KÖNIGIN VIKTORIA
* 1848 *
Nur wenige Leute hätten bestritten, dass, wenn man die vielen Vorzüge Dublins aufzählen wollte, die Kanäle auf keinen Fall fehlen durften. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts gebaut, umschlossen sie heute den georgianischen Stadtkern wie zwei Arme. Der Royal Canal führte von den Docks hinter dem Zollamt nach Norden, um Mountjoy herum und oberhalb des Phoenix Parc nach Westen, dann aufs Land hinaus und tief in die Midlands hinein, wo er sich nach achtzig Meilen mit dem ausgedehnten Flusssystem des Shannon vereinte, sodass man mit Booten Güter von einer Seite Irlands auf die andere transportieren konnte. Südlich des Liffey verlief der Grand Canal. Er nahm an den Docks von Ringsend seinen Anfang und floss trotz seines Namens in einer weiten, kaum merklichen Biegung gemächlich zwischen grasbewachsenen Ufern und knorrigen Weiden dahin, bis er zwei Meilen westlich von St. Stephen’s Green wie ein Mann, der eine erquickende Ruhepause genossen hat, ein forscheres Tempo anschlug und in schnurgerader Linie die fruchtbare Liffey-Ebene in Richtung Westen durchquerte. An seinen Ufern hangelte sich von Holzschleuse zu Holzschleuse ein lauschiger Treidelpfad.
Dort, am Ufer des Grand Canal, lebte in einem schmucken, aber geräumigen Backsteinhaus die Familie Tidy. Samuel Tidy und seine Frau waren seit nunmehr fünfzehn Jahren verheiratet. Sie hatten fünf Kinder, von denen das jüngste noch im Säuglingsalter war. Sie waren fleißig und genossen einen bescheidenen Wohlstand. In ihrem Haus herrschte, wie man es bei Quäkern erwarten konnte, eine Atmosphäre unbeschwerter Ruhe, die ebenso erholsam wie wohltuend war.
Das fand zumindest Maureen Madden.
Als Stephen Smith im Dezember 1847 zu den Tidys gekommen war und ihnen mitgeteilt hatte, dass er für eine Frau aus Clare eine Anstellung suche, hatte im Haus noch eine Schlafkammer leer gestanden. »Ich hatte eigentlich die Absicht, Lord Mountwalsh fragen«, hatte er gesagt, »da er in seinen Häusern in Dublin und in Wexford viel Personal beschäftigt. Denn bei mir kann sie natürlich nicht wohnen. Aber dann habe ich mir gedacht, ich könnte auch Sie fragen. Fürs Erste habe ich ihr ganz in der Nähe ein Zimmer gemietet.« Nach einem langen Gespräch unter Eheleuten waren Samuel und seine Frau darin übereingekommen, dass Maureen noch ein paar Wochen in ihrem jetzigen Quartier bleiben sollte. In zahlreichen Fällen hatten Menschen, die aus Hungergebieten nach Dublin kamen, ansteckende Krankheiten mitgebracht. »Wir müssen zuallererst an die Gesundheit unserer Kinder denken«, erklärte der Quäker, was verständlich war. Aber danach seien sie bereit, Maureen aufzunehmen. »Sie kann mir mit den Kindern helfen«, sagte Mrs Tidy. »Ich bin mir sicher, dass es hier viel für sie zu tun gibt.« Zusätzlich zu Kost und Logis sollte sie ein bescheidenes Gehalt bekommen.
Für Maureen kam diese Veränderung ihrer Lebensumstände so unerwartet, dass sie sich wochenlang wie in einem Traum fühlte. Die Quäker-Familie führte ein einfaches Leben. Die Eltern aßen zusammen mit ihren Kindern, und sie beschlossen, Maureen wie eine Art Gouvernante zu behandeln. Tatsächlich stellte sie bald unter Beweis, dass sie den jüngeren Kindern das Lesen und Schreiben beibringen konnte, und vieles andere mehr. »Sie hat eine unglaubliche Disziplin«, sagte Mrs Tidy beifällig zu ihrem Mann. »Sie ist ruhig und reinlich. Ich bin wirklich sehr froh, dass wir sie genommen haben.« Der Winter verhinderte zwar, dass Maureen ihre chronische Blässe verlor, doch bis zum Frühjahr hatte sie so viel zugenommen, dass sie sich wieder ihrem körperlichen Normalzustand näherte. Sie sah nicht mehr ausgezehrt aus, allerdings war ihre Stimmung nach wie vor etwas gedämpft.
Anfang Juni mietete Tidy für zehn Tage ein Haus am Meer. Als sie aus diesen Familienferien zurückkehrten, hatte Maureen wieder etwas Farbe und sah insgesamt gesünder aus. »Ich bin so froh, dass es mit ihr bergauf geht«, sagte Mrs Tidy. »Ich fange an, sie richtig gernzuhaben.«
In all diesen Monaten hatte die Familie Stephen Smith nicht gesehen. Kurz nach seiner Rückkehr im Dezember hatte er sich mit Lord Mountwalsh über seine berufliche Zukunft beratschlagt, und der Earl hatte ihn daraufhin mit diversen Aufträgen betraut, die ihn nach Wexford, in den Westen und einmal nach London führten. Erst Ende Juni schickte er Tidy einen Brief, in dem er ihn wissen ließ, dass er in Dublin sei, und anfragte, ob er vorbeischauen könne.
Maureen war noch mit den Kindern beschäftigt, als er eintraf. Bis sie zu ihnen stieß, gab es viel zu bereden.
Dublin war von den Auswirkungen der Hungersnot nicht verschont geblieben. Zwar gehörte die ländliche Region um die Hauptstadt zu den am wenigsten betroffenen Gebieten der gesamten Insel. Doch aus entfernteren Gegenden strömten unablässig Menschen nach Dublin in der Hoffnung, emigrieren zu können oder zumindest ein Obdach zu finden. Und die Stadt hatte sich der Herausforderung im Großen und Ganzen gewachsen gezeigt. Kirchen und Wohlfahrtsvereine, nicht zuletzt natürlich die Quäker, hatten dafür gesorgt, dass die Neuankömmlinge Nahrung bekamen. Selbst am eleganten Merrion Square gab es eine große Suppenküche. Und der Zustrom der Flüchtlinge verebbte nicht.
»In Clare herrschen immer noch dieselben Zustände wie bei Ihrem Besuch, nur dass die Regierung jetzt gezwungen ist, auch die Arbeitsfähigen zu versorgen. Nach den vorliegenden Zahlen werden in ganz Irland zurzeit achthunderttausend Menschen außerhalb der Arbeitshäuser unterstützt, und nahezu die Hälfte von ihnen ist arbeitsfähig. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie viele Menschen am Verhungern sind, denn niemand weiß es und niemand will es wissen. Aber in jedem Arbeitshaus im Westen sterben Woche für Woche fünfzig, achtzig oder gar hundert Insassen, vorwiegend Kinder.«
»Und die Kartoffelernte?«
»Dieses Jahr hat man doppelt so viel gepflanzt wie letztes Jahr, aber das ist immer noch weniger als die Hälfte im Vergleich zu der Zeit vor der Kartoffelfäule. Wir werden auf eine gute Ernte hoffen müssen. Übrigens ist mir aufgefallen, dass man hier nicht mehr Menschen auf der Straße schlafen sieht als früher. Wo bringt man sie alle hin?«
»Das kann ich leicht beantworten, Stephen. In die großen Häuser, die in den Tagen vor der Unionsakte der ganze Stolz Dublins waren. Neulich war ich drüben auf der Nordseite. Ich bin die Sackville Street hinauf und um den Mountjoy Square herumgegangen. In jeder Straße das gleiche Bild. Die großen Reihenhäuser, in denen früher jeweils nur eine Familie wohnte und die später in Wohnungen umgewandelt wurden, sind jetzt Mietskasernen. Oft haust eine ganze Familie in einem einzigen Zimmer. Auf diese Weise könnten wir wahrscheinlich halb Irland hier unterbringen. Im Schmutz, natürlich.«
Sie hatten dieses Gespräch gerade beendet, als Maureen mit den jüngeren Kindern eintrat.
Sie trug ein einfaches Baumwollkleid mit leichtem Spitzenbesatz. Ihr Haar war gescheitelt und zurückgebunden, aber leicht gelockt und hatte vom regelmäßigen Bürsten einen matten Glanz, den er noch nie gesehen hatte. Er ging ihr entgegen und lächelte.
»Holla, Holla, Miss Madden, Sie sehen blendend aus.«
Sie errötete.
Er begriff sofort, dass er einen Fehler begangen hatte. Eine Frau wie sie war Komplimente natürlich nicht gewöhnt. Er musste sich künftig hüten, ihr Nettigkeiten zu sagen, die über das Übliche hinausgingen.
Er erkundigte sich höflich nach ihrem Befinden und dem der Kinder, dann sagte er, an alle gewandt, dass er eine große Neuigkeit habe.
»Ich muss Sie bitten, sich mit mir zu freuen. Nachdem mich Lord Mountwalsh mit einigen Aufträgen betraut hatte, zweifellos um zu sehen, wie ich mich dabei anstelle, hat er mir einen Posten als sein Geschäftsagent angeboten. Sein früherer Agent ist alt und wollte die Bürde unbedingt weitergeben. Ich muss sagen, das ist sehr anständig von Seiner Lordschaft, und einen besseren Arbeitgeber kann ich mir kaum vorstellen.«
Sie gratulierten ihm alle herzlich.
»Wo werden Sie wohnen?«, fragte Tidy.
»Für den Agenten gibt es unten in Mount Walsh ein Haus. Aber ich werde in seinem Auftrag häufig nach Dublin reisen müssen. Der Umfang seiner Geschäfte ist beträchtlich, wie Sie ja wissen.«
»Sie müssen uns versprechen, dass Sie uns besuchen, wenn Sie in der Stadt sind«, sagte Tidy.
»Das werde ich«, erwiderte Stephen und lächelte in die Runde.
Erst am späten Abend, als sie zusammen im Bett lagen, sagte Mrs Tidy sanft zu ihrem Mann: »Ist dir etwas aufgefallen, als Stephen hier war?«
»Ich denke schon. Du meinst, an Maureen?«
»Sie liebt ihn.«
Tidy seufzte, sagte aber nichts.
***
Stephen sah das Teleskop im August. Er kehrte gerade aus der Grafschaft Clare zurück. Wenn ihn etwas in seiner Entscheidung, der Politik den Rücken zu kehren, bestätigte, dann waren es die Ereignisse der letzten Wochen. Seit Daniel O’Connells Tod hatte sich die Ratlosigkeit unter den Gegnern der Union nur noch verschlimmert. Die Jungen Irländer hatten allerdings ein neues Schlagwort gefunden. An der Hungersnot seien die Briten schuld, erklärten sie und riefen zum bewaffneten Aufstand auf. Genau das hatte O’Connell immer zu verhindern versucht. Es war ein sinnloses Unterfangen. Und natürlich hatten sie nicht die geringste Ahnung, was sie tun sollten. Wenn Emmets Aufstand eine Tragödie gewesen war, so war dieser eine Farce. Genau genommen gab es überhaupt keinen Aufstand. Doch in dem Gefühl, unbedingt etwas tun zu müssen, hatten Ende Juli Agitatoren des Jungen Irland versucht, Dörfer in Tipperary aufzuwiegeln.
Die Leute in Tipperary hatten um Nahrungsmittel gebeten, es aber abgelehnt, einen Aufstand zu machen. Darauf hatten sich ein paar Dutzend Junge Irländer auf einem kleinen Acker ein kurzes Gefecht mit der örtlichen Polizei geliefert. Stephen hatte es traurig gestimmt, als er davon hörte.
Der Besuch in Clare hatte ihn deprimiert. Die Kartoffelfäule, im letzten Sommer fast verschwunden, war wieder aufgetreten. Mehr als die Hälfte der Ernte fiel ihr zum Opfer. Es war also kein Ende in Sicht: Hunger und chronische Krankheiten würden ein weiteres Jahr das Regiment führen. Wäre er von seinen früheren Besuchen nicht schon abgestumpft gewesen, hätte er es diesmal möglicherweise nicht ertragen. Aber vielleicht, so gestand er sich ein, hatte auch der Umstand, dass er einen einzigen Menschen gerettet und nach Dublin gebracht hatte, genügt, um sein Gewissen zu beruhigen, als er die vielen tausend anderen sah, die dem Tod geweiht waren.
Nach wie vor ungelöst war auch die Landfrage. Mittlerweile wurden nicht mehr nur die Armen vertrieben. Der Prozess hatte eine schreckliche Eigendynamik entfaltet. Tagelöhner, die von Kleinbauern einen Kartoffelacker gepachtet hatten, konnten ihre Pacht nicht bezahlen. Die Kleinbauern konnten die Großbauern nicht bezahlen, deren Land sie weiterverpachteten, und die Großbauern konnten die Grundherren nicht bezahlen. Und viele Grundherren waren, wie sich nun zeigte, so hoch verschuldet, dass sie verkaufen mussten. »Wenn das so weitergeht«, hatte Lord Mountwalsh zu ihm gesagt, »steht bald ein Großteil des Westens zum Verkauf.«
Die Frage war, was das Landgut Mountwalsh in dieser Situation tun sollte.
»Die Regierung in London würde den Grundherren im Westen keine Träne nachweinen«, fuhr der Earl fort. »Sie hält die meisten für unzuverlässig und pflichtvergessen. Sie findet, dass sie diese Hungersnot hätten verhindern müssen und dass sie schändlicherweise nicht bereit waren, ihren eigenen Leuten zu helfen. In dem Punkt würde ich der Regierung nicht widersprechen wollen.«
»Die Briten tragen genauso viel Schuld«, erwiderte Stephen, »weil sie nicht einsehen wollten, dass die Probleme zu groß sind, als dass sie lokal gelöst werden könnten.«
»In der Tat, und die Geschichte wird sie richten. Es ist doch wirklich bemerkenswert, wie wenig die Engländer über ein Nachbarland wissen, mit dem sie so eng verbunden sind. Wie auch immer, jedenfalls bilden sie sich jetzt ein, dass sie das Problem lösen können, sobald die Grundbesitzer im Westen bankrott gehen und verkaufen, und zwar dadurch, dass sie das Land ehrlichen freien Bauern übergeben, die es besser bewirtschaften.«
»Und wo wollen sie die hernehmen?«
Der Earl lächelte.
»Wenn man es recht bedenkt, sagen sie das Gleiche, was ihre Vorgänger seit Jahrhunderten sagen, seit ihren ersten Erfahrungen mit Irland zu Zeiten der Plantagenets. Die Tudors und Stuarts haben mit ihrer Kolonisierung das Gleiche versucht. Da der freie Bauer das Rückgrat Englands ist, und das ist er, Stephen, hängen die Engländer verständlicherweise dem Glauben an, dass man hier nichts weiter braucht als freie Bauern. Und solche Bauern gibt es in Irland natürlich, und viele sind irischer Abstammung. Wir haben welche in Wexford. Aber sie wollen ebenso wenig Land in Clare kaufen wie irgendwelche reichen Bauern drüben in England. Wenn in Clare also Land verfügbar wird, werden es meines Erachtens vor allem reichere Einheimische aufkaufen. Womit wir bei der Frage wären: Sollen wir selbst welches kaufen?«
Stephen hatte sich gründlich umgeschaut, hatte mit Charles O’Connell und Mr Knox und vielen anderen vor Ort gesprochen. Nach drei Wochen hatte er einen Bericht zu Papier gebracht. Seine Schlussfolgerungen gründeten sich teils auf finanzielle, teils auf politische Erwägungen. Doch am Ende wusste er, was er empfehlen würde: »Die Familie Mountwalsh und ihr Landgut haben in Wexford einen so guten Ruf erworben, dass es ratsamer wäre, ihn zu festigen, statt ihn in Clare aufs Spiel zu setzen.« Ob es das war, was der Earl hören wollte, wusste er nicht.
Er wollte gerade abreisen, als er eine Nachricht vom Earl erhielt: Seine Lordschaft weilte momentan auf dem Gut eines Freundes in Offaly bei Birr und wollte, dass er dort zu ihm stieß.
Das große Landgut Parsonstown, die Heimat der Earls of Rosse, war, wie er erwartet hatte, ein nobles Anwesen mit einem prächtigen Schloss. Es waren viele Gäste da, und so ergab sich bald die Gelegenheit, ein paar Worte mit Lord Mountwalsh zu wechseln, der darauf brannte, seine Meinung zu hören. Stephen überreichte ihm den Bericht, sagte ihm aber gleich, dass er von einer Investition in Clare abrate.
»Ich habe gehofft, dass Sie das sagen«, erwiderte William mit einem Lächeln. »Ich hatte nur das Gefühl, dass ich die Sache gründlich prüfen sollte. Ich werde den Bericht sorgfältig lesen, seien Sie versichert.«
Ihr Gastgeber lud Stephen ein, mit der Gesellschaft zu speisen, doch er war sehr müde und bat, ihn zu entschuldigen – nur um dann gesagt zu bekommen, dass er unter diesen Umständen den folgenden Tag mit ihnen verbringen und morgen Abend hier essen müsse, ehe er nach Dublin zurückkehre.
Er fühlte sich bestens erholt, als der Hausherr seine Gäste nach dem Frühstück wissen ließ: »Wer Lust hat, kann jetzt das Teleskop besichtigen.«
Wenn man Aristokraten allgemein einen Hang zum Dilettantismus nachsagte, so konnte man das von der Familie Parsons nicht behaupten. Jede Generation schien zumindest eine Koryphäe auf ihrem Gebiet hervorgebracht zu haben. Im Unterschied zu anderen konnten sie es sich leisten, ihre Forschungen aus eigener Tasche zu finanzieren. Im Falle ihres Gastgebers waren die Resultate ziemlich beeindruckend.
Das große Teleskop auf dem Landsitz der Earls of Rosse war ein wahres Ungetüm. Majestätisch in seinem Gehäuse ruhend und wie ein Kanonenrohr gen Himmel gerichtet, wog es vier Tonnen. Genau genommen handelte es sich um einen newtonschen Reflektor mit einem polierten Spiegel, der Licht aus den entferntesten Himmelsregionen einfangen konnte. Mit einem Durchmesser von sechs Fuß war es das größte Teleskop der Welt. »Es hat den Spitznamen Leviathan«, raunte ihm Lord Mountwalsh zu.
»Der Spiegel ist aus Metall – Speculum. Wir haben ihn hier auf dem Gut geschliffen. Bitte besonders das schmiedeeiserne Teleskop-Gehäuse zu beachten. Es ist vollständig von Mary gefertigt worden.«
»Mary«, murmelte William mit einem Schmunzeln, »ist seine Frau.«
»Seine Frau stellt Schmiedeeisen her?«
»Ja. Sie ist eine sehr gute Schmiedin. Sie hat auch die Tore des Landguts angefertigt.«
Stephen sah die Aristokratie in einem ganz neuen und interessanten Licht.
»Seit ein paar Jahren arbeiten wir nur mit diesem großen Teleskop«, fuhr der Gastgeber fort, »aber es hat sich gelohnt. Ich war schon immer der Meinung, dass viele Sterne, die wir sehen, keineswegs einzelne Himmelskörper sind, sondern Sternhaufen von möglicherweise gewaltigen Ausmaßen.« Er zog ein Blatt Papier hervor. »Was Sie hier sehen, ist eine akribisch genaue Tuschezeichnung eines Sterns, der in Wirklichkeit ein Nebel ist. Das hat unser großer Spiegel enthüllt. Wie Sie sehen, haben wir hier Hunderte von Sternen, die wie eine riesige Spirale angeordnet sind.« Er reichte das Papier herum.
Als Stephen die Spirale zusammen mit Mountwalsh betrachtete, überkam ihn ein seltsames Gefühl der Verwunderung und Erregung, und seine Lordschaft sprach ihm aus dem Herzen, als er rief:
»Bei Gott, wir wissen nichts über das Universum. Nichts! Das ist wahrhaft wundervoll!«
Als sie zurückgingen, machte ihn William Mountwalsh auf verschiedene Mitglieder der Gruppe aufmerksam. Sein Bruder war darunter, mit einem Kollegen von der Universität, außerdem ein gelehrter Grundbesitzer aus der Gegend und ein erfolgreicher Maler. »Und das«, sagte William schließlich und deutete auf einen Mann mit schütterem Haar, energischem Gesicht und forschem Schritt, »ist William Rowan Hamilton, der berühmte Professor aus Dublin. Haben Sie schon einmal von seinen Quaternionen gehört?«
»Nein.«
»Hatte ich auch nicht. Aber er hat die Formel für sie entdeckt, was für Mathematiker von enormer Bedeutung ist. Man stellt ihn fast auf eine Stufe mit Newton. Und er ist geborener Ire.« Er lächelte. »Was für ein seltsames Gemenge dieses Irland doch ist, Stephen. Auf der einen Seite die Tragödie und Schande der Hungersnot, und auf anderen Gebieten sind wir führend in der Welt.«
»Ich wünschte«, seufzte Stephen, »ich hätte eine bessere Ausbildung genossen.«
»Sie haben etwas aus sich gemacht«, erwiderte der Earl, »aber ich weiß, was Sie meinen.« Und dann murmelte er etwas, das sich anhörte wie: »Legen Sie sich einen Sohn zu.«
Vielleicht hätte Stephen damit rechnen müssen, so aber traf es ihn völlig unvorbereitet, als sie ins Haus zurückkehrten und plötzlich Caroline Doyle vor ihm stand, oder Caroline Barry, wie man sie jetzt nennen musste. Sie war soeben mit ihrem Mann eingetroffen, der in einem anderen Flügel weilte.
Sie begrüßte ihn freundlich, und sie plauderten ein paar Minuten lang recht ungezwungen.
***
»Und das Merkwürdige daran war«, berichtete er eine Woche später dem Ehepaar Tidy, »dass ich überhaupt nichts empfand.«
Sie befanden sich im Salon der Familie. Maureen saß still in einer Ecke. Es gab sehr wenige Menschen, mit denen er über persönliche Dinge sprechen konnte, doch aus irgendeinem Grund hatte er bei den Tidys keine Hemmungen, es zu tun. Dass Maureen im Zimmer war, störte ihn nicht.
»Immerhin hatte ich zärtliche Gefühle für sie gehegt, und als sie einen anderen vorzog, empfand ich, wie ich gestehen muss, nach dem ersten Schmerz auch einen gewissen Groll.« Er lächelte. »Das war töricht von mir. Vielleicht sogar unverzeihlich. Aber so war es.«
Die Begegnung mit Caroline war wirklich sehr angenehm gewesen. Er hatte eine heitere Frau vor sich gesehen, etwas fülliger als früher, glücklich verheiratet und Mutter eines Kindes. Sie benahm sich in seiner Gegenwart völlig ungezwungen, und der Umstand, dass sie an ihm als Mann überhaupt nicht mehr interessiert war, hatte wohl ein Wiederaufflammen seines früheren Begehrens verhindert. Tags darauf waren sie als Freunde voneinander geschieden. »Es ist erfreulich«, sagte er, »dass sich Liebe in Freundschaft verwandeln kann.«
Mrs Tidy betrachtete ihn mit mildem Blick. Sie war eine kleine, adrette Frau mit flachsfarbenem Haar, das von Natur aus kleine Locken bildete.
»Es gibt noch etwas Besseres, Stephen«, sagte sie. »Wenn nämlich aus Freundschaft Liebe wird.«
»Ah ja«, erwiderte Stephen. »Da haben Sie wohl Recht.«
»Sie wissen nicht sehr viel über die Dinge des Herzens«, sagte Mrs Tidy freundlich.
»Nicht?«
»Nein.«
Kurz bevor er ging, nahm ihn Tidy auf die Seite.
»Ich muss Sie um einen Gefallen bitten«, sagte er. Natürlich war Stephen gern bereit, sein Möglichstes zu tun. »Es geht um Maureen Madden«, erklärte der Quäker. »Als Sie sie gerettet haben, war sie ganz allein auf der Welt. Aber sie hat noch Angehörige. Einen Bruder und zwei Schwestern. Nur weiß sie nicht, wo sie leben, ja, ob sie überhaupt noch leben. Könnten Sie nicht mit ihr reden und dann ein paar Nachforschungen anstellen? Vielleicht lässt sich etwas in Erfahrung bringen.«
»Aber gewiss«, sagte Stephen und versprach, am nächsten Tag wiederzukommen und mit ihr zu sprechen.
***
Das folgende Jahr war für die Familie Tidy nicht leicht. Als Mitverantwortlicher für die Hilfslieferungen reiste Samuel Tidy zweimal hinunter nach Cork und hinüber nach Limerick. Jedes Mal kam er noch niedergeschlagener zurück als beim vorigen Mal. Ein Grund war die neue Seuche, die im November auf der Insel ausgebrochen war.
Der Ausbruch der Cholera kam nicht unerwartet. Die Seuche grassierte schon seit geraumer Zeit in weiten Teilen Europas, und so war fast unvermeidlich, dass sie irgendwann auch nach Irland übersprang, wo sie über die Trink- und Abwassersysteme den Weg in die Hafen- und Marktstädte fand, in denen zahlreiche geschwächte Menschen Zuflucht suchten. Sie wütete über sechs schreckliche Monate lang im ganzen Land und fügte den bekannten Todesursachen eine neue hinzu.
»In den Arbeitshäusern haben wir heute eine Viertelmillion Plätze mehr als früher«, sagte Tidy im Frühjahr zu seiner Frau. »Zurzeit stirbt jede Woche einer von achtzig Insassen. Das ergibt insgesamt zweieinhalbtausend Todesfälle, oder einhundertundzwanzigtausend pro Jahr. Aber wohlgemerkt nur in den Arbeitshäusern. In bestimmten Gebieten von Clare, so habe ich mir sagen lassen, sterben viermal so viele Menschen.«
»Fördern die Arbeitshäuser nicht die Ausbreitung der Seuche?«, fragte seine Frau.
»Möglicherweise. Aber viele Menschen, die ins Arbeitshaus kommen, sind ohnehin schon halb tot. Man kann den Verwaltern der Armenhäuser deshalb kaum einen Vorwurf machen. Sie haben kein Geld mehr, und die Regierung weigert sich nach wie vor, ihnen Mittel zu geben.«
Ein kleines Zugeständnis war im Februar gemacht worden. Die Regierung hatte eine Sonderzahlung von 50.000 Pfund bewilligt, was in England allerdings einen Skandal ausgelöst hatte. Die Londoner Times hatte gewettert, dass diese übertriebene Geste »der britischen Mildtätigkeit fast das Rückgrat gebrochen« habe.
»Ich habe einen Mann aus der Verwaltung der Armenfürsorge getroffen«, erzählte er wenig später, »der die Absicht hat, seinen Posten niederzulegen. Er hat mir den Brief gezeigt, den er geschrieben hat. Er erklärt darin, dass er nicht länger Handlanger einer Ausrottungspolitik sein will.«
Aber der schlimmste Moment für sie beide war, als sie eines Tages Maureen in der Küche sitzend antrafen. Vor ihr auf dem Tisch lag eine englische Zeitung, die sie am Nachmittag gekauft hatte. Auf der Seite, die aufgeschlagen war, prangte eine Karikatur. Sie zeigte eine Kartoffel, groß, schwarz und halb verfault. Aber die Kartoffel war gleichzeitig das Gesicht eines Iren, das Gesicht eines verworfenen und gierigen Menschen. In ihren verfaulten Trieben hielt die Kartoffel einen Sack Gold. Und unter dem Bild stand nur ein einziges Wort: Verdorben.
Maureen war in Tränen ausgebrochen.
In der Osthälfte der Insel war die Situation weitaus besser als im darniederliegenden Westen. Es gab sogar erste Anzeichen einer langsamen Erholung. Aber noch immer strömten Tag für Tag arme Teufel in die Hauptstadt. Und für Tidy war kein Ende abzusehen.
Unterdessen ging Stephen der Aufgabe nach, Maureen Maddens Geschwister ausfindig zu machen.
***
Es erwies sich als schwierig, Hinweise zu finden. Stephen nahm beträchtliche Mühen auf sich, da aber so viele Menschen ihre Heimat verlassen hatten, waren die Aussichten, eine Person aufzuspüren, zumal eine Frau, gering. Er begann mit Maureens älterer Schwester, die nach England gegangen war. Seit Beginn der Regierungszeit Königin Viktorias im Jahr 1837 wurden in England Geburten-, Heirats- und Sterberegister geführt. Also hatte er einen Helfer beauftragt, die Register durchzusehen. Doch sie war nirgendwo. Er versuchte es mit Anzeigen in den Städten, die am ehesten in Frage kamen, in London, Liverpool und Manchester. Bislang hatte niemand geantwortet. Was ihren Bruder William anging, so war er möglicherweise leichter zu finden, sofern er mit seinem Onkel wohlbehalten in Amerika angekommen war. Auch Nuala war spurlos verschwunden. Der Hunger hatte schon so viele namenlose Opfer gefordert, dass sie ohne weiteres gestorben sein konnte, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nachforschungen in Wexford und Dublin verliefen ergebnislos. Doch er versuchte es weiter.
Jedes Mal, wenn er nach Dublin kam, besuchte Stephen die Tidys und nahm sich auch die Zeit, mit Maureen zu sprechen und sie über den Stand seiner Nachforschungen auf dem Laufenden zu halten. Manchmal fragte sie ihn höflich nach seinen eigenen Angelegenheiten, wo er gewesen sei, was er erlebt habe. Ihre Fragen zeugten nicht nur von Interesse, sondern auch von Intelligenz, obgleich sie sich unablässig für ihre Unwissenheit entschuldigte.
»Sie haben vermutlich mehr vom Leben gesehen als ich«, versicherte er ihr einmal.
»Ein Leben unter Bedingungen, wie wir sie ertragen mussten, ist kein richtiges Leben, denke ich«, erwiderte sie.
Das Ehepaar Tidy schien ziemlich stolz auf ihre Talente und förderte sie. Als ihm Mrs Tidy einmal ein Stück Kuchen anbot, eröffnete sie ihm: »Den hat Maureen gebacken, Stephen. Sie ist eine begabte Köchin. Überhaupt führt sie den ganzen Haushalt besser als ich.«
Selbstverständlich machte er ihr ein Kompliment wegen des Kuchens, der in der Tat köstlich schmeckte. Doch er hütete sich, zu viel zu sagen, damit sie nicht wieder errötete.
In den ersten Wintermonaten kam er nicht so häufig nach Dublin, doch Anfang März gaben die Tidys in ihrem Haus eine kleine Gesellschaft, an der er teilnahm, und dabei sangen Mrs Tidy und Maureen zusammen am Klavier. Mrs Tidy verfügte über einen gefälligen Sopran, aber Maureen, so stellten sie fest, hatte eine wunderschöne Altstimme. Das lange Kleid, das sie von Mrs Tidy bekommen hatte, gereichte ihrem Aussehen sehr zum Vorteil. Als Stephen warmen Applaus spendete und zu ihr sagte, dass er gar nicht gewusst habe, wie gut sie singen könne, antwortete sie einfach nur: »Ich hatte lange nicht mehr gesungen, Mr Smith. Aber ich versichere Ihnen, dass wir seit Weihnachten geübt haben.«
Später, als er sich länger mit ihr unterhielt, ließ er die Bemerkung fallen, dass es eine Freude sein müsse, seine Talente nutzen zu können.
»Da stimme ich Ihnen zu. Sie haben doch so viele Talente, Mr Smith. Haben Sie das Gefühl, dass Sie alle nutzen können?«
»So viele sind es gar nicht, glauben Sie mir.« Er dachte einen Augenblick nach. Es stimmte, dass seine Arbeit als Lord Mountwalshs Agent viele Fähigkeiten verlangte, sie war ebenso anspruchsvoll wie befriedigend. Er lächelte sie an. »Ich glaube, ich nutze die meisten.« Maureen war, dachte er, eine kluge Frau.
»Ich glaube«, raunte ihm Tidy später zu, »Maureen besitzt eine besondere Art von Schönheit, eine Schönheit des Geistes und der Persönlichkeit.«
»In der Tat«, erwiderte Stephen höflich.
Nachdem er gegangen war, sagte Mr Tidy zu seiner Frau: »Ich glaube, wir sind ein Stück weitergekommen.«
»Vielleicht. Bei ihm ist das schwer zu sagen.«
»Sie hat ihm gezeigt, dass sie ihn mag, glaube ich.«
»Auf meinen Rat hin.«
»Aber ich glaube nicht, dass er es weiß. Vielleicht sollte sie mehr tun.«
»Nein, Samuel, das darf sie nicht. Jetzt ist er am Zug. Er muss zeigen, dass er Interesse hat, sonst kann sie nichts tun.«
Im April kam er wieder. Es war ein schöner Tag. Frühlingsblumen blühten entlang dem Treidelpfad, und Mrs Tidy schlug ihm vor, mit Maureen einen Spaziergang zu unternehmen. Da Stephen schon den ganzen Tag hin und her überlegte, ob er ihr sagen sollte, was er in Erfahrung gebracht hatte, stimmte er bereitwillig zu. Sie schlenderten auf dem Pfad etwa eine Meile nach Westen, ohne viel zu sprechen, dann machten sie kehrt und gingen denselben Weg zurück. Die Sonne war angenehm warm.
»Sie sind heute recht schweigsam, Mr Smith«, wagte Maureen zu äußern.
»Ich bin in Gedanken. Sie haben Recht.«
»Wollen Sie mir etwas sagen?«
Wollte er? Die Auskunft, die er erhalten hatte, war nicht eindeutig. Eine junge Frau namens Nuala, auf welche die Beschreibung passte, war in einer Gemeinde in der Grafschaft Cork, unweit der Grenze zu Wexford, tot aufgefunden worden. Sie war an einem Fieber gestorben. Aber sollte er ihr das wirklich sagen? Das Ganze war sehr vage. Würde es ihr helfen oder würde er sie damit nur unnötig quälen? Auf dem ganzen Hinweg hatte er sich nicht zu einem Entschluss durchringen können. Er starrte eine Weide an.
»Es könnte sein, dass Nuala tot ist«, sagte er schließlich. »Aber ich weiß es nicht mit Gewissheit.«
»Oh.« Sie wirkte ein wenig verblüfft. »Ich verstehe.« Wie blass sie aussah. Wie bitter enttäuscht. Er hätte es ihr nicht sagen sollen. »Ich muss Ihnen für all die Mühe danken, die Sie meinetwegen auf sich genommen haben«, sagte sie mit stiller Würde. »Haben Sie noch mehr Neuigkeiten für mich?«
Er berichtete ihr alles, was er wusste.
Sie gingen noch eine Weile schweigend nebeneinander her, dann begann sie zu weinen, und da er nicht wusste, was er tun sollte, legte er den Arm um sie.
»Es tut mir leid«, sagte er, »aufrichtig leid.«
Zwei Tage später, als er wieder vorbeischaute, bevor er nach Wexford zurückkehrte, überraschte sie ihn erneut mit ihrer Fähigkeit, Schicksalsschläge wegzustecken. Er fand sie nicht nur sehr gefasst, sondern er stellte auch fest, dass sie die Zeitung gelesen hatte, und als er sie nach ihrer Meinung zur politischen Lage fragte, zeigte sie sich erstaunlich gut informiert. Und nicht nur das. Sie machte auch ein paar scharfsinnige und recht zynische Bemerkungen zum politischen Geschehen, die ihn, um ehrlich zu sein, weitaus mehr interessierten als ihre Back- oder Sangeskünste. Ihrem Gesicht mochte es an Anmut und Ebenmaß fehlen, aber es strahlte eine Intelligenz aus, die etwas sehr Einnehmendes hatte.
Danach sah er sie einen Monat lang nicht. Doch im Mai kam er wieder, und diesmal brachte er Neuigkeiten mit.
»Wir haben Ihren Bruder William gefunden. Jeder Zweifel ist ausgeschlossen. Er lebt in Boston. Anscheinend hat er versucht, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen, Sie aber nicht ausfindig machen können und angenommen, Sie seien entweder tot oder weggezogen. Ich habe seine Adresse, und auch die Ihres Onkels. Sie sind nicht gerade wohlhabend, aber sie haben Arbeit und sind bei guter Gesundheit.« Er lächelte. »Sie sind also nicht allein auf der Welt.«
Sie dankte ihm von Herzen, und am Abend aß er zusammen mit der ganzen Familie und freute sich über die glückliche Wendung.
***
Samuel Tidy durchlebte im Juni eine sehr schwierige Zeit. Die Gemeinschaft der Quäker, die sich mit ihrem Einsatz für das hungergeplagte Irland die Bewunderung aller Parteien erworben hatte, gab bekannt, dass sie ihre Hilfsmaßnahmen einstellen würde. War die Entscheidung richtig? Tidy hatte Zweifel.
»Eines dürfte gewiss sein«, sagte er zu seiner Familie. »Weder die Quäker noch sonst jemand hat die Mittel, um alle Hungernden zu speisen und allen Kranken zu helfen. Dazu ist nur die Regierung in der Lage. Die Probleme sind zu gewaltig für andere.« Und es galt noch einen weiteren Punkt zu berücksichtigen. »Solange die Regierung sich vormacht, dass andere die Probleme lösen, wird sie weiter die Hände in den Schoß legen, fürchte ich. Die Quäker können der Regierung nicht ewig als Alibi für ihre Versäumnisse dienen.« Das Argument leuchtete völlig ein, und doch war ihm unwohl dabei, und tagelang war er ziemlich kurz angebunden.
Am Ende des Monats hatte seine Frau eine Neuigkeit für ihn.
»Maureen will nach Amerika. Sie möchte zu ihrem Bruder.«
»Glaubst du, sie ließe sich umstimmen?«
»Wer weiß? Man kann es ihr nicht verdenken. Er ist der einzige Angehörige, den sie noch hat. Und einen besonderen Grund, hierzubleiben, hat sie nicht.«
»Hat sie ihrem Bruder geschrieben?«
»Sie will lieber gleich hinüber und ihn ausfindig machen.«
»Wann will sie fahren?«
»Sobald sie das Geld zusammen hat. Sie hat jeden Penny gespart, den sie von uns bekommen hat. Noch hat sie nicht genug, aber bald …«
»Vielleicht könnte ihr Entschluss Stephen dazu bewegen …« Er ließ den Satz unvollendet.
»Vielleicht.«
Er sah Stephen zwei Wochen später in Dublin und setzte ihn von dieser Entwicklung in Kenntnis.
»Wir werden sie vermissen, wenn sie tatsächlich gehen sollte, das muss ich sagen«, schloss Tidy.
Stephen blickte nachdenklich.
»Ja«, erwiderte er. »Ich werde sie auch vermissen.«
»Sie wollen sie doch bestimmt noch einmal sehen, bevor sie abreist.«
»Oh, gewiss.« Stephen runzelte die Stirn.
Eine Woche verstrich.
Dann traf eine Nachricht ganz anderer Art ein.
***
Als Königin Viktoria von England zwölf Jahre zuvor den Thron bestiegen hatte, war sie noch ein achtzehnjähriges Mädchen gewesen. Inzwischen war sie eine junge Frau von dreißig Jahren und mit ihrem deutschen Cousin Prinz Albert vermählt, mit dem sie bereits sechs Kinder hatte.
Sie waren ein charmantes junges Paar. Gewiss, so mancher fand Albert ein wenig ernst. Er trank wenig, verabscheute lästerliche Reden und glaubte leidenschaftlich an die Gabe des Menschen, sich und die Welt zu verbessern. Doch er und seine Frau waren einander in höchstem Maße zugetan und eifrig bemüht, in jeder Hinsicht das Richtige zu tun. Niemand zweifelte an ihren guten Absichten. Deshalb waren sie alles in allem recht beliebt.
So kam das britische Kabinett auf die Idee, dass das Königspaar im Sommer 1849 Irland einen Besuch abstatten sollte.
»Das wird für gute Stimmung sorgen und die Beziehungen verbessern«, glaubte die Regierung. »Und es wird beweisen, dass diese leidige Hungersnot so gut wie vorüber ist.«
Auf der Grundlage dieser erstaunlichen Behauptung sollte der Besuch im August stattfinden.
***
Stephen war selbst ziemlich überrascht, wie sehr ihn der Gedanke beschäftigte, dass Maureen fortgehen wollte. Er erklärte es sich damit, dass sie der einzige Mensch war, den er in Ennis in jenen schrecklichen Tagen hatte retten können. Zu einer Zeit, da ihn die anhaltende Krise in Irland und die umfangreichen Geschäfte, die er für den Earl abwickelte, ebenso stark in Anspruch nahmen wie früher die Politik, war es wie eine Konstante in seinem Leben erschienen, dass Maureen bei den Tidys wohnte und arbeitete. Er wollte nicht, dass sie ging. Und er verspürte den Wunsch, etwas für sie zu tun.
An einem sonnigen Morgen Anfang Juli erschien er im Haus der Tidys und fragte, ob er allein mit ihr sprechen könne. Sie saß im Wohnzimmer.
»Miss Madden«, begann er, und seine Worte klangen seltsam steif, »ich kann nicht zulassen, dass Sie eine Ausreise nach Amerika in Betracht ziehen, ohne Sie meiner Hochachtung und der wärmsten Gefühle für Sie zu versichern.« Sie sah ihn verwirrt an. »In der Tat«, fuhr er fort, »finde ich nach allem, was wir gemeinsam erlebt haben, und nach der Zeit in Dublin, dass wir richtige Freunde geworden sind. Ich hoffe doch, ich darf das sagen.«
»Ich empfinde genauso, Mr Smith«, sagte sie ruhig.
»Daher hoffe ich, dass Sie dies hier von mir annehmen, von einem lieben Freund, der Ihnen alles Gute wünscht und Sie immer in Erinnerung behalten wird.« Damit reichte er ihr einen Umschlag. »Sie werden darin alles finden, was Sie für Ihre Reise nach Amerika benötigen. Für eine Kabine auf einem guten Schiff. Und noch etwas mehr, damit Sie sich drüben ein Zimmer nehmen können. Ich bitte Sie, nehmen Sie es an von jemandem, der den aufrichtigen Wunsch hat, Ihr Freund zu sein.« Er lächelte. »Oder sogar ein Bruder.«
Sie war weiß wie ein Laken. Das war wohl zu erwarten gewesen, sagte er sich. Sie senkte den Kopf.
»Sie sind immer mein Wohltäter gewesen«, sagte sie sanft.
»Es ist mir eine Ehre, Ihnen behilflich zu sein, Miss Madden.«
Sie konnte noch immer nicht aufschauen.
»Sie haben mir das Leben gerettet, Mr Smith. Ich werde mein Leben lang daran denken. Erlauben Sie mir, dass ich meinen Gefühlen in gebührender Form Ausdruck verleihe, wenn ich mich gefasst habe.« Sie erhob sich.
»Natürlich.«
Sie verließ das Zimmer.
Er sprach mit Mrs Tidy, bevor er ging.
»Ich glaube, sie war bewegt«, sagte er.
»Sie haben ihr das Geld für die Überfahrt nach Amerika geschenkt? Damit sie fahren kann?«
»Ja.« Er war gerührt über seine eigene Großzügigkeit, denn es war beileibe keine kleine Summe gewesen. Er hatte mehrere Monatsgehälter geopfert.
Mrs Tidy seufzte, sagte aber nichts.
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Es war ein strahlender Augusttag, als die königliche Jacht in Sicht kam. Sie war nicht groß, aber schmuck, mit schwarz-gold gestrichenen Seiten und einem großen Schornstein, und am Masttop flatterte die königliche Flagge prächtig im Wind. Alle Dubliner waren aufgeregt, als sie hinter der Südspitze der Dublin Bay auftauchte.
Königin Viktoria und ihr Gemahl dürften an diesem sonnigen Tag ihre Freude gehabt haben. Die Regierung hatte es für klüger gehalten, wenn sie den Westteil der Insel nicht zu sehen bekamen, wo ihre Untertanen noch nicht in der geeigneten Verfassung waren, sie so zu empfangen, wie sie es sich zweifellos gewünscht hätten. Daher hatten sie ihren Besuch in Cork begonnen, wo die Kaufmannschaft der Stadt ihnen einen großartigen Empfang bereitete. »So freundliche, so treu ergebene Menschen«, hatte die junge Königin arglos bemerkt. Heute stand Dublin auf dem Programm, und danach Belfast.
Der Hafen, den die königliche Jacht ansteuerte, war nicht der große Dubliner Hafen in der Mitte der Bucht, sondern ein kleinerer und eleganterer, der, halb Postschiffstation, halb Seebad, nur eine kurze Strecke hinter Dalkey buchteinwärts lag. Dun Laoghaire hatte der Ort einst geheißen, doch obwohl die Engländer lernten, dass dieser barbarisch anmutende irische Name einfach wie Dunleery ausgesprochen wurde, hatten sie ihn der Einfachheit halber in Kingstown umbenannt.
Abgesehen vom Postschiffverkehr war dort nie viel los gewesen, bis man fünfzehn Jahre zuvor eine hübsche kleine Dampfbahnlinie nach Dalkey gebaut hatte, die den Ort leicht erreichbar machte. Und so verliehen ihm nun ein breiter Quai, eine große Kirche, ein paar Villen von Landadligen und freundliche Häuserreihen mit Stuckfassaden und Meerblick einen Hauch von Vornehmheit.
Für diesen Tag war am Kai ein langer Zeltpavillon mit blauweiß gestreiftem Segeltuchdach errichtet worden. Überall wehten an jedem verfügbaren Flaggenstock Fahnen mit dem hellroten Georgskreuz am Himmel. Eine rotberockte Ehrengarde hatte flink Aufstellung genommen, und eine Blaskapelle spielte für die wartende Menge ein patriotisches Lied.
Gleich hinter dem offiziellen Empfangskomitee stand eine Gruppe von Aristokraten und Gentlemen. Und unter ihnen befanden sich auch Lord und Lady Mountwalsh, die, großzügig wie immer, Stephen aufgefordert hatten, sie zu begleiten, damit er einen guten Blick auf das Geschehen habe.
Umso überraschter waren daher die Mountwalshs, als sie genau in dem Augenblick, als die königliche Jacht um die Landspitze bog, sahen, wie sich die respektable, aber atemlose Gestalt Samuel Tidys einen Weg durch die Menge bahnte, direkt auf sie zu.
»Stephen«, rief er. »Stephen Smith. Sie müssen sofort mitkommen.«
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Tidy erklärte ihm alles, während er mit seinem Pony und seinem leichten Einspänner eilends davonfuhr. Er hatte Stephen nach Mount Walsh geschrieben, doch der Brief hatte ihn nicht erreicht, weil er nach Kildare gereist war, wo er eine Woche geweilt hatte, ehe er zwei Tage zuvor nach Dublin gekommen war.
»Hätten Sie mir gestern nicht brieflich mitgeteilt, dass Sie in Dublin sind und mit Lord Mountwalsh hierher kommen, hätte ich nicht gewusst, wo ich Sie suchen soll«, sagte der Quäker. »Ich hoffe, Lord Mountwalsh wird mir die Störung verzeihen.«
Die beiden Mountwalshs hatten sich wie immer gnädig gezeigt. »Oh, Stephen, Sie werden die Königin verpassen«, hatte Lady Mountwalsh gerufen und ihn mitleidig angesehen. »Wenn er gehen muss, muss er gehen«, hatte William gesagt. »Aber Sie sollten sich beeilen, Stephen, denn man darf einem Monarchen nicht den Rücken kehren. Das ist nicht erlaubt.«
Und so fuhren sie jetzt rumpelnd von Kingstown nach Ballsbridge, dann über den Grand Canal und weiter in Richtung Liffey, zu den Docks, wo bald der Dampfer nach Liverpool ablegte.
Es gab mehrere Möglichkeiten, nach Amerika zu reisen, doch am beliebtesten war, nach England überzusetzen und dort ein Schiff nach New York oder Boston zu nehmen. »Ich habe für Maureen eine ausgezeichnete Kabine ergattert«, berichtete Tidy. »Auf einem erstklassigen Schiff, das von Liverpool aus fährt. Sie wird so bequem reisen, wie es nur geht. Und wenn sie ankommt, hat sie noch Geld übrig.« Dass er und seine Frau Maureens Reisekasse zusätzlich aufgebessert hatten, bedurfte keiner Erwähnung. »Aber ich habe mir gedacht, Sie würden sie nicht gern ohne ein Abschiedswort fahren lassen.«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Stephen.
Erst als sie den Liffey erreichten, rückte Tidy damit heraus, was ihm eigentlich auf dem Herzen lag. Es kam ziemlich plötzlich.
»Ich muss ganz offen mit Ihnen sprechen, Stephen Smith«, sagte er, als sie am Trinity College vorbeifuhren. »Der heutige Tag entscheidet darüber, ob Sie ein kluger Mann oder ein großer Narr sind.«
»Inwiefern?«
»Haben Sie noch immer nicht begriffen, dass Maureen Sie liebt?«
»Mich liebt? Sie mag mich, glaube ich. Ich weiß, dass sie mir dankbar ist.«
»Dann ist Ihnen also nicht klar, dass Sie geliebt werden? Dann haben Sie also nicht bemerkt, was für jeden Mann, der halbwegs sehen kann, offensichtlich ist, nämlich dass sie seit mindestens einem Jahr und vielleicht schon viel länger alle Schmerzen einer unerwiderten Liebe erleidet?«
»Nein. Wie kommen Sie denn darauf?«
»Seit dem letzten Frühjahr ist das für Mrs Tidy und mich offenkundig. Und vor zwei Wochen hat sie es, von meiner Frau vorsichtig darauf angesprochen, gestanden. So liegen die Dinge. Daher frage ich Sie rundheraus: Hegen Sie zärtliche Gefühle für sie?«
»Ja. Ich glaube schon.«
»Könnten Sie sich vorstellen, sie zu Ihrer Frau zu nehmen?«
»Zu meiner Frau?«
»Sie haben jetzt eine gute Stellung. Sie streben nicht nach Reichtum. Sie haben erfahren, was es heißt, zu leiden und für das Leben dankbar zu sein. Warum haben Sie nie an eine Heirat mit ihr gedacht? Wir verstehen das nicht. Denn es gibt nichts Besseres auf der Welt, und ich spreche aus Erfahrung, als eine liebevolle und zärtliche Frau an seiner Seite zu haben.«
»Das kommt alles ein bisschen plötzlich, Tidy. Sie hat nie etwas gesagt.«
»Natürlich nicht. Wie denn? Und Sie selbst haben nichts getan, um sie zu ermutigen. Ganz im Gegenteil. Deshalb frage ich Sie ohne Umschweife: Ist es wirklich Ihr Wunsch, dass diese Frau, die Sie heimlich liebt, auf Nimmerwiedersehen nach Amerika verschwindet?«
»Ich müsste darüber nachdenken.«
»Das Schiff geht in knapp einer Stunde«, erwiderte Tidy barsch, und dann sagte er nichts mehr. Er sprach nur selten so viel und mischte sich nie in die Angelegenheiten anderer ein. Aber sein Gewissen hatte ihm gesagt, dass er die Sache selbst in die Hand nehmen müsse, auch wenn es schon fast zu spät war, und er war froh, dass er es getan hatte.
Sie hatten den Liffey bereits überquert und rollten zu der Stelle, wo die Dampfer nach Liverpool ablegten.
Als sie näher kamen, bot sich ihren Augen ein trübseliges Bild. Auf dem Quai, an dem die Schiffe festgemacht waren, herrschte das übliche Durcheinander von Fässern und Kisten, geschäftig hin und her eilenden Trägern und Fuhrleuten, müßig herumstehenden Passagieren und Seeleuten. Doch gleichzeitig bot sich ihnen auch ein trauriger Anblick.
Denn der Menschenhandel zwischen Irland und England war nicht einfach. Die Mehrzahl der Leute auf dem Quai waren Ausreisende. Die glücklicheren unter ihnen würden sich nach Amerika einschiffen und entweder in einer verhältnismäßig bequemen Kabine reisen wie Maureen oder aber auf dem Zwischendeck, wo sich der Aufenthalt während der langen Überfahrt als der Gesundheit zuträglich und sicher erweisen konnte oder auch nicht. Die weniger glücklichen, die nicht das nötige Kleingeld für ein Ticket nach Amerika hatten, fuhren nur bis Liverpool und zogen in die ärmeren Viertel dieser riesigen Hafenstadt oder in die einer anderen englischen Industriestadt, wo Hoffnung bestand, Arbeit zu finden.
Doch heutzutage gab es noch eine andere Gruppe, und sie war groß. Denn die Hungersnot hatte ein riesiges Heer von Hungernden und Kranken hervorgebracht. Und manche von diesen armen Teufeln schafften es bis Liverpool, durften dort aber nicht bleiben. Denn wenn die englischen Beamten sie in Augenschein nahmen und sahen, wen sie vor sich hatten – Männer und Frauen, die zum Arbeiten zu schwach waren und Krankheiten mitbrachten –, sagten sie zu den Kapitänen: »Nehmt sie wieder mit. Die können wir hier nicht gebrauchen.« Und so kehrten sie in ihr Geburtsland zurück und standen hilflos auf dem Quai, ohne einen Platz, wo sie schlafen konnten, ohne Aussicht, dem Elend zu entfliehen. Das geschah Tag für Tag.
Heute waren etwa zweihundert solcher Menschen auf dem Quai.
Ohne sie zu beachten, fuhr Tidy zu dem Dampfer, hielt aber hinter einem Stapel Kisten, sodass sie vom Schiff aus nicht gesehen werden konnten. Er blickte zu Stephen.
Stephen blieb sitzen. Er sagte kein Wort und rührte sich nicht. So verharrte er mehrere Minuten.
Dann kam wieder Bewegung in ihn. Tidy sah ihn an.
»Was werden Sie tun?«
»Ich werde sie holen.«
Tidy fasste Stephen am Arm.
»Sie sind sich Ihrer Sache sicher? Sie können es sich später nicht mehr anders überlegen, um ihretwillen. Sie hat genug gelitten.«
»Ganz sicher.« Stephen lächelte. »Wirklich.«
»Ich komme mit«, sagte der Quäker.
Sie gingen über das Fallreep an Bord des kleinen Dampfers und fanden Maureen an Deck. Sie blickte über den Liffey und sah sie nicht kommen; Da nicht mehr viel Zeit blieb, ging Stephen zu ihr, und nachdem er ihr mit wenigen Worten eröffnet hatte, dass er zärtliche Gefühle für sie empfinde und erkannt habe, dass er sie nicht für immer wegfahren lassen könne, fragte er sanft, ob sie seine Frau werden wolle. Sie starrte ihn an, fassungslos zuerst, nicht wissend, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Also fragte er sie noch einmal. Doch sie starrte ihn weiter nur an, sehr blass, wie betäubt. Da lächelte Tidy und sagte: »Alles ist gut.« Aber sie sagte noch immer nichts.
Was hätte sie auch sagen sollen? Vor einiger Zeit hatte sie im Haus der Tidys das Gefühl gehabt, dass ihre Wunden heilten. Sie hatte sich dem Leben wieder geöffnet und sogar zu hoffen gewagt. Aber das lag Wochen zurück. Seit damals war etwas in ihrem Innern still und leise wieder gestorben.
Dann entschuldigte sich Stephen dafür, dass er sie ausgerechnet in einem solchen Augenblick frage. Vielleicht brauche sie Zeit, um darüber nachzudenken. Und vielleicht könne sie auf der Fahrt nach Liverpool darüber nachdenken und ihm, wenn das möglich sei, ihre Antwort zukommen lassen, ehe das Schiff nach Amerika ablege. Er werde gerne auf ihre Nachricht aus Liverpool warten.
»Ich weiß nicht«, sagte Maureen ganz leise, wie benommen. Aber sie wollte damit nicht sagen, dass sie nicht wisse, ob sie ihn liebe und ob sie ihn heiraten wolle. Sie meinte damit, dass sie nicht wisse, ob er es auch wirklich wolle, und wenn ja, ob sie – nach so langer Zeit und so viel Leid –, eine dreißigjährige Frau, die nie geküsst worden war und alles verloren hatte, was ihr teuer war, ob sie ihm eine gute Frau sein könne.
Irgendwo auf dem Schiff läutete eine Glocke, und eine Stimme forderte alle Gäste auf, von Bord zu gehen.
Dann legte Tidy den Arm um sie und sagte zu ihr:
»Kommen Sie. Sie haben nichts zu verlieren.«
Stimmte das? Sie wusste es nicht.
»Kommen Sie, Maureen. Alles wird gut.«
Plötzlich begann ihr Herz so heftig zu pochen, dass sie hilflos am ganzen Leib zitterte; und von den beiden Männern gestützt und in die Mitte genommen, ließ sie sich das Fallreep hinunter vom Schiff führen.