DIE ASCENDANCY

* 1723 *

»Dein Angebot ist sehr freundlich«, sagte Terence Walsh zu seinem Bruder Fortunatus. »Aber ich muss dich warnen. Er könnte dir Unannehmlichkeiten bereiten.«

Die Sonne senkte sich auf St. Stephens Green. Ein leichtes Glimmen lag in der Luft.

»Ich bin mir sicher«, erwiderte Fortunatus lächelnd, »so schlecht kann der junge Smith nicht sein.«

Du hast keine Ahnung, wie schlecht er sein kann, dachte Terence, sprach es jedoch nicht aus.

»Würde ich doch nur nicht verreisen.« Terence hatte diese kurzen Exerzitien in dem französischen Kloster schon lange geplant, und das wussten sie beide. »Du bist so gutmütig, dass es schon fast eine Schwäche ist«, fuhr er fort. »Ich hätte dich wirklich nicht fragen sollen.«

»Unsinn.«

Was für ein herrlicher Abend heute, dachte Fortunatus. Dublin war ohne Zweifel eine Stadt, in der es sich gut leben ließ – solange man der Führungsschicht des Landes angehörte. Und wenn sein lieber Bruder ihr nicht angehörte, dann doch wenigstens er selbst. Eine schöne Stadt war es auch. Denn zumindest in Dublin kam die protestantische Vorherrschaft auch in Ziegel und Mörtel zum Ausdruck.

Es war erstaunlich, wie sehr sich Dublin zu seinen Lebzeiten verändert hatte. Die schmalen Gassen und Straßen innerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern und die Wahrzeichen wie Christ Church oder das alte Stadthaus Tholsel waren noch die alten geblieben. Doch sobald man über die Mauern hinausblickte, war der Wandel verblüffend.

Der Fluss Liffey wurde jetzt nicht nur von mehreren Steinbrücken überspannt, sondern war auch merklich schmaler geworden. Die Marschen waren erschlossen, die Wassermassen des Flusses in Mauern gezwängt. Stromaufwärts am Nordufer hatte der Herzog von Ormond das Wasser noch weiter zurückgedrängt, indem er die beiden Uferstraßen Ormond und Arran Quay anlegen ließ, mit Reihen von Lagerhäusern und Gebäuden, die jeder europäischen Stadt zur Ehre gereicht hätten. Außerhalb der östlichen Stadtmauer wurde der ehemalige Anger St. Stephens Green nun von schönen neuen Häusern umrahmt, und Verbindungsstraßen führten hinunter zum Trinity College. Der Bach, dessen Lauf sich vom Anger zum Hoggen Green und zum Long Stone der Wikinger geschlängelt hatte, verschwand nun unter einer dieser Straßen, der angenehmen Grafton Street. Im Westen der Stadt, in Kilmainham, keine Meile von Christ Church entfernt, war nach dem Vorbild des imposanten klassizistischen Invalidendoms in Paris das riesige Royal Hospital gebaut worden. Und gegenüber, am Nordufer des Flusses, erhob sich das Tor zum Phoenix Park, einem weitläufigen Areal, das Ormond gestaltet und mit Rotwild bestückt hatte. Der Phoenix Park war prächtiger als alles, was London zu bieten hatte.

Doch wahrhaft eindrucksvoll waren die neuen Häuser.

Den Briten mochte es an künstlerischer Originalität mangeln, doch in der Adaption fremder Ideen bewiesen sie häufig Genialität. In den vergangenen beiden Jahrzehnten hatten sie in London, Edinburgh und nun auch in Dublin eine neue Methode des Städtebaus vervollkommnet. Die Baumeister hatten festgestellt, dass sie unter Verwendung vereinfachter klassizistischer Elemente und auf eine Weise, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch angenehm fürs Auge war, ein und dasselbe Backsteinhaus endlos zu Straßenzügen oder Plätzen reihen konnten. Elegante Treppen führten zu schönen Türen mit fächerförmigen Oberlichtern empor. Fensterläden wurden im kühlen nördlichen Klima nicht gebraucht, daher störte nichts die Strenge der Backsteinfassade. Schmucklose, rechteckige Schiebefenster starrten leer in den nördlichen Himmel wie die Schatten römischer Senatoren. Allenfalls fand sich über dem Eingang noch ein bescheidener klassischer Ziergiebel, anstandshalber, um dem Eindruck eines Gentlemans vorzubeugen, der ohne Hut aus dem Haus ging. Doch jede andere Form von schmückendem Beiwerk wurde vermieden. Nüchtern und aristokratisch im Stil, jedoch gemütlich, da nicht zu groß, stellte es den Lord und den Kaufmann gleichermaßen zufrieden. Es war ohne Zweifel die erfolgreichste Reihenhausbauweise, die jemals erfunden wurde. Sie sollte später den Weg über den Atlantik in Städte wie Boston, Philadelphia und New York finden und unter dem Namen »georgianischer Stil« bekannt werden.

Vor allem rund um St. Stephen’s Green und Trinity College sowie hinter den Kais nördlich des Liffey prägten diese klassizistischen Straßenzüge und Plätze das Stadtbild. Während der Wohlstand Dublins und mit ihm die Zahl der Einwohner stieg, hatte Walsh das Gefühl, dass jedes Jahr eine neue Straße entstand. Bald war Dublin nach London die schönste Hauptstadt im europäischen Norden.

»Was stimmt denn mit dem jungen Smith nicht?«, fragte Fortunatus, als sie an der Ecke des Green anlangten.

»Er ist Katholik.«

»Das bin ich auch.«

»Er hegt einen tiefen Groll.«

»Ach so«, seufzte Fortunatus. »Er hatte nicht so viel Glück wie wir.«

Im Nachhinein konnte er über den Weitblick ihres Vaters nur staunen. Der niederländische König Wilhelm IV von Oranien hatte den irischen Katholiken Toleranz versprochen, aber seine Parlamente, insbesondere das irische, hatten ganz andere Vorstellungen. Immerhin hatte sich das englische Parlament die Mühe gemacht, Jakob II. abzusetzen, nur um England vor dem Katholizismus zu bewahren. Doch Jakob war nach wie vor auf freiem Fuß und hatte einen Sohn. Zudem wurde er von seinem kriegslustigen katholischen Cousin, König Ludwig XIV von Frankreich, unterstützt, und Irland galt seit jeher als ideale Ausgangsbasis für Angriffe auf England. Daher musste die Insel im Westen mit Garnisonen belegt werden und unter der strengen Kontrolle englischer Administratoren und der protestantischen Staatskirche bleiben.

Cromwells Siedler hatten schon antikatholische Gesetze eingeführt. Unter Wilhelm und Maria, dann unter deren Schwester Anna und nun unter ihrem deutschen Cousin Georg L, dem ersten König aus dem Haus Hannover, wurde die Liste dieser Gesetze immer länger.

Ein Katholik durfte weder ein öffentliches Amt bekleiden noch einen Sitz im Dubliner Parlament innehaben. Die Vollmitgliedschaft in einer Stadtgilde blieb ihm versagt. Von den meisten Berufen war er ausgeschlossen. Weder durfte er selbst eine Universität besuchen, noch konnte er – jedenfalls nicht legal – seine Kinder zur Ausbildung ins Ausland schicken. Grund und Boden durfte er nicht kaufen oder länger als vierunddreißig Jahre pachten. Land, das er bereits besaß, fiel nach seinem Tod in gleichen Teilen an seine Söhne, es sei denn, der älteste Sohn trat zum protestantischen Glauben über. In diesem Fall erbte der protestantische Sohn alles, und seine Brüder gingen leer aus. Die Liste ließ sich beliebig fortsetzen.

Es war eine schreiende Ungerechtigkeit. Es war eine Beleidigung. Und vor allem zielte es darauf ab, den Katholizismus in Irland zu vernichten.

Donatus Walsh war am Ende von Königin Annas Regierungszeit gestorben, aber er hatte genug gesehen, um zu wissen, wie klug seine Entscheidung war, dass der Protestant Fortunatus seinen katholischen Bruder schützen sollte. Andere Familien hatten seitdem ähnliche Arrangements getroffen, aber die frühe Konversion war Fortunatus Walsh zustatten gekommen. Er war gut verheiratet. Freunde in hoher Stellung hatten ihm, angetan von seiner Loyalität, angenehme Regierungsposten als Inspektor für dies oder jenes oder ein anderes begehrtes Amt in der Finanzverwaltung verschafft, die es einem Gentleman ermöglichten, mit sehr wenig Arbeit sein Einkommen erheblich aufzubessern. Dies alles hatte Fortunatus in die Lage versetzt, den Familienbesitz um mehrere hundert Morgen zu mehren. Und als unlängst ein Mitglied des Dubliner Parlaments verstorben war, hatte er sogar einen Sitz im irischen Unterhaus erhalten. Daher fiel es ihm nicht schwer, seinem Bruder Terence zu helfen.

Und Terence hatte Hilfe gebraucht.

»Ich wäre gerne Anwalt geworden«, hatte Terence immer wieder gesagt. Doch als Katholik hätte er nur ein bescheidener Advokat werden können, denn der Beruf des Barristers, des Gentleman-Anwalts, der vor höheren Gerichten plädierte und gutes Geld verdiente, blieb Protestanten vorbehalten. Eine Zeit lang hatte er sich als Kaufmann in der Stadt versucht und war der Gilde beigetreten. Als Katholik musste Terence jedes Vierteljahr Mitgliedsgebühren bezahlen, die höher waren als die eines Protestanten, und bei den Gildewahlen hatte er kein Stimmrecht. Und er konnte kein Ehrenbürger der Stadt werden. Aber Handel konnte er treiben.

»Schlucke deinen Stolz hinunter und verdiene Geld«, hatte Fortunatus ihm geraten. »Selbst ein Katholik kann reich werden.« Und er hatte Terence etwas Startkapital vorgeschossen. Terence verdiente auch genug zum Leben, doch nach fünf Jahren zahlte er ihm das Geld zurück und sagte: »Ich bin dafür nicht geschaffen.«

»Was willst du dann tun?«

»Ich habe mir überlegt«, antwortete Terence, »dass ich als Wundarzt praktizieren könnte.«

Fortunatus war davon wenig erbaut. Gewiss, Anatomie und Medizin wurden an den großen Universitäten gelehrt. Aber Wundärzte, die Zähne zogen oder Beine amputierten, teilten sich eine Gilde mit den Barbieren, und in der Tat schnitt einem der Wundarzt nicht selten auch die Haare. Außerdem gab es nichts, was einen Mann daran hinderte, sich in Dublin als Vertreter dieses Berufsstandes niederzulassen, dessen Heilkünste sich in der Regel darauf beschränkten, Patienten zur Ader zu lassen, zu schröpfen oder selbst gebraute Kräutermedizin zu verabreichen. Die meisten Wundärzte waren, so schien es Fortunatus, Quacksalber.

Aber ein Katholik konnte Wundarzt werden. Hier gab es keinerlei Beschränkungen.

So eröffnete Terence nach einer intensiven Lehrzeit bei einem der besseren Mediziner eine Praxis in der Nähe des Trinity Colleges, und Fortunatus empfahl ihn in seinem Bekanntenkreis, nicht ohne seinen Bruder scherzhaft zu ermahnen: »Sieh zu, dass du nicht alle meine Freunde umbringst.«

Aber Terence arbeitete außerordentlich erfolgreich. Er hatte angenehme Umgangsformen, und der Umstand, dass er frühzeitig ergraut war und einen kleinen Spitzbart trug, verlieh seiner Erscheinung eine liebenswürdige Autorität, die den Patienten Vertrauen einflößte. »Es ist sogar möglich«, räumte sein Bruder ein, »dass du deinen Patienten Gutes tust.« Aber vor allem war Doktor Terence Walsh ein Gentleman. Darin war sich das ganze vornehme Dublin einig. Dass er selbst Katholik und die meisten seiner Patienten Protestanten waren, störte niemanden. Ältere Damen ließen ihn an ihr Bett rufen, Aristokraten, die das Bedürfnis hatten, bei einem Glas Rotwein über ein peinliches Leiden zu sprechen, spürten, dass er ein diskretes und vertrauenswürdiges Mitglied der Gesellschaft war. Innerhalb von drei Jahren hatte er genug Patienten. Und da er ein rechtschaffener Mann war, nahm er sich auch Zeit für die armen Leute, die in der Nähe wohnten, und behandelte sie unentgeltlich.

Die Familie hatte ihm auch anderweitig geholfen. Sein Vater hatte ihm direkt nichts hinterlassen dürfen, aber über Treuhänder aus der Familie war es ein Leichtes gewesen, ihm die Nutzung und Rendite eines kleinen Landguts draußen in Kildare zu überlassen. Andere Familien aus ihrem Bekanntenkreis hatten das Gleiche getan. Falls die Behörden in Dublin Castle wussten, dass das Gesetz heimlich umgangen wurde, so erhoben sie doch keine Einwände. Und letztes Jahr hatte Fortunatus einen neuen Weg gefunden, wie er seinem Bruder helfen konnte.

»Terence«, sagte er, »du wirst Freimaurer.«

Handwerkszünfte von Maurern gab es bereits seit dem Mittelalter. Doch irgendwann nach 1600 und aus Gründen, die nicht bekannt sind, hatten einige Gentlemen in Schottland beschlossen, eine so genannte Freimaurerloge zu gründen, die auf die Rituale und »Mysterien« der mittelalterlichen Zünfte zurückgriff, sich aber nicht dem Bauwesen, sondern allgemein guten Werken widmete. Ganz allmählich hatte diese neue Freimaurerei, die sich die Form einer geselligen Geheimgesellschaft gab, auch in England und Irland Fuß gefasst. Doch erst in den letzten zwei Jahrzehnten war sie plötzlich in Mode gekommen, und Fortunatus Walsh war der vornehmsten Dubliner Loge beigetreten.

»Wir müssen auch dich hineinbringen, Terence«, hatte er erklärt. »Die Freimaurer machen keine religiösen Unterschiede. Dass du Katholik bist, ist kein Hindernis. Und beruflich wird es dir von Nutzen sein.«

Tatsächlich waren sie am heutigen Abend auf dem Weg zu einer Zusammenkunft der Logenbrüder.

Da Terence von seiner Familie so viel Unterstützung erfahren hatte, war es ebenso natürlich wie löblich, dass er nun seinerseits einem Verwandten helfen wollte.

Wie etwa dem jungen Garret Smith.

Wäre der alte Maurice Smith nicht in der Schlacht am Boyne gefallen, wäre es seinen Nachkommen möglicherweise weniger schlecht ergangen. Denn in König Wilhelms Vertrag von Limerick war jenem Teil von Jakobs Armee, der sich ergeben hatte, Straffreiheit garantiert worden. Doch für die anderen, die zuvor am Boyne gefallen waren, galt dies nicht. Die Obrigkeit betrachtete sie als Rebellen und konfiszierte ihre Ländereien. Die Smiths waren ruiniert, als alles vorbei war.

Fortunatus erinnerte sich noch sehr gut an die Familie zu jener Zeit. Maurices Sohn, Thomas, hatte alles mit Gleichmut ertragen, doch sein Enkel Michael, der nur ein paar Jahre jünger war als er selbst, hatte mit seinem Schicksal gehadert und sich verbittert in sich zurückgezogen. Die Walshs taten alles Menschenmögliche, um ihnen zu helfen. Immerhin, so erinnerte sich Fortunatus, war der alte Maurice ein Cousin ersten Grades seines Vaters. Aber Thomas war gestorben, Michael blieb voller Groll, und die beiden Familien lebten sich auseinander. Michael Smith hielt am heroischen Bild von der Rolle seiner Familie und der Person König Jakobs fest und glaubte fest daran, dass der Stuart-König oder sein Sohn eines Tages zurückkehren und Irland den Katholizismus zurückbringen würde.

Die jakobitische Sache, wie man diese Sehnsucht nach den Stuarts nannte, war keineswegs völlig illusorisch. Als der unpopuläre Georg I., der deutsche Monarch aus dem Hause Hannover, den Thron bestieg, hätten viele lieber den Sohn König Jakobs an seiner Stelle gesehen. Es kam sogar zu vereinzelten Aufständen. Allerdings verliefen sie bald im Sand, und in Irland rebellierte niemand für den Thronprätendenten der Stuarts. Bald danach ergab sich Michael Smith in seiner Enttäuschung dem Trunk. Zwei Jahre später starb er völlig mittellos.

Aber er hinterließ einen Sohn. Und diesem Garret Smith wollte Terence Walsh unbedingt helfen. Zunächst hatte er dem Jungen und seiner Mutter in der Gemeinde St. Michan auf dem Nordufer des Liffey eine Unterkunft besorgt, die zwar bescheiden, aber sauberer als ihre vorherige war. Dann hatte Terence dem Priester der Gemeinde das Versprechen abgenommen, dem Jungen eine ordentliche Schulausbildung angedeihen zu lassen. Schließlich, vor ein paar Jahren, hatte er die notwendigen Zahlungen geleistet, damit Garret Smith bei einem angesehenen Krämer in der Gemeinde eine Lehre antreten konnte. Und mindestens einmal im Monat lud er den jungen Mann in sein behagliches Heim zum Essen mit seiner Frau und seinen Kindern ein, woran er die Hoffnung knüpfte, dass Garret zu gegebener Zeit, wenn er beruflich Fuß gefasst und eine anständige Frau gefunden hatte, einen ähnlichen, wenn auch bescheideneren Weg einschlug. Kurzum, er hatte alles getan, was man von einem wohlmeinenden Mitglied der Familie Walsh erwarten konnte.

Es war schwer zu sagen, wann der Ärger begonnen hatte. Er hatte Garrets Schwierigkeiten oder Aufmüpfigkeiten lange nicht allzu ernst genommen. »Das sind nur Dummejungenstreiche«, hatte er immer nachsichtig gemeint. Bedenklicher wurde es, als seine Frau den Jungen eines Tages dabei ertappte, wie er ihren Kindern jakobitische Ideen einflößte.

»Ich werde nicht zulassen, dass er dergleichen Ärger in unser Haus bringt«, beschwerte sie sich bei ihrem Mann. Und Terence durfte ihn erst wieder zum Essen mitbringen, als er ihr nach langem Hin und Her versprochen hatte, Garret mit den Kindern nicht mehr alleine zu lassen. »Solange du in Frankreich bist«, hatte sie erklärt, »kommt er mir nicht ins Haus.«

Im vergangenen Jahr waren auch von seinem Meister, dem Krämer, Klagen gekommen. Terence hatte dem guten Mann geraten, Garret unter strenger Zucht zu halten.

»Ich muss gestehen, dass ich besorgt bin«, sagte er jetzt zu Fortunatus. »Ich werde einen Monat fort sein, und es ist eigentlich niemand da, der ein Auge auf ihn hat oder eingreift, falls es Ärger gibt. Aber ich fürchte, ich nütze deine Gutmütigkeit aus, wenn ich mich an dich wende.«

»Der junge Mann ist ebenso mein Verwandter wie deiner«, betonte sein Bruder. »Es war wahrscheinlich ein Fehler von mir, dass ich bisher nichts für ihn getan habe.« Er lächelte. »Ich bin mir sicher, dass ich mit ihm fertig werde.« Fortunatus bildete sich etwas darauf ein, dass er mit Menschen umgehen konnte.

»Dann kann ich seinem Meister und dem Priester also sagen, dass du mich in meiner Abwesenheit vertreten wirst?«, fragte Terence mit großer Erleichterung.

»Ich werde die beiden Gentlemen persönlich aufsuchen. Du kannst also ganz beruhigt sein.« Fortunatus legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. »Und nun«, fuhr er vergnügt fort, »wollen wir uns das Dinner mit unseren Logenbrüdern in dieser ausgezeichneten Taverne in der Bride Street schmecken lassen. Und da ich die Absicht habe, mir mindestens drei Flaschen Rotwein zu Gemüte zu führen, erwarte ich, dass du mich anschließend nach Hause bringst.«

***

Die Sonne stand bereits hoch, als das Stubenmädchen am nächsten Mor gen die langen Vorhänge aufzog. Fortunatus blinzelte, denn das Sonnenlicht schmerzte in den Augen.

»Würdest du sie um Himmels willen wieder schließen?«, stöhnte er heiser. Seine Kehle war eine Wüste, sein Kopf eine Schmerzenshöhle. »Zu viel Rotwein«, sagte er zittrig zu dem Mädchen.

»Wir hörten Euer Gnaden singen, als Ihr Bruder Sie letzte Nacht nach Hause brachte«, antwortete sie liebenswürdig. »Sie haben Besuch, Sir«, fuhr sie fort. »Er wartet unten.«

»Besuch? Schick ihn fort.«

»Das geht nicht, Sir. Es ist Mrs Doyle.«

***

Sie erwartete ihn im vorderen Salon. Wie in jedem Haus am St. Stephen’s Green waren die Haupträume sehr groß, und wie in den meisten irischen Häusern waren sie spärlich möbliert. Der Wandteppich an der einen und das dunkle, von ungeschickter Hand gemalte kleine Porträt seines Vaters an der anderen Wand trugen wenig dazu bei, dem Raum, den man sonst für ein nobles Vorzimmer oder ein öffentliches römisches Mausoleum hätte halten können, einen Hauch Gemütlichkeit zu verleihen.

Sie gab keinen Kommentar zu seinem übernächtigten Aussehen ab, während er sie aus hohlen Augen ansah und sich fragte, warum ihn seine Cousine Barbara selbst an seinen besten Tagen nervös machte.

Beinahe zweihundert Jahre war es mittlerweile her, dass sein Vorfahr Richard die Doyle-Erbin geheiratet hatte. Wie viele Generationen waren das? Sechs oder sieben, vermutete er. Aber die Familien hatten stets engen Kontakt gepflegt. »Unsere Doyle-Cousins waren ungewöhnlich gut zu mir und zu deinem Großvater«, hatte Donatus immer zu ihm gesagt.

Wenn die Walshs sich gegenüber Verwandten, die in Schwierigkeiten steckten, so verwiesen sie doch auch darauf, dass sie die Wohltaten, die sie selbst empfangen hatten, nicht vergaßen. Und Barbara Doyle war nicht nur die Witwe eines dieser Verwandten, sondern selbst eine geborene Doyle. »Cousine Barbara«, wie die ganze Familie sie nannte. Als ihr Mann völlig unerwartet gestorben war und sie mit einem kleinen Sohn zurückgelassen hatte, waren die Walshs sofort zur Stelle gewesen, um ihr zu helfen. Allerdings konnte sich Fortunatus kaum einen Menschen vorstellen, der weniger auf Hilfe angewiesen war.

Ihr Mann hatte ihr ein Vermögen hinterlassen, und sie hatte es gemehrt. Jedes Jahr, wenn irgendwo in Dublin ein neuer Straßenzug aus dem Boden schoss, konnte man sicher sein, dass Barbara Doyle eines der Häuser gehörte. Tatsächlich gehörte ihr auch das Haus, in dem sie sich jetzt befanden, denn Fortunatus Walsh hatte es von ihr gemietet. Nervös fragte er sich nach dem Grund ihres Kommens.

Hastig drängte er sie zu seinem besten Sessel – damit sie es bequem hatte, natürlich, aber auch weil sie nicht ganz so Furcht einflößend wirkte, wenn sie saß. Selbst ihrem kleinen Sohn John, den sie aus unerfindlichen Gründen mitgebracht hatte, bot er einen seidenbezogenen Schemel an.

Doch auch wenn sie reicher war als er, so blieb sie doch die Witwe eines Kaufmanns, wohingegen die Walshs seit undenklichen Zeiten der Grund besitzenden Gentry angehörten. Warum also hatte er vor ihr Angst?

Vielleicht lag es an ihrer physischen Erscheinung. Sie war groß, wohlbeleibt und von kräftiger Statur. Nach der noch herrschenden Mode der Restaurationszeit trug sie ein geschnürtes Kleid, aus dem mit Macht ihr Busen hervordrängte. Sie hatte dichtes schwarzes Haar, ein rundes Gesicht und rotfleckige Wangen. Doch es waren ihre braunen, kalt blickenden Basiliskenaugen, die ihn stets aus der Fassung brachten. Manchmal, wenn sie ihn so streitlustig anfunkelte wie jetzt, geriet er sogar ins Stottern.

»Nun, Cousine Barbara«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln, »was kann ich für Sie tun?«

»Jetzt, da Sie dem Parlament angehören«, antwortete sie bestimmt, »eine Menge.«

Das Herz rutschte ihm in die Hose.

Nach seinem Einzug ins Parlament hatte Fortunatus, der sonst sparsam mit seinem Geld umging, beschlossen, stilvoll zu wohnen und ein großes Haus am vornehmen St. Stephens Green zu beziehen, und so entrichtete er Mrs Doyle jährlich die stolze Summe von einhundert Pfund, was er sich gerade noch leisten konnte.

Barbara warf Fortunatus einen bösen Blick zu. »Es wird Zeit«, sagte sie, »dass Irland den Engländern die Stirn bietet.«

Die herrschende protestantische Oberschicht der Anglo-Iren, die Ascendancy, wie sie genannt wurde, fühlte sich von London stiefmütterlich behandelt. Warum wurden die bestbesoldeten Regierungsposten ohne Amtsgeschäfte und die einträglichsten Pfründe für Geistliche – die allseits begehrten staatlichen Privilegien – an Männer vergeben, die von England herübergeschickt wurden? Warum blieben den Iren immer nur die mittelmäßigen Posten? Und wenn die unterdrückten katholischen Bauern die abwesenden Grundbesitzer und ihre habgierigen Mittelsmänner hassten, so hasste die Ascendancy diese Leute beinahe ebenso. Die Pachtzinsen, so klagten sie, die an Gutsherren fließen, die nicht im Lande leben, werden dem Reichtum Irlands entzogen. In Wahrheit waren die abfließenden Summen nicht hoch genug, um ernsthaften Schaden anzurichten, aber Barbara Doyle und Fortunatus Walsh waren wie viele andere vom Gegenteil überzeugt.

Die schlimmste Beleidigung freilich war erst in diesem Jahr gefolgt.

»Und was gedenken Sie«, fragte Barbara Doyle, »gegen diese verfluchten Kupfermünzen zu unternehmen?«

In allen Ländern und politischen Systemen war es seit jeher ein Vorrecht der Herrscher, ihre Mätressen zu versorgen. Auch König Georg I. von England bildete da selbstverständlich keine Ausnahme. Er war auf die glorreiche Idee verfallen, seiner Geliebten, der Gräfin von Kendal, das Privileg zu verleihen, Halfpennies und Farthings oder Viertelpennies für Irland zu prägen. Das Geschenk einer solchen Lizenz an eine charmante königliche Freundin war etwas so Normales, dass niemand einen Gedanken daran verschwendete. Nur hatte die Gräfin, da in diesem Geschäft nicht bewandert, das Privileg an einen renommierten Eisenfabrikanten namens Wood verkauft. Und jetzt waren Woods Kupfermünzen in Irland eingetroffen.

»Warum sollten wir in Dublin diese verfluchten, minderwertigen Münzen annehmen?« Barbara Doyle durchbohrte Fortunatus mit einem streitlustigen Blick.

Tatsächlich hatte Walsh, als er ein paar von Woods Münzen in Augenschein genommen hatte, den Eindruck gewonnen, dass ihre Qualität nichts zu wünschen übrig ließ, aber das behielt er jetzt für sich.

»Das Närrische an der Sache ist«, bemerkte er völlig zu Recht, »dass wir momentan eigentlich einen Mangel an Silbermünzen haben. Wir brauchen Silbermünzen, keine Kupfermünzen.« Der Geldabfluss nach England hatte auf der Insel in letzter Zeit zu einer Verknappung der höherwertigen Münzen geführt, was einer der Gründe dafür war, warum selbst die englischen Pöstcheninhaber in der Finanzverwaltung London vor der Ausgabe der Kupfermünzen gewarnt hatten. Doch wenn Walsh glaubte, er könnte seine Cousine durch einen Themenwechsel von ihrer Attacke abbringen, so hatte er sich getäuscht. Barbara Doyle hatte sich noch nie in ihrem Leben von etwas abbringen lassen.

»Glauben Sie etwa, dass Zuwendungen an so ein verworfenes Geschöpf für Irland maßgebend sein sollen?«, erkundigte sie sich drohend.

Vermutlich fand seine Cousine es gar nicht so empörend, dass der König sich eine Mätresse hielt. Es war die Beiläufigkeit der mit dieser Maßnahme einhergehenden Beleidigung, die alle empört hatte. Immer wieder hatte das englische Parlament den loyalen Iren ein eigenes Münzprägrecht verweigert, da dies zu sehr nach Unabhängigkeit gerochen hätte. Und nun war ihnen ohne jede Rücksprache mit dem irischen Parlament und gegen den Rat der Dubliner Verwaltung dieses private Münzgeld aufgezwungen worden.

»Es ist eine Schande«, stimmte Fortunatus zu.

»Und was gedenken Sie und das irische Parlament nun dagegen zu unternehmen?«

Das irische Parlament tagte jedes zweite Jahr vom Herbst bis zum Frühjahr. Nach einer Pause von achtzehn Monaten stand nun die nächste Sitzungsperiode unmittelbar bevor. Fortunatus zweifelte nicht daran, dass es einen Proteststurm gegen die Münzen geben würde. Aber ob der etwas bewirkte, stand auf einem anderen Blatt.

»Seien Sie versichert«, antwortete er entschlossen, »dass ich mich zu dem Thema äußern werde.«

»Ich pfeife auf Ihr Gerede«, entgegnete Barbara Doyle. »Diese Münzen müssen wieder eingezogen werden. Sie und Ihre Freunde werden gefälligst dafür sorgen.« Sie starrte ihn an. Ihr Blick war alles andere als freundlich.

»Wir werden unser Bestes tun«, sagte er vorsichtig.

»Der Mietvertrag für dieses Haus muss bald verlängert werden«, bemerkte sie. »Ich könnte einhundertundzwanzig dafür bekommen. Wenn nicht sogar noch mehr.«

Er erwiderte entsetzt ihren Blick. Wollte ihn Barbara Doyle tatsächlich durch die Androhung einer Mieterhöhung so einschüchtern, damit er im Parlament noch vehementer Forderungen vertrat, die wahrscheinlich nicht durchsetzbar waren? Wollte sie ihn gar vor die Tür setzen? Die ungeschminkte Brutalität ihres Vorgehens war erschreckend. Noch dazu vor einem Kind!

Er senkte den Blick zu dem Schemel, auf dem der kleine Junge saß. John sah ihn kühl an. Seine Augen waren genau wie die seiner Mutter. Du lieber Himmel! Er begriff. Die Witwe Doyle hatte ihren Sohn mitgebracht, um ihm zu zeigen, wie man Geschäfte machte. Sie bringt John bei, dachte er verzweifelt, wie man mich einschüchtert.

Und dann hätte er beinahe laut losgelacht. Die schreckliche Frau hatte natürlich Recht. Der Junge musste lernen. Ging es im öffentlichen Leben denn nicht ebenso zu? Ja, er vermutete, dass Politik im Parlament gar nicht anders möglich war. In England befehligten Minister und mächtige Aristokraten, die das Recht der Ämterbesetzung besaßen, kleine Armeen von Parlamentsmitgliedern, die als Gegenleistung für Vergünstigungen oder aus Angst, sie zu verlieren, ihre Weisungen befolgten. Selbst im Dubliner Parlament machten sich einflussreiche Männer wie der Sprecher Conolly oder die Familie Brodrick aus Cork große Gruppen mit Versprechungen und Drohungen gefügig. Auf ihre plumpe Art versuchte Cousine Barbara genau das Gleiche.

Aber die Vorstellung, dass ein neues und unbedeutendes Parlamentsmitglied wie er, Fortunatus Walsh, Ansprüche der Engländer zurückweisen konnte, war lächerlich.

»Wir müssen sehen, was sich machen lässt, meine liebe Barbara«, sagte er vorsichtig. »Ich werde mein Bestes geben.«

 

Doch als sie ein paar Minuten später ging, schüttelte er verwundert den Kopf. Sollte er tatsächlich aus dem Haus geworfen werden?

Um sich von diesem unerquicklichen Thema abzulenken, beschloss er, noch am selben Nachmittag über den Liffey zu gehen und nach dem jungen Smith zu sehen.

Am anderen Ufer angekommen, schlug er den Weg zur Gemeinde St. Michan ein, die zu den älteren in der Stadt gehörte und westlich der einstigen Wikingersiedlung Oxmantown lag. Seit undenklichen Zeiten gab es dort eine Kirche. Nachdem er durch mehrere schöne neue Straßen gegangen war, gelangte er in ein bescheideneres Viertel, das noch von Giebelhäusern aus dem vorigen Jahrhundert geprägt war. Schließlich bog er in die Cow Lane ein, und gleich darauf stand er vor der Lebensmittelhandlung Morgan MacGowans. Ein Hof, umgeben von Speichern.

Aus der offenen Tür eines Speichers drang ein schwacher und angenehm malziger Geruch. Drinnen sah er geräucherte Schinken, die an Haken hingen, und auf einem niedrigen Holzregal standen Säcke mit Knoblauch und mit Gewürzen wie Nelke, Salbei und Pfeffer. Kinder rannten barfüßig im Hof umher, schwirrten ums Haus wie Bienen um einen Bienenstock, spähten neugierig von Dachsparren. Die freundliche Frau des Händlers bat Fortunatus herein und führte ihn in eine altmodische Wohnstube mit Dielenfußboden, einem gescheuerten Holztisch, Bänken und Schemeln. Kaum hatte er sich als Bruder von Terence Walsh vorgestellt, wurde aus der höflichen eine herzliche Begrüßung, und die kleineren Kinder machten deutlich, dass sie erwarteten, auf dem Hof im Kreis gewirbelt zu werden. Als er jedoch nach Garret Smith fragte, teilte ihm Mrs MacGowan mit, dass der junge Mann nicht da sei, und ihm schien, dass ein Schatten über ihr Gesicht huschte. Kurz darauf erschien MacGowan selbst.

Der Krämer war ein kleiner, rundlicher Mann von einnehmendem Wesen. Der Viktualienhandel in Dublin wurde nicht durch eine Gilde reglementiert und so gab es keine Diskriminierung: Ein Katholik wie MacGowan konnte es hier zu etwas bringen. Viktualienhändler gehörten zu den reichsten Kaufleuten in der Stadt. Und wenn MacGowan auch nicht reich war, so hatte Walsh doch das Gefühl, dass er wahrscheinlich mehr Geld hatte, als er zeigen wollte.

Sie unterhielten sich ein paar Minuten freundlich über Terence, der bei dem Krämer offensichtlich hohe Achtung genoss, und seine bevorstehende Reise. Obwohl MacGowan selbst noch nie im Ausland gewesen war, wusste er über den Handel und die Häfen in Frankreich offenbar bestens Bescheid.

»Wie ich höre«, sagte Fortunatus nach einer Weile, »haben Sie Unannehmlichkeiten mit unserem Verwandten, dem jungen Garret Smith.«

MacGowan verstummte für einen Augenblick. Er sah Fortunatus aufmerksam an, als denke er über etwas nach.

Der Krämer legte den Kopf etwas schief und schloss das linke Auge halb, doch das rechte Auge blieb auf sein Gegenüber gerichtet, öffnete sich so weit, dass der Eindruck entstand, es sei größer geworden, und blickte so durchdringend, dass einem unbehaglich werden konnte.

»Er erledigt seine Arbeit recht ordentlich«, antwortete MacGowan endlich ruhig. »Ich habe ihn heute Morgen auf einen Botengang nach Dalkey geschickt, sonst hätten Sie ihn hier angetroffen.«

»Dann bereitet er Ihnen keinen Verdruss?«

»Er ist eigensinnig, Mr Walsh, und er ist sehr von seiner Meinung überzeugt, wie viele junge Leute.« Er hielt inne. »Er ist ein aufgeweckter Bursche, Sir, und ich glaube, dass er ein gutes Herz hat. Aber er ist Stimmungen unterworfen. Er kann Sie in den Schlaf singen oder zum Lachen bringen, bis Ihnen die Tränen kommen. Aber dann wieder bringt ihn etwas in Zorn …« Wieder machte er eine Pause. »In letzter Zeit ist er leider in schlechte Gesellschaft geraten. Das ist jedenfalls meine Meinung, Sir.«

»Was für eine Art von Gesellschaft?«

»Erinnern Sie sich an den Krawall in den Liberties letzte Woche?«

In den ärmeren Stadtteilen Dublins, insbesondere im alten Liberties-Viertel, das im Mittelalter unter der Feudalherrschaft der Kirche gestanden hatte, war es zu Zusammenstößen zwischen Metzgerjungen und aus Frankreich eingewanderten protestantischen Hugenotten gekommen. Gerade erst waren wieder einige junge Hugenotten wüst verprügelt worden.

»Eine schlimme Sache«, sagte Walsh.

»Es war schrecklich, was sie getan haben«, fuhr MacGowan fort. »Er treibt sich mit den Metzgern herum, obwohl ich ihm geraten habe, schlechten Umgang zu meiden, und er war dort, als es passierte. Ich behaupte nicht, dass er daran beteiligt war. Aber er war dort. Und als ich ihm sagte, er dürfe nicht mehr hingehen, hat er mir nur geantwortet: ›Sie haben doch nur ein paar französische Protestanten verprügelt. Die haben nichts Besseres verdient.‹ Das waren seine Worte.« Der Krämer starrte Fortunatus weiter mit einem Auge an.

»Das war sehr ungehörig von ihm«, stimmte Fortunatus zu. »Aber ich nehme an, es ist ihm nur in der Hitze des Gefechts herausgerutscht.«

»Vielleicht.« MacGowans Blick wanderte langsam durch den Raum, bis sein Auge an einem Punkt draußen vor dem Fenster hängenzubleiben schien. »Er macht mir Sorgen, Sir.«

Fortunatus nickte.

»Gibt es noch mehr«, erkundigte er sich freundlich, »was ich Ihres Erachtens wissen müsste?«

MacGowans Auge starrte ihn noch einmal an, dann blickte es zu Boden.

»Nein.« Er machte eine Pause. »Aber Sie könnten Doktor Nary, den Priester, fragen«, schlug er vor. »Er weiß vielleicht mehr als ich.«

***

Doktor Cornelius Nary wohnte ganz in der Nähe, und so beschloss For tunatus, gleich bei ihm vorbeizuschauen, als er den Krämer verließ. Vielleicht war er ja zu Hause. Der Gemeindepriester von St. Michan zählte zu den Berühmtheiten Dublins.

Als Fortunatus vor der Tür des Hauses stand, wurde er von dem angesehenen Geistlichen persönlich begrüßt.

»Ich bin Fortunatus Walsh, der Bruder von Terence Walsh«, begann er höflich, kam aber nicht weiter. Denn der Priester strahlte.

»Ich weiß, wer Sie sind«, rief er. »Ich kenne Ihren Bruder gut, und ich weiß alles über Sie. Kommen Sie herein, Fortunatus, und seien Sie mir willkommen.«

Wie anderen Priestern in jener Zeit sah man Doktor Nary nicht unbedingt an, dass er Priester war. Gewiss, er trug manchmal den wehenden Talar eines Gelehrten und Geistlichen, doch heute war er wie ein gewöhnlicher Gentleman mit einem langen Rock, Halstuch, Kniehosen und Strümpfen bekleidet, und die Perücke hatte er abgenommen. Sein Gesicht war vollkommen oval, mit schönen, mandelförmigen Augen, und nur unter dem Kinn schien das Fleisch ein wenig zu erschlaffen. Obwohl jenseits der sechzig, strotzte er vor Gesundheit und Energie. Nary führte Fortunatus in ein Studierzimmer, das mit Büchern vollgestopft war, und bot ihm einen Stuhl an. Er selbst setzte sich an den Tisch und erkundigte sich mit einem schelmischen Augenzwinkern:

»Was kann ein katholischer Priester für einen guten Protestanten der Kirche von Irland wie Sie tun?«

Fortunatus sagte dem Priester, dass er soeben von Morgan MacGowan komme, und setzte ihm den Grund seines Besuchs auseinander. »Sie werden wissen, dass Terence am Schicksal unseres Verwandten, Garret Smith, großen Anteil nimmt.«

»Das gereicht Ihrem Bruder zur Ehre. Ich habe den Jungen an einer ausgezeichneten kleinen Schule in dieser Gemeinde untergebracht, müssen Sie wissen.« Nach den Gesetzen durfte es eigentlich gar keine katholischen Schulen geben. Doch die englischen Administratoren hatten längst erkannt, dass die Iren keineswegs barbarische Bestien waren, wie sie angenommen hatten. Viele betrachteten Bildung als Geburtsrecht, daher war es schlechterdings unmöglich, sie am Lernen zu hindern. Offiziell gab es keine Schulen, aber hinter verschlossenen Türen wurde überall in der Stadt unterrichtet. »Er hat sich als hochintelligent erwiesen«, fuhr der gelehrte Priester fort. »Ich habe ihn selbst unterrichtet.«

»Dann kann sich der junge Mann glücklich schätzen«, sagte Fortunatus höflich.

Nary bedachte ihn mit einem ironischen Blick.

»Er selbst ist ganz anderer Meinung, das kann ich Ihnen versichern. Er verachtet mich zutiefst. Das hat er mir selbst gesagt.« Als Fortunatus ihn erstaunt ansah, lachte er. »Ich bin ihm nämlich nicht annähernd gut genug.«

»Wie kann er denn …?«

»Nun ja, er ist ein sehr zorniger junger Jakobit. Er verachtet mich, weil ich gemeldet bin und mich über das Gesetz, so wenig es mir gefällt, nicht hinwegsetze. Und weil ich mit Geistlichen der Kirche von Irland befreundet bin.« Er zuckte die Achseln. »Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass er mir unrecht tut.«

Tatsächlich wusste Walsh sehr gut, dass der Priester mehr getan hatte, als nur ein paar furchtlose Pamphlete zu verfassen. Zehn Jahre zuvor hatte er untertauchen müssen und war dann verhaftet worden, nachdem er ein paar vertriebenen mittellosen Nonnen verbotenerweise geholfen hatte. Erst zwei Jahre zuvor, als in Cork ein Katholik zu Unrecht zum Tode verurteilt worden war, hatte er offene Kritik an den Behörden geübt, indem er seine ganze Kapelle in schwarze Trauertücher hüllte. Der Mut dieses Mannes stand außer Frage. Nur war er zu der Einsicht gelangt, dass er mehr für den Glauben tun konnte, wenn er sich Freunde statt Feinde machte.

»Eigentlich«, sagte Fortunatus etwas unsicher, »hatte ich die Absicht, ein Auge auf ihn zu werfen, solange Terence fort ist.«

»Sie?« Nary fand das offenbar amüsant. »Ein Protestant? Sehr mutig von Ihnen.«

»Man könnte fast den Eindruck bekommen, er sei ein Ungeheuer«, wagte Fortunatus zu sagen, »und doch will mir scheinen, dass Sie ihn mögen.«

Der Priester nickte.

»Sie haben Recht. Ich habe sogar mit dem Bischof über ihn gesprochen.« Katholische Bischöfe mochten in Irland offiziell nicht zugelassen sein, aber natürlich gab es sie, und die Obrigkeit schaute gewöhnlich weg. »Doch keiner von uns beiden wusste so recht, wie wir ihm helfen können. Der Bischof fragte sich, ob er nicht Priester werden könnte. Am Verstand würde es ihm nicht fehlen, wohl aber an der inneren Berufung.« Nary sah Fortunatus nachdenklich an. »Man könnte sagen, dass er das Beste und das Schlimmste junger Männer in sich vereinigt. Er hat einen sehr scharfen Verstand. Geben Sie ihm eine Aufgabe, und er wird sich wie ein Falke darauf stürzen und sich ihrer mit einer Gründlichkeit entledigen, über die man nur staunen kann. Ich lieh ihm Bücher. Er hat ausgiebig gelesen. Aber ihm fehlt eine Mitte. Ich bin mir nicht einmal seiner Überzeugungen sicher. Immer wenn Sie glauben, Sie hätten seine Aufmerksamkeit, wendet er sich von Ihnen ab, als werde er von einem Wirbelwind gen Himmel gerissen. Und plötzlich haben Sie ihn verloren.« Er hielt inne. »Er hegt einen schrecklichen, finsteren Groll«, fügte er bedauernd hinzu.

»Ich habe Morgan MacGowan gefragt, ob es etwas Besonderes gebe, das ich wissen sollte«, sagte Fortunatus. »Er erwiderte, ich solle Sie fragen. Ich frage mich, was er gemeint haben könnte.«

»Ach so.« Der Priester seufzte. »Wahrscheinlich das Mädchen.«

»Er hat kein Mädchen erwähnt.«

»Typisch für ihn. Das würde er nie, weil sie in seinen Augen zu mir gehört.« Doktor Nary hob den Blick zu dem Bücherregal, in dem sich drei unverkaufte Exemplare seiner Übersetzung des Neuen Testaments gegenseitig Gesellschaft leisteten. »Kitty Brennan. Ein Dienstmädchen hier im Haus. Ihre Familie lebt unten in Wicklow. Arme Bauern. Ich fühle mich für sie verantwortlich. Deshalb bin ich so erbost darüber, dass der junge Smith das Mädchen zu seinem Schatz gemacht hat.«

»Hat er sie verführt?«

»Das habe ich nicht gesagt. Nach allem, was ich weiß, war es eher umgekehrt. Aber ich wollte ihm das Versprechen abnehmen, sie nie wiederzusehen.«

»Hat er es nicht gegeben?«

»Nein. Deshalb werde ich sie zu ihrer Familie zurückschicken müssen. Wir können nur hoffen, dass unliebsame Folgen ausbleiben.«

»Terence hat mir nichts davon erzählt.«

»Er weiß es nicht. Das alles ist erst in der letzten Woche geschehen.«

»Dann sollte das Mädchen auf der Stelle gehen, das wäre das Beste für alle.«

»Ich fürchte ja. Sie ist kein verdorbenes Ding, und ich schicke sie nur schweren Herzens in ihr ärmliches Zuhause zurück. Aber …« Der Priester schüttelte den Kopf, dann platzte er plötzlich heraus: »Dieser junge Narr. Er könnte es weit bringen. Zumindest so weit, wie es ein armer katholischer Junge heutzutage in Dublin nur bringen kann.«

Fortunatus musterte ihn nachdenklich. Es war offensichtlich, dass Nary von seinem schwierigen Schützling enttäuscht war.

»Sie sagten, er habe viel gelesen.«

»Er hat meine halbe Bibliothek verschlungen.«

»Einmal im Monat isst er mit Terence und seiner Familie, wie Sie wahrscheinlich wissen. Vielleicht könnte ich es ebenso halten. Nur muss ich für einige Tage in die Grafschaft Cavan, und so habe ich mir überlegt, ob ich ihn vielleicht mitnehmen sollte. Dann könnte er nichts anstellen.«

»Ich könnte das Mädchen wegschicken, solange er fort ist«, überlegte Nary. »Das wäre vielleicht ratsamer. Aber es ist ein Wagnis, ihn mitzunehmen. Was haben Sie denn da oben zu tun?« Nary stammte aus der fruchtbaren Grafschaft Kildare, und seinem Ton war zu entnehmen, dass er die nördliche Grafschaft Cavan mit ihren Mooren und kleinen Seen wenig reizvoll fand.

»Ich möchte einen alten Freund besuchen, einen Schulmeister. Er ist ein gebildeter Mann, und ein witziger Kopf obendrein. Das könnte den Jungen interessieren.«

Doktor Nary war hellhörig geworden. Er sah Fortunatus scharf an.

»Ein Schulmeister, sagen Sie, mit einem Haus in Cavan? Und wie heißt der Ort, wenn ich fragen darf?«

»Das Haus heißt Quilca.«

»Quilca?« Nary knallte die Hand auf den Tisch. »Als hätte ich’s geahnt. Quilca.« Er schüttelte den Kopf. »Jetzt sagen Sie mir noch eins: Werden noch mehr Leute aus Dublin dort sein?«

»Ich denke schon. Noch ein Freund von ihm.« Er grinste. »Ich glaube, Sie ahnen es bereits. Der Dekan von St. Patrick’s.«

»Ich wusste es«, rief Nary mit nur teilweise gespielter Verärgerung. »Das ist eine unerträgliche Ungerechtigkeit. Mich sollten Sie mitnehmen, Walsh, nicht den jungen Smith.«

»Ich bin überzeugt, dass auch Sie höchst willkommen wären.«

»Möglich. Ich hoffe es. Leider habe ich hier Verpflichtungen.« Er seufzte. »Fortunatus, ich fühle mich wie der rechtschaffene Sohn im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Hier bin ich, schufte treu im Dienste des Herrn, und dieser Schlingel darf nach Quilca. Menschenskind«, platzte er heraus, »Sie werden in der besten Gesellschaft von ganz Irland sein!«

»Dem möchte ich nicht widersprechen.«

»So nehmen Sie ihn mit nach Quilca«, knurrte Cornelius Nary. »Nehmen Sie ihn mit, zum Wohle seiner Seele. Ich hoffe nur, Sie werden es nicht bereuen.«

»Ich bin sicher, dass ich mit ihm zurechtkomme«, sagte Fortunatus.

»Möglich. Aber ich warne Sie«, sagte der Priester. »Sie gehen ein beträchtliches Risiko ein.«

***

Es war einige Stunden später, als sich die drei Brüder im Haus der Familie in Belfast trafen. Es war ein trauriger Anlass, der sie zusammenführte.

Während Dublin noch in der Abendsonne badete, schob hier oben, achtzig Meilen weiter nördlich, ein feuchter Westwind dichte graue Wolken über die Berge von Mourne, und trüber Regen fiel auf die große Hafenstadt Belfast dahinter.

Ein Monat war verstrichen, seit ihr Vater gestorben war, dieser wackere, gottesfürchtige Ulster-Altschotte. Zehn Jahre zuvor hatten sie ihre Mutter begraben. Jetzt waren von der Familie nur noch Henry, John und Samuel Law übrig.

Henry betrachtete seine Brüder. Wir sind anständige junge Männer, dachte er. Wir lieben einander, so gut wir können, und wenn die Liebe schwerfällt, bleibt immer die Loyalität. Daran halten wir uns fest.

»Nun, Samuel, du hast doch sicher einen Entschluss gefasst. Was soll werden?«, kam John, der Älteste, gleich zur Sache. Er war groß und dunkelhaarig wie ihr Vater und seit dessen Tod das unbestrittene, hart arbeitende Oberhaupt der Familie.

Samuel lächelte. Er war der Jüngste und vielleicht gerade deshalb der Unbeschwerteste. Zudem war er deutlich kleiner als seine Brüder, sogar ein wenig dicklich. Er hatte rotblondes Haar – ein Erbe mütterlicherseits, wie Henry vermutete. Aber er wusste, was er wollte. Schon immer. Auf seine einnehmende Art, so fand Henry, war er stur wie ein Bock.

»Ich gehe«, sagte er. »Nächste Woche sticht ein gutes Schiff in See. Ich gehe nach Amerika.«

John nickte. Wenn ein Mann nach Amerika ging, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass man ihn nie wiedersah.

»Wir werden dich vermissen«, sagte er ruhig. Das war viel aus dem Mund eines Mannes, der nie seine Gefühle zeigte. Doch selbst jetzt, so bemerkte Henry, sagte er nicht »ich werde dich vermissen«, sondern »wir«. So klang es wie eine Erklärung, die er pflichtschuldig im Namen der Familie abgab, und nicht wie eine persönliche Gefühlsäußerung. Henry lächelte in sich hinein. John würde sich nie ändern. Genau wie ihr Vater. »Aber ich glaube, du hast Recht, Samuel«, fuhr John ernst fort. »Ich würde wohl selbst gehen, wenn ich nicht …« Er brauchte den Satz nicht zu beenden. John war als Einziger von ihnen bereits verheiratet, und seine Frau hatte aus ihrer Haltung kein Geheimnis gemacht. Sie hatte in Ulster eine große Familie und nicht die Absicht, sich von ihr zu trennen. »Ich bin sicher, dass es Gottes Wille ist und dass du drüben Erfolg haben wirst«, setzte John hinzu.

»Ich gehe nicht nur meinetwegen«, sagte Samuel. »Denn wenn mir Gott eines Tages eigene Kinder schenkt, möchte ich sie nicht in Irland großziehen.«

Das konnte ihm niemand verdenken, sagte sich Henry. Denn unter der englischen Herrschaft musste die Familie Law in Irland demütigende Benachteiligungen hinnehmen. Nicht weil sie Katholiken gewesen wären, sondern, im Gegenteil, weil sie Protestanten waren.

Wenn die Ascendancy, die protestantische Führungsschicht, aus der Vergangenheit etwas gelernt zu haben glaubte, dann dass religiöser Streit zu Blutvergießen führte. Daher musste der Streit ein Ende haben. Die offizielle Kirche mit ihrer kompromissreichen Liturgie und ihren Bischöfen mochte nicht ideal sein, aber sie stand für Ordnung. Daher sollte sie ein für allemal verankert werden, bei gleichzeitiger Entmachtung aller anderen Gruppen, seien es Papisten, Dissenters, Sektierer oder was auch immer. Nicht einmal die strenggläubigen Auserwählten Gottes sollten verschont bleiben. »Wir haben genug von diesen verfluchten Presbyterianern, speziell den schottischen«, erklärten die Gentlemen in den Parlamenten. Daher zielten ihre Gesetze nicht nur gegen die Katholiken, sondern auch gegen alle protestantischen Abweichler. »Tretet der Staatskirche bei«, forderte man sie auf, »oder ihr werdet Untertanen zweiter Klasse.« Und so wurden die schottischen Presbyterianer, die den rührigsten Teil der protestantischen Gemeinschaft in Ulster bildeten, vom bürgerlichen und öffentlichen Leben ausgeschlossen und erniedrigt.

Drei Generationen zuvor war die Familie Law nach Ulster gekommen. Arbeitsame, ehrbare Schotten aus dem Tiefland, deren Urgroßvater sich stolz dem Covenant angeschlossen hatte. Ein jüngerer Sohn war nach Ulster gezogen, um hier sein Glück zu suchen. Er hatte es im Wollhandel, der über den immer größer werdenden Belfaster Hafen abgewickelt wurde, zu Wohlstand gebracht und seine Kinder im presbyterianischen Glauben erzogen. Die Familie war entsetzt, als der katholische König Jakob II. den Thron bestieg, und erleichtert, als König Wilhelm III. ihn auf dem Schlachtfeld besiegte. Und nach der Schlacht am Boyne hatten sie geglaubt, dass die neue protestantische Regierung für sie das Ende allen Ungemachs und nicht dessen Anfang bedeuten würde.

Als die Engländer den protestantischen Glaubensbrüdern in Irland ihre Verbundenheit zeigten, indem sie ihren Wollhandel zugrunde richteten, erlitten die Laws finanziell einen schweren Rückschlag. Aber es gehörte mehr dazu, ihren zähen schottischen Unternehmungsgeist zu brechen.

Keiner der drei Brüder würde jemals den Tag vergessen, an dem sie, damals noch Kinder, von ihrem Vater auf den gepflasterten Hof gerufen wurden, wo er ihnen ein kleines Fass zeigte.

»Das ist gerade aus Amerika eingetroffen«, sagte er zu ihnen. »Und es wird uns retten. Wisst ihr, was darin ist? Flachssamen.«

Aus Flachs wurde Leinen gemacht.

Leinen gab es in Irland seit undenklichen Zeiten. Aber die Erschließung der Neuen Welt eröffnete nun die Möglichkeit, billigen Flachssamen in gewaltigen Mengen zu bekommen. Als der Wollhandel zurückging, sahen geschäftstüchtige Männer wie Law eine Chance. Sie begannen, Leinen statt Wollstoff herzustellen, und da die Engländer selbst in diesem Handelszweig kaum tätig waren, sahen sie keinen Grund, die neue Lebensgrundlage ihrer irischen Freunde zu zerstören.

Niemand tat mehr für den Leinenhandel als die Familie Law. Und sie beschränkte sich nicht nur auf den Handel mit fertigem Leinen. Bald hatte sich Mr Law mit einem Dutzend Bauern zusammengetan, die er mit Samen, Spinnrädern und allem anderen belieferte, was sie zum Garnspinnen benötigten. Sowie der Nachschub sichergestellt war, widmete er sich der Herstellung des Leinens und dann dem Verkauf. Zu dem Zeitpunkt, als König Georg den Thron bestieg, besaß er ein eigenes Lagerhaus am Belfaster Kai und Anteile an einem halben Dutzend Schiffen. Außerdem hatte er drei Söhne, die das Geschäft von der Pike auf gelernt hatten.

Die Laws waren typisch für ihresgleichen. Ihr Glaube wurzelte zwar im Calvinismus des vorigen Jahrhunderts, war aber von einer milderen Form. Erbauung und Zerstreuung fanden sie im Kreis der liebenden Familie, im Beten oder, noch besser, im gemeinsamen Singen der geliebten Psalmen. Und sie hatten durchaus Humor.

Natürlich waren die Brüder Law nicht blind gegen die Gründe, die für eine Auswanderung sprachen. Schließlich waren sie Geschäftsleute. »Land ist in Amerika billig zu haben«, hatte Samuel betont. »Die Chancen für den Handel werden mit Sicherheit wachsen.« Sie hatten auch darüber gesprochen, wohin Samuel gehen sollte. Viele Familien, die sie kannten, hatten sich in New England niedergelassen, andere in Delaware, New York oder sogar tief im Süden Carolinas. Siedler aus Ulster gab es an der gesamten Ostküste. Doch Samuel hatte zu verstehen gegeben, dass er Philadelphia bevorzuge.

»Willst du immer noch nach Philadelphia?«, erkundigte sich nun John. »Dort führen doch Quäker das Regiment.«

»Es gibt dort auch Presbyterianer«, rief ihm Samuel in Erinnerung.

Henry kam ihm zu Hilfe.

»Philadelphia ist eine gute Wahl«, sagte er. »Die Stadt hat Zukunft. Und sie hat viele Reize.« Seiner Aufmerksamkeit war nicht entgangen, dass eine ihnen bekannte Familie, die vor Monaten dorthin ausgewandert war, eine sehr schöne Tochter hatte. Unbemerkt von John, zwinkerte er seinem jüngeren Bruder zu. »Aber ich werde dich vermissen. Und falls du irgendwann deine Meinung ändern und zurückkommen solltest, würde ich mich freuen, dich wieder hier zu haben.«

Samuel grinste. Wenn er Henry insgeheim seinem älteren Bruder John vorzog, so war das verständlich. Er arbeitete ebenso hart wie John, sah die Dinge aber gelassener. Und er war abenteuerlustiger. Die Frauen mochten ihn. Samuel kannte ein Dutzend Mädchen, die Henry mit Freuden geheiratet hätten, und mehrere Male hatte er schon gedacht, dass sein Bruder sich eine zur Frau nehmen würde. Doch irgendetwas hielt Henry davon ab. Es war, als hätte er sich ein Ziel gesteckt. Keiner wusste, worin dieses Ziel bestand, aber offenbar wollte er erst eine Familie gründen, wenn er es erreicht hatte.

»Da ihr beide hier seid, braucht ihr mich eigentlich nicht«, bemerkte Samuel. »Aber wenn ich erst in Philadelphia bin, hoffe ich, dass wir über den Atlantik hinweg miteinander Geschäfte abwickeln können.«

Henry nickte. Ohne Samuel etwas davon zu sagen, hatten er und John bereits vereinbart, ihm kostenlos eine Schiffsladung Waren zu schicken, um ihm den Neuanfang zu erleichtern.

»Ich muss bald in meine Wohnung zurück«, sagte Samuel. »Vor so einer Reise muss man so viel erledigen.«

»Dann lasst uns jetzt gemeinsam beten«, sagte John. »Bitten wir um Gottes Segen für deine Überfahrt und alles, was du in die Hand nehmen wirst.«

Und so beteten die drei Brüder eine Weile zusammen in stiller Zuneigung, so wie sie es gelernt hatten.

Nachdem Samuel fortgegangen war, blieb Henry bei seinem Bruder.

***

Es war still. Eine Zeit lang sprach keiner ein Wort. Henry beobachtete seinen Bruder nachdenklich. Obwohl John nie seine Gefühle zeigte, war ihm anzusehen, dass er melancholisch gestimmt war. Vielleicht hatte er insgeheim gehofft, dass Samuel doch nicht gehen würde.

Den ganzen Tag über hatte er sich gefragt, ob er seinem Bruder auch gleich die andere unangenehme Neuigkeit mitteilen oder ob er noch damit warten sollte. Nach sorgfältigem Abwägen kam er zu dem Schluss, dass es besser war, wenn er ihm Gelegenheit gab, alle schlechten Nachrichten auf einmal zu verdauen.

»Wir werden uns überlegen müssen«, sagte er schließlich, »wie wir das Geschäft weiterführen, wenn Sam fort ist.«

»Ja.« John nickte.

»Ich glaube, dass Dublin für uns wichtig wird.«

Der Leinenhandel wuchs nicht nur in Ulster rapide, sondern auch unten in Leinster. Die neue Linen Hall in Dublin war bereits ein blühendes Handelszentrum, daher hatte Henry in den letzten Monaten die Hauptstadt mehrmals besucht. »Mittlerweile«, so hatte er berichtet, »wird in Dublin mehr Leinen verschifft als in Belfast.« Und daran anknüpfend, sagte er jetzt: »Ich finde, wir sollten da unten eine zweite Niederlassung eröffnen. Du hast hier alles so gut im Griff, dass du mich im Grunde nicht mehr brauchst, John. Aber wenn ich nach Dublin ginge, könnten wir unser Geschäft beträchtlich erweitern.«

Das war völlig richtig, und so brauchte nicht ausgesprochen zu werden, dass Henry ohne die Gegenwart Samuels, der wie ein Prellbock zwischen ihnen stand, nur schwer mit dem ernsten und bisweilen herrischen Bruder auskommen würde.

»Dann willst du mich also auch verlassen.« John nickte bedächtig.

»Doch nicht verlassen, John.«

»An deinen Worten ist viel Wahres dran«, fuhr John ruhig fort. »Das bestreite ich gar nicht.« Es war offensichtlich, dass er nicht enttäuscht war. Er wusste sehr wohl, dass sein Bruder bei aller Gutherzigkeit auch ein ehrgeiziger Mensch war, der über denselben Unternehmungsgeist verfügte wie er selbst und dem es daher lästig sein musste, Befehle von einem älteren Bruder entgegenzunehmen. Insofern bestand eigentlich kein Grund, beleidigt zu sein. Dennoch konnte er sich die Bemerkung nicht verkneifen: »Ich müsste nach Dublin kommen und dir beim Aufbau der Produktion helfen.«

»Ach.« Henry hörte das Sich-Sträuben in seiner eigenen Stimme und fügte rasch hinzu: »In ganz Irland gibt es niemanden, der mich besser beraten könnte, John.«

»Es wird merkwürdig sein, dich nicht mehr hier zu haben«, sagte John traurig.

»Dublin ist von Belfast nicht weit entfernt. Ich werde die ganze Zeit hin und her reisen.«

»Es gilt noch etwas anderes zu bedenken.« Aus Johns Stimme klang Besorgnis. »In Ulster hat man es als Presbyterianer erheblich leichter als in Dublin. Hier sind wir viele und stark, doch in Dublin …« Er sah Henry forschend an. »Du wirst es schwer haben, Bruder.«

Henry erwiderte seinen Blick gelassen. Er hatte über diese Seite der Angelegenheit viel nachgedacht. Er schenkte dem Bruder ein beruhigendes Lächeln.

»Ich werde in Gottes Händen sein«, sagte er.

Es war nicht eben gelogen.

 

Tidy erkannte auf Anhieb Fortunatus Walsh, der einen prächtigen Fuchswallach ritt und ein Packpferd führte. Fortunatus trug einen langen Mantel und einen verbeulten alten Dreispitz. Aber man konnte auf den ersten Blick sehen, dachte Tidy, dass er ein Gentleman war.

Von den siebzehn noch lebenden Enkeln Faithful Tidys war Isaac Tidy einer der ärmsten. Er war klein, hatte fettiges krauses Haar und ging gebeugt. Aber er hatte Wertvorstellungen. Als junger Mann hatte er sich in mehreren Berufen versucht. Er hatte bei einem Drucker angefangen, da er des Lesens und Schreibens kundig war, aber die stundenlange Schinderei und der Geruch der Druckerschwärze hatten ihm nicht behagt. Also hatte er sich nach einer Stelle als Küster oder Kirchendiener umgetan. Und dabei war er an keinen geringeren als den Dekan der St.-Patrick’s-Kathedrale geraten, der ihn prompt als Diener einstellte. Nun könnte man meinen, dass eine solche Stellung etwas bescheiden sei für einen Mann, dessen Großvater Kapitular von Christ Church gewesen war, wie er jedermann wie nebenbei wissen ließ. »Für jeden anderen«, so sagte er zu seiner Familie, »hätte ich das nicht getan.« Niemand in Dublin hätte bestritten, dass Dekan Jonathan Swift ein Mann von besonderem Format war. Und Tidy identifizierte sich so vollständig mit seinem Herrn und dessen hoher Stellung und machte sich ihm so unentbehrlich, dass er es nur für recht und billig hielt, dass ihn sogar der Diakon mit Mr Tidy anredete, zumal seine eigene respektable Herkunft allseits bekannt war. Dekan Swift, ein Mann von vornehmer Abkunft und Bildung, war ein Gentleman, sonst hätte ihm Tidy nicht seinen Rotwein serviert. Fortunatus Walsh, der Altengländer, protestantisches Mitglied des Dubliner Parlaments mit einem Gut in Fingal, war selbstredend auch einer, und folglich auch dessen Bruder Terence, der Arzt, obgleich er Papist war. Ja, sogar ein alteingesessener irischer Katholik konnte dafür in Frage kommen, sofern er Grundbesitzer oder ein wohlhabender Mann war und glaubhaft von sich behaupten konnte, er sei fürstlicher Abstammung.

Tidy wusste es immer. Er konnte selbst nicht immer sagen, wieso. Aber gewöhnlich brauchte er nur wenige Sekunden oder höchstens ein oder zwei Minuten, um einem Mann erfolgreich auf den Zahn zu fühlen. Und dieser Mann konnte noch so vornehm tun, wenn er nicht wirklich zur Gentry gehörte, blieb es Tidy nicht verborgen.

Als die Neuankömmlinge sich nun also Quilca näherten, richtete Tidy sein Augenmerk auf den dunkelhaarigen jungen Mann, der neben Fortunatus ritt. Seine Kleidung war unordentlich und abgetragen. Doch das musste nichts heißen. Dazu trug er einen alten Dreispitz. Woher er den wohl hatte? War es sein eigener oder hatte er ihn sich von Fortunatus geliehen? Doch das Befremdlichste war, dass Fortunatus einen rundum zufriedenen Eindruck machte, obwohl ihm sein Begleiter keinerlei Beachtung zu schenken schien. Obwohl sie nebeneinander her ritten, las der junge Mann in einem Buch. Würde ein Gentleman so etwas tun? Ausnahmsweise einmal war sich Tidy seiner Sache nicht sicher.

***

Fortunatus war sehr mit sich zufrieden, als sie in Quilca ankamen. Er wusste zwar, dass Terence vor seiner Abreise nach Frankreich dem jungen Smith eingeschärft hatte, sich anständig zu benehmen. Gleichwohl war es eine glänzende Idee von ihm gewesen, den jungen Mann mit einem Buch zu beschäftigen.

Nachdem er festgestellt hatte, dass Garret Shakespeare noch nicht kannte, hatte er aus seiner Sammlung zwei schmale Bände mit Stücken dieses Verfassers mitgenommen. Sollte den jungen Mann während ihres Aufenthalts in Quilca Langeweile überkommen, konnte er sich zum Lesen in eine Ecke zurückziehen, ohne dass jemand im Haus daran Anstoß nahm. Nur hatte Garret etwas früher damit begonnen als eigentlich geplant. Am ersten Tag ihrer Reise war er noch ganz manierlich neben ihm her geritten. Doch als sie am Abend in einem Gasthaus einkehrten und sich zum Essen setzten, hatte er es, nachdem er sich von Fortunatus eine Weile in ein Gespräch hatte verwickeln lassen, nicht für nötig erachtet, die Unterhaltung fortzusetzen, sondern König Lear hervorgeholt, bis zum Ende der gemeinsamen Mahlzeit gelesen und erst am Ende des schweigsamen Mahls bemerkt: »Das ist sehr gut.«

Er las das Stück noch in der Nacht zu Ende. Am Morgen erkundigte er sich, ob es in Quilca Bücher gebe, und als Walsh »ganz bestimmt« antwortete, nickte er, zog den Macbeth hervor und fing an, beim Reiten zu lesen. Er hatte gerade das Ende des dritten Akts erreicht, als sie in Quilca ankamen.

Manch einer mochte es für ungehörig halten, dass Garret den Gentleman, der ihn freundlicherweise mitgenommen hatte, so vollkommen ignorierte, doch Fortunatus war, im Gegenteil, hoch erfreut. Denn wenn der junge Mann einen solchen Hunger nach Literatur hatte, so sagte er sich, würde er in Quilca auf jeden Fall willkommen sein und sich wohl fühlen, gleich was er dachte.

»Legen Sie jetzt das Buch weg, Garret«, rief er fröhlich. »Denn Sie sind an der Himmelspforte.«

***

Quilca war der Landsitz Doktor Thomas Sheridans, seines Zeichens Geistlicher der Kirche von Irland, Freund von Dekan Swift, Ire und der berühmteste Schulmeister auf der Insel.

Quilca lag an einem stillen See. Vor langer Zeit hatte hier eine Siedlung existiert, und noch heute wurde das Gelände vom grasbewachsenen Ring einer alten Hügelfestung beherrscht, die Sheridan als Freilufttheater nutzte. Irgendwann in jüngerer Zeit war neben dem Ringwall das bescheidene Haus eines Gentlemans errichtet worden, mit einem großen eingefriedeten Garten, der bis ans Wasser hinunterreichte. Hier konnte man fast das Gefühl haben, im Haus eines gelehrten Kanonikus zu weilen, in einem der großen Kathedralenhöfe Englands, und nicht in der Grafschaft Cavan, meilenweit umgeben von Moor. Dies war Sheridans Musentempel.

Das Haus war in keinem guten Zustand. Im Dach fehlten mehrere Schieferplatten, und die Löcher hatten freundlicherweise und auch dauerhaft, wie es schien, Vögel mit ihren Nestern gestopft. An den Außenwänden war der Efeu eifrig damit beschäftigt, die zahlreichen Schäden und Risse im Mauerwerk zu überdecken, die Sheridan selbst nicht zu beunruhigen schienen. Ob es daran lag, dass er den Kopf zu voll mit griechischen und römischen Klassikern hatte oder dass er von den irischen Clanführern, von denen er abstammte, eine vornehme Nachlässigkeit gegenüber den kleinen Dingen geerbt hatte, jedenfalls wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, die Vögel vom Dach zu vertreiben, das ihnen, wie er zweifellos fand, ebenso gehörte wie ihm.

Und es war Sheridan, der nun in Begleitung des Dekans von St. Patrick’s ins Freie trat, um sie zu begrüßen.

Sie bildeten ein bemerkenswertes Paar. Swift, zwanzig Jahre älter als der andere, war jetzt Mitte fünfzig. Sein Gesicht, vormals rund mit forschem Kinn, jetzt länglicher und ernster, verströmte Ruhe und Gelassenheit. Sein Mund, vormals spitzbübisch, war schmal, mit einem spöttischen Zug. Seine Augen blickten immer noch heiter, aber auch irgendwie traurig. Seine Haltung verriet, dass er, obwohl in seinen Hoffnungen auf einen höheren englischen Posten enttäuscht, immer noch Dekan von St. Patrick’s und sich der Würde seines Amtes bewusst war.

Der neben ihm stehende Sheridan war, obgleich auch er ein bedeutender Mann, von so unbestimmtem Äußeren, dass man es leicht vergaß, und so voller guter Laune, dass man das Gefühl hatte, er könnte dem Dekan jeden Augenblick in die Rippen puffen – was ihm eine freundliche Rüge des Dekans eingetragen hätte – oder ihn zumindest mit einem frechen lateinischen Wortspiel attackieren, an dem der feierliche Ernst des Älteren wahrscheinlich zerstoben wäre. Mit seinen strahlenden Augen und seiner breiten Stirn sah er aus wie das, was er war, ein fideler Gelehrter.

»Wer ist das, O Fortunate?«, rief er, auf den jungen Smith deutend.

»Ein Verwandter von mir«, antwortete Fortunatus vergnügt und stellte den jungen Garret vor.

»Er liest beim Reiten«, sagte Sheridan. »Aber was liest er denn beim Reiten?«

»Heute Macbeth«, sagte Fortunatus, da Garret selbst eine Antwort schuldig blieb.

»Tatsächlich?« Doktor Sheridan richtete seinen freundlichen Blick auf Garret, sodass er ihm nicht entrinnen konnte. »Mir ist noch nie jemand untergekommen, der auf einem Pferd den Macbeth liest, Mr Smith. Sonette vielleicht, aber niemals den Macbeth. Darf ich fragen, ob es Ihnen gefällt?«

Garret beäugte ihn argwöhnisch. Er wollte sich nicht durch gönnerhafte Behandlung gefügig machen lassen.

»Er ist englisch, aber so gut, dass er irisch sein könnte«, antwortete er ruhig. Seine ungerührte Miene bekundete weder Respekt noch freundliche Aufgeschlossenheit.

Swift warf Fortunatus einen kühlen Blick zu. Doch Sheridan schien erfreut.

»Recht so«, rief er, »recht so. Gesprochen wie ein richtiger Ire.« Er wandte sich an die anderen. »Man sollte ihn tatsächlich ins Irische übersetzen.« Damit drehte er sich wieder zu Garret. »Glauben Sie«, fragte er ihn ernst, »dass Ihr Talent ausreichen würde, um sich an eine solche Aufgabe zu wagen?«

»Vielleicht«, antwortete Garret. »Ich könnte es wohl versuchen.«

»Famos!«, rief Doktor Sheridan. »Ein junger irischer Gelehrter. Willkommen in Quilca, mein verehrter Mr Smith! Aber gehen wir doch hinein.«

Die Gruppe trat ins Haus, und nur Isaac Tidy blieb draußen. Er hatte den jungen Mann die ganze Zeit genau beobachtet.

Mit seinem blässlichen Gesicht und seinem fülligen schwarzen Haar hatte ihn der Bursche überhaupt nicht beeindruckt. Er war um die zwanzig, aber er hatte keine Manieren. Er mochte mit Walsh verwandt sein, aber selbst ein so feiner Gentleman konnte einen Verwandten ohne das gewisse Etwas haben. Im Übrigen hatte er den jungen Mann ziemlich leicht durchschaut. Warum war er so unhöflich? Weil er glaubte, sich verteidigen zu müssen. Das sagte schon alles.

Nein, Tidy trug seine Beobachtungen zusammen, ordnete sie, zählte eins und eins zusammen und legte den jungen Smith im Geist in eine Schachtel und schloss den Deckel. Er war kein Gentleman. Er war nie einer gewesen und würde nie einer sein. Und da war noch etwas, was er an ihm nicht mochte. Er hatte merkwürdig grüne Augen.

Ich muss auf der Hut sein, sagte sich Tidy. Höchstwahrscheinlich wird er versuchen, das Tafelsilber zu stehlen.

***

Auch Fortunatus beobachtete ihn.

Sobald man ihnen ihre Kammer gezeigt hatte, mit einem Eichenbett für ihn selbst und einem Sofa, auf dem Garret bequem schlafen konnte, wurde deutlich, dass Sheridan darauf brannte, ihnen sein Reich zu zeigen. Und so versammelten sich wenig später alle wieder draußen und begaben sich in den eingefriedeten Garten. Sheridan war in aufgeräumter Stimmung, als sie zum Wasser hinuntergingen.

»Diese Rosen, Walsh, sind neu seit Ihrem letzten Besuch. Der Lavendel duftet kräftig, finden Sie nicht? Ich habe ihn von einem Gentleman in London. Da drüben, Mr Smith, beabsichtige ich eine Libanonzeder zu pflanzen, sofern ich eine bekomme.«

Auf die sie umgebende Landschaft mit ihren Wäldern, Drumlins und Mooren weisend, sagte er zu Garret:

»Dies alles ist Sheridan-Land. Der Name ist einer der ältesten in Irland, müssen Sie wissen. Die O’Sioradains kamen aus Spanien, heißt es, kurz nach der Zeit des heiligen Patrick. Uns gehörte die große Burg Togher, bevor Strongbow kam, und unsere Ländereien …«, sein Arm beschrieb einen eleganten Bogen, »… erstreckten sich über ganz Cavan.« Fortunatus entnahm dem leicht spöttischen Ausdruck in Swifts Gesicht, dass der Dekan diesen Vortrag nicht zum ersten Mal hörte. »Wir stammen von den O’Rourkes, den Prinzen von Leitrim, ab, von den Prinzen von Sligo und Tyrone, von O’Conor Don … Ich sage Ihnen das nur, damit Sie wissen, dass Sie hier das eigentliche Herz und die Seele des alten Irland finden.«

»Wie kann das sein«, erwiderte Garret Smith grob, »wo Sie doch Protestant sind?«

Fortunatus wollte den jungen Mann zurechtweisen, doch Sheridan hielt ihn mit einem Wink davon ab.

»Sie haben Recht. Das ist eigenartig, denn die meisten Sheridans sind Katholiken. Aber ich will Ihnen sagen, wie es dazu kam. Vor über einem Jahrhundert wurde mein Vorfahr Donnchaid O’Sioradain Waise, und ein freundlicher englischer Geistlicher nahm ihn zu sich und erzog ihn in seinem Glauben. Mein Vorfahr wurde selbst Geistlicher und ein enger Vertrauter Bischof Bedells von Kilmore.« Er war jetzt in Fahrt. »Sagt Ihnen der Name etwas? Bedell war der einzige englische Bischof, der in irischer Sprache predigte. Er hat sogar das Alte Testament ins Irische übersetzt. Er war ein guter Mann und in Cavan sehr beliebt. So beliebt, dass ihm beim großen Aufstand 1641 kein Haar gekrümmt wurde. Als die Rebellen an sein Haus kamen, sagten sie zu ihm, dass er nichts zu befürchten habe und dass er der letzte Engländer sei, den sie jemals aus Irland vertreiben würden. Als er starb, waren die Hälfte von denen, die neben seinem Sarg hergingen, katholische irische Clanführer.« Er lächelte. »Wie Sie sehen, Garret, ist unsere Geschichte, da sie nun mal die Geschichte von Menschen ist, nicht immer so einfach, wie man meinen könnte. Und es ist seinem Beispiel zu verdanken, dass der protestantische Zweig der Sheridans, aus dem mehrere Geistliche hervorgingen, den Versuch unternahm, aus der Kirche von Irland hier in Cavan eine gälische Kirche zu machen.« Er seufzte. »Aber die Verhältnisse waren gegen uns.«

Garret sagte nichts, und Fortunatus hatte keine Ahnung, was er über die Geschichte der Familie Sheridan dachte.

»Kommen Sie«, sagte Sheridan, »ich will Ihnen den Ringwall zeigen.«

Garret schien der Ringwall zu gefallen. Sheridans Begeisterung für seine Nutzungsmöglichkeiten als Theater wirkte ansteckend, und es gelang ihm sogar, den jungen Mann ein wenig aus der Reserve zu locken, indem er einen Monolog aus Macbeth rezitierte.

 

Auf dem Weg zurück zum Haus schritten Garret und Sheridan Seite an Seite und sprachen leise miteinander, während Fortunatus neben dem Dekan ging.

Swift hatte fast den ganzen Auftritt mit einem verhaltenen Lächeln, aber schweigsam verfolgt. Im Gehen knüpfte Fortunatus jetzt ein Gespräch mit ihm an.

»Ich bewundere Sheridan schon so viele Jahre«, sagte er. »Er ist ein Geistlicher ganz nach meinem Geschmack, und er hat die beste Schule in Irland. Ich schicke meinen Sohn zu ihm. Seine Schulaufführungen sind berühmt. Aber mir ist bis zum heutigen Tag nicht bewusst gewesen, wie groß seine Leidenschaft für das Theater ist. Er würde einen guten Schauspieler abgeben.«

»Wie wahr.« Swift lächelte gequält. »Die Kanzel und das Theater sind nie weit auseinander, Walsh.«

»Man spürt, dass er Quilca liebt. Ich habe nie einen Mann erlebt, der an seinem Haus so große Freude hat.«

»Ich auch nicht, Walsh. Nur schade …«, Swift hob die Stimme gerade genug, dass sie trug, »… dass es langsam zerfällt. Bei meinem letzten Besuch klaffte in der Wand meines Zimmers ein Riss, durch den es so zog, dass ich ihn mit meinem Mantel zustopfen musste. Und auch das Dach ist fürchterlich undicht. Sie würden nicht einmal bemerken, wenn es weg wäre.«

»Gelegentlich«, erwiderte darauf Sheridan leichthin, »fliegt es fort wie ein Vogel, um seinen Onkel in Cork zu besuchen, aber es kommt immer wieder zurück. Es klagt nur«, fügte er mit einem gewissen Nachdruck hinzu, »wenn Swift darunter nistet.«

»Haha.«

»Außerdem waren Sie vollkommen trocken.«

»Es hatte nicht geregnet.«

Sie gingen ins Haus, und Sheridan führte sie in einen großen, länglichen Raum. Die Fensterläden waren fast ganz geschlossen, und obwohl es sehr dunkel war, konnte Fortunatus den Kamin in der Mitte erkennen, und davor eine große ungepolsterte Bank, zwei ramponierte Ohrensessel und einen kleinen, mit Papieren bedeckten Tisch. An der Wand am anderen Ende des Raums stand ein Esstisch, der zweifellos aus dem Refektorium eines Klosters der Tudor-Zeit stammte, und erst als Fortunatus sah, dass der junge Garret zu dem Tisch starrte, bemerkte er zu seinem Schrecken, das etwas darauf lag. Es sah aus wie ein langer dünner Leichnam, der zur Totenwache aufgebahrt war. Sheridan blickte nur flüchtig hin.

»Das ist O’Toole«, bemerkte er und öffnete einen Fensterladen. Dann wandte er sich an Swift und deutete auf die Papiere. »Kommen Sie, Jonathan, machen wir weiter. Vielleicht können unsere Freunde uns helfen.«

Anscheinend hatten sich die beiden Männer früher am Tag mit einem Werk beschäftigt, an dem der Dekan zurzeit arbeitete. Allerdings handelte es sich weder um eine Predigt noch um ein religiöses Traktat, wie sie erfuhren, sondern um ein literarisches Werk. Fortunatus hatte Garret erzählt, dass Swift, bevor er sein Amt in Irland antrat, sich in London bereits als Herausgeber und Verfasser glänzender Gedichte und Satiren einen Namen gemacht hatte. »Er war ein guter Freund des großen Dichters Alexander Pope.« Fortunatus wusste, dass Swift gerne oben in Quilca schrieb, weil ihm die geistigen Höhenflüge und kühnen Spracheinfälle Sheridans wertvolle Anregungen für seine beißenden Satiren lieferten. Und das Werk, an dem er gerade arbeitete, war in der Tat ungewöhnlich.

Offenbar handelte es sich um eine Satire auf die populären Reiseschilderungen. Es war die merkwürdige Geschichte eines Mannes namens Gulliver, der mehrere Reisen in imaginäre Länder unternahm, auf eine Insel, die von Zwergen, und auf eine andere, die von Riesen bewohnt wurde. Eine dritte wurde von gelehrten Pferden regiert. Er hatte sogar eine Reihe von Skizzen für einen Besuch auf einer fliegenden Insel.

»Wir suchen Namen für einige merkwürdige Orte und Geschöpfe, denen der Reisende begegnet«, erklärte Sheridan. »Namen sind nämlich wichtig. Wir haben zum Beispiel schon Liliput für die Insel, auf der die Zwerge leben, und unsere gelehrten Pferde heißen Houyhnhnms – klingt das nicht wie ein Wiehern? Aber kommen Sie, Jonathan, stellen Sie uns noch ein paar Aufgaben.«

Ermuntert durch die Begeisterung seines Freundes las Swift freundlicherweise ein paar Passagen vor, und die Gesellschaft strengte ihren Verstand an.

»Wir müssen jeden Winkel unserer Einbildungskraft durchstöbern«, erklärte Sheridan. »Wörter aus dem Englischen und Französischen, Lateinischen oder Griechischen, lautmalerische, selbst irische. Garret, wussten Sie, dass Dekan Swift Gälisch kann? Er spricht es nicht so gut wie Sie oder ich, aber er hat unsere Sprache gelernt, das gereicht ihm zur Ehre.«

Die fliegende Insel sollte Laputa heißen, wie Walsh und Swift fanden. Auch bei den wilden Geschöpfen, die den gelehrten Pferden Verdruss bereiteten, setzten sich die beiden durch. Sie bekamen den Namen Yahoos. Dann jedoch, als ein Name für die kleinen mäuseähnlichen Kreaturen gebraucht wurde, welche die Yahoos so gerne verspeisten, zeigte Sheridan, was in ihm steckte.

»Das lateinische Wort für Maus ist mus, und das irische Wort luc. Darum würde ich vorschlagen, wir nennen die bemitleidenswerten kleinen Gesellen Luhimuhs. Da sieht man die armen Wichte doch förmlich vor sich, nicht wahr?«

Swift war entzückt. Doch die härteste Nuss gab es etwas später zu knacken.

»Gulliver besucht auch ein Land«, erläuterte Swift, »in dem jeder, der vom König empfangen werden will, sich nicht nur nach orientalischer Gepflogenheit zu Boden zu werfen hat, sondern auch zum Thron kriechen und dabei den Schmutz vom Boden lecken muss. Wie sollen wir es nennen?«

Tiefe Stille trat ein. Walsh runzelte die Stirn, Sheridan stierte versonnen ins Leere. Schließlich ergriff Garret Smith das Wort.

»Das irische Wort für Sklave – und jeder, der so etwas tut, ist ein Sklave – lautet triall, und die irischen Wörter für Teufel und Schmutz sind droch und drib. Sie könnten es also Trildrogdrib nennen.«

Alle sahen einander an. Das war brillant.

Vom anderen Ende des Raums, von dort, wo der Tisch an der Wand stand, ertönte ein Glucksen, und der Leichnam setzte sich auf. »Ausgezeichnet!«, sagte der Leichnam.

»Bei Gott!«, rief Sheridan. »Ihr habt O’Toole geweckt.«

***

Fortunatus war O’Toole nie zuvor begegnet. Der Mann war noch ziemlich jung, erst Anfang dreißig. Blond, hochgewachsen, mit tiefblauen Augen, schmalem länglichem Gesicht, breitem Mund und hohen, vorstehenden Wangenknochen: In Walshs Fantasie nahm er die Gestalt einer Violine mit hellem Haar an. Einen Großteil des Jahres lebte er bei seiner Familie oben in den Wicklow-Bergen, aber im Sommer und Frühherbst wanderte er umher, wie es die Dichterbarden Irlands seit alters her taten, und wurde überall, wo er hinkam, respektvoll willkommen geheißen. Gewöhnlich trug er seine Kunst in bescheidenen Gehöften und Weilern alteingesessener Iren vor, die ihn nur mit Kost und einem Lager für die Nacht entlohnen konnten, und was er tat, tat er sicherlich nur aus Liebe zur Sache. Manchmal bei solchen geselligen Ceili-Abenden sang er und stampfte, von ein oder zwei Geigern begleitet, mit dem Fuß den Rhythmus. Oft erzählte er auch Geschichten aus dem reichen irischen Sagenschatz. Doch wenn er in Stimmung war, und das war das Beste von allem, sang er selbst verfasste Verse und begleitete sich dabei auf der kleinen Harfe, die er stets bei sich trug.

Es gab in Irland eine ganze Anzahl solcher Poeten. Der berühmteste war Turlough Carolan, ein Dichterbarde, der von Geburt an blind war. »Blind wie der gewaltige Homer«, hatte Sheridan einmal zu Fortunatus gesagt, »und mit dem phänomenalsten Gedächtnis, das mir je untergekommen ist.« Carolan lebte in der Gegend und hatte Quilca schon mehrmals besucht. O’Toole war zwanzig Jahre jünger, aber nach Ansicht Vieler hatte er das Zeug, ihm eines Tages gleichzukommen.

Beim Essen sprach der Dichter wenig. Er schonte sich für seinen anschließenden Vortrag. Doch wenn er etwas sagte, dann auf heitere, ungezwungene Art, und Fortunatus erkannte, dass er nicht nur umfassende Kenntnisse der irischen Dichtung besaß, sondern auch mit der klassischen Literatur und sogar mit einigen neueren englischen Dichtern vertraut war. Er trank etwas Aqua vitae. »Ich biete Euch Wein an«, sagte Sheridan, »aber ich weiß, dass Ihr Usquebaugh bevorzugt.«

»Ganz recht«, gestand der Dichter, »denn ich habe festgestellt, dass Wein mich benebelt, wohingegen Lebenswasser bei mir nur wenig Wirkung zeigt, außer dass es meine Sinne schärft.«

»Genau das«, erwiderte Sheridan fröhlich, »bewirkt Rotwein bei mir.«

Mit Swift sprach O’Toole mit spürbarem Respekt, und Walsh gegenüber bemerkte er höflich, dass er schon viel Gutes über seinen Bruder Terence gehört habe. Er wechselte auch ein paar Worte mit Garret, der freilich nur einsilbig antwortete, was Walsh darauf zurückführte, dass der junge Mann wohl eingeschüchtert sei. Einmal jedoch sprach Garret den Dichter von sich aus an.

»Aus welchem Teil von Wicklow kommen Sie?«, fragte er.

»Aus den Bergen. Aus einem Ort an der Straße nach Glendalough. Er heißt Rathconan.«

»Dann kennen Sie vielleicht die Brennans?«

Ein Schatten huschte über O’Tooles Gesicht.

»Es gibt dort oben eine Familie dieses Namens.« Er sah Garret forschend an. »Haben Sie Verbindungen zu Rathconan?«

Garret starrte ihn an.

»Das könnte man sagen.«

»Aha.« O’Toole nickte nachdenklich. »Die grünen Augen. Das wäre eine Erklärung.« Doch mehr sagte er dazu nicht.

Nach dem Essen wechselte er zu einem abseits stehenden Stuhl und griff zu seiner Harfe.

»Zu Anfang etwas Musik.«

Als Erstes spielte er einen kurzen Jig, dann eine sanfte altirische Weise, sodass Fortunatus annahm, dies sei ein Vorspiel zu einer irischen Geschichte. Doch danach trug O’Toole zu seinem Erstaunen ein lebhaftes italienisches Stück vor, in dem er zu seinem noch größeren Erstaunen ein Violinkonzert von Vivaldi wiedererkannte. Swift, der seine Überraschung bemerkte, beugte sich zu ihm hinüber.

»Ich habe gehört«, flüsterte er, »dass der blinde Carolan in eben diesem Stil selbst ein italienisches Stück komponiert hat. Eure irischen Musikanten können mit jedem in Europa mithalten.«

Sowie der Beweis dafür erbracht war, kehrte O’Toole gekonnt zu irischen Stücken zurück, und nachdem er drei oder vier dargeboten hatte, machte er eine Pause, und Sheridan schenkte Usquebaugh nach. Unterdessen waren auch die Frauen wieder aus der Küche zurückgekehrt. Diesmal hatten sie auch den Stallburschen und die Knechte vom Gehöft mitgebracht, sodass jetzt alle Hausbewohner zugegen waren.

***

Am nächsten Tag stand niemand früh auf. Der Vormittag war schon weit vorgerückt, als Fortunatus herunterkam. Garret saß draußen auf einer Bank, las in Macbeth und aß ein Stück Haferkuchen. Sheridan und Swift unterhielten sich leise unten am Wasser.

Gegen Mittag erschien O’Toole, nahm eine kleine Erfrischung zu sich und sagte, er müsse sich auf den Weg machen, denn er habe zehn Meilen zu gehen bis zu dem Dorf, in dem er als nächstes erwartet werde. Sheridan führte mit ihm ein kurzes Gespräch, und Fortunatus zweifelte nicht daran, dass dabei ein oder zwei Guinness den Besitzer wechselten. Dann nahm die ganze Gesellschaft Abschied und stattete dem Dichter den Dank ab, der ihm zweifellos gebührte. Garret raunte ihm auf Irisch etwas zu, das Walsh nicht verstand, und der Dichter antwortete mit einem ruhigen Nicken. Dann entfernte er sich mit langen, federnden Schritten.

Sie aßen erst am späten Nachmittag. Sheridan und Swift wünschten offensichtlich, ihr Gespräch alleine fortzusetzen, und als Garret seine Lektüre beendet hatte, nahm ihn Walsh zu einem kleinen Spaziergang mit. Er versuchte dem jungen Mann zu entlocken, was er über O’Tooles Darbietung am gestrigen Abend dachte. Garret sagte wenig, aber Fortunatus meinte in seinem Verhalten eine unterdrückte Erregung zu bemerken, als hätte er eine heimliche Entdeckung gemacht oder einen wichtigen Entschluss gefasst. Was es genau war, vermochte Walsh nicht zu erraten.

Später, beim Essen, brachte Fortunatus die andere Angelegenheit, die ihn beschäftigte, zur Sprache.

»Ich brauche Ihren Rat«, sagte er zu Swift und Sheridan.

»Worum geht es?«, fragte sein Gastgeber liebenswürdig.

»Um einen drohenden Rauswurf«, antwortete Walsh lachend, und dann erzählte er von dem Besuch seiner Cousine Barbara Doyle und ihrer Empörung über Mr Woods Kupfermünzen. »Ich habe nicht die leiseste Idee«, gestand er, »wie ich ihrem Wunsch entsprechen soll.«

»Nach allem, was man so hört«, bemerkte Sheridan, »wird es im Dubliner Parlament von allen Seiten Proteste hageln.«

»Und die Regierung in England wird sie ignorieren«, fügte Swift ganz offen hinzu. »Ich weiß nämlich aus verlässlicher Quelle, dass sie nicht die Absicht haben, irgendetwas zu unternehmen.«

»Aber nach dem Skandal um die Südsee-Blase«, sagte Fortunatus, »werden die Leute in London doch wissen, dass ihr Ansehen auf dem Tiefpunkt ist. Man sollte meinen, dass ihnen daran gelegen ist, jedes weitere anrüchige Finanzgeschäft zu vermeiden.«

Die große Krise des gesamten Londoner Finanzmarkts, die drei Jahre zuvor durch ein Spekulationsfieber und betrügerische Aktienangebote ausgelöst worden war, hatte den Ruf der Stadt London und der britischen Regierung ruiniert. Walsh konnte von Glück sagen, dass er seine Ersparnisse wie die meisten seiner Freunde sicher in Irland angelegt hatte. Fast in jeder englischen Stadt hatte jemand sein ganzes Vermögen verloren.

»Sie unterschätzen die Arroganz der Engländer«, erwiderte Dekan Swift grimmig. »Die Regierung glaubt, dass hinter den Klagen aus Irland eine politische Gruppe steht. Sie glaubt, dass diejenigen, die Einwände erheben, dies nur tun, weil sie Mitgliedern der Opposition im englischen Parlament nahestehen.«

»Das ist lächerlich.«

»Von der Tatsache, dass eine Behauptung lächerlich ist, haben sich diejenigen, die sie glauben wollen, noch nie beirren lassen.«

»Ich wünschte«, sagte Fortunatus leidenschaftlich, »Sie, Dekan, würden in dieser Angelegenheit Ihre satirische Feder spitzen. Selbst eine anonyme Flugschrift wäre eine weit wirkungsvollere Waffe als jede armselige Rede meinerseits.«

Die Satiren des Dekans waren in der Vergangenheit anonym veröffentlicht worden, allerdings hatte nie ein Zweifel daran bestanden, wer sie verfasst hatte.

Der Dekan und Sheridan tauschten einen Blick. Swift schien unschlüssig.

»Sollte ich dergleichen in Erwägung ziehen«, sagte er zurückhaltend, »dann erst, wenn das Dubliner Parlament die Frage erörtert und eine Antwort aus London erhalten hat. Schreiben, selbst anonym, muss für mich das letzte Mittel sein. Als Dekan von St. Patrick’s darf ich mich zu moralischen, nicht aber zu politischen Fragen äußern.«

Fortunatus nickte.

»Falls es jedoch dazu kommen sollte«, sagte er lächelnd, »müssen Sie mir gestatten, meiner Cousine Barbara zu sagen, dass Sie es nur auf meine Veranlassung hin getan haben. Wenn ich mir das als Verdienst anrechnen kann, behalte ich vielleicht das Dach über meinem Kopf.«

»Na schön, Fortunatus, wie Sie wünschen«, erwiderte Swift. »Allerdings muss ich Ihnen sagen, dass ich Ihren Standpunkt in dieser Angelegenheit nicht nur teile, sondern meine Empörung die Ihre noch übersteigt.« Er legte die Stirn in Falten, bevor er mit einer gewissen Erregung fortfuhr: »Denn dass dieser Mann Irland mit seinen minderwertigen Münzen überschwemmt, halte ich für eine absolut unerträgliche Schurkerei und Unverschämtheit. Und wenn wir uns beschweren, werden Wood und seine Söldlinge dies als Treulosigkeit hinstellen. Das ist infam. Doch man wird es glauben. Und der Grund dafür ist, wie ich als Engländer zugeben muss«, fuhr er zornig fort, »dass die Engländer zwar die meisten Völker verachten, für Irland aber eine besondere Geringschätzung reserviert haben.«

Walsh war verblüfft über den unvermittelten Wutausbruch des wortkargen Dekans, aber Sheridan schmunzelte.

»Sieh mal einer an! Jonathan, Sie sind ein kluger und umsichtiger Kerl, aber dann brechen sich Ihre Wahrheitsliebe und Ihr Gerechtigkeitssinn Bahn und machen Sie ebenso leichtsinnig, wie ich es bin.«

»Der irische Wollhandel ist ruiniert«, fuhr Swift fort, »das Land wird unentwegt schändlich behandelt, und niemand wird dafür zur Rechenschaft gezogen. Ich will Ihnen sagen, was das Dubliner Parlament meines Erachtens tun sollte, Walsh. Es sollte die Einfuhr englischer Waren nach Irland verbieten. Vielleicht hilft das dem englischen Parlament und Geschäftemachern wie diesem Wood, sich zu bessern.«

»Das wäre eine Radikalkur.«

»Ein notwendiges Mittel gegen eine nationale Schande. Aber selbst das wäre nur ein kleiner Aderlass, Walsh, eine Übergangsmaßnahme. Denn die Ursachen liegen tiefer. Irland wird so lange schlecht behandelt, wie sein Parlament dem in London untergeordnet ist. Wir wählen Männer zu unseren Vertretern, doch ihre Beschlüsse werden ignoriert. London hat weder das moralische noch das verfassungsmäßige Recht, für Irland Gesetze zu erlassen.«

»Eine radikale Doktrin.«

»Mitnichten. Im Dubliner Parlament ist sie seit über zwanzig Jahren zu hören.« Tatsächlich hatten führende irische Politiker der vorigen Generation wie Molyneux eben diese Ansicht vertreten. Nur überraschte es Walsh, sie aus dem Mund des Dekans von St. Patrick’s zu hören. »Um es deutlich zu sagen«, fuhr Swift entschieden fort, »ich bin der Meinung, dass jedes Regieren ohne Zustimmung der Regierten der Inbegriff der Sklaverei ist.«

Und in diesem Augenblick mischte sich der junge Garret Smith in das Gespräch ein.

Tatsächlich hatten ihn die anderen schon vor geraumer Zeit vergessen. Er hatte rechts neben Swift gesessen, aber kein Wort gesagt, und der Dekan hatte ihm, während er mit Walsh und Sheridan sprach, den Rücken zugekehrt.

»Willkommen«, rief Garret jetzt ziemlich laut, »bei der jakobitischen Sache.«

Der Dekan fuhr herum. Fortunatus starrte ihn an. Das Gesicht des jungen Mannes war gerötet. Er war nicht betrunken, aber er hatte das ganze Essen über still vor sich hin getrunken. Seine Augen glänzten. War das aufrichtige Erregung, bittere Ironie oder unverhohlener Spott, was da aus seiner Stimme klang? Es war unmöglich zu sagen. Doch was immer es sein mochte, es sollte noch mehr kommen.

»Die Katholiken Irlands werden Sie segnen.« Er lachte etwas unbändig.

Fortunatus spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich.

Der Junge wusste nicht, was er redete. Das war offensichtlich. Aber jetzt war es zu spät. Dekan Swift hatte sich zu ihm umgedreht. Sein Gesicht war hochrot vor Zorn.

»Ich bin kein Jakobit, Sir«, donnerte er.

Denn merkwürdigerweise war es nicht die Behauptung, dass er mit den Katholiken sympathisiere, die den protestantischen Dekan von St. Patrick’s so aufbrachte, sondern dass man ihn einen Jakobiten nannte.

Wie sollte das Garret auch verstehen? In der komplizierten Welt der englischen Politik musste ein Mann wie Swift auf der Hut sein. Obwohl ursprünglich ein Anhänger der Whigs und Befürworter der neuerlichen protestantischen Besiedelung nach der Vertreibung des katholischen Königs Jakob, hatte Swift als Literat auch Freunde und Gönner bei den Tories gefunden. Daher rechneten ihn die Whigs, die gegenwärtig an der Macht waren, dem Lager der Tories zu. Und da einige Tories vormals Jakob II. unterstützt hatten, stand jeder Tory im Verdacht, heimlich die Rückkehr des verhassten Königshauses Stuart herbeizusehnen. Daher versuchten die Whigs, jeden Tory, den sie zu vernichten wünschten, als Jakobit zu entlarven, und mithin als Verräter an Georg II. und der protestantischen Ordnung.

War die jakobitische Sache tot, seit der Versuch, den Thronprätendenten der Stuarts zurückzuholen, 1715 auf der ganzen Linie gescheitert war? Man wusste nie. Georg II. und seine Familie waren nicht sehr beliebt. In der politischen Arena von Westminster und in den großen Landhäusern, in denen reiche englische Lords ihre politischen Fäden spannen, waren Intrigen an der Tagesordnung. Jeder Mann hatte Feinde, selbst der ferne Dekan von St. Patrick’s, und diese Leute hatten das Gerücht in die Welt gesetzt, Swift sei Jakobit. Wenn man jemandem nachweisen konnte, dass er Jakobit war, was Hochverrat gleichkam, konnte man ihn zur Strecke bringen wie eine Hundemeute einen Fuchs. Swift konnte unter keinen Umständen zulassen, dass er als Jakobit bezeichnet wurde.

»Und ob Sie einer sind!«, rief Garret vergnügt. »Und wenn Irland mit Zustimmung der Regierten regiert werden soll, werden Sie auch Katholiken ins Parlament holen müssen.«

»Sie sind impertinent, junger Mann«, brüllte Swift wutentbrannt. »Sie sind ignorant, und Sie haben Unrecht. Die Jakobiten sind Verräter, und was die katholische Religion angeht, Sir, muss ich Ihnen ganz offen sagen, dass ich sie verabscheue. Ich verabscheue sie zutiefst.« Damit stand er vom Tisch auf und stapfte aus dem Raum.

»Verdammt«, sagte Sheridan und seufzte. »Sie bringen Ihren Verwandten besser fort, Fortunatus, gleich morgen früh.«

 

Es war ein klarer, frischer Morgen, als sie Quilca zu Pferd verließen, aber Fortunatus war nicht fröhlich gestimmt. Kurz vor ihrem Aufbruch hatte Sheridan noch mit ihm gesprochen.

»Es tut mir aufrichtig leid, dass Ihr Aufenthalt ein so jähes Ende findet«, hatte er gesagt, »aber ich kann nicht dulden, dass Swift belästigt wird. Ihr Verwandter ist ohne Zweifel begabt, aber ich fürchte, er muss noch viel lernen.« Was Fortunatus besonders verstimmte, war, dass er wegen dieses Vorfalls möglicherweise nie wieder eine Einladung nach Quilca bekommen würde.

Garret schien besser gelaunt zu sein. Auch er war, ohne dass Fortunatus es bemerkt hatte, mit einem Abschiedswort bedacht worden, allerdings nicht von Sheridan, sondern von Tidy. Das Faktotum des Dekans hatte ihm an der Hausecke, wo niemand sie sehen konnte, aufgelauert.

»Nun, Smith, hat man Sie vor die Tür gesetzt?«, sagte er boshaft.

»Es hat ganz den Anschein«, erwiderte Garret.

»Hier ist kein Platz für Ihresgleichen«, fuhr Tidy fort. »Mit feinen Leuten an einem Tisch sitzen. Sie gehören nicht in die Gesellschaft der Gentry und werden es auch niemals.«

»Ich komme, wenn man mich einlädt«, erwiderte Garret ruhig. »Es ist nämlich unhöflich, eine Einladung auszuschlagen.« Darauf reagierte Tidy nur mit einem kehligen Laut, als wollte er spucken. »Im Übrigen«, setzte Garret hinzu, »war Art O’Toole hier willkommen, und er, möchte ich meinen, gehört auch nicht zur Gentry.«

Da Tidy persönlich auch für O’Toole nichts übrig hatte, beließ er es bei einem Schweigen, aber etwas in seinem Blick gab zu verstehen, dass O’Toole als fahrender Musikant zur dienenden Klasse zählte.

»Tun Sie nicht so vornehm und geben Sie Höherstehenden keine frechen Antworten«, entgegnete er. »Man hätte Sie letzte Nacht auspeitschen und auf den Stallhof werfen sollen, wo Sie hingehören. Und jetzt verschwinden Sie.«

»Vielen Dank«, hatte Garret gesagt.

Als Fortunatus jetzt neben ihm auf der Straße nach Süden ritt, fragte er sich, welches Schicksal Garret wohl erwartete. Würde er sich friedlich als Krämer in Dublin niederlassen? Würde er mit dem Gesetz in Konflikt kommen? Würde er etwas ganz anderes tun und sie alle überraschen? Und was dachte er über die Ereignisse der letzten beiden Tage? Nachdem sie ungefähr eine Meile geritten waren, wagte er die Bemerkung:

»Es tut mir leid, dass Sie sich mit Dekan Swift überworfen haben. Er ist nämlich ein bedeutender Mann.«

»Aber gewiss ist er das«, sagte Garret verbindlich. »Ich bewundere Swift.«

»Tatsächlich?« Fortunatus war überrascht.

»Er ist wenigstens ehrlich.« Sie ritten noch einige Schritte, ehe er vergnügt hinzusetzte: »Sie und Sheridan sind es, die ich zutiefst verachte.«

»Ach«, sagte Fortunatus.

Garret Smith blickte nicht einmal kurz zu ihm herüber, um festzustellen, wie er die Beleidigung aufnahm, denn es war ihm gleichgültig. Er hatte bereits einen Entschluss gefasst, was er tun wollte.