Protestanten, Presbyterianer und Deisten gleichberechtigt leben konnten. Es mochte idealistisch gewesen sein, aber es war ein hehres Ideal, und so etwas vermisste er heute.

***

Samuel Tidy stellte in diesem Augenblick ganz andere Überlegungen an. Er war zum ersten Mal im Westen. Er kannte Dublin und Leinster mit seinem fruchtbaren Ackerland oder die betriebsame Hafenstadt Cork. Er kannte Ulster mit seinen Gehöften, seiner Tuch- und Leinenindustrie. Aber den ländlichen Westen Irlands entdeckte er erst jetzt.

Wie war es möglich, so fragte er sich, dass die Menschen inmitten dieser großartigen Landschaft so arm waren? Wie konnten die Bürger von Ennis die schreckliche Verwahrlosung in den Elendsquartieren an den Zugangsstraßen der Stadt zulassen? Warum schämten sie sich nicht? Wie konnten die Grundherren, und nicht nur die, die in England lebten, sondern auch die anderen, die hier waren und alles sahen, Iren vom selben Blut, wie konnten sie als Christen zulassen, dass ihre Nächsten ein so kümmerliches Dasein fristeten, ohne etwas dagegen zu unternehmen? Und dann die Armen selbst. Wie konnten sie so fahrlässig sein, ständig Kinder in die Welt zu setzen, die im Elend aufwachsen mussten? Seine Quäker-Seele empörte sich gegen diese ungeheure Verantwortungslosigkeit.

Jetzt kam dieser unangenehme junge Politiker zurück. Samuel Tidy hatte mehr über Stephen Smith erfahren, als ihm lieb war. Aber er atmete tief durch und rief sich ins Gedächtnis, dass es ihm nicht zustand, über einen anderen Menschen zu richten.

***

Stephen gefiel diese verrückte Wahl. O’Connell hatte ihn auf einen Botengang geschickt, aber er hatte Lord Mountwalsh versprochen, wiederzukommen, und da er nur ein oder zwei Minuten bei ihm bleiben konnte, war er froh, dass er ihm etwas Amüsantes zu berichten hatte. Die Szene, die er soeben miterlebt hatte, war recht bemerkenswert gewesen. Denn die Rede, die Father Murphy gehalten hatte, war in ihrer Eindringlichkeit faszinierend gewesen.

»Er hat nur Irisch gesprochen«, berichtete er. »Die O’Connells mussten übersetzen, denn die meisten von uns aus Leinster können nicht genug Irisch. Als Erstes erinnert er sie an ihre Pflicht, und alle machen entsprechend ernste Gesichter, aber er ist sich nicht sicher, ob das zieht. Deshalb erinnert er sie an die vielen anderen, die so abstimmen, wie sie sollen, und dass ihre Kameraden sie zum Teufel wünschen werden, wenn sie ihnen in den Rücken fallen. Das beeindruckte sie sichtlich. Und dann kam das entscheidende Argument. Ob sie nicht wüssten, rief er und drohte ihnen mit seinen langen knochigen Fingern, dass einer von den Katholiken für den Protestanten gestimmt habe – und dass ihn der Schlag getroffen habe, kaum dass er die Wahlstube verlassen hatte? ›Gottes Strafe folgt auf dem Fuß‹, brüllte er. ›Darauf könnt ihr euch verlassen. Die Heiligen sehen zu und passen auf!‹ Es war Furcht einflößend. Ich habe selbst Angst bekommen.«

Der Earl lächelte gequält. Stephen kicherte. Aber Tidys Miene hingegen verfinsterte sich.

»Glauben Sie, dass da wahrhaftig ein Unglücklicher vom Schlag getroffen worden ist, oder gibt es den Mann gar nicht?«, fragte er ernsthaft.

»Du lieber Himmel«, rief Stephen. »Ich habe nicht die geringste Ahnung. Was spielt das für eine Rolle?«

»Ist es Ihnen gleich, ob etwas wahr oder gelogen ist?«, fragte der Quäker.

»Sie haben ja überhaupt keine teuflische Ader«, erwiderte Stephen, »sonst würden Sie es verstehen.«

»Das hoffe ich«, sagte Tidy ruhig.

***

Einige Zeit später, als Stephen durch die Straße ging, in der die Lokalzeitung Clare Journal ihre Geschäftsräume hatte, erblickte er den großen blauäugigen Mann, der ihm unter den Pächtern, denen Father Murphy seine flammende Rede gehalten hatte, aufgefallen war. Sie hatten alle für O’Connell gestimmt. Nun blieb abzuwarten, ob Callan, der Agent, sie von ihren Höfen vertrieb oder ob man ihn davon abhalten konnte.

Der große Mann stand vor einem kleinen Karren und schaute ernst drein. Neben ihm ein Mädchen, etwa zehn Jahre alt, blass, mit ernstem Gesicht. Der Mann hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt. Offensichtlich Vater und Tochter. Tröstete er sie oder sie ihn? Sie musste wissen, was er getan hatte.

Schade, dachte er, dass das Mädchen so hässlich ist.

* 1843 *

Es begann in aller Stille in Amerika. Ein Farmer aus der Gegend von New York nahm eines Tages seinen Kartoffelacker in Augenschein und merkte, dass etwas nicht in Ordnung war. Ein paar Kartoffelblätter hatten Flecken. Der Farmer wartete ein paar Tage. Noch mehr Blätter zeigten Flecken, und die anderen, die ihm zuerst aufgefallen waren, verdorrten. Die Stängel, aus denen sie sprossen, schienen ebenfalls befallen. Noch am selben Abend sprach er mit seiner Frau darüber, ob sie die kranken Pflanzen ausgraben oder früher ernten sollten.

Als er am nächsten Morgen aufs Feld ging, stieg ein fauliger Geruch von der Erde auf. Der Farmer grub sofort alle Pflanzen aus, die befallen aussahen. Als er mit der Arbeit fertig war, entzündete er ein großes Feuer und verbrannte die Kartoffeln, die er aus der Erde geholt hatte. Die Hälfte der Aussaat war noch im Boden.

Da er ein anständiger Mann war, ging er zu allen Nachbarn und dann in die Stadt, um sie vor der Fäule zu warnen und um zu hören, ob auch andere Schwierigkeiten hatten. Mehrere Farmer berichteten von ähnlichen Erlebnissen.

Einige Tage später entdeckte er wieder Flecken an den Pflanzen und sagte zu seiner Frau: »Besser, wir ernten sie alle. Retten wir, was noch zu retten ist.« Eine Vielzahl von Kartoffeln war befallen, und die verbrannte er wie zuvor die anderen. Etwa die Hälfte schien gesund zu sein, und die lagerte er in einer Kartoffelgrube ein.

Zehn Tage später untersuchte er die Knollen, die er gerettet hatte. Er nahm eine in die Hand und zerteilte sie mit dem Messer. Sie war verfault. Er probierte eine andere. Dasselbe. Auch jene Kartoffeln, die er für gesund gehalten hatte, waren ungenießbar.

***

Phytophthora infestans hieß der Pilz, von dem sie befallen waren. Aber woher kam er?

Niemand wusste es, aber wahrscheinlich war er in die Vereinigten Staaten eingeschleppt worden. Denn um einer Degeneration der Kartoffelsorten vorzubeugen, führten die amerikanischen Landwirte gewöhnlich neue Saatkartoffeln aus Peru ein. Manche Schiffe beförderten auch Guano, Vogelmist, der als Dünger verwendet wurde. Vermutlich hatte sich der Pilz auf einem dieser Schiffe vom Guano auf die Saatkartoffeln übertragen.

Nach dem ersten Auftreten in New York breitete sich das Übel mit verblüffender Schnelligkeit aus. Es griff auf New Jersey und Pennsylvania über. Bis 1845 sollte der Pilz den Mittleren Westen Amerikas erreichen.

Das Geschäft mit Saatkartoffeln war ein Dreieckshandel. Von Amerikas Ostküste wurden die Knollen nach Europa exportiert. Zu dem Zeitpunkt, als die Fäule den Mittleren Westen erreicht hatte, trat sie auch in Holland und Belgien und an der Südküste Englands auf.

 

»Sie haben The Wild Irish Girl nicht gelesen?« Lady Mountwalsh sah Dudley Doyle erstaunt an. Sie hatte geglaubt, jeder hätte das Buch gelesen.

Alle mochten Henrietta. Doyle schätzte sie auf fünfzig, doch die Engländerin, die William zur Frau genommen hatte, hatte immer noch etwas Mädchenhaftes. Und ihr Teint, dieser Pfirsichteint, mit dem sie Männern in jedem Londoner und Dubliner Salon den Kopf verdreht hatte, war immer noch frisch. Sie hatte porzellanblaue Augen und dralle kleine Brüste. Er beneidete Mountwalsh um sein Ehebett. Das Paar war miteinander glücklich und hatte gesunde Kinder großgezogen. Henrietta Mountwalsh mochte ein wenig einfältig sein, aber alles Böse war ihr fremd. Und sie schwärmte für alles Irische.

»Ein dunkler keltischer Typ wie Sie«, fuhr sie fort, »der so gut aussieht?«

»Wissen Sie, Henrietta«, erwiderte Dudley Doyle lächelnd, »auf Irisch bedeutet mein Name eigentlich ›dunkler Ausländer‹. Deshalb muss ich annehmen, dass meine Vorfahren Wikinger-Piraten waren, und keine irischen Helden.« Wikinger, die irische Frauen geheiratet hatten, in deren Adern das Blut nordfranzösischer Stämme und, wie die Legende berichtete, von Bewohnern der iberischen Halbinsel floss. Welche anderen Völkerschaften hatten ihre Spuren in diesem Blut hinterlassen? Normannen, Flamen, Waliser, Engländer auf alle Fälle. Und wahrscheinlich weitere Spanier. Sein kluger, etwas ruchloser Verstand stellte gern solche Überlegungen an. »Es ist schwer zu sagen, was ›keltisch‹ eigentlich bedeutet«, bemerkte Dudley Doyle.

Aber Henrietta wusste es. Es stand für die romantische Heldin aus Lady Morgans berühmtem Roman, die temperamentvolle Tochter des »Prinzen von Connaught«, die das Herz des voreingenommenen Engländers erobert und ihn lehrt, die irischen Tugenden zu lieben: Geist und Gelehrsamkeit, Tapferkeit und Edelmut. Es stand für die Reinheit der Seele, die sich aus den zeitlosen keltischen Quellen speiste. Es stand für Hibernia, das Land der Helden und Mythen, das magische Gegenstück zu den herberen Schönheiten Schottlands in den Romanen von Walter Scott.

Lady Morgans Roman hatte Irland in Mode gebracht. Selbstverständlich hatte Doyle ihn gelesen, aber es machte ihm Spaß, das Gegenteil zu behaupten und Henrietta zu necken. Und obwohl er dies alles für Unsinn hielt, so war der romantische Kelte der Literatur allemal ein Fortschritt gegenüber dem überlieferten Bild des Iren als einem im Moor hausenden Mörder und verschlagenen Papisten, diesem verunglimpfenden Zerrbild, das bis heute in den Karikaturen der Zeitschrift Punch oder auf den Seiten jeder englischen Zeitung weiterlebte.

»Das Essen ist ausgezeichnet«, fügte Dudley Doyle mit einem Lächeln hinzu. Jedes Mal, wenn er die Mountwalshs nach Wexford begleitete, zauberte Küchenchef Gaston aus den Erzeugnissen des Landguts ein köstliches Mahl.

Draußen brach die Nacht an. Bis zur magischen Zeit von Halloween, dem alten keltischen Festtag Samhain, waren es nur noch wenige Tage.

Doch so sehr er Henrietta auch mochte, Doyle war nicht ihretwegen gekommen. Er spähte über den Tisch zu Stephen Smith. Er hatte noch nicht viel mit ihm gesprochen, da der junge Mann erst am Nachmittag angekommen war und müde ausgesehen hatte. William Mountwalsh hatte ihm gesagt: »Stephen Smith ist ein Mann, den Sie, glaube ich, näher kennen lernen sollten. Obwohl ich natürlich weiß, wie schwer Sie zufrieden zu stellen sind.«

Während seine Vorfahren dem Kaufmannsberuf stets treu geblieben waren, hatte Dudley Doyle einen etwas anderen Weg eingeschlagen. Er sah nicht nur aus wie ein Country Gentleman, er sprach und dachte auch weitgehend wie einer. Er war Mitglied im Kildare Street Club, dem überwiegend Grundbesitzer angehörten. Doch obwohl er zwei Landgüter in Meath besaß, hatte er bis auf die Sommermonate immer in der Stadt gelebt, genauer gesagt in einem Haus an der See, das er sich in Sandymount im Süden der Dublin Bay gebaut hatte. Er nannte ein stattliches Vermögen sein eigen. Die vielen Häuser und Grundstücke in Dublin, die Barbara Doyle seinem Großvater vererbt hatte, befanden sich noch in seinem Besitz. Er war zur Hälfte an einer florierenden Weinhandlung beteiligt und bezog Pacht von drei großen Pubs. Und obwohl er in seinem Club, bei Pferderennen und als Gast in ihren Häusern mit der Gentry zusammenkam, zog er häufig die Gesellschaft von Wissenschaftlern und Gelehrten vor. Als Student am Trinity College hatte er eine klassische Bildung genossen. Doch seit vielen Jahren verbrachte er seine freie Zeit mit dem privaten Studium der politischen Ökonomie. Seit er zwei Jahre zuvor seine Frau verloren hatte, widmete er sich diesen Studien noch intensiver. Von Zeit zu Zeit, wenn er höflich darum gebeten wurde, hielt er sogar Vorträge über dieses Thema.

Als er Stephen Smith nun genauer in Augenschein nahm, sah er viel, was ihm nicht gefiel. Eine gewisse Nachlässigkeit in der Kleidung. Er selbst war in dieser Beziehung sehr heikel. Schade. Der Earl hatte gesagt, er sei arm, und Armut war in Dudley Doyles Augen immer ein Makel. Außerdem sei er amüsant. Aber worin bestanden seine rhetorischen Waffen? Sprach der Earl von einer bloßen Rednergabe, der breiten Klinge des derben Humors, den Capricen des vulgären Klamauks, der wie ein Gladiatorennetz über die Zuhörer geworfen wurde? Oder von etwas Kultivierterem, dem Rapier der Schlagfertigkeit, den er selbst mit großem Geschick zu führen verstand und schnell und tödlich ins Ziel brachte? Es blieb abzuwarten.

»Sie sind ein Mitstreiter Mr O’Connells, wie ich höre?«, fragte er Smith. »Darf ich daraus schließen, dass Sie ein Whig sind?«

Seit seiner erstaunlichen Wahl in Clare vor fünfzehn Jahren hätte Daniel O’Connell seine Trümpfe kaum besser ausspielen können. Die englische Regierung war über das Ergebnis so schockiert gewesen, dass sie den Vierzig-Shilling-Freisassen, Katholiken wie Protestanten, unverzüglich das Wahlrecht entzog und die Qualifikation so heraufsetzte, dass fortan nur noch die besser gestellten Bauern, der verlässlichere Teil, wählen durften. Doch sie musste nachgeben und Katholiken ins Parlament einziehen lassen. Der als Befreier gefeierte O’Connell hatte sein Hauptziel erreicht. Und bald danach, als die liberalen Whigs an die Macht gekommen waren, hatte er seine Chance gesehen. Er scharte eine große Gefolgschaft von sechzig irischen Abgeordneten um sich und schmiedete mit Geschick eine fruchtbare Allianz mit den Whigs. Er umgarnte ihre Führer persönlich und kam ihnen bei knappen Abstimmungen mit seinen sechzig Anhängern zu Hilfe, wofür sie ihm sehr dankbar waren. Die irischen Katholiken gewannen an Einfluss. »Wir tun für euch alles, was wir können«, versprach die Regierung. 1838, ein Jahr nach der Thronbesteigung der jungen Königin Viktoria, wurde sogar die leidige Frage des Zehnten gelöst. Vor allem aber wurden in den zehn langen Jahren der Whig-Regierung verständige Männer als Verwalter auf die Insel geschickt, wie etwa der Irland-Beauftragte Thomas Drummond, der das Land lieben lernte und den protestantischen Grundbesitzern unermüdlich ins Gedächtnis rief: »Eigentum hat Rechte, meine Herren, aber auch Pflichten.« Zwölf Jahre nach seinem Wahlerfolg in Clare konnte O’Connell sagen, dass seine Kompromisse mit den Whigs zu spürbaren Verbesserungen geführt hatten.

Hätte er es besser machen können? Sein zweites großes Ziel, die Aufhebung der Union mit England, war auf unbestimmte Zeit vertagt. Das ließ sich nicht bestreiten. Und einige seiner jüngeren Anhänger glaubten, dass der große Befreier zum politischen Schacherer herabgesunken sei. »Aber da die Regierung der Aufhebung ohnehin nicht zugestimmt hätte«, hatte O’Connell zu Stephen gesagt, »glaube ich, das Richtige getan zu haben.«

»Ich bin das edelste der Tiere, Sir«, antwortete Stephen jetzt auf Dudley Doyles Frage mit einem gequälten Lächeln. »Ich bin ein katholischer Whig.«

»Also für Reformen, aber auf dem Weg über das Parlament? Sind Sie denn bereit, sich in Geduld zu üben?«

»Ich bin ein politisch engagierter Mensch. Ich verabscheue Gewalt, genau wie O’Connell. Deswegen«, fügte er seufzend hinzu, »arbeite ich seit zwanzig Jahren für diesen Mann.«

»Und was, wenn ich fragen darf, gedenken Sie nun zu tun?«, fragte Doyle. »Nach Clontarf?«

Stephen schüttelte den Kopf.

»Mein Leben«, antwortete er traurig, »ist in eine Krise geraten.«

Seit drei Jahren blieb ihrer Strategie der Erfolg versagt. 1840 war Thomas Drummond gestorben, der britische Erfinder und Staatssekretär für Irlandfragen, und die Iren hatten ihn trauernd begraben. Im Jahr darauf waren die Whigs bei den Parlamentswahlen gescheitert, und die Tories hatten in London wieder die Macht übernommen. Was sollte O’Connell nun tun? Einige seiner jungen Anhänger nannten sich das »Junge Irland« und gaben sogar eine eigene Zeitung, The Nation, heraus. »Es wird Zeit, für die Aufhebung zu kämpfen«, erklärten sie, »mit allen Mitteln, wenn nötig.« Aber O’Connell war nicht gewillt, die Bewegung, die er aufgebaut hatte, aus der Hand zu geben. Er setzte sich selbst an ihre Spitze, und in diesem Jahr hatte er eine Kampagne mit Massenversammlungen und Sternmärschen in ganz Irland organisiert. Seine Monster Meetings stellten alles Bisherige in den Schatten. Zehntausende strömten zusammen, um den großen Befreier zu hören. Er sprach überall, in Leinster, Munster und Connacht, in Dublin und Wicklow, in Waterford und Wexford, Cork, Sligo und Mayo, in Ennis, wo er einst triumphiert hatte, und sogar an der alten königlichen Stätte Tara. »Wir werden die britische Regierung zwingen«, rief er, »uns Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und die Freiheit zu geben.« Aber die britische Tory-Regierung blieb hart. Die Monster Meetings sollten ihren Höhepunkt in der größten von allen Ver-Sammlungen finden. Sie war vor den Toren Dublins geplant, am Nordufer der Liffey-Mündung bei Clontarf, dort, wo achthundert Jahre zuvor Irlands heroischer König Brian Boru seine letzte Schlacht geschlagen hatte. Die Priester hatten die Reihen geschlossen, die Aktivisten der Bewegung mit ihren Fahnen standen bereit, und man rechnete damit, dass ein Großteil der Dubliner Einwohner kommen würde. Doch die Tory-Regierung hatte genug von den Protesten. »Sagen Sie die Versammlung ab oder Sie wandern ins Gefängnis«, warnte sie O’Connell.

Es war eine schwierige Entscheidung. Stephen Smith hatte an der Sitzung teilgenommen, bei der O’Connell mit einigen anderen darüber diskutierte. »Wir müssen uns an das Gesetz halten«, hatte der Befreier erklärt, »sonst geben wir alles auf, wofür wir stehen.« Also sagte er die Versammlung bei Clontarf ab. Stephen selbst hatte ihm zugestimmt. »In der Politik«, so erinnerte er die Anwesenden, »ist aufgeschoben nicht aufgehoben. Wir haben nur eine Schlacht verloren.« Aber nicht alle Anhänger O’Connells waren dieser Meinung, am wenigsten die Jungen Irländer. Sie redeten von Revolution, was Stephen für sinnlos und falsch hielt. Die Bewegung befand sich in einem Schockzustand. Stephen Smith selbst war tief enttäuscht. Und so war er wirklich dankbar gewesen, als er kurz darauf von Mountwalsh die Einladung erhielt, nach Wexford zu kommen und ein paar Tage zu bleiben. »Das könnte Sie aufmuntern«, hatte ihm Seine Lordschaft geraten.

»Von Krise würde ich nicht unbedingt sprechen«, sagte Dudley Doyle jetzt nicht unfreundlich. »Eher von einem Scheideweg.«

»Irland steht an einem Scheideweg, nicht ich«, erwiderte Stephen. »In den vergangenen zwölf Jahren konnten wir viel Gutes für das Land tun, doch angesichts der drängenden Probleme ist es immer noch wenig. Die Armut ist schrecklich.«

»Trösten Sie sich, Stephen«, sagte William Mountwalsh. »Hier in Leinster ist die Lage nicht so schlecht. Und vergessen Sie nicht: Englands Dauerkrieg gegen Napoleon war sehr gut für Irland, weil wir den Engländern viele Nahrungsmittel verkaufen konnten. Als er zu Ende war, machten wir uns Sorgen. Für die Rindfleischindustrie war der Frieden ein schwerer Schlag. Aber sehen Sie sich an, was geschehen ist«, fuhr er fröhlich fort. »Dank der neuen Eisenbahn in England können wir lebende Rinder in jeden Teil des dortigen Marktes verschicken, was uns vorher nicht möglich war. Es gibt mehr Menschen, deshalb haben die Getreidepreise ihr Niveau gehalten. Unseren Bauern geht es gut.«

»Für Wexford mag das stimmen«, erwiderte Stephen. »Aber ich kann Ihnen sagen, dass meine Familie und ihre Nachbarn oben in den Wicklow-Bergen gerade genug zum Überleben haben. Bei meinem letzten Besuch in Rathconan lebten dort doppelt so viele Menschen wie in meiner Kindheit. Sie haben erbärmlich kleine Kartoffeläcker auf kahlen Berghängen angelegt, wo früher nur Schafe weideten. Einige dieser Menschen sind bitterarm.«

»Das mag sein«, entgegnete Dudley Doyle, »aber sehen Sie sich Ulster an. Die Menschen dort haben kleine Höfe, aber es geht ihnen gut. Außerdem haben sie die Leinenindustrie und vieles andere mehr.«

»Ulster kenne ich so gut wie nicht«, gestand Stephen. »O’Connell reist ja nie dorthin. Die Presbyterianer haben in letzter Zeit so harte Töne angeschlagen, dass wir dort kaum willkommen sein dürften.« Er hielt inne. »Nein, ich denke vor allem an den Westen. An Clare, Galway, Mayo. Dort wird es immer schlimmer.«

»Ah ja, der Westen, das ist etwas anderes«, räumte Mountwalsh ein.

»Liegt das nicht an den bösen Grundbesitzern?«, fragte Henrietta. »Ich meine, wenn die Grundbesitzer so wären wie William …«

»Dann wäre es besser«, räumte Stephen höflich sein, »aber die Probleme sind so groß, dass auch die besten Grundbesitzer sie nicht lösen könnten. Ich weiß wirklich nicht, was wir tun sollen.«

William blickte in die Runde. Am Tisch saß eine fünfte Person, die sich an dem momentanen Gespräch noch gar nicht beteiligt hatte. An sie wandte er sich jetzt.

»Und was meinen Sie, Miss Doyle?«

Es war eigenartig, dass Dudley Doyles älteste Tochter – im Unterschied zu ihren beiden jüngeren Schwestern – noch nicht verheiratet war. Sie sah gut aus, und es war bekannt, dass ihr Vater ihr eine Rente von dreitausend Pfund ausgesetzt hatte. Sie war fünfundzwanzig, hatte eine ruhige, liebenswürdige Art, eine gesunde Gesichtsfarbe und schöne, intelligente braune Augen.

»Solche Dinge überlasse ich den Männern«, antwortete sie und lächelte.

»Oh, ich auch«, sagte Henrietta.

Doyle betrachtete seine Tochter neugierig. Warum zum Teufel sagte sie das? Stephen sah sie ebenfalls an, höflich und nur ein bisschen gelangweilt.

»Ich fürchte, ich enttäusche Sie, Mr Smith«, sagte sie.

»Aber nein, ganz und gar nicht«, erwiderte er, was natürlich nicht stimmte.

»Das eigentliche Problem ist doch«, ergriff William Mountwalsh das Wort, »dass wir auf unserer Insel zu viele Menschen zu ernähren haben. Nach Schätzungen der Regierung sind es mittlerweile weit über acht Millionen. Die Anbautechniken in der Landwirtschaft müssen deutlich verbessert werden, namentlich im Westen. Aber wie es scheint, ist Irland der lebende Beweis für die Theorie von Thomas Malthus, nach der sich die Menschheit stets schneller vermehrt, als die Nahrungsmittelproduktion wächst. Deshalb haben wir im Lauf der Jahrhunderte immer wieder Kriege gehabt.« Nun, da er das Gespräch wieder belebt hatte, wie es sich für einen guten Gastgeber gehörte, wandte er sich an Doyle. »Sie beschäftigen sich doch mit diesen Dingen, Dudley. Geben Sie uns eine Antwort.«

Doyle sah alle der Reihe nach an. Es störte ihn nicht, dass er ein Publikum hatte. Er wartete einen Augenblick.

»Die Antwort«, sagte er mit einem schwachen, selbstzufriedenen Lächeln, »lautet, dass an Irland durchaus nichts verkehrt ist.«

»Nichts verkehrt?« Stephen sah ihn ungläubig an.

»Überhaupt nichts«, bekräftigte der Ökonom. »Und es überrascht mich, Mr Smith, dass Sie als Whig – und Sie sagen ja, dass Sie einer sind – etwas anderes denken.«

»Wie meinen Sie das, Dudley?«, fragte Mountwalsh mit einem breiten Lächeln und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Als Whig«, sagte Dudley Doyle zu Stephen wie ein Anwalt, der im Gerichtssaal vor den Geschworenen das Wort an einen Zeugen richtet, »glauben Sie doch an den freien Handel, habe ich Recht?«

»Ja.«

»Sie sind nicht der Meinung, dass Regierungen intervenieren sollten, wie es die Briten früher gern getan haben, um leistungsschwache Bauern und Produzenten mittels Zöllen oder Handelsbeschränkungen zu schützen? Sie glauben doch an die Kräfte des freien Marktes – die auf lange Sicht immer das Beste sind?«

»Gewiss.«

»Genau damit haben wir es hier zu tun. Wir haben einen Bevölkerungsüberschuss in Irland. Gut. Das führt dazu, dass Arbeit billig wird. Das wiederum ist ein Anreiz für rührige Fabrikanten, Arbeiter einzustellen.«

»Das mag in Ulster so sein, aber nicht in Clare. Und die Menschen hungern.«

»Es ist nicht unbedingt schlecht, wenn Menschen hungern. Es zwingt sie, sich anderswo Arbeit zu suchen. Erleben wir das nicht momentan?«

»Arbeiter aus Clare schultern ihre Spaten und ziehen als Saisonarbeiter bis nach Leinster«, pflichtete Stephen bei, »oft sogar nach England.«

»Ausgezeichnet. Großbritannien profitiert davon, denn die Kosten für Arbeit sinken und die Iren haben zu essen.«

»Viele müssen das Land aber für immer verlassen«, sagte Stephen traurig, »und sind gezwungen, nach England oder Amerika auszuwandern.«

»Wissen Sie«, flocht Mountwalsh ein, »dass zu meinen Lebzeiten über eine Million Menschen diese Insel verlassen haben? Rund vierhunderttausend allein in den vergangenen zehn Jahren.«

»Hervorragend«, sagte Doyle und lächelte die beiden Männer an. »Die ganze Welt profitiert davon. In Irland gibt es zu viele Menschen? Schön und gut. Amerika braucht sie. Ein riesiger, reicher Kontinent, der Arbeitswillige benötigt. Dort können sie ihr Glück machen. Wo wäre Amerika denn ohne Irland? Wir müssen alles in einem größeren Zusammenhang sehen, meine Herren. Das vorübergehende Elend des irischen Bauern wird sich im Nachhinein als Segen erweisen. Daher kein Eingreifen in den Markt. Der Markt sorgt dafür, dass die Welt sich weiterdreht.«

»Aber dieser Prozess ist grausam«, sagte Stephen.

»Das ist die Natur auch.«

Eine nachdenkliche Pause trat ein.

»Ist es nicht faszinierend, ihnen zuzuhören?«, sagte Henrietta zu Caroline Doyle. »Ich glaube, es ist Zeit für das Dessert.«

***

William war entzückt, als Caroline Doyle ihn nach dem Essen bat, ihr seine Bibliothek zu zeigen. Schließlich war er es, der Doyle vorgeschlagen hatte, sie mitzubringen. Sie bewunderte seine Sammlung und entdeckte ein paar ihrer Lieblingsbücher. Sie wandte sich ihm zu und lächelte.

»Nun, Lord Mountwalsh, Sie haben mich doch eingeladen, damit ich ihn kennen lerne. Also, was für ein Mensch ist Stephen Smith?«

»Ich hätte Sie wohl kaum eingeladen«, antwortete er wahrheitsgemäß, »wenn das so leicht zu sagen wäre.«

Ihr Vater hatte der Sache nur zugestimmt, weil er, wie er dem Earl offen gestand, nicht mehr wusste, was er mit ihr anfangen sollte. Er selbst mochte sehr intelligent sein, doch konnte er nicht einsehen, wozu bei einer Frau scharfer Verstand gut sein sollte. Jedenfalls trug er nicht dazu bei, rasch unter die Haube zu kommen. Denn geistlose Herrschaften ohne eigenen Kopf langweilten Caroline Doyle sehr schnell.

»Stephen Smith ist mit Sicherheit interessant«, fuhr der Earl jetzt fort.

Und es wurde Zeit, dass er endlich heiratete. Er war schon fünfunddreißig. Noch ein paar Jahre, so sagte sich Mountwalsh, und der Mann war ein solches Gewohnheitstier, dass er niemanden mehr an seiner Seite ertrug. Außerdem war es an der Zeit, dass Stephen ein richtiges Zuhause bekam. Seit Jahren wohnte er möbliert.

William Mountwalsh kannte einige Männer von diesem Schlag. Männer, die vom täglichen Geschäft der Politik mit seinen Aufregungen, Ungewissheiten und nächtlichen Plaudereien so fasziniert waren – vom prickelnden Gefühl der Nähe zur Macht ganz zu schweigen –, dass sie Jahrzehnte in belebten Hinterzimmern und auf Korridoren zubrachten, ohne zu merken, dass das Leben an ihnen vorbeirauschte. Politik war eine Droge, wie er wusste, und Stephen war ein Süchtiger. Er musste gerettet werden.

Manchmal träumten Männer wie Stephen auch davon, selbst eine führende politische Rolle zu spielen. Ob Smith solche Träume hatte? Vielleicht. William hatte ein oder zwei Reden von ihm gehört. An Talent fehlte es ihm nicht, und er hatte eine besondere Ausstrahlung. Doch falls er davon träumte, selbst für einen Sitz im Parlament zu kandidieren, so war das wahrscheinlich illusorisch. Und er hatte noch eine andere Schwäche, eine, die typisch war für arme Männer: Er war stolz. »Stephen Smith würde alles tun, um dem Eindruck vorzubeugen, er sei käuflich oder bestechlich«, sagte er zu der jungen Frau, wobei er sich fragte, ob sie ihn verstand.

»Mag er Frauen?«

»Ja. Wenn er Zeit hat.« Er hielt inne. »Die Frauen mögen ihn.«

»Das denke ich mir. Er hat wunderschöne grüne Augen.«

»Tatsächlich? Ja, die hat er wohl.«

Viele Frauen fühlten sich zu Stephen hingezogen. Nach Williams Kenntnis hatte er mit mindestens zwei verheirateten Damen der Gesellschaft Affären gehabt, und eine hatte sogar mehrere Jahre gedauert. Dass Stephen wirklich mit dem Herzen dabei gewesen war, bezweifelte William allerdings. Vielleicht war er ein wenig egoistisch. Doch wenn sich ein Mann ohne Geld in diesen Kreisen bewegen wollte, was blieb ihm da anderes übrig, als mit den Frauen anderer Männer Affären einzugehen?

Waren es seine Augen, die auf die Damen so anziehend wirkten? Nicht allein. Aber dieser dunkelhaarige, gut aussehende Mann hatte etwas Magisches an sich, und wenn er sich für ein Thema begeisterte und darüber sprach, verströmte er eine faszinierende Leidenschaftlichkeit.

»Ich bin überzeugt, Sie werden Ihre eigenen Schlüsse ziehen«, sagte er. »Sie sollten mit ihm reden.«

»Keine Sorge.« Sie lächelte. »Das werde ich.«

 

Maureen war gut gelaunt, als Mr Callan vorbeikam. Sie wusste es nicht mit Gewissheit, aber sie hatte das Gefühl, dass er sie mochte. In den vergangenen zwei Jahren war er stets freundlich zu ihr gewesen und hatte nach den Kindern gefragt. Einmal hatte er im Vorbeireiten bemerkt, wie zwei von ihnen nach dem großen glänzenden Apfel schielten, in den er gerade beißen wollte. Schmunzelnd hatte er ihr den Apfel gereicht, damit sie ihn den Kleinen gab.

Heute hatte Callan nur nach ihrem Vater gefragt, und als sie sagte, dass er nicht da sei, hatte er erwidert: »Macht nichts, dann schaue ich später noch einmal vorbei.«

Der Himmel war klar, und die Herbstsonne schien. Nach den vielen verregneten Tagen im Sommer stimmte das sonnige Wetter sie fröhlich.

Wenn sie über ihr Leben nachdachte, war sie recht zufrieden mit sich. Sie wusste, wie sehr die Familie sie brauchte. Es war jetzt zwei Jahre her, dass ihre Mutter gestorben war, nachdem sie den kleinen Daniel zur Welt gebracht hatte. »Kümmere dich an meiner Stelle um ihn«, hatte die Mutter zu ihr gesagt. Als die älteste Tochter hätte sie ihr ohnehin bei den Kindern helfen müssen, und Gott sei Dank war sie nicht verheiratet.

Sie hatte für vier Kinder zu sorgen. Die beiden ältesten hatten bald nach dem Tod der Mutter das Haus verlassen. Norah hatte geheiratet und war mit ihrem Mann nach England gezogen. Dann war William zusammen mit seinem Onkel, dem letzten noch hier lebenden Bruder Eamonns, nach Amerika ausgewandert. Aber die jüngeren waren noch da: Nuala, die jetzt fünfzehn war, Mary und Caitlin, die acht und zehn waren, und schließlich der kleine Daniel, der wegen der Umstände seiner Geburt für sie fast wie ein eigenes Kind war. Sie ging davon aus, dass sie sich, sofern ihr Vater nicht wieder heiratete, noch zwölf Jahre oder länger um ihn würde kümmern müssen, bis er alt genug war, sich selbst durchs Leben zu schlagen. Es sei denn natürlich, sie heiratete selbst, aber das war unwahrscheinlich. Sie war jetzt vierundzwanzig.

»Leider bist du keine Schönheit, Maureen«, hatte ihre Mutter sie vor Jahren gewarnt. »Aber vielleicht wird dich einer heiraten, weil du ein so gutes Herz hast.«

 

Ihr Vater kam am frühen Nachmittag nach Hause. Callan schaute etwa eine Stunde später wieder vorbei. Die Neuigkeit, die er brachte, war sehr einfach.

»Mir liegt ein Angebot für dieses Land vor. Zu einem höheren Pachtzins. Ich bin hier, um zu fragen, ob Sie mir ein vergleichbares Angebot machen möchten.«

»Höher? Wie viel höher?«, fragte Eamonn Madden.

»Ungefähr das Doppelte von dem, was Sie momentan bezahlen. Allerdings hätte ich Ihre Pacht schon längst erhöhen müssen, nur …«

»Das Doppelte?« Eamonn war verblüfft. »Unmöglich. Wer kann sich das leisten?«

»Es ist der Bauer, der das übrige Land hier gepachtet hat. Er will nicht darauf leben, damit wir uns richtig verstehen. Er will das Haus abreißen und überall Getreide anbauen. Er wird schon einen kleinen Profit machen, sonst hätte er mir das Angebot nicht unterbreitet.«

»Aber das ist unser Land. Die Maddens leben schon immer hier.«

»Machen Sie mir ein Angebot.« Callan wirkte sehr ruhig. »Aber es muss dem anderen schon nahe kommen.« Ob dies die späte Rache für die Clare-Wahl war? Möglich. Aber wahrscheinlich hatte es rein geschäftliche Gründe.

»Eigentum hat Rechte, Mr Callan«, sagte Eamonn und deutete auf seine Kinder. »Aber es hat auch Pflichten.«

»Thomas Drummond, der Euch das immer vorgebetet hat, ist tot.«

»Ich brauche etwas Bedenkzeit.«

»Ich gebe Ihnen eine Woche«, sagte Callan ruhig und ritt davon.

Drei Tage lang betrachteten sie und ihr Vater die Angelegenheit von allen Seiten. Konnten sie einen anderen Hof finden? Unmöglich, denn wie sie bald feststellten, wurde der Pachtzins, der Callan angeboten wurde, auch von anderen Grundherren verlangt. Es schien kein Ausweg in Sicht. Doch Eamonn wollte sich einfach nicht damit abfinden. Der Gedanke, sein Land zu verlieren, war ihm unerträglich.

Am vierten Tag nahm Maureen Madden die Sache in die Hand und fuhr mit ihrem Wagen nach Ennis.

***

Sie würden dort sehr glücklich werden, sagte sie zu den Kindern. Und in der Tat hatte sie alles gut vorbereitet.

Das längliche, aus drei Zimmern bestehende Cottage gehörte zu den besseren der rund sechshundert vergleichbaren Katen, die es in und um Ennis gab. Die Lehmwände waren dick und trocken, und das Strohdach war dicht. Und Maureen hatte beim Eigentümer eine Jahresmiete von nur vierzig Shilling herausgehandelt. Nachdem sie das Vieh zu einem guten Preis verkauft hatten, konnten sie Eamonns Schulden bezahlen und hatten sogar noch etwas Geld übrig. Das Geld kam ihnen sehr gelegen, denn als sie ein Stück Conacre-Land oder mock ground, wie man hier in der Gegend sagte, pachten wollten, um Kartoffeln für den Eigenbedarf darauf anzubauen – das war Ackerland, das einem nur für eine Erntesaison überlassen wurde –, erfuhren sie, dass sie die Pachtgebühr im Voraus entrichten mussten.

»Das höre ich zum ersten Mal, dass man im Voraus bezahlen muss«, hatte Eamonn gemurrt. Aber in diesem Jahr konnte der Agent darauf bestehen.

Jetzt musste Eamonn nur noch Arbeit finden.

In den folgenden Monaten lernten sie Ennis näher kennen. Den Kindern gefiel es hier. Die Stadt mochte schmutzig und unansehnlich sein, aber es herrschte immer reges Treiben. Der kleine Platz vor dem Gerichtsgebäude war gewöhnlich voll von Verkaufsständen und Straßenhändlern, die alle erdenklichen Dinge feilboten. Und obwohl anscheinend niemand den Wunsch verspürte, die Stadt sauber zu halten, waren Verbesserungen nicht zu übersehen. So waren in den vergangenen zehn Jahren eine Anzahl öffentlicher Gebäude errichtet worden. Manche wirkten zwar ziemlich unfreundlich, wie etwa das neue Fieberspital. Und noch abstoßender war das düstere Arbeitshaus im Norden der Stadt, das man für eine Kaserne oder ein Gefängnis hätte halten können. Doch anlässlich der Thronbesteigung der jungen Königin Viktoria hatte man auch eine recht schöne neue Steinbrücke gebaut, und in dem Jahr, als sie in die Stadt zogen, war die ganze Gemeinde, Katholiken wie Protestanten, zusammengekommen, um auf einem großen Grundstück neben dem Zeitungshaus der Grundsteinlegung einer katholischen Kathedrale beizuwohnen, die eines Tages der gesamten Region als Gotteshaus dienen sollte.

Andere Teile der Stadt mied man besser. Gleich auf der anderen Straßenseite begann das Labyrinth von Gässchen, die zum River Fergus hinunterführten. Maureen hatte Mary und Caitlin eingeschärft, dass sie diesem Viertel fernbleiben sollten. Zwar hatte sie nie gehört, dass Kinder dort zu Schaden gekommen wären, aber sie wusste, dass in den Türeingängen der bunt gemischte Haufen der Stadthuren seine Dienste anbot und dass sich dort Bettler herumtrieben, die, wenn sie betrunken oder zornig waren, Menschen mit Knütteln bedrohten.

Maureen war es wichtig, dass sie, ihr Vater und ihre jüngeren Geschwister als anständige Leute galten. Im Umland lebten ungefähr vierzig Familien, die man der örtlichen Gentry zurechnen konnte. Ebenfalls als Arbeitgeber in Frage kamen die besser gestellten Kaufleute in der Stadt, eine Handvoll Angehörige der freien Berufe und einige andere wie Mr Knox, der Besitzer des Clare Journal. Als Maureen und ihr Vater Nuala in die Häuser mehrerer dieser Leute begleiteten, wo sie Arbeit als Hausangestellte suchte, freute sich Maureen, als sie zufällig hörte, wie einer der Gentlemen zu seiner Frau sagte: »Die Maddens? Anständige Bauernfamilie. Nimm sie auf jeden Fall.« Nuala fand eine Stelle bei einem Kaufmann in einem sehr gediegenen Haus in der Nähe des Clare Journal, keine Meile von ihrer Kate entfernt.

Der gute Ruf der Familie half auch Eamonn. An manchen Tagen arbeitete er auf einem Gut der örtlichen Gentry. An anderen ging er ein paar Meilen nach Süden zu dem kleinen Flusshafen, wo Getreide in Richtung Shannon-Mündung verschifft wurde. Sie hatten immer ein paar Ersparnisse, die sie sorgsam hüteten. Manchmal, wenn Eamonn ein, zwei Wochen lang keine Arbeit fand, mussten sie in diesen kleinen Schatz fassen. Dann gab es Zeiten, in denen sie ihn wieder auffüllen konnten.

So richteten sie sich in ihrem neuen Leben ein. Maureen führte den Haushalt, unternahm mit dem kleinen Daniel Spaziergänge und spielte mit ihm. Außerdem unterrichtete sie Mary und Caitlin, damit sie wenigstens lesen und schreiben lernten. Einmal in der Woche kam Nuala nach Hause und teilte ihren Lohn mit ihnen. Sie erblühte zu einer hübschen jungen Frau mit schlanker Figur und schönen blauen Augen. Der Vater war sichtlich stolz auf sie. Zudem hatte sie einen erfrischenden Humor und brachte die Familie mit Klatschgeschichten zum Lachen, die sie in der Stadt aufgeschnappt hatte. Mary und Caitlin waren begeistert. Maureen hätte gern gewusst, wie es Norah in England und William und Eamonns Bruder in Amerika ging. Sie schrieb Norah an die einzige Adresse, die sie von ihr hatte, erhielt aber keine Antwort. Von William war nie ein Brief gekommen. »Er wird schreiben, wenn er etwas Erfreuliches zu berichten hat«, beruhigte ihr Vater sie. Wenn die kleineren Kinder nach den beiden fragten, antwortete sie: »Es geht ihnen gut.«

Im folgenden Frühjahr und Sommer herrschte wieder feuchte Witterung. Bauern, die ihre Kartoffeln nachlässig eingelagert hatten, mussten feststellen, dass ein Teil in der Feuchtigkeit verfault war. Draußen auf dem Land kam es zu weiteren Vertreibungen, denn Agenten wie Callan taten sich nach zahlungskräftigeren Pächtern um. Viele Menschen klagten, weil sie keinen mock ground mehr bekamen, um Kartoffeln anzubauen. Ein in England lebender Grundbesitzer namens Wyndham spendete der Kommune einhundertundfünfzig Morgen, damit sie kostenlos Parzellen zur Verfügung stellen konnte. »Allerdings«, so kommentierte ihr Vater, »besitzt er in Clare siebenunddreißigtausend Morgen und lässt es sich in England gut gehen. Er kann es sich also leisten. Auf der anderen Seite«, setzte er hinzu, »hat er immerhin geholfen. Von unserer lokalen Gentry hat kein Einziger etwas getan.«

Im Herbst ereignete sich ein unerfreulicher Vorfall. Mr Callan kam vorbei. Er machte sich nicht einmal die Mühe, vom Pferd zu steigen, sondern sprach Eamonn vor dem Cottage an. Maureen stand daneben.

»Waren Sie draußen, auf Ihrem alten Hof?«, fragte der Agent. Und als Eamonn verneinte: »Können Sie das beweisen?« Der Bauer, der ihr altes Haus abgerissen hatte und jetzt die Madden-Felder bewirtschaftete, hatte Besuch bekommen. Unbekannte hatten eine Torfmiete in Brand gesteckt und mitten auf seinem Land ein Grab ausgehoben. Zur Warnung. Solche Gesten waren im Zusammenhang mit Vertreibungen nicht ungewöhnlich. »Deshalb habe ich an Sie gedacht«, sagte Callan.

»Das sei Ihnen unbenommen«, erwiderte Eamonn gelassen. »Aber sagen Sie mir eines: Gibt es noch andere Leute, deren Land er übernommen hat?«

»Ja, mehrere. Er ist ein guter Bauer«, fügte er boshaft hinzu.

»Dann sollten Sie besser an die denken. Ich war nicht einmal in der Nähe.«

»Das werde ich«, erwiderte Callan. »Aber Sie stehen auf meiner Liste.«

»Sorge macht mir nur«, sagte Eamonn später, als der Agent fort war, zu seiner Tochter, »dass er meinen Ruf ruinieren könnte.«

Callan tat anscheinend nichts dergleichen, aber in den folgenden Monaten strömten unablässig Männer, gute, kräftige Bauern wie Eamonn, die sich die steigenden Pachtgebühren nicht mehr leisten konnten, nach Ennis, sodass die Arbeitssuche immer schwieriger wurde. Im Frühjahr und Sommer 1845 beobachtete Maureen mit einer gewissen Sorge, dass der kleine Geldvorrat, den sie aufbewahrte, allmählich schrumpfte und selten, wenn überhaupt, wieder aufgefüllt wurde.

Doch sie bewahrte ihre heitere Miene. Mary und Caitlin schienen unzertrennlich und hatten ständig Unfug im Kopf. Maureen tat so, als ob sie ihnen böse sei, aber insgeheim freute sie sich über ihre Lebhaftigkeit. »Ihr seid zwei Satansbraten, und ich schäme mich für euch«, pflegte sie ihnen nachzurufen, wenn sie lachend davonrannten, um im Fluss einen Fisch zu fangen oder den leidgeprüften Nachbarn einen Streich zu spielen. Was den kleinen Daniel – dem der Vater aus Verehrung für Daniel O’Connell diesen Vornamen gegeben hatte – anging, so hatte er die blauen Augen seines Vaters und hellbraunes Wuschelhaar. Maureen hatte sorgfältig drei oder vier Spielkameraden für ihn ausgesucht und machte sich ein Vergnügen daraus, ihn überallhin mitzunehmen. Die meisten Leute hielten sie für seine Mutter.

Im August ernteten sie die Kartoffeln auf ihrem Acker und konnten einen guten Vorrat anlegen, der bis zum Dezember reichen würde. Die Haupternte würde im Oktober erfolgen, und schon Anfang September sprachen die Leute von einer bevorstehenden Rekordernte.

Mitte des Monats berichtete das Clare Journal über einige Fälle von Kartoffelfäule. Doch dies konnte auch eine Folge falscher Lagerung sein. Erst am letzten des Monats kam ihr Vater mit besorgter Miene nach Hause: »Einige von den Bauern, die nach Ennis kommen, sprechen von einer Seuche«, sagte er zu Maureen und ging sofort hinaus auf ihren Acker, um nachzusehen. »Sie sind anscheinend alle in Ordnung«, sagte er, als er wiederkam.

***

Mitte Oktober eröffnete Caroline Doyle dem verdutzten Stephen Smith, dass sie einen anderen heiraten würde. Zuerst konnte er es nicht fassen.

»Wer ist es?«

»Ein Professor. Ein Mann der Wissenschaft.«

»Ein Wissenschaftler? Das ist ein Riesenfehler. Wissenschaftler sind schrecklich langweilig.«

»Er nicht, wie ich finde.«

»Du würdest besser daran tun, mich zu heiraten.«

»Das glaube ich nicht, Stephen. Es tut mir leid.«

Er und Caroline hatten sich blendend verstanden. Er hatte ihr zwar noch keinen Heiratsantrag gemacht – dafür war es noch zu früh gewesen –, aber irgendwie hatte zwischen ihnen ein stilles Einvernehmen bestanden. Dessen war er sich sicher. Der Haken, so dachte er, war O’Connell gewesen.

Der Befreier hatte das monster meeting bei Clontarf abgesagt, aber der Tory-Regierung hatte das nicht genügt. »Er ist zu weit gegangen, das wird zu einem Aufstand führen«, ließ sie verlauten und steckte ihn ins Gefängnis. Dort blieb er sechs Monate, bis das oberste britische Berufungsgericht das Urteil gegen ihn aufhob. In dieser Zeit musste Stephen für O’Connell in London alle möglichen Dinge erledigen und sah Caroline deswegen nur selten. Nach seiner Rückkehr machte er ihr weiter den Hof. Aber er hatte sie nicht so oft sehen können, wie er es sich gewünscht hätte, denn es gab immer ein politisches Geschäft der einen oder anderen Art, um das er sich kümmern musste.

»Ich hätte ihn lieben können«, sagte sie zu William Mountwalsh, »und er hätte wohl auch mich geliebt, aber eben nur, wenn er Zeit gehabt hätte.«

»Sie meinen, er hat es an Zuneigung fehlen lassen?«, fragte er.

»Nein«, antwortete sie, »aber er denkt in erster Linie an sich.« Sie lächelte. »Manchmal ist er wie ein Kind, was ich liebenswert finde. Aber … eben nicht genug.«

Der Wissenschaftler war ein Freund von Williams Bruder, ein Gentleman von fünfunddreißig Jahren mit einem besonderen Interesse für die Astronomie. Sie hatte ihn bei einem Besuch in Parsonstown kennen gelernt, dem Landgut einer mit Talenten gesegneten Familie. Lord Ross war selbst ein bedeutender Astronom.

Wie sehr er Caroline begehrte, erkannte Stephen erst, als er sie verloren hatte.

Eine Woche nach ihrer Trennung schrieb er eine Reihe von Gedichten über sie, mit mehr Leidenschaft als Talent. Danach war er ziemlich deprimiert.

Überzeugt, dass Stephen ein Tapetenwechsel gut tun würde, schickte ihn der Befreier unter dem Vorwand, er möge seinem Cousin Charles O’Connell bei der Niederschrift einiger politischer Abhandlungen helfen, Anfang Dezember nach Ennis.

 

Stephen hatte gehört, dass es dort Ausfälle bei der Kartoffelernte gab. Charles O’Connell, das kleinere und dunklere Abbild des großen Mannes und immer bestens unterrichtet, schilderte ihm bei seiner Ankunft die Lage.

»Der Westen Irlands ist stärker betroffen als andere Landesteile. In Clare ist fast die Hälfte der Ernte verloren, und in Ennis ist es am schlimmsten. Aber das Unglück schlägt nicht überall gleich zu. Selbst hier in der Grafschaft Clare sind einige Landstriche vollkommen verschont geblieben.«

»Ist es eine Seuche?«

»Wahrscheinlich. Vielleicht war es auch zu feucht. Manche Kartoffeln scheinen völlig in Ordnung, wenn sie aus dem Boden kommen, und verfaulen erst danach. Wir gehen davon aus, dass wir hier in Ennis im Frühjahr Hilfe aus Dublin brauchen werden.« Er zuckte mit den Schultern. »Solche Dinge passieren in Clare von Zeit zu Zeit.«

Eine etwas andere Einschätzung bekam Stephen ein paar Tage später zu hören, als der Inhaber des Clare Journal zum Dinner kam. Mr Knox war ein protestantischer Tory, der wie ein sauertöpfischer presbyterianischer Geistlicher aussah. Aber seine Familie, der die Zeitung seit mehreren Generationen gehörte, war in der Gegend beliebt.

»Die hiesige Gentry ist zu nichts zu gebrauchen, und der Vizekönig in Dublin ist ein selbstgefälliger Esel«, schimpfte Knox. »Gestern sah ich sechs Wagen mit Getreide zu den Quais rollen. Für den Export. Das müsste man verbieten. Spätestens im März brauchen wir hier jeden Sack Mehl, den wir kriegen können.«

»Aber was ist mit den Bauern?«, fragte Charles. »Die müssen ihr Korn doch verkaufen.«

»Selbstverständlich. Dann muss man ihnen dasselbe bezahlen, was sie von den Händlern im Hafen bekommen. Und zwar heute. Sonst muss man im Frühjahr Importweizen kaufen, und bis dahin wird die Verknappung die Preise noch höher getrieben haben.«

»Manche Leute bestreiten, dass es eine Verknappung geben wird.«

»Das sind Narren.«

»Um was für eine Art von Krankheit handelt es sich denn?«, fragte Stephen.

»Ein gewisser Doktor Evens schreibt, es sei ein Pilz«, antwortete Knox. »Aber genau weiß das niemand, Mr Smith.«

Da Stephen aus Dublin kam und politische Verbindungen hatte, brannte der Zeitungsbesitzer darauf, seine Ansichten an den Mann zu bringen. Am Tag nach dem Dinner arbeitete Stephen zusammen mit seinem Gastgeber an einem Essay. Doch am übernächsten Tag holte ihn Knox mit seinem Einspänner zu einer Fahrt in die Umgebung ab.

»Die Lebensmittelverknappung ist nämlich auch eine Chance«, sagte er zu Stephen, als sie aus Ennis hinausfuhren. »Sehen Sie sich diese Leute an.« Er deutete auf die Katen und Hütten am Straßenrand. »Kräftige Männer, die Arbeit suchen. Was soll aus ihnen werden, wenn ihr kleiner Kartoffelvorrat aufgebraucht ist? Sie haben kein Geld, um sich etwas zu essen zu kaufen.«

»Was schlagen Sie vor?«

»Man muss ihnen Arbeit geben. Löhne zahlen. Nichts anderes wollen sie. Man muss ihnen Gelegenheit geben, sich nützlich zu machen.«

»Gibt es denn Arbeit für sie?«

»Aber verehrter Sir, Sie sind seit mehreren Tagen hier und stellen mir eine solche Frage? Hier gibt es allerhand zu tun. Ich werde es Ihnen zeigen.« Man musste den Elan des Verlegers einfach bewundern. »Wie Sie sehen, ist ein Teil der Straße hier ausgebessert worden. Die neue Steinbrücke, über die wir soeben gefahren sind, ist ausgezeichnet. Aber wir brauchen dringend eine neue Straße von Ennis nach Quin. Man soll sie bauen. Und dann der River Fergus. Zurzeit wird alles, was auf dem Markt in Ennis an Getreide, Butter und Vieh verkauft wird, unter unnötigen Zusatzkosten mit Flussbooten zu den Quais ein paar Meilen weiter südlich transportiert. Man könnte den Fluss ohne weiteres bis Ennis schiffbar machen und hier neue Quais bauen, zum Wohle der Stadt.«

»Sie sprühen ja vor Ideen.«

»Keineswegs. Alle diese Vorschläge liegen schon seit Jahren auf dem Tisch. Nur werden sie nicht in die Tat umgesetzt. Wussten Sie, dass bereits Baupläne für ein neues Gerichtsgebäude vorliegen? Das alte ist so renovierungsbedürftig, dass ein Neubau vernünftiger wäre. Das wäre ein weiteres sinnvolles Projekt, das nur darauf wartet, in Angriff genommen zu werden. Die neue Kathedrale – das Grundstück hat übrigens ein Protestant gespendet – muss fertig gestellt werden. Gewiss, das ist kein öffentliches Bauvorhaben, aber man könnte Spenden sammeln. Aber bis zu meinem Lieblingsprojekt ist es noch ein Stück.« Er fuhr noch eine gewisse Strecke nach Norden, dann hielt er den Einspänner in einer Biegung an und deutete auf die Landschaft vor ihnen. »Da, Sir«, sagte er triumphierend, »was halten Sie davon?«

Stephen blickte nach Norden, aber er sah nur ödes Marsch- und Sumpfland, das sich meilenweit hinzog. Im Dezemberlicht wirkte es trostlos und unendlich traurig.

»Das da?«

»Ein Sumpf der Verzweiflung, könnte man meinen«, sagte Knox. »Aber darunter liegt das Paradies.«

»Sie meinen, Sie wollen ihn trockenlegen?«

»Genau. Der Boden unter den Marschen, Mr Smith, ist sehr fruchtbar. Fast so gut wie Corcass. Ein riesiger Vorrat. Hier könnte man genug Getreide für ganz Ennis anbauen.« Er seufzte. »Was Sie hier sehen, Mr Smith, ist sinnbildlich für Irland: ein Land der ungenutzten Naturschätze.«

»Unser Land ist reich«, pflichtete Stephen bei.

»Und unser Volk, Sir. Die Iren lernen schnell, sind intelligent und arbeiten hart. Das englische Vorurteil, sie seien begriffsstutzig und faul, ist eine böswillige Verleumdung. Das Gegenteil ist wahr. Doch was haben wir hier in Clare? Menschliche Arbeitskräfte, so ungenutzt wie dieser Sumpf, und unnötigerweise in einem ebenso beklagenswerten Zustand.«

»Ich nehme an, Sie nutzen Ihre Zeitung als Sprachrohr für Ihre Forderungen, Mr Knox«, sagte Stephen, als sie später nach Ennis zurückfuhren.

»So wie ich diese Ideen in gedruckter Form verbreite, so schreibe ich auch direkt an die Dubliner Stellen, Mr Smith«, antwortete Knox, »und ich werde nie aufgeben.«

Mitte des Monats besuchte Mr Wilson, der berühmte Phrenologe, die Stadt und stellte in der Church Street seine Dienste zur Verfügung. Die besseren Leute waren von ihm fasziniert. Anhand einer gründlichen Untersuchung der Schädelform eines Menschen vermochte er ein exaktes und wissenschaftliches Bild seines Charakters und seiner Geistesgaben zu erstellen. »Da er fünf Shilling verlangt«, bemerkte Charles O’Connell, »was fünf oder sechs Tageslöhnen eines einfachen Arbeiters entspricht, werden wir nie etwas über den Charakter der Armen erfahren. Aber ich finde, Sie und ich sollten es probieren, Stephen.«

Nur widerstrebend ließ sich Stephen dazu überreden, in Mr Wilsons Stuhl Platz zu nehmen. Der Gentleman untersuchte ihn mittels Maßbändern, Greifzirkeln, Schrauben und Betasten und verkündete schließlich: »Wussten Sie, Sir, dass Sie einen außergewöhnlichen Wohltätigkeitshöcker haben?«

»Der muss mir seit meiner Kindheit gewachsen sein«, erwiderte Stephen trocken.

Ungefähr eine Stunde später, als er allein durch die Stadt streifte, begegnete er der jungen Frau. Sie stand vor dem Gerichtsgebäude. Drinnen gab ein weiterer Besucher der Stadt, der Kinderstar Miss Heron, eine Vorstellung. Stephen hatte eigentlich nicht dorthingehen wollen, aber er wusste, dass der Saal ausverkauft war, auch die billigen Plätze auf der Galerie für die Armen.

Die junge Frau war blass und unscheinbar und hielt einen kleinen Jungen an der Hand. Da Stephen nichts Besseres zu tun hatte, blieb er stehen und fragte sie, was sie hier mache.

»Meine Schwester hat Karten für die Vorstellung gekauft, Sir«, antwortete sie. »Meine Vater und meine Schwestern sind mit ihr drin. Es ist eine Weihnachtsüberraschung.«

»Wollten Sie selbst nicht hinein?«

»Sie hatte nur vier Karten, Sir. Ich warte gern hier draußen mit meinem kleinen Bruder.«

Er fragte sie, woher sie komme, und sie erzählte ihm kurz ihre Geschichte.

»Es tut mir leid, dass Sie Ihr Land verloren haben«, sagte er.

»Es gibt viele wie uns«, erwiderte sie. »Und uns geht es noch recht gut, nicht wahr, Daniel?«, sagte sie und schenkte dem kleinen Jungen ein freundliches Lächeln.

Sie gefiel Stephen, obwohl sie nicht hübsch war. Sie hatte etwas Natürliches und Gutherziges an sich.

»Ich wünsche Ihnen mehr Glück im neuen Jahr«, sagte er und ging weiter.

Einige Zeit später stand er am Fenster in Charles O’Connells Haus und sah das Mädchen und ihre Familie die Straße entlanggehen. Hatte er den großen Mann, der ihr Vater sein musste, nicht schon irgendwo gesehen? Möglich. Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber er hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Gesichter. Ihm war, als hätte er ihn an jenem denkwürdigen Tag vor ein paar Jahren in der Menge gesehen, die zur Wahl marschiert war und der Father Murphy eine flammende Rede gehalten hatte. Ihre Schwestern machten einen recht lebhaften Eindruck. Besonders eine fiel ihm auf. Ein ungewöhnlich hübsches junges Ding. Er sah ihr nach. Es war wirklich verblüffend, dass eine solche Schönheit die Schwester eines so unscheinbaren Mädchens sein konnte.

Am Nachmittag des ersten Weihnachtsfeiertags sagte Charles O’Connell: »Bevor wir essen, muss ich dem Arbeitshaus einen Besuch abstatten, Stephen. Wie wär’s, wenn Sie mich begleiten und sich das Haus ansehen?«

Das Arbeitshaus. Allein schon der Name konnte einem einen Schrecken einjagen. Es war eine englische Einrichtung, ein Zufluchtsort für jene, die ohne Arbeit waren und nicht mehr für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten. Geleitet wurde es von einem Verwaltungsrat, dem vor allem Gentlemen aus der Gegend angehörten. Das Gebäude lag im Norden der Altstadt und bot einen abschreckenden Anblick, aber O’Connell schien stolz darauf zu sein. »Es ist neu«, erklärte er, »und im Unterschied zu vielen solchen Häusern ist es sauber.«

Sie traten durch ein großes Backsteintor in einen großen Hof. Es hätte auch eine Kaserne oder ein Gefängnis sein können. Links und rechts sah Stephen die verschiedenen Flügel des Gebäudes.

Vielleicht lag es nur daran, dass es ein trüber Tag war, aber der ganze Ort erschien ihm trostlos: trostlos die Türen und Fenster, trostlos die Mauern, trostlos auch das dunkle Schieferdach, das sich unter einem blinden Himmel neigte.

»Es wird streng nach englischem Vorbild geführt«, erläuterte ihm Charles. »Strikte Trennung. Männer, Frauen und Kinder werden voneinander ferngehalten. Gleich bei der Ankunft trennt man Männer von ihren Frauen und Mütter von ihren Kindern und schickt sie in verschiedene Blöcke. Man gibt ihnen gerade so viel zu essen, dass sie am Leben bleiben, nicht mehr.«

»Das ist grausam. Ich frage mich, warum hier überhaupt jemand bleiben will.«

»Das ist ja der Gedanke dabei. Auf Anordnung des Verwaltungsrats soll der Aufenthalt so unangenehm wie möglich bleiben. Da Kost und Logis frei sind, würde sonst halb Ennis versuchen, hier unterzukommen, und man würde die Leute nie wieder loswerden. Glauben sie jedenfalls.«

Er seufzte. »Sie dürften nicht ganz Unrecht haben.«

Doch einmal im Jahr, an Weihnachten, wurden die strengen Regeln des Arbeitshauses gelockert und alle Insassen zu einem gemeinsamen Weihnachtsessen zusammengebracht.

Der Saal war groß. Die Insassen, mehrere hundert an der Zahl, waren überwiegend Männer, mit deutlich weniger Frauen und nur ein paar Kindern. Sie machten einen recht zerlumpten, aber sauberen Eindruck und saßen an langen, auf Böcke gestellten blanken Tischen. Während Stephen sich umsah, erschienen mehrere Mitglieder des Verwaltungsrats und zwei Geistliche, ein protestantischer und ein katholischer. Der Direktor sprach ein paar Worte des weihnachtlichen Trostes und gab den Befehl, ein Hoch auf die Königin auszubringen, dem pflichtschuldig nachgekommen wurde. Dann wurde das Essen aufgetragen, bestehend aus Fleisch, Kartoffeln und Kohl, was insofern vielleicht tröstlich war, als es bewies, dass hier in Ennis noch reichlich Nahrung vorhanden war, notfalls sogar für die Ärmsten der Armen.

Zu Beginn des neuen Jahres, als seine schriftstellerische Arbeit getan war, kehrte Stephen nach Dublin zurück. Der Aufenthalt in Ennis war sehr aufschlussreich gewesen – und er hatte ihn ein wenig vom Verlust Carolines abgelenkt. Aber er hatte ihm keinen Seelenfrieden gebracht. Ganz im Gegenteil. Sein Leben hatte den Sinn, den es gehabt zu haben schien, verloren, und er wusste nicht, was er tun sollte.

***

Stephen war ziemlich überrascht, als er im März einen Brief von Mr Knox erhielt. Wen dieser nimmermüde Gentleman einmal in seinen Fängen hatte, den ließ er offenbar so schnell nicht wieder los. Doch obwohl Stephen in Dublin sehr viel zu tun hatte, musste er oft daran denken, was er in Ennis gesehen hatte. Nachdem er den Brief gelesen hatte, war ihm klar, warum ihm der Zeitungsbesitzer geschrieben hatte. Und da er noch am selben Tag Lord Mountwalsh sehen sollte, nahm er den Brief mit.

Das große Haus am St. Stephen’s Green war stets ein gastlicher Ort, doch heute war dort nur eine kleine Gesellschaft versammelt, darunter auch Dudley Doyle, der Stephen nun, da seine Tochter unter der Haube und vor ihm sicher war, ausgesprochen freundlich behandelte.

William Mountwalsh blickte amüsiert, als Stephen erzählte, dass er einen Brief von Mr Knox bekommen habe. »Ach, Sie kennen ihn?«, fragte Stephen.

»Wir alle kennen Mr Knox«, antwortete der Earl schmunzelnd. »Aber lassen Sie hören, was er zu berichten hat.«

Stephen las vor.

 

Die Lage in Ennis ist so, wie ich es vorausgesagt habe, wenn nicht noch schlimmer. Die ersten Versorgungsengpässe traten im Februar auf, und mit der Verknappung stiegen die Preise. Der übliche Preis für einen Vierzehn-Pfund-Sack Kartoffeln auf dem Markt beträgt zwei Pennys, aber jetzt liegt er bei fünf. Daran haben die Armen schwer zu tragen. Bisweilen sind überhaupt keine Kartoffeln zu bekommen, zu welchem Preis auch immer. Im Arbeitshaus sind sie ausgegangen, daher versucht man jetzt, billiges Importgetreide zu kaufen. Andere haben versucht, verdorbene Kartoffeln zu essen. Auch im Fieberspital gab man Patienten verdorbene Kartoffeln, mit dem Resultat, dass jetzt viele unter Darmerkrankungen leiden.

Die Regierung hat die Vertreter der Krone in jeder Grafschaft angewiesen, Hilfskomitees einzusetzen, aber das alles geht viel zu schleppend vonstatten.

Unser Magistrat hat die Geduld verloren und die Sache jetzt selbst in die Hand genommen. Nach geltendem Recht ist er befugt, Beschäftigungsprogramme zu beschließen, deren Kosten zu einer Hälfte von der Regierung getragen und zu anderen Hälfte durch einen staatlichen Kredit gedeckt werden, den wir als Gemeinde später zurückzahlen müssen. Die Programme beschränken sich bislang auf einige Straßenbauarbeiten und andere einfache Projekte, allerdings hoffe ich, dass wir später eines der Vorhaben, über die wir bei Ihrem Besuch gesprochen haben, in Angriff nehmen können. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat meiner Schätzung nach nur jeder vierte Arbeitssuchende eine Beschäftigung.

Darüber hinaus haben wir in Ennis ein Hilfskomitee gebildet. Die meisten Bürger, die ihm angehören, sind Freunde von Ihnen, womit ich sagen will, dass sie Anhänger O’Connells sind. Deshalb hat ein Großteil der hiesigen Gentry darauf verzichtet, sich uns anzuschließen. Ich bin mit Sicherheit der einzige protestantische Tory im Komitee. Außerhalb von Ennis ist unsere Gentry allerdings bemüht, Arbeit und Auskommen zu schaffen, und man bittet um Spenden. Aber all diese Bemühungen sind Flickwerk und entbehren einer vernünftigen Planung. Auf den Gütern in England lebender Grundbesitzer sind die Zustände gewöhnlich schlimmer. In einer Gemeinde sind zweitausend Seelen ohne jede Nahrung.

Erstaunlich ist, dass es bislang so wenige Unruhen gegeben hat. Dies dürfte teilweise auf die schlechte Witterung zurückzuführen sein, denn es war kalt und feucht; erst neulich haben wir Schnee bekommen.

Es ist schwer zu verstehen, wie unsere Regierung gegen das Leid ihrer Bevölkerung so gleichgültig sein kann.

 

Stephen hob den Kopf und blickte zu William Mountwalsh.

»Warum ist die Regierung so gleichgültig? Übertreibt Knox?«

»Oh nein«, antwortete der Earl. »Ich bin überzeugt, dass er die Wahrheit sagt. Aber unser Freund Knox verwechselt Gleichgültigkeit mit gezielter Politik. Ich habe gestern mit jemandem in der Burg gesprochen. Die Regierung zögert Hilfsmaßnahmen so lange wie möglich hinaus. Aus einem einfachen Grund. Weil sie die Leute vor Ort nur so dazu zwingen kann, Verantwortung für ihre eigenen Angelegenheiten zu übernehmen. Nehmen Sie Ennis. Knox ist eine rühmliche Ausnahme, aber die anderen Bürger und die örtliche Gentry haben wiederholt gezeigt, dass sie keinen Finger für die Stadt rühren, bis ihnen nichts anderes mehr übrig bleibt.« Er lächelte. »Das liegt wohl in der menschlichen Natur. Ich bin sicher, dass ich nicht annähernd so viel tue, wie ich sollte, weil ich nicht muss.«

»Er arbeitet sehr hart«, protestierte Lady Mountwalsh.

»Überall in Irland erwarten die Grundbesitzer, dass ihnen die Regierung aus der Patsche hilft. Und das wird die Regierung nicht tun.«

»Aber sie kann die Menschen doch nicht einfach verhungern lassen.«

»Nein. Und Knox wird auch bekommen, was er wünscht. Die Regierung wird eingreifen. Aber die Menschen vor Ort müssen die Last schultern und Verantwortung übernehmen.«

»In welcher Form?«

»Mehr oder weniger so, wie Knox es will. In Form umfangreicher öffentlicher Bauvorhaben. Als Argument führt man ins Feld, dass es verkehrt wäre, arbeitsfähigen Menschen Geld zu schenken. Es verwöhnt sie und untergräbt ihre Selbstachtung. Sie sollen für alle Zuwendungen arbeiten. Aber er hat Recht, wenn er sagt, die Lebensmittelpreise seien zu hoch. Deshalb wird man die Preise wohl mit Subventionen niedrig halten müssen.«

Dudley Doyle sog hörbar die Luft ein. Der Ökonom schüttelte den Kopf.

»Vorsicht, meine Herren«, rief er. »Vorsicht. Sie können billige Nahrungsmittel einführen wie etwa Maismehl. Sie können auch das Angebot erhöhen, um die Preise zu drücken. Aber subventionieren Sie niemals Nahrungsmittel. Die Versuchung ist groß, aber Sie dürfen es nicht tun. Damit schädigen Sie den Markt. Das wäre der falsche Weg.« Er wandte sich an Stephen. »Sie sind doch ein Whig. Ich zähle auf Ihre Unterstützung.«

»Ich weiß nicht«, sagte Stephen.

 

Der schlimmste Moment, so dachte Maureen, war der am St. Patrick’s Day gewesen. Sie hatten von dem Mann gehört, der mittags ermordet worden war.

Es war direkt vor der Stadt geschehen. Niemand schien zu wissen, wer es getan hatte, doch andererseits war auch niemand sonderlich überrascht. Der Mann war ein Agent, und jedem war bekannt, dass er Pächter vertrieben hatte.

Maureen konnte nicht begreifen, wie Menschen so grausam sein konnten. In einer Zeit, in der alle zu leiden hatten, wurden immer noch Bauern von Haus und Hof verjagt. Ihr Vater indes schien sich damit abzufinden. »Wegen der Verknappung können die Agenten noch höhere Pachtzinsen für das Land herausholen, und die Bauern, die ganz auf Kartoffeln setzen, können unter Umständen überhaupt keine Pacht bezahlen.« Er seufzte. »So ist das nun mal. Wenn der Grundherr darauf besteht, einen möglichst hohen Gewinn einzustreichen, kann man dem Agenten eigentlich keinen Vorwurf machen.«

»Ich schon«, sagte Maureen.

Und dieser Ansicht waren aller Wahrscheinlichkeit nach auch einige der vertriebenen Pächter, denn der Mann war tot am Straßenrand liegen gelassen worden.

Maureen hatte mit ihrem Vater auf dem Marktplatz vor dem Gerichtsgebäude gestanden, als sie Callan bemerkte. Er saß auf seinem Pferd, und es sah so aus, als sei er gerade angekommen. Ihr fiel auf, dass er sehr blass war. Er stierte auf das Pflaster, und er schien Selbstgespräche zu führen. Dann hob er den Kopf und ließ den Blick über den Marktplatz wandern. Er entdeckte die Maddens und starrte zu ihnen herüber. Maureen erwiderte seinen Blick und sah zu ihrer Überraschung, dass seine Augen voller Angst waren.

Er konnte es nicht verbergen. Er hatte Angst. Sie begriff, was er denken musste. Würde ihr Vater oder jemand wie er ihn im Frühjahr ermorden und am Straßenrand liegen lassen? Sie wusste ganz genau, dass ihr Vater so etwas niemals tun würde, aber wenn der kleine Callan jetzt Angst hatte, umso besser. Er sollte ruhig leiden. Sie schlug die Augen nicht nieder, sondern hielt unerschrocken seinem Blick stand. Und dann, als er begriff, dass sie ihn herausforderte, wich die Angst in seinen Augen langsam einem Ausdruck des Hasses.

Etwas später, als sie auf dem Nachhauseweg waren, ritt der Agent, von hinten kommend, an ihnen vorbei. Dabei drehte er sich um und warf ihrem Vater einen bösen Blick zu, der zu sagen schien: »Ihr wollt meinen Tod, aber ich töte euch zuerst.«

Noch lebhafter erinnerte Maureen sich an jenen anderen Moment, später zu Hause. Es war kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Draußen kam ein eisiger Wind auf, und die Kinder drängten sich um das Torffeuer, doch ihr Vater war in den Vorratsraum am anderen Ende des Cottage gegangen. Er hielt eine Laterne in der Hand und betrachtete ihren geschrumpften Kartoffelvorrat, der an der Wand auf einem Haufen lag. Als der Lichtschein auf sein breites Gesicht fiel, bemerkte sie, wie tief seine Sorgenfalten waren. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Er nickte, sagte aber nichts. Dann sah er sie an.

»Die wollte ich eigentlich noch verwenden«, sagte er ruhig. »Ich habe es dir nicht erzählt, aber ich kenne einen Mann, der ein Feld hat. Ich spreche nicht von mock ground, wo man dafür bezahlen muss, dass man ein bereits bepflanztes Feld ernten darf. Er würde mir erlauben, es selbst zu bepflanzen und zu ernten wie mein eigenes.« Er deutete auf die Kartoffeln vor ihnen. »Das sollten die Saatkartoffeln sein. Aber ich traue mich nicht, es zu tun, Maureen, denn ich weiß nie, ob ich Arbeit bekomme, und die Preise auf dem Markt … Um die Wahrheit zu sagen, es macht mir Angst. Deshalb werden wir diese Kartoffeln nicht pflanzen, sondern essen. Du musst zusehen, dass sie uns so lange wie möglich reichen.« Er schüttelte den Kopf, und dann sagte er mit einer Stimme, in der sich Trauer und Verbitterung die Waage hielten: »Und das ist Irland am St. Patrick’s Day.«

Am nächsten Tag rückte eine Kompanie des 66. Regiments in Ennis ein, um die Gentry, die nach dem Mord nervös geworden war, zu beruhigen.

Ein paar Tage später begann es zu schneien.

Im Vergleich zu vielen Nachbarn hatte Eamonn Madden noch Glück. Er gehörte zu den dreihundert Männern, die man für lokale Bauarbeiten ausgewählt hatte. Colonel Wyndham hatte aus England sechshundert Pfund für die Ausbesserung der Straßen in Ennis geschickt. »Davon kann man zwei Monate lang dreihundert Männer bezahlen«, betonte ihr Vater. Dann, als es zu schneien aufhörte und wieder etwas milder wurde, leiteten die Behörden in Dublin erste Hilfsmaßnahmen in die Wege. Annähernd fünfhundert weitere Arbeiter fanden bei öffentlichen Bauarbeiten Beschäftigung, aber Mr Knox’ ehrgeizige Projekte schob man unentwegt auf die lange Bank.

Auf dem Markt stieg der Kornpreis weiter. Wie aus dem Süden bekannt wurde, war in der Shannon-Mündung ein Getreideschiff von hungernden Einheimischen geplündert worden.

Eines Tages ging ihr Vater am Morgen zu Arbeit und kam schon vor Mittag wieder. Er sah betroffen aus.

»Man hat die Löhne gekürzt. Die Jungs verweigern die Arbeit.«

»Aber der Lohn betrug doch nur zehn Pennys pro Tag. Das ist nicht mehr als ein Almosen.«

»Ich weiß. Und jetzt sollen es acht Pennys sein. Aber die Jungs werden nachgeben müssen. Ich habe Mr Knox getroffen, und der hat zu mir gesagt: ›Wir haben kein Geld, um sie zu bezahlen.‹«

Ihr Vater sollte Recht behalten. Die Männer nahmen für acht Pennys täglich die Arbeit wieder auf. Nach dem ersten Tag fragte ihn Maureen, ob es Ärger gegeben habe.

»Eigentlich nicht«, antwortete er. »Nur einmal kam eine feine Dame vorbei und sagte, sie könne nicht verstehen, warum wir die Straße so verunstalteten.«

Der Lohn reichte nicht, um eine Familie zu ernähren, zumal alles teurer wurde. Doch ein paar Tage später bekam Maureen etwas Maismehl, das das Hilfskomitee hatte kaufen können und zu einem herabgesetzten Preis verkaufte. Es war von schlechter Qualität, dachte sie, aber es hielt Leib und Seele zusammen.

Und so taumelte die Stadt Ennis vom Frühling in den Sommer.

Die Kaufleute in der Stadt halfen, wo sie konnten, doch die örtliche Gentry tat zum größten Teil nichts. Alle waren auf einem Tiefpunkt angelangt. Aber für viele in Ennis schien Hoffnung in Sicht, aus zwei Gründen.

Die erste Kartoffelernte rückte näher. Viele hatten ihre Saatkartoffeln während der Lebensmittelverknappung verzehrt, aber es waren genug gepflanzt worden, um eine anständige Frühernte zu gewährleisten. Eamonn hatte sich erneut ein Stück mock ground gesichert, das er ernten konnte. »Nur noch ein paar Wochen«, munterte er die Familie immer wieder auf, »und das Schlimmste ist überstanden.«

Auch die politische Entwicklung gab Anlass zur Hoffnung. Seit seinem Rückzieher bei Clontarf und seinem kurzen Gefängnisaufenthalt hatte man wenig von Daniel O’Connell gehört. Gerüchten zufolge ging es ihm gesundheitlich nicht gut. Doch das Junge Irland trat weiter für die Aufhebung der Union ein, und wenn gegenwärtig auch keine Aussicht bestand, dieses Ziel zu verwirklichen, so ließ der Traum von einem freien Irland die Herzen doch immer noch höher schlagen.

Im Juni wurden die Torys in London wieder von den Whigs aus der Regierungsverantwortung gedrängt. Waren die Whigs nicht Verbündete des Befreiers? Hatten sie einem katholischen Irland nicht immer wohlwollend gegenübergestanden? Die Jungen Irländer jubelten. Ganz Irland, sofern es katholisch war, hoffte auf bessere Zeiten. Obwohl die Hilfsfonds aufgebraucht waren und alle hungerten, schien die Sommersonne Anfang Juli zu Hoffnungen zu berechtigen.

Es war an einem warmen Tag in der dritten Juliwoche, als Maureen und ihr Vater zu ihrem Acker hinausgingen. Sie waren tags zuvor schon draußen gewesen, um nach ihren Kartoffeln zu sehen, nachdem die furchtbare Neuigkeit die Runde gemacht hatte. Jetzt starrten sie schweigend auf den Acker.

Sie sahen eine weite Fläche von schwarzen Blättern, die einen widerlichen Gestank verströmten, sodass sie sich am liebsten abgewendet hätten. Und ringsum auf den anderen Feldern überall das gleiche Bild.

***

Er traf an einem klaren Novembertag in Ennis ein. Es war ausschließlich Mountwalshs Verdienst, dass er hier war.

»Ganz und gar nicht«, hatte der freundliche Earl ihm versichert, als er ihm gedankt hatte. »Sie waren nur allzu froh, Sie zu kriegen, Stephen. Ihr guter Ruf eilt Ihnen voraus, und ich habe sie daran erinnert, dass Sie ein loyaler katholischer Whig sind, was in meinen Augen ja auch stimmt. Der neuen Regierung hat das gefallen, sehr sogar. Ein vernünftiger Mann, habe ich ihnen gesagt, dem gewisse gefährliche Tendenzen bei den Jungen Irländern missfallen. Und ein glänzender Organisator. Ich habe keine Zweifel, dass Sie erfolgreiche Arbeit leisten werden.«

Zumindest war es eine Abwechslung. Gegen Ende des Sommers hatte Stephen Smith nämlich von der Politik genug gehabt. Jedenfalls für eine Weile. Nicht einmal die Rückkehr der Whigs an die Macht hatte sein Interesse wiederzubeleben vermocht. Hatte er in all den Jahren irgendetwas Nützliches vollbracht? Nein, hatte er nicht. Seinem alten Chef O’-Connell ging es nicht gut. Er konnte nichts mehr für ihn tun. Und die Jungen Irländer mochte er nicht – da hatte William Mountwalsh völlig Recht. Sie meinten es gut, zumindest einige, aber ihre Disziplin ließ zu wünschen übrig. Einige wollten wie einst Robert Emmet einen Aufstand anzetteln. Das war aussichtslos. Und gefährlich. Sie würden untergehen und andere mit sich reißen, genau wie Emmet seinerzeit.

Doch dann hatte er wieder einen Brief von Mr Knox, dem Inhaber des Clare Journal, erhalten, und der hatte ihn auf eine Idee gebracht. Der Inhalt des Briefs hatte ihn schockiert, und als Knox ihm die Organisation schilderte, die jetzt in Ennis ins Leben gerufen wurde, hatte er plötzlich die Chance gewittert, etwas wirklich Nützliches zu tun.

Deshalb war er jetzt hier, als einer von mehreren Aufsehern des neuen Beschäftigungsprogramms, das Ennis vor dem Hunger retten sollte. Sein direkter Vorgesetzter war Mr Hennessy, der Oberaufseher für die Region, und sie beide unterstanden einem energischen Marineoffizier, der unter dem Namen »der Captain« bekannt war und die Verantwortung für die gesamte Grafschaft trug. Charles O’Connell hatte ihm freundlicherweise ein Zimmer in seinem Haus angeboten, aber er hatte ihm nicht zur Last fallen wollen, und so hatte ihm Charles eine Unterkunft in der Nähe besorgt.

Hennessy suchte ihn am nächsten Morgen auf. Der groß gewachsene, freundliche und sympathische Herr setzte ihn mit wenigen Worten über den Umfang der Projekte ins Bild. »Ich persönlich glaube«, sagte er, »dass wir bis zum Jahresende fünfzigtausend Männer in dieser Grafschaft beschäftigen werden.« Stephen sollte mehrere Projekte in Ennis leiten, und Hennessy machte ihn mit den Vorschriften bekannt. »Die sind unbedingt einzuhalten«, warnte er. »Die neue Regierung will gute Arbeit leisten, aber hart durchgreifen.« Ob es irgendwelche besonderen Probleme gebe, von denen er wissen sollte, fragte Stephen. »Nun ja«, antwortete Hennessy zögernd, »ehrlicherweise muss man wohl sagen, dass wir immer noch einen kleinen Rückstand aufzuholen haben. Bevor wir anfangen konnten, gab es eine kleine …«, er suchte nach einem passenden Wort, »… Verzögerung.«

Was das bedeutete, erfuhr Stephen am Nachmittag, als er bei Mr Knox im Journal vorbeischaute. Wie gewohnt rief Knox nach seinem Einspänner und unternahm mit ihm eine kurze Stadtrundfahrt. Die Veränderung gegenüber seinem letzten Besuch war erschütternd. Wo er beim vorigen Mal zerlumpte Kinder und besorgte Gesichter gesehen hatte, sah er nun bis zum Gerippe abgemagerte kleine Geschöpfe und Frauen mit stierem Blick.

»Diese Menschen sind nicht arm, sie verhungern.«

»Manche ja, andere nicht. Einige sind schon gestorben.«

»Aber wieso?«

»Ganz einfach. Die Kartoffelernte im Juli und August ist ausgefallen. Und wenn ich ausgefallen sage, meine ich damit, dass jede Kartoffel, die auf den Markt kam, verfault war. Auf keinem einzigen Acker, in keinem Garten in ganz Ennis wurde auch nur eine einzige genießbare Kartoffel geerntet. Der Gestank der verfaulten Felder lag über der Stadt wie über einer offenen Pestgrube. Was ich damit sagen will, Smith: Nach den monatelangen Entbehrungen haben die Menschen in Ennis keinerlei eigene Nahrungsmittel produziert. Unglücklicherweise fiel das alles in die Zeit eines Regierungswechsels. Und Sie wissen, wie das ist, wenn eine neue Regierung an die Macht kommt. Nichts, was vorher getan wurde, kann richtig sein.«

»Ja und?«

»Nun ja, sie hat natürlich die Hilfekomitees aufgelöst. Es wurde nichts getan. Bis in den Oktober hinein. Die Menschen halfen sich gegenseitig, um nicht zu verhungern, aber in den abgelegenen Dörfern sind die Alten und Kranken weggestorben. Wir haben so ausführlich wie möglich berichtet, aber man erfährt nicht immer alles rechtzeitig. Auf jeden Fall gab es viele Tote.«

»Das wird sich jetzt ändern.«

»Tatsächlich? Und wie? Wollen Sie staatliche Bauprojekte durchführen?«

»In großem Umfang.«

»Und werden Sie Nahrungsmittel subventionieren?«

»Ich glaube nicht.«

»Natürlich nicht. Das würde ja den Markt schädigen, und das ist in den Augen eines Whigs ein verabscheuungswürdiges Verbrechen.«

Stephen dachte an Dudley Doyle.

»Das leugne ich nicht«, gestand er.

»Die Preise für die knappen Nahrungsmittel sind in ungeahnte Höhen geklettert, deshalb wird der Lohn, den Sie den vielen tausend Männern zahlen, nicht ausreichen, um eine Familie zu ernähren. Die Männer werden arbeiten und trotzdem hungern, Mr Smith.« Er sah Stephen ernst an. »Ich bin nur ein Tory, Sir. Sie sind ein Whig, ein Freund der irischen Katholiken. Das ist Ihre Regierung. Warum ist Ihre Regierung so dumm?«

»Das kann ich nicht beantworten.«

»Aber ich, Sir. Das starre Festhalten an politischen Grundsätzen ist mit der völligen Unkenntnis der lokalen Verhältnisse eine unselige Verbindung eingegangen. Das Kind, das aus dieser Verbindung hervorgehen wird, ist eine Hungerkatastrophe in einem Ausmaß, wie wir sie noch nie erlebt haben.«

»Das liegt nicht in ihrer Absicht. Die Whigs wollen nur das Beste.«

»Selbstverständlich wollen sie nur das Beste«, schrie der Zeitungsinhaber. »Das ist ja das Schlimme. Die gegenwärtigen Führer der Whigs sind Reformer, sie haben das Wahlrecht erweitert, sie haben versucht, den Katholiken zu helfen. Sie wollen nicht nur das Beste, sondern sind auch von der Richtigkeit ihres Handelns überzeugt. Deshalb werden sie nicht zuhören. Das ist die eigentliche Tragik.« Er machte nur eine Pause, um Luft zu holen. »Was ist das schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Smith?«

»Vorsätzliche Grausamkeit, würde ich sagen.«

»Und Sie würden damit falsch liegen. Es ist nicht die Grausamkeit, nicht der böse Vorsatz. Sondern die Dummheit.«

»Und warum erzählen Sie mir das?«, fragte Stephen.

»Damit Sie daraus lernen«, sagte Knox. Dann fuhr er ihn zurück.

In den folgenden Tagen kniete sich Stephen in die Arbeit. Offenbar gab es einen neuen Plan, der vorsah, alle paar Tage Leute zu beschäftigen. Einige Projekte waren sinnvoll, wie etwa der Bau eines anständigen Abwassersystems für Ennis. Aber bei den meisten handelte es sich um überflüssige Straßenarbeiten, deren Haupteffekt darin bestand, dass sie die Zufahrtswege in die Stadt blockierten. Einmal empfahl er Hennessy, ein Stück Brachland urbar machen zu lassen. Es gehörte einem älteren Bauern, der selbst nicht mehr die Kraft dazu hatte. »Dann könnte er dort wenigstens Getreide anbauen und die Kornvorräte aufstocken«, schlug Stephen vor. Aber Hennessy schüttelte den Kopf. »Wie können Sie so etwas vorschlagen, Stephen? Das ist Privatland. Die Erschließung wäre reproduktive Arbeit, denn das Korn, das dort angebaut wird, gehört dem Bauern und kommt auf den Markt. Wir würden privaten Profit schaffen und in den Handel eingreifen. Das geht nicht. Nur öffentliche Projekte, mein Junge, so nutzlos sie auch sein mögen.« Also blieb das Stück Land ungenutzt.

Er war seit zehn Tagen hier, als er Zeuge eines merkwürdigen Vorfalls wurde. Er beobachtete eine Gruppe von etwa fünfzig Männern, die damit beschäftigt waren, die Seitenstreifen der Straße, die zu den Quais führte, zu säubern. Die Arbeit kam nur im Schneckentempo voran, aber einige Männer sahen so schwach und unterernährt aus, dass es grausam gewesen wäre, sie zu größerer Eile anzutreiben, und da die Arbeit ohnehin ziemlich sinnlos war, bestand dazu auch kein Grund.

Ein mit Getreide beladener Wagen rumpelte die Straße herunter, die zu den Quais führte. Die Arbeiter beobachteten ihn mit stumpfem Blick. Dann lösten sich drei aus der Gruppe und gingen auf den Wagen zu. Einer von ihnen war der große Mann, den Stephen im letzten Dezember mit dem unscheinbaren Mädchen und dessen Schwestern gesehen hatte. Der Mann hieß Madden, wie er inzwischen erfahren hatte. Als die drei den Wagen erreichten, sprach Madden mit dem Kutscher. Stephen konnte nicht hören, was er sagte, aber er schien ruhig zu argumentieren und nicht zu drohen. Nach einer Weile nickte der Kutscher, wendete die Pferde und fuhr denselben Weg zurück, den er gekommen war. Die drei Männer gingen schweigend wieder an ihre Arbeit.

Stephen zögerte. Was er gesehen hatte, war offensichtlich eine gesetzwidrige Handlung. Sollte er eingreifen? Er beschloss, zu warten und später mit Hennessy darüber zu sprechen.

»Das geschieht recht oft«, sagte Hennessy. »Sie wollen nicht, dass Getreide die Gegend verlässt. Zu nennenswerten Gewalttätigkeiten ist es noch nicht gekommen, man hat nur ein oder zwei Pferde verstümmelt, zur Warnung. Streng genommen handelt es sich natürlich um Einschüchterung. Aber in der Regel schauen wir weg. Man kann es ihnen ja nicht verdenken. Das Korn, das zum Hafen gekarrt ist, könnte das letzte bisschen Nahrung sein, das ihre Kinder zu sehen bekommen.«

Sonst machten ihm die Arbeiter keine Schwierigkeiten. Madden war ein Hüne von Gestalt und eine würdevolle Erscheinung, leicht ergraut und hager infolge der unzureichenden Ernährung. Und obwohl er bei seinen Kollegen augenscheinlich eine gewisse moralische Autorität genoss, war er stets freundlich.

Eine weitere Woche verging, ehe Stephen erstmals dem Captain gegenüberstand.

Der Marineoffizier, der die Aufgabe hatte, in der gesamten Grafschaft aus rund fünfzigtausend Mann Arbeitstrupps zu bilden, war ein kleiner, jähzorniger Mann, der sich wohl kaum beliebt machen würde.

»Ich habe dafür zu sorgen, Mr Smith«, sagte er, »dass die Bedürftigsten Arbeit bekommen. Unruhestifter werde ich nicht dulden, und ich werde keinen Missbrauch dulden. Gestern musste ich feststellen, dass einem Bautrupp zwei Bauern angehören, die eigenes Land besitzen. Einer sogar fünfzig Morgen. Er ist mit einem Gentleman im örtlichen Komitee befreundet, der offensichtlich der Meinung war, er würde sich in seiner freien Zeit gern etwas dazuverdienen. Ungeheuerlich. Ich habe ihn hinausgeworfen und dem Komiteemitglied gesagt, was ich von ihm halte. Solange ich hier bin, wird niemand bevorzugt oder benachteiligt, ist das klar?«

»Ja«, sagte Stephen.

»Gut.« Der Captain blätterte in einem Stapel Papiere. »Haben Sie einen Mann namens Madden in einem Ihrer Trupps?«

»Ja.«

»Auch so ein Schwindler. Er hat einen kleinen Pachtbesitz. Genug, um für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Ich will, dass er entfernt wird.«

»Meines Wissens hat er den Besitz vor einiger Zeit verloren.«

»Gut möglich. Die Schwachköpfe, die diese Unterlagen zusammengestellt haben, sind zu nichts zu gebrauchen. Aber mir liegt ein neuerer Bericht über ihn vor, von einem gewissen Callan. Ein Agent. Er sagte, der Mann sei ein Unruhestifter. Möglicherweise gewalttätig. Haben Sie etwas dergleichen beobachtet?«

»Nicht direkt.«

»Hm. Sie haben gezögert. Schmeißen Sie ihn raus. Es gibt genug andere, die Arbeit brauchen. Weiter.« Er kam auf andere Themen zu sprechen. Doch als er geendet hatte und Stephen gehen wollte, rief er ihn zurück. »Vergessen Sie diesen Madden nicht, denn ich werde ihn vergessen.« Es sah Stephen scharf an. »Und wenn wir schon dabei sind. Da wäre noch etwas anderes, was ich Ihnen erklären sollte, bevor Sie gehen.«

Er entließ Madden am nächsten Morgen. »Ich zahle Sie für heute aus und lege den Lohn für weitere zwei Tage drauf«, teilte er ihm mit, »aber Sie müssen sofort aufhören. Es tut mir leid.«

»Ich habe eine Familie zu ernähren«, sagte der große Mann. »Ich bitte Sie, es sich noch einmal zu überlegen.«

»Das ist leider nicht möglich.«

»Sie verurteilen meine Kinder zum Tode.«

Dies erschien Stephen etwas übertrieben, aber er sagte nichts. Offen gestanden, gefiel ihm die Sache überhaupt nicht. Madden wandte sich langsam zum Gehen. Er ertrug seinen Kummer mit Haltung, das musste man ihm lassen.

Wie Stephen vermutet hatte, schaute der Captain am frühen Nachmittag persönlich vorbei. »Ist dieser Madden fort?«, erkundigte er sich. Stephen nickte. »Gut«, sagte der Captain mit einem kurzen Nicken und ging weiter.

Am Abend kehrte Stephen zu Fuß nach Ennis zurück. Er war in nachdenklicher Stimmung und ließ sich Zeit. Die Nacht war bereits hereingebrochen, als er an ein paar ärmlichen Hütten vorbeikam, dann an einem kurzen leeren Straßenstück, an das eine Mauer grenzte. Eine Gestalt trat hinter der Mauer hervor.

Er zuckte zusammen. Es war eine ungewöhnliche Erscheinung. Die Gestalt war groß, viel größer als er selbst. Sie trug ein weißes Kleid. Ihr Gesicht war geschwärzt. Sie baute sich vor ihm auf und versperrte ihm den Weg.

»Weißt du, was das bedeutet?«, fragte die Gestalt.

Natürlich wusste er es. Jeder Ire kannte die traditionelle Warnung der Wbiteboys. Ein Mann in Frauenkleidung und mit geschwärztem Gesicht, der unvermittelt vor einem auftauchte. Wer die Warnung ignorierte, musste mit Konsequenzen rechnen.

»Sieh dich vor«, sagte die Gestalt. Dann drehte sie sich um, schritt die Straße entlang, bog um eine Kate und verschwand in der Dunkelheit.

Stephen setzte seinen Heimweg fort.

Der nächste Tag verlief ohne Zwischenfall. Kurz erwog er, den Vorfall zu melden, aber nach dem, was der Captain ihm mitgeteilt hatte, sah er davon ab. Falls die Männer des Arbeitstrupps wussten, dass er bedroht worden war, so ließen sie sich nichts anmerken. Der übernächste Tag verlief ebenso ereignislos. Am dritten arbeitete er nicht. Aber er hatte einen Entschluss gefasst. Er musste zwei wichtige Dinge erledigen.

Gleich am Morgen machte er sich zu Fuß auf den Weg und ging mit zügigen Schritten in die Vorstadt im Norden. Er fand die Kate, die er suchte, ohne Mühe. Er ging zur Tür. Sie stand offen, und er streckte den Kopf hinein.

»Gott schütze alle hier«, entbot er den traditionellen Gruß, als er eintrat.

Eamonn Madden war über sein Erscheinen sehr überrascht. Er saß mit hängendem Kopf auf einem Schemel vor der Glut eines kleinen Torffeuers. Neben ihm stand die unscheinbare junge Frau, seine Tochter.

»Darf ich mich setzen?« Am Feuer stand auch eine Bank. Er ließ sich darauf nieder.

»Wir können Ihnen nichts anbieten, Sir«, sagte die Frau.

»Ich weiß.«

Die Tür blieb offen. Zusätzliches Licht, wenn man es so nennen konnte, drang durch das einzige Fenster. Es hatte keine Glasscheibe, sondern war, wie hierzulande üblich, mit einer dünnen Schafshaut bespannt, die etwas Helligkeit durchließ und den Wind abhielt. Trotz des gedämpften Lichts konnte er sehen, dass der Raum mit seinem irdenen Fußboden tadellos sauber war. An einer Wand hing ein billiger Druck der Heiligen Jungfrau, an einer anderen ein Bild von Daniel O’Connell. Er betrachtete die Frau. Wie alt mochte sie sein? Mitte zwanzig, vermutete er, aber ihr Gesicht war ausgezehrt vom Hunger und den Belastungen des Alltags. Doch wie ihr Vater hatte sie sich eine ruhige Würde bewahrt. »Wissen Sie, wer ich bin?«, fragte er, und sie nickte. »Darf ich fragen, wie Sie heißen?«

»Ich heiße Maureen Madden.«

»Darf ich erfahren, wie viele Mitglieder die Familie noch hat? Ich entsinne mich, dass Sie einen kleinen Bruder dabeihatten, als ich Sie seinerzeit auf dem Marktplatz traf.«

»Er heißt Daniel, Sir. Außerdem wohnen hier noch meine Schwestern Mary und Caitlin. Meine andere Schwester, Nuala, arbeitet bei einer Familie in der Stadt.«

»Könnte ich die anderen Kinder sehen?«

»Sie haben sich hingelegt, Sir. Sie schlafen zusammen, um sich warm zu halten.«

»Sie schlafen um diese Tageszeit?«

»Es ist kalt draußen. Und sie sind nicht bei Kräften.« Sie ging nach nebenan. Madden warf ihm einen Blick zu, sagte aber nichts, und auch Stephen schwieg.

Gleich darauf kam Maureen mit den drei Kindern zurück. Sie waren blass und mager, aber am meisten fiel ihm auf, dass sie sich merkwürdig langsam bewegten. Ihre Augen waren blicklos. Das konnte auch daran liegen, dass sie geschlafen hatten, aber er glaubte es nicht. Die drei sahen ihn teilnahmslos an, der kleine Junge mit großen, vorwurfsvollen Augen.

»Wie viele Mahlzeiten am Tag haben sie bekommen?«

»Eine, Sir. Bis jetzt, solange Vater gearbeitet hat.«

»Was geben Sie ihnen zu essen?«

»Was ich auftreiben kann. Kartoffeln gibt es nicht mehr. Manchmal bekommt man Maismehl oder anderes Getreide. Manchmal auch Rüben und etwas Brunnenkresse.«

»Und wie verbringen Sie die Zeit mit ihnen?«

»Ich lese ihnen vor. Und unterrichte sie.«

»Dann können Sie also lesen und schreiben.«

»Ja, Sir. Daniel kennt schon alle Buchstaben, nicht wahr, Daniel?« Der Junge nickte. »Er malt sie mit dem Finger auf den Tisch. Ich passe genau auf und kann sehen, ob die Buchstaben korrekt sind.«

»Danke. Wenn die Kinder sich wieder hinlegen wollen, würde ich jetzt gern mit Ihrem Vater sprechen.«

Als sie allein waren, wandte er sich an Eamonn.

»Das ist also alles an Lebensmitteln, was Sie von Ihrem Lohn kaufen können?«

»Kaufen konnte.«

»Verstehe. Ihre Kinder siechen dahin.«

»Was weiß ein Gentleman wie Sie schon über Menschen wie uns?«

»Sagen Sie das nicht. Meine Familie ist Ihrer ähnlicher, als sie glauben.« Und Stephen erzählte ihm kurz von seinen Angehörigen und den Verhältnissen oben in Rathconan.

»An labhraionn tu gaeilge?«, fragte Madden. Sprechen Sie Gälisch?

»Als Kind habe ich es gesprochen. Ein wenig. Inzwischen habe ich alles vergessen. In Leinster wird es weniger gesprochen.«

»Und Ihre Familie? Hungert sie auch?«

»Nein.« In den Wicklow-Bergen war die Not groß, aber nicht überall. So wenig er die Familie Budge mochte, so hatte sie doch dafür gesorgt, dass in Rathconan niemand zu hungern brauchte. Unten in Wexford, wo Mischlandwirtschaft vorherrschte, war die Not gering. Auf dem riesigen Landgut Mount Walsh brauchte sich mit Sicherheit kein Pächter des Earls Sorgen zu machen. Andere Landesteile waren unterschiedlich stark betroffen, doch am schlimmsten war die Lage im Westen. »Ich muss Ihnen jetzt eine Frage stellen. Weiß jemand davon, dass Sie neulich nachts ein Kleid angezogen haben?« Eamonn sah ihn ruhig unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an, sagte aber nichts.

»Ich weiß, dass Sie es waren«, fuhr Stephen fort. »Weiß Maureen davon?« Eamonn schüttelte den Kopf. »Die anderen Männer?«

»Nein.«

»Ich habe Sie nicht angezeigt. Nicht aus Angst. Aber ich will Ihnen etwas sagen, das Sie wissen sollten. Ich hatte halb mit so etwas gerechnet. Ich habe Anweisung, sofort den Captain zu unterrichten, wenn ich eine Drohung erhalte. Wenn ich es tue, wird er den gesamten Arbeitstrupp auflösen, aus dem die Drohung kommt. Fünfzig Mann würden ihre Arbeit verlieren. Und ich zweifele nicht daran, dass er es tun würde.«

»Der Mann ist ein Unmensch.«

»Nein, Sie irren sich. Er bemüht sich, fair zu sein. Gegen die hiesige Gentry geht er ebenso streng vor.«

»Er hat einen Mann entlassen, nur weil er eine Kuh besitzt. Wenn er eine Kuh besitzt, sagt er, kann er auch eine Familie ernähren. Sollen die sieben Kinder des Mannes zwischen Milch und Hungertod wählen?«

»Genau darum geht es mir. Er meint es gut, glauben Sie mir. Aber er hat keine Ahnung, unter welchen Bedingungen Iren leben. Übrigens sagt er, dass Callan, der Agent, Sie für gefährlich hält.«

»Callan war es, der mich von meinem Land vertrieben hat. Ich habe ihm nichts getan, aber wahrscheinlich hat er Angst vor mir. In der Gegend da oben sind andere bedroht worden, aber nicht von mir.«

Maureen kam zurück. Sie sah Stephen an. Offenkundig fragte sie sich nach dem Grund seines Kommens. Madden konnte sich glücklich schätzen, eine solche Tochter zu haben, dachte Stephen. Man musste die sanfte, ruhige Art, mit der sie die Familie zusammenhielt, einfach bewundern. Darin lag Schönheit.

»Ich kann nicht zulassen, dass ich bedroht werde, Mr Madden«, sagte er entschieden. »Sie wissen, was ich meine. Aber Sie können sich morgen bei mir wieder zur Arbeit melden.«

»Und der Captain?«

»Wir müssen von Tag zu Tag denken.«

Er verneigte sich höflich vor Maureen und ging.

Noch am selben Nachmittag machte er sich an seine zweite Aufgabe. Sie bestand darin, einen Brief zu schreiben. Er schilderte ausführlich, was er hier erlebt hatte, auch die Haltung des Captains, den er dafür lobte, dass er sich im Rahmen seiner Möglichkeiten nach Kräften bemühte. Der Brief schloss mit den eindringlichen Worten:

 

Ich habe immer an das freie Wirken des Marktes geglaubt, und ich tue es noch. Aber ebenso klar ist, dass der Markt unter extremen Bedingungen nicht zufrieden stellend funktioniert. Und die Bedingungen in Clare sind jetzt extrem und verschärfen sich weiter. Wegen der hohen Preise für Nahrungsmittel, sofern es überhaupt welche gibt, und unserer Weigerung, sie zu subventionieren, leiden selbst diejenigen, die Arbeit haben, an Unterernährung, und die anderen, die keine haben, werden in Kürze verhungern.

Wenn wir diese Menschen nicht versorgen, werden sie sterben.

 

Er schickte den Brief weder an den Vizekönig noch in die Dubliner Burg. Er schickte ihn an den einzigen Mann, von dem er glaubte, dass er etwas bewirken konnte. Er schickte ihn an den freundlichen Lord William Mountwalsh.

 

Als Weihnachten nahte, hatte die Familie Madden allen Grund, Stephen dankbar zu sein. Im gesamten Westen brach die Armenhilfe zusammen. In den entlegenen Gebieten von Clare und Galway waren viele Gemeinden ohne Nahrung. Berichten zufolge hungerten ganze Dörfer. Maureen wusste, dass in der Straße neben ihrer Kate drei alte Frauen und ein alter Mann an Hunger und Kälte gestorben waren. Eines Tages, als sie in die Stadt ging, sah sie vor einer Hütte eine steif gefrorene Leiche liegen. Mitte Dezember bettelten ein Dutzend arme Teufel auf dem Marktplatz. In der Woche vor Weihnachten waren es schon doppelt so viele. Ohne den kargen Lohn, den ihr Vater nach Hause brachte, hätte sie möglicherweise selbst betteln gehen müssen. Deshalb dachte sie oft in Dankbarkeit an Mr Smith. Und sie erfuhr etwas Neues über ihn.

Eines Tages kam ihr Vater nachdenklich nach Hause.

»Ich habe heute Charles O’Connell getroffen. Hast du gewusst, das Mr Smith, bevor er hierher kam, zwanzig Jahre lang ein enger Weggefährte Daniel O’Connells war? Ich hatte ja keine Ahnung. Er hat nie ein Wort gesagt.« Er lächelte verlegen. »Wenn ich daran denke, dass ich …« Er sprach nicht weiter.

»Was, Vater?«

»Unwichtig. Ich sehe den Mann jetzt mit anderen Augen, das ist alles.«

Maureen schwieg einen Moment und bekam einen versonnenen Blick.

»Er ist ein sehr feiner Mann«, sagte sie gefühlvoll.

Sie bemerkte nicht, dass ihr der Vater einen neugierigen Blick zuwarf.

Doch selbst mit dem Lohn ihres Vaters war es nicht leicht, etwas auf den Tisch zu bringen. Momentan gab es auf dem Markt fast nichts. Etwas Maismehl zu einem unverschämten Preis, ein paar Rüben und Salz, mehr war nicht zu bekommen. »Im Arbeitshaus sind sie nicht besser dran«, sagte ihr Vater. »Angeblich fällt diesmal das Weihnachtsessen aus. Nicht einmal der Verwaltungsrat kann etwas beschaffen.«

An Heiligabend kam Nuala. Wenigstens sie war gut genährt, allerdings erzählte sie Maureen, dass die Kaufmannsfamilie jetzt an den meisten Tagen mit Eintopf vorliebnehmen musste. Maureen bemerkte, dass Nuala verschmitzt lächelte.

»Ich habe etwas mitgebracht«, sagte sie und zauberte aus den Falten ihrer Kleider eine kleine Taschenflasche. »Die habe ich mir geborgt«, sagte sie. »Sie werden nichts merken.«

»Was ist darin?«

»Brandy.« Nuala grinste. »Für den Herrn des Hauses.« Sie grinste durchtrieben. »Und das ist noch nicht alles.« Sie fasste wieder in ihre Kleider, tastete einen Moment umher und zog dann ganz langsam eine, dann noch eine und schließlich mit schwungvoller Gebärde eine dritte Kartoffel hervor.

»Mein Gott, Nuala, wie bist du denn …?«

»Es sind nur Lumper-Kartoffeln, Maureen. Komisch, nicht? Die schlechteste Sorte. Früher hätte man die nicht einmal angesehen. Und jetzt komme ich mir vor wie die Königin von Saba, die Salomo Geschenke bringt.«

»Ja, aber …«

»Ich habe sie gestohlen, was denn sonst? Ich habe sie im Keller gefunden. Aber es hat bestimmt niemand gewusst, dass sie da waren. Sie müssen übersehen worden sein. Sie sind alt, aber sie sind nicht verdorben. Na ja, nicht ganz.«

»Aber Nuala, wenn sie merken …«

»Niemals.«

»Du wirst deine Stellung verlieren.«

»Und wenn schon?« Sie lachte. »Dann verkaufe ich eben meinen Körper, unten am Gericht.«

»So etwas darfst du nicht sagen.«

»Willst du sie jetzt kochen?«

»Mein Gott, Nuala. Ja.« Sie küsste ihre Schwester. »Sag Vater nicht, wo du sie her hast. Sag, du hättest sie gekauft.«

Es wurde bereits dunkel, doch ihr Vater war noch nicht nach Hause gekommen. Stunden vergingen, und noch immer war nichts von ihm zu sehen. Langsam machten sich Maureen und Nuala Sorgen.

»Glaubst du, er ist in eine Schenke gegangen?«, fragte Nuala. »Ich sehe jeden Tag Männer, die von der Arbeit kommen und in der Stadt ihren Lohn vertrinken.«

»Vater? Niemals!« Maureen schüttelte den Kopf. »Gebe Gott, dass ihm nichts zugestoßen ist«, sagte sie so leise, dass die Jüngeren es nicht hören konnten.

Dann kam er endlich. Er trug etwas unter dem Mantel. Kaum in der sicheren Stube, zog er es hervor und legte es auf den Tisch. Es war ein großes Stück Fleisch.

Sie sahen ihn erstaunt an.

»Vater, woher hast du denn …?« Maureen war vor Schreck erbleicht.

»Machst du uns einen Weihnachtsbraten, Maureen?«, fragte er in einem selbstzufriedenen Ton.

»Aber woher hast du das Fleisch?«

»Als ich es zuerst sah, hing es noch an einer Kuh dran. Das dürfte etwa zwei Stunden her sein.«

»Du hast eine Kuh geschlachtet?«

»Wir waren über ein Dutzend. Jetzt ist von dem Tier nichts mehr übrig. Was man nicht essen kann, haben wir vergraben.«

Es hatte zahlreiche Vorfälle dieser Art gegeben. Männer gingen nach Einbruch der Dunkelheit hinaus auf die Weiden, schlachteten eine Kuh, zerlegten sie an Ort und Stelle, teilten das Fleisch unter sich auf und verschwanden in der Nacht.

Doch es dauerte eine Weile, bis Maureen begriff, dass ihr Vater ein Verbrechen begangen hatte. »Dafür kann man deportiert werden«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Wenn man sich erwischen lässt.« Er zog den Mantel aus. »Ich glaube, ich lege mich eine Weile hin. Ich bin etwas müde.« Er seufzte. »Jetzt könnte ich einen Schluck vertragen.«

Nuala lächelte.

»Den kannst du haben«, sagte sie.

Dass die Familie an Weihnachten reichlich zu essen hatte, blieb eine Ausnahme, die sich nicht wiederholte. Die Bauern wachten fortan streng über ihr Vieh, und auf dem Markt gab es weniger zu kaufen denn je. Mitte Januar bemerkte Maureen, dass Caitlin ganze Haarbüschel ausfielen. Und noch beunruhigender war, dass ihr wie zum Ausgleich in der oberen Gesichtshälfte ein dichter Flaum wuchs, mit dem sie wie ein trauriger kleiner Affe aussah. Das Gleiche beobachtete Maureen an mehreren Nachbarskindern. Offensichtlich eine Folge der mangelhaften Ernährung. Einmal, als sie mit ihrem Vater darüber gesprochen hatte – leise und außer Hörweite der Kinder, wie sie meinte –, ging sie anschließend nach nebenan und sah, wie Daniel seiner Schwester gerade sein bisschen Essen gab. »Damit die Haare in ihrem Gesicht wieder auf dem Kopf wachsen«, sagte er. Von ihren Gefühlen überwältigt, legte sie den Arm um ihn und rief: »Du lieber kleiner Junge.«

Danach musste sie darauf achten, dass er seine Ration selber aß.

Eine gewisse Hilfe stand in Aussicht. Doch wieder sollte die Regierung ihre besondere Gabe unter Beweis stellen, jede gute Tat mit einer Beleidigung und Kränkung zu verknüpfen.

»Sie wollen Suppenküchen einrichten«, sagte ihr Vater eines Tages.

»Dann bekommen wir also zu essen?«

»Vielleicht.« Er schien nicht erfreut. »Sie werden nach den Armengesetzen eingerichtet. Nur die Armen werden gespeist.« Er schnaubte. »Noch nie ist ein Madden als armer Mann bezeichnet worden.«

»Du bist kein armer Mann, Vater. Du hast Arbeit.«

»Aber sie werden die öffentlichen Bauarbeiten einstellen. Mr Smith hat mir versprochen, dass er uns so lange wie möglich weiter beschäftigt. Sie werden in Ennis fast gleichzeitig zwei Küchen eröffnen. Die offiziellen Küchen machen irgendwann im Februar auf.«

»Wir müssen die Kinder ernähren, ganz gleich wie man uns nennt, Vater«, sagte sie.

»Ich weil?.«

Aber die Eröffnung der Küchen zog noch eine weitere Konsequenz nach sich. Da nach den Armengesetzen die Gemeinden die Kosten für Hilfsleistungen zu tragen hatten, mussten die Bürger von Ennis die Küchen finanzieren. Und da eine Subventionierung von Nahrungsmitteln nicht in Frage kam, weil sie den Markt schädigen würde, musste man die Produkte für die Suppenküchen zu den gegenwärtigen hohen Preisen einkaufen.

Eines Morgens Anfang Februar erschien Nuala in der Kate.

»Ich habe meine Arbeit verloren«, sagte sie einfach nur.

»Oh, Nuala, haben sie entdeckt, dass du an Weihnachten etwas gestohlen hast?«

»Überhaupt nicht. Das ist nicht der Grund. Aber sie müssen so hohe Abgaben für die Suppenküchen entrichten, dass sie zu mir gesagt haben: ›Du oder die Suppenküchen, beides können wir uns nicht leisten.‹«

»Nun, hier ist dein Zuhause, und wir freuen uns, dass du wieder da bist«, sagte ihr Vater bestimmt. Doch nachdem er gegangen war, wandte sich Maureen an ihre Schwester.

»Was sollen wir jetzt tun, Nuala?«

»Ich werde schon etwas finden«, versprach Nuala.

Zwei Tage später kam Eamonn von einem Besuch bei dem Mann zurück, von dem er den mock ground gepachtet hatte.

»Er kann mir nichts mehr verpachten, selbst wenn ich bezahlen könnte«, berichtete er, »weil er keine Saatkartoffeln bekommt. Er hat alle Parzellen an einen Bauern verpachtet, der Getreide anbaut.« Er machte eine hilflose Geste. »Ich habe überall in der Stadt herumgefragt, aber es ist überall dasselbe. Kartoffelfäule hin oder her, die Ernte wird dieses Jahr auf jeden Fall miserabel ausfallen, weil so wenig Kartoffeln gepflanzt werden.«

Den ganzen Monat hindurch erreichten Nachrichten aus anderen Gegenden die Stadt. Wenn Menschen in Ennis am Rand des Verhungerns standen, so war die Lage in den abgelegenen Gebieten offenbar noch viel schlimmer. Selbst wenn die Suppenküchen solche Orte erreichen sollten, würden sie zu spät kommen. Oben in den einsamen Gegenden von Galway, Sligo und Mayo waren bereits Hunderte oder Tausende verhungert. Kleinkinder und Alte waren die Ersten, die starben, aber beileibe nicht die Einzigen. Wer aufgab und zu Fuß in die Städte aufbrach, ging ein hohes Wagnis ein. Menschen wurden unterwegs dahingerafft, und wer beschlossen hatte, in seinem Haus zu bleiben, wurde mit der Zeit so schwach, dass er nichts mehr tun konnte. Die Geistlichen halfen, wo sie konnten, aber auch sie hatten keine Lebensmittel zum Verteilen. Niemand konnte sagen, wie viele Menschen schon gestorben waren.

Nach wie vor kamen auch Menschen nach Ennis, die hier Zuflucht suchten. Maureen konnte es nicht fassen, aber immer noch wurden regelmäßig Bauern von Haus und Hof vertrieben.

»Manchmal kann man den Leuten, die sie vertreiben, nicht einmal einen Vorwurf machen«, sagte ihr Vater. »Manche Pachtbauern haben Teile ihres Landes selbst verpachtet, und wenn sie ihr Geld nicht bekommen, können sie selbst ihre Pacht nicht bezahlen. Nur die Grundherren könnten Abhilfe schaffen, und du weißt nicht, wie hohe Schulden einige von denen selbst haben, Maureen.« Er seufzte. »Es ist wie ein großes Rad, das über das Land rollt und aus uns allen das Leben herausquetscht.«

Zwei Dinge machten ihnen das Leben etwas leichter. Nuala hatte Arbeit gefunden. »Ich helfe bei einer Wäscherin aus«, sagte sie. »Leider kann sie mir an den meisten Tagen nur ein paar Pennys zahlen. Aber das ist immer noch besser als nichts.« Außerdem nahmen die Suppenküchen in Ennis ihre Tätigkeit auf. Als die erste eröffnete, standen am Morgen siebenhundert Menschen an. Und es wurden mehr. Die halbe Stadt schien Schlange zu stehen, und die Betreiber der Suppenküchen verloren den Überblick, wen sie speisten. Maureen konnte das nur recht sein. Eigentlich durfte sie gar nicht zur Suppenküche gehen, da ihr Vater noch Arbeit hatte, aber sie nahm einfach die Kinder mit und stellte sich an, und die überforderten Helfer, die das Korn und das Mehl verteilten, gaben ihr die kleine Ration, ohne Fragen zu stellen. »Ich habe dabei ein schlechtes Gewissen«, sagte sie zu Nuala, »weil ich eigentlich gar nichts bekommen dürfte und weil ich mir sicher bin, dass ich es denen wegnehme, die überhaupt nichts haben. Aber dann sehe ich Caitlin, mit ihren kahlen Stellen im Haar, und ich weiß, dass ich es tun muss.«

»Die Kinder müssen etwas zu essen bekommen«, sagte Nuala. »Es muss sein.«

Ihr Vater wusste, was sie tat, aber sie sprachen nicht darüber.

Ende des Monats bekam er Besuch von einem halben Dutzend Männern. Maureen kannte sie, allerdings nicht näher. Es waren Kleinpächter aus der Umgebung ihres früheren Hofs. Sie drängten sich erwartungsvoll um ihren Vater.

»Wir brauchen dich, Eamonn.«

»Wozu?«

»Es geht um Callan.«

Das war keine Überraschung. Ihre Höfe wurden von dem Agenten verwaltet, und jetzt sollten sie zur Räumung gezwungen werden. Anscheinend hatte Callan entweder den Entschluss gefasst oder die Anweisung erhalten, alle zu vertreiben. Und das wollten sich die Männer nicht gefallen lassen.

»Es muss etwas geschehen, Eamonn. Wir haben eine Warnung vorbereitet. Wenn er sie in den Wind schlägt …«, und darin schienen sich alle einig, »… wird der Gerechtigkeit genüge getan werden müssen.«

»Wieso kommt ihr zu mir? Ich bin doch schon weg.«

»Wir haben uns gedacht, dass du ihm vielleicht einen Denkzettel verpassen willst. Du bist hier in Ennis nicht der Einzige, den Callan von seinem Land vertrieben hat. Andere werden sich uns anschließen. Aber sie schauen zu dir auf, Eamonn. Schon immer.«

Sie sah ihrem Vater an, dass er sich durch ihre Komplimente und ihren Besuch geschmeichelt fühlte. Aber als sie in die Gesichter der Männer blickte, sah sie etwas anderes. Es war eine Falle. Sie sah es ganz deutlich. Sie wollten ihren Vater benutzen, weil er mutiger und tapferer als sie war und in der Gegend noch einen guten Ruf hatte. Du sollst für sie den Kopf hinhalten, hätte sie am liebsten hinausgeschrien, und wenn es brenzlig wird, lassen sie dich im Stich. Aber sie wusste, dass sie es nicht laut sagen durfte. Nicht jetzt. Es hätte die Männer erzürnt und ihren Vater gedemütigt. Sie hielt den Atem an.

»Zeigt mir die Warnung«, sagte er ruhig.

Es war ein jämmerliches Machwerk. Ganz oben stand Callans Name, und darunter war ein Sarg gezeichnet. Dann folgte eine recht plumpe Aufforderung, mit seinen Schurkereien aufzuhören, wenn er nicht das Schicksal anderer Agenten teilen wolle. »Denk an sie«, wurde er gewarnt. Das Ganze war mit »Captain Starlight« unterzeichnet, eine auf dem Land beliebte Art, solche Schreiben zu beschließen.

Ihr Vater dachte ein oder zwei Minuten lang ruhig nach, dann bemerkte er trocken: »Captain Starlight hat einen glänzenden Stil. Aber ich werde seine Botschaft verbessern, wenn ihr Feder und Tinte habt.« Der Mann, der das Schreiben verfasst hatte, zog beides aus der Jackentasche. »Sehr gut«, sagte Eamonn, als der Mann bereit war. »Unter der Unterschrift ist noch Platz. Du schreibst jetzt folgende Worte des guten Mr Thomas Drummond.« Und er diktierte bedächtig:

 

EIGENTUM HAT RECHTE

EIGENTUM HAT AUCH PFLICHTEN

 

Als dies ordentlich zu Papier gebracht war, schaute er zu Maureen auf und lächelte sie an. »Es tut mir leid, dass ich nicht mitkommen kann, Jungs. Ich habe für Callan nichts übrig, das könnt ihr mir glauben, aber ich werde hier gebraucht. Ich wünsche euch viel Glück.« Und zu ihrer großen Erleichterung schickte er sie fort.

»Glaubst du, sie werden ihn umbringen?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf.

»Dazu fehlt ihnen der Mut.« Er seufzte. »Mir vielleicht auch. Aber wenigstens habe ich der Botschaft ein bisschen von der Würde gegeben, die ihr gefehlt hat.«

Eines Abends Mitte März kam Stephen Smith in ihre Kate. Er sah müde aus. Maureen fand es ungewöhnlich, dass er die Mühe auf sich nahm, aber aus irgendeinem Grund schien er sich persönlich für ihren Vater verantwortlich zu fühlen.

»Es tut mir leid«, sagte er zu Eamonn, »aber die Arbeit wird eingestellt. Eigentlich hätten wir schon vor zwei Wochen aufhören sollen, und ich konnte sie dazu überreden, noch eine Weile weiterzumachen. Vor einer Stunde hat mir der Captain nun mitgeteilt, dass sie für uns keine Ausnahme mehr machen können. Ein paar Gruppen machen noch so lange weiter, bis sie mit ihrer Arbeit fertig sind, aber dann ist endgültig Schluss. So Gott will, werden wenigstens die Suppenküchen den schlimmsten Hunger lindern.«

»Wir wissen, dass Sie Ihr Möglichstes getan haben«, sagte ihr Vater, denn Smith war sichtlich deprimiert.

»Und was werden Sie persönlich jetzt tun, Mr Smith?«, wagte Maureen zu fragen. »Ich nehme an, Sie werden Ennis wieder verlassen?« Er sah sie an. Seine grünen Augen, fand sie, waren ziemlich bemerkenswert.

»Ich weiß es nicht. Ich würde gern bleiben – wenn ich etwas Sinnvolles tun könnte. Ich würde ungern gehen, solange alles noch so in der Schwebe ist.« Sie wechselten noch ein paar Worte, dann wünschte er ihnen alles Gute für die Zukunft und ging.

Für Eamonn folgte eine schwierige Zeit. In den ersten Tagen begab er sich auf Arbeitssuche, doch es war vergebliche Mühe. Es gab keine Arbeit mehr. Am vierten Tag besuchte er im Fieberspital einen ehemaligen Arbeitskollegen, den man dort eingeliefert hatte, nachdem er krank geworden war. Das tat er auch an den beiden darauf folgenden Tagen. Aber Maureen begriff, warum er ins Spital ging. Er tat es eigentlich nicht, um seinen kranken Freund zu besuchen.

Am dritten Tag ging er nicht ins Spital. Bevor Maureen sich auf den Weg nach Ennis machte, sagte sie zu ihm: »Gestern haben sie in der Suppenküche nach dir gefragt. Sie werden strenger. Sie wollen die ganze Familie sehen, weil sie nichts an Familien ausgeben dürfen, in denen jemand Arbeit hat.«

»Morgen, Maureen«, antwortete er ausweichend. »Sag ihnen, dass ich nach Arbeit suche.«

Doch sie wusste genau, dass er nicht mitkommen würde. Er fürchtete die Schande, dabei gesehen zu werden, wie er, ein Madden, in einer Schlange anstand und um Essen bettelte, offiziell ein Almosenempfänger, der Geringste unter den Geringen. Sie wusste, dass er sie niemals begleiten würde, wenn es sich irgend vermeiden ließ. Ein Besuch im Spital, eine nutzlose Suche nach Arbeit, alles nur, um sich diese letzte Demütigung zu ersparen. Dass alle anderen in der gleichen Lage waren – wie jede Frau sehen konnte – und es daher eigentlich keine Rolle mehr spielte, vermochte ihn nicht zu trösten. Deshalb sagte sie nichts und ging in die Stadt.

Es sollte ein besonders unerfreulicher Tag werden. Die Suppenküche befand sich in der Mill Street, neben dem Gewirr ärmlicher Sträßchen und Gassen, die zum Fluss hinunterführten. Die Bezeichnung Suppenküche war irreführend, denn die Suppenküche in Ennis gab gar keine Suppe aus. Alles, was man momentan dort bekam, war billiges Maismehl, das aus Limerick herbeigeschafft wurde. Hinter einem großen, auf Böcke gestellten Tisch, der durch Schranken geschützt war, standen zwei große Fässer, die das Mehl enthielten. Die Höhe der Rationen hing davon ab, wie viel jeden Tag geliefert wurde. Gewöhnlich konnte man ein Pfund erwarten, aber an manchen Tagen waren es nur ganze drei Unzen pro Kopf, also nicht einmal hundert Gramm. Deshalb konnte keine Rede davon sein, dass die Menschen gespeist wurden. Sie wurden lediglich vor dem Hungertod bewahrt.

Heute war die Stimmung gereizt. Der neue Aufseher aus Dublin hatte eine genaue Vorstellung, wie die Verteilung vonstatten zu gehen hatte. Alles, was Maureen wollte, war etwas Mehl, damit sie den Kindern einen Brei kochen konnte. Doch das wurde ihr versagt.

»Es gibt kein Mehl«, rief der Mann und fügte laut, damit es alle hören konnten, hinzu: »Wenn Sie diesen Leuten das Mehl so geben, verkauft die Hälfte ihre Ration und betrinkt sich mit dem Geld.« Maureen kannte niemanden, dem sie eine solche Dummheit zutraute, aber der Mann blieb hart. Also mussten alle warten, bis man aus dem Mehl einen Brei gekocht hatte. »Und im gekochten Zustand«, sagte eine Frau vor ihr, »zerkrümelt es so, dass man es nicht nach Hause tragen kann, ohne dass Stückchen davon auf die Straße fallen. Wir füttern zuerst die Vögel, dann unsere Kinder.«

In der Schlange standen die unterschiedlichsten Leute. Wenn es Arme nach dem Gesetz waren, so sah Maureen darunter mehrere kleine Handwerker und Händler, die nach dem Rückgang der Geschäfte nun beinahe ebenso mittellos waren wie sie. Der übertrieben diensteifrige Kerl aus Dublin war überdies fest entschlossen, keine Wohltaten an Unwürdige zu verschwenden.

»Nur wer auf meiner Liste steht«, rief er. »Alle, die auf meiner Liste stehen, sollen herkommen und sich eine Karte holen. Wer eine Karte hat, muss in der Schlange warten, bis er an der Reihe ist.« Und an einen Helfer gewandt: »Hier geht es gerecht zu. Sie müssen diese Leute mit Luchsaugen beobachten.«

Er rief einen nach dem anderen auf. Als Maureen an die Reihe kam, fragte er sie: »Wo ist Ihr Vater? Hier steht, dass Sie einen Vater haben. Ist er bei der Arbeit?«

»Nein, Sir«, antwortete sie.

»Morgen möchte ich euch alle hier sehen. Vater, drei Schwestern, Bruder. Alle, damit das klar ist, sonst bekommt ihr nichts.«

Dank dieser umständlichen Prozedur musste sie fünf Stunden anstehen, ehe sie endlich eine kleine Portion Mehlbrei erhielt, die sie schwerlich ernähren konnte. Sie machte sich gerade auf den Nachhauseweg, als sie Nuala erblickte.

Sie lehnte am Ende einer Gasse in einem Torweg. In der Annahme, dass dort die Wäscherin wohnte und Nuala gerade eine Pause machte, wollte Maureen zu ihr gehen, um sie zu fragen, wann sie nach Hause komme. In diesem Augenblick sah sie einen Mann aus der anderen Richtung durch die Gasse schlendern. Nur ein ärmlich aussehender Handwerker. Er blieb bei Nuala stehen. Die beiden wechselten ein paar Worte und verschwanden zusammen im Torweg. Da verstand sie. Vor lauter Schreck ließ sie den Mehlbrei fallen, sodass er auf dem Boden zerstob. Sie musste die Pampe so gut es ging zusammenkratzen und schmutzig, wie sie war, nach Hause tragen. Als ihr Vater die Bescherung sah, warf er ihr einen ärgerlichen Blick zu und sagte: »Deine Geschwister werden heute Abend Straßendreck essen, Maureen. Es ist mir unbegreiflich, wie dir so etwas passieren konnte.« Sie entschuldigte sich und sagte, es sei ihr ebenfalls unbegreiflich.

Später am Abend, als sie mit Nuala allein war, erzählte sie ihr, was sie beobachtet hatte. Aber Nuala zuckte nur mit den Schultern.

»Ich wollte nicht, dass du es erfährst, Maureen, aber es gibt keine Arbeit, und da ich jung bin, kann ich wenigstens auf diese Weise etwas verdienen.«

»Mein Gott, du bist noch so jung, Nuala, es wäre besser, ich wäre an deiner Stelle.«

»Das glaube ich nicht, Maureen. Ich bin ziemlich begehrt. Ist dir klar, dass ich schon fünf Shilling gespart habe?« Sie lächelte gequält. »Wenn die Zeiten besser wären und ich einen reichen Mann finden könnte …«

»So darfst du nicht reden. Du musst damit aufhören, Nuala.«

»Aufhören?« Sie sah ihre Schwester beinahe zornig an. »Sei nicht albern, Maureen. Wie sollen wir denn die nächste Miete bezahlen, wenn Vater nichts verdient?« Sie beruhigte sich wieder und gab Maureen einen Kuss. »Wir alle tun, was wir können, Schwesterherz. Du führst den Haushalt, und ich verkaufe meinen Körper. Was spielt das für eine Rolle?«

»Sag Vater nichts davon. Es würde ihn umbringen.«

Am nächsten Morgen machte sich die ganze Familie, Eamonn und Nuala eingeschlossen, auf den Weg zur Suppenküche. Ihr Vater war sehr still. Er ging aufrecht, wie immer, aber er schlug die Augen nieder und mied die Blicke anderer, statt wie sonst unerschrocken und stolz in die Welt zu blicken. Sie wusste, dass er innerlich bei jedem Schritt zusammenzuckte. Als sie ankamen, wurden ihre Namen überprüft, aber der gefühllose Kerl, der die Namen aufrief, ließ sie vier Stunden warten, ehe sie ihre Ration bekamen. Sie wusste, dass ihr Vater mit jeder Minute, die verstrich, auf der Leiter der Erniedrigung in seinem Innern eine Sprosse tiefer fiel. Und unablässig betete sie im Stillen, dass niemand auf ihre Schwester zutrat und etwas zu ihr sagte, das verriet, welchem Gewerbe sie neuerdings nachging.

***

So sehr sich Maureen um ihre Schwester sorgte, so erleichtert war sie doch auch, als Nuala bald darauf immer wieder Lebensmittel mit nach Hause brachte: einen Laib Brot, einen kleinen Schinken, einen Kohlkopf. Ihrem Vater gegenüber behaupteten die Schwestern, sie hätten die Sachen in der Stadt gekauft, aber Nuala gestand ihr: »Ich habe einen Krämer, dem ich gefalle. Er weiß, was ich brauche, und so bezahlt er mich mit Naturalien.« Maureen wusste nicht, was sie dagegen sagen sollte, denn die Lebensmittel waren ein wahrer Segen. Die Kinder brauchten sie. Selbst Caitlin sah etwas besser aus.

Am schnellsten erholte sich freilich der kleine Daniel. Sechsjährige waren oft von zarter Gesundheit, aber gottlob war der einzige Sohn, der dem Vater geblieben war, ein zähes Kerlchen. Er schien unverwüstlich. Noch vor kurzem hatten seine blauen Augen so groß und stier aus seinem eingefallenen Gesicht geblickt, dass sie heimlich um ihn gezittert hatte. Nun aber, nach ein paar Tagen nahrhafterer Kost, hatte er schon etwas Fleisch angesetzt und kam wieder zu Kräften. Wenn sie zusammen in die Stadt gingen, hielt er nicht mehr ihre Hand und schlurfte neben ihr her, sondern entwand sich ihrem Griff und lief sogar voraus.

Eine weitere Ermutigung erfuhr sie, als sie eines Morgens mit Daniel zur Suppenküche kam und feststellte, dass sich etwas geändert hatte. Statt für eine Tageskarte anzustehen, wurden sie aufgefordert, sich eine Monatskarte zu holen. Sie beobachtete, dass es in der Warteschlange schneller voranging, und sie erfuhr, dass das Mehl jetzt wieder roh ausgegeben wurde, sodass sie nicht warten mussten, bis davon ein Brei gekocht war. »Wir haben einen neuen Aufseher«, sagte ihr eine der Frauen, aber wer es war, erfuhr sie erst, als der kleine Daniel plötzlich zu der Stelle rannte, wo der Mann gerade eine Lieferung Mehl kontrollierte.

»Es ist Mr Smith«, rief er. »Mr Smith«, sagte er zu den Umstehenden, »ist unser Freund.«

Maureen eilte hinzu und entschuldigte sich für die Störung, aber Stephen Smith schien es überhaupt nichts auszumachen. Man habe ihn gebeten, erzählte er, für Erste die Aufsicht über die Suppenküchen von Ennis zu führen. Sein Vorgänger sei entlassen worden. Er richtete seinen Blick auf Daniel.

»Sag mir noch mal, wie du heißt«, forderte er ihn freundlich auf.

»Daniel, Sir.«

»Ach ja. Ein vorzüglicher Name.«

»Ich bin nach Daniel O’Connell benannt worden.«

»Ich kenne Mr O’Connell gut.«

»Weiß er, dass ich nach ihm benannt bin?«

Stephen zögerte nur einen Sekundenbruchteil, dann lächelte er Maureen zu und antwortete:

»Aber natürlich weiß er das. Und er freut sich sehr darüber.«

Dem kleinen Daniel schwoll die Brust vor Stolz. Maureen segnete die Freundlichkeit des Mannes im Stillen und wunderte sich über sie. Und da den Leuten an der Mehlausgabe nicht entgangen war, dass sie mit dem neuen Aufseher auf gutem Fuß stand, gaben sie ihr, als sie an die Reihe kam, etwas mehr, als sie ihr sonst gegeben hätten.

***

Am zweiten April fühlte sich Eamonn Madden unwohl.

»Ich habe heute überhaupt keine Kraft«, sagte er am Morgen. Er wirkte etwas ratlos. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Normalerweise ignorierte er alle Beschwerden, so wie ein König klagende Untertanen ignoriert.

Maureen ging wie gewöhnlich mit Daniel nach Ennis.

Am Abend bemerkte sie, dass ihr Vater zitterte, und er gestand ihr, dass er Kopfschmerzen habe. Sie befühlte ihm die Stirn und spürte, dass er Fieber hatte. Zum Glück hatte sie etwas Fleischbrühe kochen können, und sie gab ihm davon. Am nächsten Morgen war sein Zustand unverändert. Am Abend glühte seine Stirn.

»Besser, du hältst die Kinder von mir fern«, sagte er zu ihr und bestand darauf, in den hintersten Raum zu gehen, in dem sie früher ihre Kartoffeln gelagert hatten. Sie bereitete ihm mit einer Decke und Stroh ein Schlaflager. »Das genügt mir«, sagte er.

Sie sprach mit Nuala. Die Ärzte von Ennis hatten in den Spitälern alle Hände voll zu tun, doch Nuala fand einen Priester, den sie fragen konnte. Er gab ihr einen klugen Rat.

»Ganz gleich was ihr tut«, sagte er, »bringt ihn auf keinen Fall ins Fieberspital. Dort hat er es sich wahrscheinlich geholt. Haltet die Kinder von ihm fern und betet. Ich habe jetzt jeden Tag mit Fieberfällen zu tun, und es werden immer mehr. Die Menschen sind durch den Nahrungsmangel so geschwächt, dass sie keine Widerstandkraft mehr haben. Es gibt zwei Formen: das gelbe und das schwarze Fieber, wie man sie nennt. Das schwarze ist Typhus, eine schlimme Krankheit, aber die meisten überleben sie. Ist dein Vater ein kräftiger Mann? Das ist gut. Dann bete für ihn. Mit etwas Glück wird das Fieber in einer Woche sinken.«

Doch es sank nicht. Am fünften Tag, als Maureen ihren Vater fütterte, bemerkte sie im Kerzenschein, dass die Haut auf seiner Brust gesprenkelt war. Sein Hemd stand auf einer Seite offen, und als er sich umdrehte, sah sie, dass er dunkelrote Flecken auf der Seite hatte. Sie war sich nicht sicher, ob er sich dessen bewusst war, deshalb sagte sie nichts. Am nächsten Tag waren die Flecken dunkler. Die Kinder wollten ihn sehen, aber sie ließ sie nicht zu ihm. Sie gab ihm weiter Fleischbrühe.

Am nächsten Abend brachte Nuala etwas Milch mit nach Hause. »Die ist gut gegen Fieber«, sagte sie. »Meinem Krämer habe ich gesagt, sie sei für meine Schwestern, damit sie zu Kräften kommen.«

»Weiß er von Vater?«

»Spinnst du? Er würde mich nicht mehr anrühren, wenn er Bescheid wüsste. Und das hieße …«, sie verzog das Gesicht, »… keine Lebensmittel mehr.«

Zwei Tage später waren die Flecken auf der Brust ihres Vaters fast schwarz. Am Abend begann er zu phantasieren und wirr zu reden. Er hatte die Augen offen, aber Maureen wusste, dass er sie nicht sah. Tags darauf hatte er gegen Mittag einen lichten Moment.

»Bring mir Daniel.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nur bis zur Tür. Nur für einen Augenblick.«

Widerstrebend gehorchte sie. Eamonn setzte sich auf und lehnte sich gegen die Wand.

»Daniel, dein Vater ist krank. Ich sehe dich vielleicht nicht wieder. Verstehst du?«

Der Junge starrte mit weit aufgerissenen Augen in den dunklen Raum, wusste aber nicht, was er sagen sollte.

»Deine Schwester wird sich um dich kümmern«, fuhr sein Vater fort, »und du wirst immer versuchen, ihr zu helfen. Willst du das für mich tun?« Daniel nickte. »Und später, wenn du groß und stark bist, wirst du niemals krank werden. Dann bist du der Mann in der Familie und kümmerst dich um Maureen und deine anderen Schwestern. Versprichst du mir auch das?«

»Ja«, sagte der kleine Junge leise.

»Gut. Du bist ein guter Junge, Daniel. Ich bin sehr stolz auf dich.« Er blickte zu Maureen. »Das war’s.«

In diesem Augenblick wollte Daniel zu seinem Vater rennen, aber Maureen konnte ihn gerade noch zurückhalten.

Als sie wieder in dem vorderen Zimmer waren, sagte Daniel zu ihr:

»Ich werde mich um dich kümmern, Maureen. Das verspreche ich. Für alle Zeit.«

»Das weiß ich«, erwiderte sie und gab ihm einen Kuss. Dann ging sie zurück, um ihrem Vater zu helfen. Er wirkte auf einmal sehr müde.

»Heute Abend, wenn Nuala zurück ist, spreche ich mit den Mädchen.«

Doch am Abend phantasierte er wieder.

Dieser Zustand hielt auch am nächsten Tag an. Dann fiel er in eine Art Starre. Seine Augen standen weit offen, und sein Atem ging flach. Maureen wusste nicht, was sie tun sollte. Nuala holte den Priester, der, nachdem er ihm die letzte Ölung gegeben hatte, zu ihnen sagte: »Ich glaube, jetzt dauert es nicht mehr sehr lange.«

Als Maureen am nächsten Morgen zu ihm ging, stellte sie fest, dass er gestorben war.

***

Im Juli des Jahres 1847 geschah etwas Wunderbares.

Die große Hungersnot in Irland ging zu Ende.

Gewiss, der überwiegende Teil der irischen Bevölkerung war noch dem Hungertod nahe, und die Zahl der geschwächten Menschen, die an Krankheiten starben, stieg. Zudem waren so wenige Kartoffeln gepflanzt worden, dass die Ernte, selbst wenn sie von der Fäule verschont blieb, niemals ausreichen würde, um die Armen auf dem Land, die ihre ganze Hoffnung auf sie setzten, zu ernähren. Und immer mehr Kleinpächter und Cottiers wurden von ihrem Land vertrieben und in bitterste Not gestürzt. Mit anderen Worten, Irland lag am Boden.

Doch die Hungersnot ging zu Ende. Wie wurde dieses Wunder vollbracht? Nun, auf die einfachste Art, die man sich vorstellen kann: Die Hungersnot wurde per Gesetz abgeschafft. Es musste sein. Die Whigs standen vor Parlamentswahlen.

Die britische Öffentlichkeit war die Hungersnot in Irland leid. Schließlich hatten alle ihr Bestes getan. Als man im Frühjahr einen Freiwilligenfonds für die Nothilfe in Irland und Schottland eingerichtet hatte, spendete Königin Viktoria persönlich zweitausend Pfund, und innerhalb kurzer Zeit kam fast eine halbe Million Pfund Sterling zusammen, eine gewaltige Summe, die weit den Wert der Hilfsgüter überstieg, die in Amerika lebende Iren und ihre Freunde mit über einhundert Schiffen über den Atlantik schickten. Die Regierung selbst hatte Millionen ausgegeben. Im Frühsommer konnten die Suppenküchen zudem häufig ein nahrhaftes Gemisch aus Mais, Reis und Hafer anbieten, und es gab mehr als genug für alle. Die Nahrungsmittelknappheit war überwunden.

Allerdings unter hohen Kosten. Die Aufwendung von Steuergeldern für Irland konnte nicht unbegrenzt weitergehen. Inzwischen, so glaubten viele Briten, müssten die Iren doch in der Lage sein, ihr Haus aus eigener Kraft in Ordnung zu bringen. Redner warfen der Regierung Verschwendung vor. Zeitungen brachten Artikel über falsch verstandene Menschlichkeit: Man dürfe, so schrieben sie, zu den Iren nicht übertrieben freundlich sein, sonst untergrabe man ihre Selbstachtung.

In Anbetracht der allgemeinen Stimmung im Land und der bevorstehenden Wahlen beschloss die Regierung, das zu tun, was Regierungen seit jeher tun: »Wenn du einen Krieg nicht gewinnen kannst, erkläre dich zum Sieger.«

Immerhin schien die diesjährige Kartoffelernte von der Fäule verschont zu bleiben, und beim irischen Getreide zeichnete sich eine Rekordernte ab. Dass die armen Iren kein Geld hatten, um sich Getreide zu kaufen, war ein Detail, über das man hinwegsehen konnte. Solche Dinge regelte der Markt.

Außerdem war man auf eine glänzende Idee gekommen. Im Juni jenes Jahres verabschiedete das britische Parlament ein Gesetz, das die Nothilfe in Irland von Grund auf neu regelte. Das Gesetz zur Ausdehnung des Armengesetzes war ein brillantes Instrument. Ab sofort konnten sich alle Bedürftigen an das örtliche Arbeitshaus wenden, wo sie entweder kaserniert oder versorgt wurden. Die Kräftigen hatten natürlich keinen Anspruch auf Nahrungshilfe. Verschiedene Klauseln im Gesetz sollten verhindern, dass die Großzügigkeit missbraucht wurde. Wer einen Garten besaß, in dem er Gemüse für den Eigenbedarf zog, war abzuweisen. Und zumindest die Männer sollten zu Arbeiten wie Steineklopfen gezwungen werden – beispielsweise zehn Stunden am Tag –, um von jedem Versuch abzuschrecken, sich Zuwendungen zu erschleichen. Allerdings wurden auf diese Weise den örtlichen irischen Stellen die Kosten aufgebürdet. Und das war ganz im Sinne des Gesetzgebers, denn sobald das Gesetz in Kraft trat – voraussichtlich gegen Ende des Sommers –, konnte man die gegenwärtigen kostspieligen Suppenküchen schließen und den arg strapazierten englischen Steuerzahler entlasten.

Die große Hungersnot in Irland wurde also per Gesetz beendet. Da sie nicht mehr offiziell war, existierte sie auch nicht mehr. Und wenn doch, dann war sie ein rein irisches Problem. Das war ein Tribut an die Flexibilität der Union.

So konnte die britische Regierung voller Zuversicht und in dem Bewusstsein, ihre Pflicht getan zu haben, vor den Wähler treten.

***

Stephen Smith war in höchstem Maße überrascht, als er eines Julitages auf der Straße Samuel Tidy entdeckte, der mit nachdenklichem Blick vor der Suppenküche stand. Er ging sofort zu ihm. Der Quäker war über diese Begegnung nicht weniger überrascht. Er lauschte aufmerksam, als Stephen ihm in aller Kürze erklärte, was er hier machte, dann berichtete er seinerseits, dass er nach Ennis gekommen sei, um festzustellen, wie die Quäker helfen könnten. Da Stephen am Abend in Charles O’Connells Haus erwartet wurde, schlug er Tidy vor, ihn zu begleiten. O’Connell werde ihn bestimmt mit Freuden willkommen heißen.

Stephen hatte sich in letzter Zeit häufig mit Daniel O’Connells Cousin getroffen. Obwohl er gewusst hatte, dass es dem großen Mann gesundheitlich nicht gut ging, war er tief betroffen gewesen, als der Befreier im Mai 1847 auf einer Pilgerreise nach Rom gestorben war. Natürlich hatte er umgehend Charles O’Connell aufgesucht, und seitdem hatten sie öfter zusammen zu Abend gegessen. Charles hatte ihn zu überreden versucht, seine politische Laufbahn wieder aufzunehmen.

Jetzt aßen die drei Männer ruhig zusammen zu Abend. O’Connell entschuldigte sich für das etwas schlichte Mahl. »Es ist in der Tat recht bemerkenswert«, sagte er, »wie wenig sich für die reicheren Kaufleute und die örtliche Gentry geändert hat. Die Gentry gibt in ihren Häusern nach wie vor Gesellschaften – zugegebenermaßen in aller Stille –, aber man kann immer noch in jedem Landhaus hier in der Gegend dinieren und Whist spielen. Ich weiß, es ist schrecklich, so etwas zu sagen, aber diese Hungersnot war für viele Landgüter in der Grafschaft ein Segen, denn sie lieferte den Grundherren und den Großbauern einen Vorwand, unliebsame Pächter zu vertreiben. Einer sagte zu mir: ›Ich habe einige meiner Leute überredet, nach Amerika auszuwandern. Es kommt mich günstiger, wenn ich ihnen die Überfahrt bezahle und mein Land zurückerhalte.‹ So stehen die Dinge, Mr Tidy. Ob Engländer oder Ire, das macht keinen großen Unterschied. Die Reicheren haben in dieser Sache ihre Interessen, und die Armen, die leiden, andere. Sie könnten jetzt einwenden, dass es gar nicht erst so weit hätte kommen dürfen.«

»Das würde ich mit Sicherheit«, sagte der Quäker. »Aber es ist nun mal geschehen, und es gibt Leute, die behaupten, dass wir unsere Schwierigkeiten nur überwinden, wenn wir vorher diese schreckliche Phase der Anpassung durchlaufen.«

»Womit sie den Hungertod meinen«, fügte Stephen mit Nachdruck hinzu. »Denn nichts anderes ist es, was die britische Regierung jetzt vorschlägt.«

»Sie glauben, dass die Briten die Armen in Irland absichtlich verhungern lassen?«

»Nicht direkt«, antwortete Stephen. »Aber ich glaube, dass alles, was sie getan haben, schon im Ansatz falsch war. Vor meiner jetzigen Tätigkeit habe ich bei der Durchführung öffentlicher Bauvorhaben geholfen. Männer bekamen einen Hungerlohn für nutzlose Arbeiten, damit sie sich Lebensmittel kaufen konnten, die es gar nicht gab. Obendrein hat das die Regierung viel Geld gekostet, viel mehr, als wenn sie die Menschen einfach nur ernährt hätte. Das ganze System ist gescheitert, deshalb hat man die Suppenküchen eingeführt. In einigen entlegenen Gebieten von Clare haben die Suppenküchen so spät die Arbeit aufgenommen, dass in der Zwischenzeit ganze Dörfer verhungert waren. Momentan ist die Gefahr gebannt. Doch in zwei Monaten stellen die Suppenküchen den Betrieb ein, und die Arbeitshäuser werden versuchen, die Lücke zu schließen.«

»Das stimmt mich sehr besorgt«, sagte Tidy.

»Dazu besteht auch Grund. Wissen Sie, wie viele Menschen zum jetzigen Zeitpunkt in Clare gespeist werden müssen? Einhunderttausend. Wissen Sie, wie viele Plätze es in den Arbeitshäusern der Grafschaft gibt? Dreitausend. Was soll aus den restlichen siebenundneunzig Prozent werden? Das kann mir niemand sagen. Hier in Ennis«, fuhr er verbittert fort, »kann ich fünfunddreißigtausend versorgen – von denen viele, nebenbei bemerkt, arbeitsfähig sind. Das Arbeitshaus wird vergrößert. Künftig wird es über etwas mehr als tausend Plätze verfügen.« Stephen Smith machte eine verzweifelte Geste.

Der Quäker betrachtete ihn mit stillem Vergnügen. »Wie ich sehe«, sagte er, »haben Sie sich seit unserer ersten Begegnung verändert, Mr Smith. Damals waren sie noch ganz Politiker.«

»Können die Quäker helfen?«, fragte Stephen. »Wenn mich nicht alles täuscht, haben Quäker doch die allerersten Suppenküchen eingerichtet.«

»Wir können helfen«, antwortete Tidy, »aber wir sind vorsichtig. Es steht nämlich immer zu befürchten, dass man uns unterstellt, wir wollten die Menschen bekehren, was wir, wie ich Ihnen versichern kann, niemals tun.«

»Ach ja«, sagte Charles O’Connell, »Sie meinen die ›Suppenmission‹.«

Stephen hatte davon gehört. Protestantische Geistliche boten den Hungernden Essen an, wenn sie dem katholischen Glauben abschworen.

»Ich kann nicht behaupten, dass ich es mit eigenen Augen gesehen hätte«, erklärte er. »Kommt das wirklich vor?«

»Selten«, antwortete der Quäker. »Aber ich habe es gesehen.«

»Und was könnten Sie hier tun?«, wollte Stephen wissen.

»Wir werden wahrscheinlich versuchen, mit den örtlichen Gemeinden zusammenzuarbeiten. Wir schicken Ihnen Hilfsgüter – Nahrungsmittel, Kleidung und so weiter –, und sie sollen alles so verteilen, wie sie es für das Beste halten. Wir haben unten in Limerick Depots. Die Lieferungen würden also von dort kommen.«

»Ich bete zu Gott, dass Sie sich dazu entschließen«, sagte Stephen. »Im Herbst werden wir hier vor gewaltigen Problemen stehen.«

Nachdem sie eine Zeit lang darüber diskutiert hatten, wechselte Tidy das Thema und fragte O’Connell nach der bevorstehenden Wahl, da er wusste, dass ihr Gastgeber sich brennend dafür interessierte.

»Das wird mit Sicherheit eine aufregende Sache«, sagte er. »Die städtischen Wahlbezirke machen den Anfang, und hier ist alles bereits entschieden. Einer der Kandidaten ist O’Gorman Mahon, der anno ’28 für meinen Cousin als Antragsteller fungiert hat. Die hiesigen Geschäftsleute lieben ihn. Er ist total verrückt. Weiß der Himmel, was der in London anstellen wird. Aber sein Gegner ist schon so am Boden, dass er die Kandidatur zurückziehen will. Danach kommen die Wahlen auf dem Land. Ein Sitz ist bereits vergeben, aber der Kampf um den zweiten wird interessant. Denn es kandidiert kein geringerer als Sir Lucius O’Brien.« Er grinste. »Und ich fungiere als sein Agent.«

Als wichtigster Repräsentant dieses mächtigen Clans, direkter Nachfahr von König Brian Boru und Eigentümer des riesigen Anwesens Dromoland Castle, das in Richtung Limerick lag, war Sir Lucius einer der bedeutendsten alten Prinzen Irlands, die es im Westen noch gab.

Allerdings war er ein Tory, daher unterstützte er England.

»Ich muss zugeben, dass seine Ansichten ein Problem darstellen«, sagte Charles O’Connell, »denn sie laufen allem zuwider, wofür mein Cousin eingetreten ist und was die Wähler hier wollen – dennoch glaube ich, dass wir siegen werden.«

»Und wie wollen Sie das schaffen?«, fragte Stephen.

»Er ist sehr leutselig«, antwortete O’Connell. »Und er war nie ein Mann, der in der Öffentlichkeit auf seinem Standpunkt herumreitet und sich eindeutig festlegt. Man könnte sagen, dass ihn eine vornehme Zweideutigkeit umgibt. Wir arbeiten zurzeit an ein paar Reden, die den Eindruck erwecken sollen, dass er stärker für eine Auflösung der Union ist, als man bisher geglaubt hat. Außerdem ist Sir Lucius O’Brien ein schwerreicher Mann. Er wird viel Geld unter die Leute bringen.«

»Wenn Sie in Ennis die Stimme eines Mannes haben wollen, müssen Sie dafür zahlen. Das ist hier nicht anders als in England. Und in Amerika, soweit ich weiß.«

»Es tut mir leid, das zu hören.«

»Außerdem müssen Sie die Folgen der Hungersnot berücksichtigen«, fuhr O’Connell fort. »Unsere Kaufleute hatten alle schwer unter ihr zu leiden. Man kann ihnen schwerlich einen Vorwurf daraus machen, dass sie jede Gelegenheit nutzen, etwas Geld zu verdienen. Zurzeit stehe ich in Verhandlungen mit der Kaufmannschaft.«

Tidy blieb noch zwei Tage in der Gegend. Er und Stephen führten noch ein weiteres Gespräch und vereinbarten, sich brieflich darüber zu verständigen, was nach der Wahl für die Armen in Ennis getan werden könne.

 

Die Gesichter der Menschen, die in die Suppenküchen kamen, wurden Stephen bald vertraut. Ohne darüber nachzudenken registrierte er, wer krank geworden oder verschwunden war. Fieber, Durchfall und Ruhr forderten unablässig Opfer, insbesondere unter den Kindern. Er wusste, wie viele in den Spitälern starben, daher konnte er sich eine ungefähre Vorstellung von der Zahl der Todesfälle in der Stadt machen, aber wer wusste, wie viele draußen auf dem Land dahingerafft wurden? Sein einziger Trost war, dass die Sterblichkeitsziffer ohne die Suppenküchen ungleich höher gewesen wäre.

Zu seinem Bedauern erfuhr er im Mai vom Tod Eamonn Maddens. Zwei Monate später sah er, dass Maureen sehr niedergeschlagen war. Obwohl er sonst zu den Menschen, die in die Suppenküchen kamen, keinen engen Kontakt pflegte, der alles nur noch komplizierter machte, trat er auf Maureen zu und fragte sie, ob etwas geschehen sei.

»Meine Schwestern Mary und Caitlin sind beide letzte Woche gestorben, Sir«, antwortete sie. »An der Ruhr.«

»Haben Sie noch Ihren kleinen Bruder?«

»Ja, Gott sei Dank. Den kleinen Daniel und meine Schwester Nuala.«

»Arbeitet sie?«

»Sie hilft gelegentlich bei einer Wäscherin aus, mehr nicht.«

Stephen sah Maureen jeden Tag, oft mit dem kleinen Jungen an der Hand. Ohne dass sie es ahnte, wurde sie für ihn ein Symbol der Hoffnung, dass in diesem ganzen Elend das Gute noch weiterlebte und seine Arbeit nicht gänzlich vergebens war.

***

Die Wahl hielt alles, was Charles O’Connell versprochen hatte. Trotz der Warteschlangen vor den Suppenküchen und der Allgegenwart des Hungertodes herrschte in der Stadt fast so etwas wie Karnevalsstimmung. Rowdys, die brüllend ihre Unterstützung für ihren Kandidaten bekundeten, fuhren auf Wagen durch die Straßen, ohne die Armen, an denen sie vorüber kamen, eines Blickes zu würdigen. Tatsächlich schienen die Menschen in den Warteschlangen für die Ablenkung dankbar zu sein und verfolgten das merkwürdige Spektakel mit Interesse. Die Pubs waren voll, denn Sir Lucius hatte Getränkegutscheine für jedermann ausgegeben.

Sir Lucius O’Brien war ein populärer Kandidat. Er bewegte sich nicht nur ungezwungen in jeder Gesellschaft, sondern konnte auch das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, dass er seinen Pächtern während der Hungersnot jede erdenkliche Hilfe hatte zukommen lassen. Auf dem riesigen Anwesen Dromoland hatte niemand gehungert, und das wusste jeder. Die Bewohner von Ennis hängten zu seiner Begrüßung grüne Zweige an ihre Häuser.

Seine Rede, an der Charles O’Connell mitgeschrieben hatte, war eine Meisterleistung.

»Bin ich nicht in Irland geboren?«, rief der Aristokrat. »Und meine Vorfahren? Haben Sie nicht dafür gekämpft, dass Irland ein unabhängiges und freies Königreich wird? Meine Wurzeln stecken in irischem Boden. Mein Blut ist irisches Blut. Wo sonst könnte mein Interesse liegen, wenn nicht in Irland? Welches Land könnte ich lieben, wenn nicht Irland? Für welches Land könnte ich mein Leben hingeben, wenn nicht für Irland? Schickt mich ins Parlament, und ich werde für Irland sprechen.«

Stephen nahm mit professioneller Anerkennung zur Kenntnis, dass er mit keinem Wort gesagt hatte, er sei für die Auflösung der Union. Aber man konnte es leicht meinen.

Was die Wahl selbst betraf, so war sie in seinen Augen nicht besser oder schlimmer als andere Wahlen, die es in der Vergangenheit gegeben hatte oder in Zukunft geben würde. Die Kaufmannschaft erhielt zweihundertundfünfzig Pfund für ihre Stimmen, allerdings hatte sie hundert mehr gefordert. Andere Einzelwähler hatten für ihre Stimme unterschiedliche Summen herausgehandelt: Ein ganz Dreister hatte fünfzig Pfund verlangt. Charles O’Connell erhielt als Agent einhundertundachtzehn Pfund. »Obwohl ich eigentlich mehr bekommen sollte«, wie er sagte.

Ich würde mir wünschen, dachte Stephen, dass die Armen in meinen Warteschlangen auch eine Stimme zu verkaufen hätten. Einigen mittellosen Stadtbewohnern bot sich allerdings die Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen, wenn sie den Auftrag erhielten, Wähler des Gegenkandidaten zu entführen und einzusperren, bis die Wahlstuben schlossen. Ein oder zwei Entführungsopfer erlitten dabei Verletzungen.

Als alles vorüber war, zog der triumphale Wahlsieger Sir Lucius O’Brien als einer von zwei Abgeordneten der Grafschaft Clare in das Londoner Parlament ein – auch wenn es in Stephens Augen höchst zweifelhaft war, ob die guten Leute, die ihn gewählt hatten, jemals ein Wort zur Auflösung der Union von ihm hören würden.

»Bekommen Sie da nicht Lust, in die Politik zurückzukehren, Stephen?«, fragte Charles O’Connell. »Können wir Sie nicht dazu überreden?«

»Eigentlich nicht«, antwortete Stephen.

 

Stephen Smith konnte die Suppenküchen bis Anfang September 1848 weiterführen. Dann wurden sie geschlossen. Charles O’Connell hatte ihn gefragt, ob er nicht einer der Armenfürsorger werden wolle, die das Arbeitshaus im Zuge der Neuregelung einstellen werde. »Die Stelle ist recht gut dotiert«, meinte O’Connell zu ihm. Etwa zur gleichen Zeit erhielt Stephen einen Brief von Tidy, der ihm anbot, nach Limerick zu kommen und dort bei der Verteilung und Weiterleitung der Lebensmittel zu helfen. »Ich glaube«, sagte er zu O’Connell, »dass ich mich in Limerick nützlicher machen kann als in Clare.« Außerdem war er schon zu lange in Ennis. Stephen war mit seinen Kräften am Ende. Er brauchte eine Luftveränderung.

Bevor er abreiste, ging er zu den Maddens, um sich zu verabschieden. Nuala war nicht zu Hause, nur Maureen und der kleine Junge waren da.

»Es ist wunderbar, wie Sie für Ihren Bruder sorgen«, sagte er zu ihr. Sie lächelte nur.

»Aber nein, Sir, es ist Daniel, der für mich sorgt.« Und der kleine Kerl warf sich stolz in die Brust. Offensichtlich glaubte er tatsächlich, dass es so war.

Stephen hoffte, und zwar mehr, als er die beiden spüren lassen wollte, dass sie die kommenden Monate überlebten, denn er befürchtete, dass ihnen eine sehr schwere Zeit bevorstand.

***

Und doch, so dachte Maureen, war etwas Wahres daran. Denn mehr als einmal hatte der kleine Daniel inzwischen einen Kohlkopf gestohlen. Die Bauernhöfe waren gut bewacht. »Aber ich bin klein«, sagte er stolz, »mich sehen die gar nicht.« Dass ein Madden stolz darauf war zu stehlen: Wie weit war es mit ihnen gekommen? Aber wie hätte er seiner Schwester sonst helfen können?

Als Mary und Caitlin innerhalb eines Tages beide krank geworden waren, hatte Maureen gewusst, dass sie nicht mehr genesen würden. Sie konnte nicht sagen, warum. Vielleicht lag es einfach daran, dass sie schon so viele Kinder auf diese Weise hatte sterben sehen. Die Ruhr war jetzt weit verbreitet, und die Kinder waren körperlich so geschwächt, dass nur wenige gegen die Krankheit ankämpfen konnten. Maureen hatte für ihre Schwestern alles getan, was sie konnte. Sie hatte für Daniel gebetet und ihr Herz verhärtet. Und tatsächlich litt sie bei ihrem Tod nicht so sehr, wie sie eigentlich sollte, denn etwas in ihrem Innern hatte sich verschlossen und geweigert, noch mehr Schmerz zu ertragen. Der kleine Daniel war ziemlich still gewesen, und eines Tages fragte er sie mit großen Augen: »Werden Mary und Caitlin sterben?« Und sie konnte ihm nur darauf antworten: »Das liegt in Gottes Hand.« Nachdem sie gestorben waren, sprach er einen oder zwei Tage lang kein Wort. Aber dann fragte er sie nachdenklich: »Sind sie jetzt beim lieben Gott?«

»Ja, das sind sie. Und bei unseren Eltern. Sie sind jetzt alle zusammen beim lieben Gott.«

»Und wo ist der liebe Gott?«

»Er ist im Himmel, Daniel.«

Er hatte bedächtig genickt, als würde das alles erklären. »Ich habe mir schon gedacht, dass er hier nicht sein kann.«

Als Mr Smith vorbeikam, um sich zu verabschieden, war sie sehr ruhig und höflich gewesen. Und als er ging, sah sie ihm lange nach und fragte sich, was nun, da die Suppenküchen schlossen, aus ihnen werden sollte. Als seine Gestalt sich auf der Straße entfernte, hatte sie das Gefühl, einen großen Verlust zu erleiden, und sie wünschte sich, er würde zurückkommen oder sich wenigstens nach ihnen umdrehen. Es war, als ob mit ihm auch ihre letzte Hoffnung schwand.

Sie zuckte zusammen, als Daniel neben ihr sagte: »Es wäre schön, wenn du Mr Smith heiraten könntest, Maureen.«

»Oh.« Sie hatte kurz aufgelacht. »Sei nicht albern, Daniel.«

***

In den ersten Tagen nach der Schließung der Suppenküchen hatten Maureen ängstlich abgewartet, was geschehen würde. Sie konnten sich auf dem Markt etwas zu essen kaufen, da Nuala Geld gespart hatte. Aber eines Tages hatte sie bemerkt, dass ihre Schwester nachdenklich dreinblickte.

Seit Nuala ihrem jetzigen Gewerbe nachging, hegte Maureen eine große Befürchtung. Das war nur natürlich. Was, wenn sich Nuala bei einem ihrer Männer mit einer Krankheit ansteckte? Sie wusste von Mädchen in der Stadt, denen dieses Unglück widerfahren war, und sie wusste auch, dass man ihnen im Spital gewöhnlich jede Hilfe verweigerte. Einige dieser Mädchen hatten deshalb kleinere Delikte begangen und sich absichtlich dabei erwischen lassen, damit sie ins Gefängnis kamen. Wenn man dort eine Geschlechtskrankheit bei ihnen feststellte, brachte man sie ins Gefängnissanatorium, wo sie blieben, bis sie geheilt waren. Für die Armen war das der beste Weg, in den Genuss einer Behandlung zu kommen. Hatte sich nun auch Nuala angesteckt? Trug sie sich mit dem Gedanken, ins Gefängnis zu gehen? Und abgesehen von der Schande, was sollte dann aus ihnen werden? Ein Tag verging, und am Abend nahm Maureen ihren ganzen Mut zusammen, um ihre Schwester zu fragen, doch bevor sie dazu kam, hatte Nuala schon das Wort ergriffen.

»Wir müssen von hier fort, Maureen.«

»Warum denn?«

»Wenn wir nicht fortgehen, werden wir alle sterben. Das weiß ich.«

»Was redest du da?«

»Ich kann uns hier wegbringen.«

»Wie denn?«

»Ich kenne einen Mann, der mich mitnehmen würde. Er sagt, dass es ihm nichts ausmachen würde, wenn du und Daniel mitkämen.«

»Aber dein Krämer lebt doch hier.«

»Der ist es nicht. Ein anderer. Er geht nach Wexford zurück. Er sagt, dort sei es nicht so schlimm. Dort gebe es wenigstens etwas zu essen.«

»Will er dich heiraten?«

»Das habe ich nicht gesagt. Darum geht es nicht, Maureen. Wenn er mich nur eine Weile versorgt …«

»Wie lange kennst du ihn schon?«

»Ein paar Tage.«

»Oh, Nuala. Worauf würden wir uns da einlassen? Auf so ein vages Versprechen hin kann ich mit Daniel nicht von hier weggehen. Da sind wir hier besser dran.«

»Nein, das seid ihr nicht. Ihr werdet nichts zu essen bekommen. Ihr werdet nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf haben. Das ist unsere einzige Chance, Maureen, glaub mir doch! Wir müssen sie nutzen.«

»Gib mir Bedenkzeit, Nuala, wenigstens bis zum Morgen Bedenkzeit.«

»Ich gehe morgen früh, Maureen. Es tut mir leid, aber ich muss. Ich möchte nicht hier sterben.«

Am Morgen sprachen sie noch einmal darüber, allein.

»Ich kann nicht, Nuala, vielleicht fehlt mir der Mut, aber es erscheint mir nicht richtig.«

»Er hat gewusst, dass du das sagen würdest.«

»Mir wäre es lieber, du würdest nicht gehen.«

Doch Nualas Gesicht hatte einen harten Ausdruck angenommen.

»Hier sind zehn Shilling, Maureen. Damit könnt ihr euch eine Weile über Wasser halten. Es ist alles, was ich gespart habe.«

»Soll ich Daniel holen, damit du dich von ihm verabschieden kannst?«

»Nein. Du kannst ihm sagen, was du willst. Lebwohl, Maureen.« Und dann war sie fort.

Später am Morgen sagte Maureen lächelnd zu Daniel: »Nuala hat eine Stelle. Sie wird eine Weile wegbleiben.«

»Aber wir sehen sie doch wieder?«

»Natürlich.«

»Ist sie im Gefängnis?«

»Nein«, rief sie entrüstet.

»Das ist gut«, sagte der kleine Daniel.

In den folgenden Tagen fragte sie sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ohne Nuala würden sie kein Geld mehr bekommen. Das bedeutete, dass sie die Miete für die Kate nicht mehr würde bezahlen können, es sei denn, sie versuchte, denselben Weg wie ihre Schwester einzuschlagen. Auf jeden Fall würde sie mit dem bisschen Geld, das sie hatten, sparsam umgehen. Sie fürchtete sich vor dem Arbeitshaus. Dennoch ging sie hin, um festzustellen, ob von dort Hilfe zu erwarten war. Obwohl man dreihundert neue Plätze geschaffen hatte, waren alle bis auf den letzten belegt. Man sagte ihr, sie solle morgen wiederkommen. Vielleicht gebe es dann ein wenig zu essen, aber garantieren könne man es nicht.

Tags darauf entbrannte zwischen zwei Armenfürsorgern ein Streit über ihren Status. »Sie ist keine Witwe«, sagte der eine. »Und sie ist arbeitsfähig.« Der andere vertrat einen großzügigeren Standpunkt: »Sie und ihr kleiner Bruder sind eindeutig Waisen. Sie dürfen Essen empfangen.« Aber es standen nur wenig Lebensmittel zur Verfügung, und vor dem Tor warteten Hunderte. Sie gaben ihr etwas Maismehl, konnten ihr aber nicht versprechen, dass sie auch beim nächsten Mal etwas bekommen würde.

»Wir sollen die alten Suppenküchen übernehmen, wenn wir die Dinge hier im Griff haben«, sagte der freundlichere der beiden. »Aber wie Sie sehen, geht im Moment noch alles drunter und drüber.«

Daran schien sich in der folgenden Woche wenig zu ändern.

Am Tag, bevor die Miete fällig wurde, entdeckte Maureen eine leere Hütte. Sie war nur dreißig Schritte von ihrer Kate entfernt. Die Mitglieder der Familie, die darin gewohnt hatten, waren alle tot. Es war nur eine Hütte mit einem Dach aus Flechtwerk, das mit Lehm bestrichen war. Aber sie schützte vor Regen. Falls dieses Grundstück einen Eigentümer hatte, so hatte ihn noch nie jemand zu Gesicht bekommen.

»Wir brauchen nicht mehr so viel Platz, du und ich«, sagte sie zu Daniel. »Dort werden wir es genauso gut haben.« Und als tags darauf der Agent vorbeikam, um die Miete zu kassieren, und ihre Bitte ablehnte, sie eine Weile umsonst in der Kate wohnen zu lassen, zogen sie kurzerhand in die leerstehende Hütte um.

Es war schon merkwürdig, wovon das Überleben abhing, dachte sie, als die ersten Septembertage ins Land gingen. Teils war es reine Glückssache, teils kam es darauf an, dass man die Ohren offenhielt. Die Arbeitshäuser waren völlig überfordert. Mal gab es in der alten Suppenküche in der Mill Street etwas zu essen, mal nicht. An manchen Tagen bekamen die Menschen, die vor dem Tor des Arbeitshauses warteten, Hilfe, an anderen, wenn Hunderte dort erschienen, wurden alle abgewiesen. Einmal hörte sie, dass in einer benachbarten Kirchengemeinde Nahrungsmittel und Kleidung der Quäker eingetroffen seien. Sie eilte dorthin, und der Priester, der eigentlich nur seine Gemeindemitglieder speisen wollte, hatte Mitleid mit ihr und gab ihr Erbsen und etwas Reis. Ein andermal, es war Anfang Oktober, hörte sie, dass ein paar Männer eine Wagenladung Getreide organisiert hatten und in der Nähe der neuen Brücke verteilten. Sie ließ Daniel zu Hause zurück und rannte so schnell sie konnte zur Brücke. Sie kehrte mit fünf Pfund Korn zurück. Davon konnten sie über eine Woche lang leben.

Die Weigerung des Arbeitshauses, arbeitsfähige Männer mit Nahrung zu versorgen, hatte zweierlei Folgen. Die Männer zogen los und plünderten Getreidetransporte. Aber mit der Zeit konnte man sehen, dass viele in eine Art Apathie verfielen. Je weiter der Oktober fortschritt, desto kälter wurde es, und Maureen hatte den Eindruck, dass die Nachbarn um sie herum mit jedem Tag etwas magerer und schwächer aussahen. Und irgendwann, als sie ihre eigenen Arme betrachtete und gewahr wurde, wie dünn sie waren, begriff sie, dass die anderen denselben Eindruck von ihr haben mussten.

Mitte Oktober wurde Daniel krank. Er hatte sich den Magen verdorben und musste zwei Tage lang mit Durchfall das Bett hüten. Sie achtete darauf, dass er viel Flüssigkeit zu sich nahm und etwas feste Nahrung in den Magen bekam. Er erholte sich wieder, und sie dankte Gott, dass er eine so kräftige Konstitution hatte. Aber er blieb blass und war viel schwächer als zuvor. Sie fragte sich, was sie tun konnte, damit seine Wangen wieder etwas Farbe bekamen.

Eine freundliche Nachbarin sagte ihr, was sie zu tun hatte. Beim ersten Mal fiel es ihr am schwersten. Sie wählte die Stelle sorgfältig aus, und das war auch nötig, denn die Bauern ließen ihre Felder und Weiden nicht mehr aus den Augen. Bei Einbruch der Dunkelheit machte sie sich auf den Weg, damit sie wenigstens noch etwas Licht hatte. Neben einer Steinmauer standen drei Kühe. Sie ließ sich Zeit und kroch am Boden entlang wie eine Schlange. Die Kühe glotzten sie an, als sie bei ihnen ankam. Sie wartete, bis sie sich an ihre Anwesenheit gewöhnt hatten, dann machte sie sich ganz behutsam ans Werk. Sie hatte ein kleines scharfes Messer und eine Holzschale mitgebracht.

Man musste nur eine geeignete Stelle am Bein finden und einen kleinen Schnitt anbringen. Wenn man es richtig machte, spürte die Kuh kaum etwas. Und dann musste man das heraustropfende Blut mit der Schale auffangen, so wie ein Arzt, der einen Patienten zur Ader ließ.

Sie hielt den Atem an, betastete das Bein, betete, dass die Kuh sich nicht plötzlich bewegte, und machte einen kurzen Schnitt ins Fleisch. Das Tier zuckte, aber nur ganz leicht. Sie hielt die kleine Schale an das Bein. Sie wollte nicht mehr als ein paar Tropfen. Die Kuh sollte nicht zu stark bluten, und mit etwas Glück würde der Bauer gar nicht merken, was geschehen war. Als sie genug hatte, legte sie ein Tuch über die Schale und verknotete es, wischte das Kuhbein sauber und kroch zurück.

Wieder in der Hütte, verdünnte sie das Blut mit Wasser, vermischte das Ganze mit Grütze und überredete Daniel mit einiger Mühe, es hinunterzuwürgen. »Das wird dir gut tun, auch wenn es nicht schmeckt.«

Ein paar Tage später tat sie das Gleiche noch einmal. Aber diesmal misslang ihr der Schnitt, und das Tier blutete viel zu stark. Am letzten Oktobertag, am schaurigen Abend von Samhain, ging sie ein drittes Mal hinaus auf die Weide. Doch als sie den Pfad neben der Mauer entlangging, erblickte sie den Bauern, der, ein altes Gewehr in der Hand, am Rand der Weide wachte. Er musterte sie argwöhnisch. Sie entbot ihm einen höflichen Abendgruß und ging weiter. Sie hatte Daniel etwas Gutes getan, davon war sie überzeugt. Aber war es genug?

Der November war trostlos. Nasskalte Witterung stellte sich ein. Und es gelang ihr nicht mehr, genug zu essen zu beschaffen, sosehr sie sich auch bemühte. Von dem Geld, das Nuala ihr geschenkt hatte, waren noch ein paar Shilling übrig, und sie versuchte, auf dem Markt etwas zu kaufen. Die Menge vor dem Armenhaus wuchs, und einmal hörte sie deutlich, wie ein Armenfürsorger zu einem Kollegen sagte: »Was sollen wir nur tun, wenn wir kein Geld mehr haben?«

Am Ende der dritten Woche war ihr klar: Ennis stand vor dem Kollaps. Alles ging merkwürdig leise vonstatten. Es wurde nicht gesprochen. Kein plötzlicher Aufruhr, keine Klagen, keine Schreie. Nur kalte, dumpfige Stille, während die Welt langsam in Lethargie versank, als sei das Leben selbst an den schlammigen Straßen geschrumpft und in Kälte erstarrt. Sie nahm Daniel nun nicht mehr mit, wenn sie in die Stadt ging, weil sie ihm den Anblick ersparen wollte. Überall am Wegrand sah man kranke und sterbende Menschen, manchmal ganze Familien. Mehr als einmal musste sie über Leichen steigen, die auf der Straße lagen. Als jedoch die Nachbarn erkrankten, konnte sie es ihm nicht verheimlichen. Sie konnte nur versuchen, Daniel von ihnen fernzuhalten.

Dann kam der Regen, gefolgt von einem Tag, an dem ein eisiger Wind blies. Und dann, am zweiundzwanzigsten, bekam Daniel Fieber.

Sie wusste nicht, was es war. Der Junge glühte. Sie kühlte ihm die Stirn und flößte ihm Flüssigkeit ein. Sie wachte an seinem Bett. Sie spürte, dass er immer heißer wurde, obwohl sie ihn von Kopf bis Fuß in eine feuchte Decke wickelte, um das Fieber aus seinem Körper herauszuziehen. Sie wusste, dass er stark war. Das war das Wichtigste. Am dreiundzwanzigsten hatte sie das Gefühl, dass das Fieber sank. Er war jetzt blass, und seine Augen starrten auf eine Weise, die sie noch nie bei ihm gesehen hatte.

»Du musst jetzt kämpfen, Daniel«, sagte sie. »Du musst ein tapferer Junge sein, und du musst kämpfen.«

»Es tut mir leid, Maureen«, hauchte er. »Ich will es versuchen.«

Dann, am nächsten Morgen, kam der Regen zurück. Ein trostloser grauer Regen, der ein schmutziges nasses Leichentuch über die Lebenden und die Toten breitete. Und während es regnete, schaute sie Daniel in die Augen und sah das, wovor sie sich gefürchtet hatte, diesen Blick, den sie zuvor schon in den Augen von Kindern gesehen hatte, wenn sie den Kampf gegen eine Krankheit aufgegeben hatten.

Was sollte sie tun? Sie konnte doch nicht hierbleiben, seine Hand halten, während er von ihr ging – er, das Letzte, was ihr auf dieser Welt geblieben war. Und so wickelte sie ihn in ein Schultertuch, trug ihn hinaus in den Regen und rannte so schnell sie konnte den ganzen Weg bis zum Fieberspital, wo sie den Jungen an der Tür zeigte und flehte: »Lasst uns hinein.« Doch das Haus war voll belegt, außerdem hätten sie zu viel zu tun, sagten sie zu ihr. »Geht ins Arbeitshaus. Vielleicht kann man euch dort helfen.« Also lief sie wieder hinaus in den Regen, taumelte unter dem Gewicht des Jungen durch den Schlamm, bis endlich der düstere, graue Bau vor ihr auftauchte. Doch auch dort standen Hunderte vor verschlossenen Türen, und es gelang ihr nicht einmal, sich durch die Menge zu zwängen.

Und als sie das Schultertuch zurückschlug, stellte sie fest, dass sie sich die Mühe hätte sparen können, denn irgendwann unterwegs war Daniel gestorben.

***

Am fünfundzwanzigsten Oktober blickte Stephen Smith auf die kalten, nassen Straßen von Ennis hinab. Er war am Abend zuvor angekommen und hatte im Haus Charles O’Connells übernachtet. Was er von seinem Gastgeber erfahren hatte, war zutiefst deprimierend.

»Der Verwaltungsrat des Arbeitshauses hat keinerlei finanzielle Mittel mehr. Gleichzeitig wurde er soeben von der Regierung aufgefordert, den Kredit zurückzuzahlen, den er im Frühjahr für die Arbeitstrupps und die Suppenküchen aufgenommen hat. Selbstverständlich wird der Verwaltungsrat nicht zahlen. Aber dass er zu einem solchen Zeitpunkt überhaupt dazu aufgefordert wird …«

Nein, dachte Stephen, er würde nicht hierbleiben. In Limerick hatte er sinnvolle Arbeit geleistet, aber was er tun konnte, war getan. Andere würden die Arbeit erfolgreich fortsetzen. Er selber würde nach Dublin zurückkehren. Ja, er konnte er es nicht mehr erwarten. Aber bevor er abreisen konnte, musste er noch ein paar Stunden totschlagen, und so beschloss er, durch den Ort zu gehen, so deprimierend das auch sein mochte. Auf den ersten Metern ertappte er sich bei dem Gedanken, was wohl aus den Maddens geworden war.

 

Sie sah ihn nicht kommen. Sie stand vor der Hütte, starrte in den grauen leeren Himmel und spürte nur Leere in ihrem Herzen. Erst als er vor ihr stand, gewahrte Maureen, dass er zu ihr sprach. Er fragte nach ihrer Schwester, und nach Daniel.

»Sie ist fort, Sir, aber ich weiß nicht, wo sie ist. Ich weiß gar nichts«, antwortete sie stumpfsinnig.

»Und der kleine Daniel?«

»Er ist gestorben, Sir. Gestern.«

»Das tut mir leid. Mein aufrichtiges Beileid.« Eine Floskel. Sie neigte in kraftloser Dankbarkeit den Kopf, blickte in das Gesicht, das sie so viele Male in Gedanken gesehen hatte, und starrte wieder in den Himmel. Ausdruckslos. »Was werden Sie jetzt tun?«, fragte er.

»Ich? Tun?« Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Was gab es jetzt noch zu tun? War das noch wichtig? Es war nicht wichtig.

»Wollen Sie hierbleiben? Haben Sie einen Platz, wo Sie hin können?«

»Ich habe nichts mehr«, sagte sie wie benommen. »Ich habe alles verloren. Mir ist nichts geblieben. Aber das ist gleich.«

Sie nahm nur verschwommen wahr, dass er schwieg, dass er überlegte, zögerte.

»Unter diesen Umständen können Sie nicht hierbleiben«, sagte er schließlich. »Sie sollten besser mit mir kommen.«

»Ich?« Sie runzelte die Stirn, begriff nicht. »Wohin?« Wollte er sie ins Arbeitshaus bringen?

»Nach Dublin«, sagte er.