DIE PATRIOTEN

* 1771 *

Ein großartiger, denkwürdiger Abend lag vor ihnen. Die ganze Familie wurde erwartet – Bruder, Kinder, Enkelkinder, Cousins.

»Es erfüllt mich mit großer Freude«, sagte der betagte Fortunatus Walsh zu seiner Gemahlin, »dass unsere Familie während meiner mehr als achtzig Lebensjahre in Harmonie gelebt hat. Und ich habe allen Grund zu der Hoffnung, dass das auch in den nächsten achtzig Jahren so bleiben wird.«

Natürlich kamen sie alle, um ihn und seine Frau zu besuchen. Aber Fortunatus hatte auch einen Ehrengast eingeladen – eine faszinierende Persönlichkeit, die alle mit atemloser Spannung erwarteten –, den er mit seinem ausgeprägten Sinn für Dramatik eine Stunde später als die anderen Gäste bestellt hatte. »Sein Erscheinen wird sicherlich für einige Aufregung sorgen«, sagte er entzückt zu seiner Frau.

Für Fortunatus persönlich war jedoch eine andere Nachricht weit aufregender gewesen, die er erst heute Mittag erhalten hatte. Es wurde noch ein weiterer Überraschungsgast erwartet. Der alte Mann war von solch freudiger Erwartung erfüllt, dass es ihm ungebührlich schien, diese in Worte zu fassen. Hercules war wieder zurück.

»George und Georgiana bringen ihn mit. Er wird den Abend mit uns allen verbringen. Die ganze Familie ist endlich wieder zusammen«, erlaubte er sich zu sagen. »Und das beglückt mich ganz außerordentlich.«

Und nun trafen die ersten Gäste ein.

Nachdem sie die zwölf breiten Stufen zur Vordertür des Hauses am St. Stephen’s Green emporgestiegen waren, betraten sie eine mit Steinplatten ausgelegte Empfangshalle mit offenem Kamin. Hier begrüßte Fortunatus jeden Gast einzeln mit großer Freundlichkeit. Er trug einen Rock mit Goldstickerei, der so rot war wie sein Gesicht, Kniehosen, Strümpfe über den immer noch männlich starken Waden, Schuhe mit silbernen Schnallen und seine beste gepuderte Perücke.

Sein Bruder Terence traf als Erster ein. Er war schmaler als Fortunatus, sein Gesicht ein wenig blasser. Seine Kinder und Enkelkinder begleiteten ihn. Nachdem Terences erste Frau gestorben war, hatte er im reifen Mannesalter noch einmal geheiratet. Seine zweite Frau, eine Witwe aus einer katholischen Familie, hatte ihm zur Überraschung der Familie noch einen weiteren Sohn geschenkt. Der junge Mann trug den Namen Patrick und hatte sich prächtig entwickelt. Fortunatus pflegte gerne zu prophezeien: »Der Junge wird es weit bringen, verlasst euch darauf.«

Die beiden Brüder begrüßten sich mit der wärmsten Zuneigung. Bald darauf trafen die Doyles ein. Fortunatus hatte viele Jahre damit verbracht, die gesellschaftliche Stellung seiner Familie zu verbessern, aber alle ehrgeizige Verbissenheit war im Alter von ihm gewichen.

Er war freundlich, ja sogar ein wenig sentimental geworden. Seine Verwandten, die Doyles, waren zwar reich genug, um ein Leben als Gentlemen zu führen, hatten sich aber dafür entschieden, solide Dubliner Kaufleute zu bleiben, denen jeglicher bon ton fehlte. Aber das war noch lange kein Grund, sie nicht zu einem großen Familientreffen einzuladen. Fortunatus bedauerte nur, dass seine Furcht erregende Cousine Barbara bereits seit sieben Jahren tot war und niemanden mehr terrorisieren konnte. Aber hier war ihr Sohn, den sie vor fünfzig Jahren als kleinen Buben in sein Haus gebracht hatte. Aus dem Jungen war ein dunkelhaariger, schweigsamer Mann geworden, der bereits selbst Enkel hatte. Die ausgesuchte Höflichkeit, mit der er Walsh begrüßte, zeigte, wie sehr er die Freundlichkeit zu schätzen wusste, mit der seine gesamte Familie in die Einladung miteinbezogen worden war.

Nun trafen Fortunatus’ Enkelin Eliza – George und Georgianas älteste Tochter – und ihr Ehemann ein. Er war ein Fitzgerald: eine brillante Partie, die den gesellschaftlichen Status der Familie noch erhöht hatte. Das war Georgiana zu verdanken. Obendrein war Fitzgerald noch ein anständiger Kerl. Fortunatus hieß beide freudig willkommen, danach begrüßte er zwei seiner eigenen Töchter mit ihren Familien. Gott sei Dank sah er wenigstens sie regelmäßig.

Wo blieben nur George und Georgiana? Und Hercules? Ah. Er sah ihre Kutsche draußen vorfahren. Unbewusst zog Fortunatus den Bauch ein und straffte die Schultern. Die Vergangenheit, die auf die Zukunft einen guten Eindruck machen wollte. Der Lakai öffnete die Tür; der Butler verbeugte sich noch tiefer als zuvor. George und Georgiana betraten das Haus als Erste.

Lord und Lady Mountwalsh waren ein sehr ansehnliches Paar.

Alles an ihnen war ansehnlich: das prächtige palladianische Herrenhaus, das sie in Mount Walsh, ihrem Anwesen in Wexford, gebaut hatten. Das große Stadthaus, das sie kürzlich am frisch bebauten Merrion Square erworben hatten. Sie waren sehr vermögend.

Denn da nicht nur die kränkliche Lydia so anständig gewesen war, die Erwartungen ihrer Familie zu erfüllen und das Zeitliche zu segnen, sondern auch Anna kurz vor ihrer Hochzeit einem plötzlichen Fieber erlag, blieb Georgiana als einzige Erbin des Vermögens ihres Vaters Henry übrig. Und als Henry vor zehn Jahren still aus dem Leben geschieden war, hatte George zu seinem Vater gesagt: »Wir haben so viel Geld, dass ich gar nicht weiß, wohin damit.«

Darüber hätte er sich nun wirklich keine Sorgen machen müssen. In Windeseile erschien eine Horde liebenswürdiger Menschen – Architekten und Künstler, Schreiner, Teppichverkäufer, Silberschmiede, Antiquitätenhändler und Pferdezüchter – auf der Bildfläche, die alle etwas zu verkaufen hatten. Sogar ein Philosoph war dabei. »Keine Sorge«, versicherten sie George. »Wir haben da ein paar Ideen.« Und George unterstützte und förderte sie alle, ohne dass es sein Vermögen deutlich verringerte. Mein Gott, war der Mann beliebt.

George war ein umgänglicher Mensch, der keiner Partei angehörte. Deshalb überraschte es niemanden, dass er kurz nach der Fertigstellung seines prächtigen Landsitzes der Regierung so viele Gefallen erwiesen hatte, dass sie ihn in den Adelsstand erhob. Und während der alte Fortunatus weiterhin sehr zufrieden seinen Sitz im irischen House of Commons behielt, saß sein Sohn nun als Lord Mountwalsh im Oberhaus. Und alle waren sich einig, dass seine Gegenwart der Versammlung zur Zierde gereichte.

Neben ihm raschelte Seide: Georgiana Mountwalsh hatte inzwischen graues Haar, strahlte aber immer noch in der vollen Blüte reifer Frauenschönheit. Der Blick des alten Mannes wurde weich. Sie hatte nicht nur ein immenses Vermögen, sondern auch Schönheit und Güte in seine Familie gebracht, und er verbarg seine Bewunderung für sie nicht. Sie küsste ihn zärtlich auf die Wange, und er begrüßte warmherzig ihre beiden jüngeren Töchter. Aber nun war der große Augenblick gekommen. Hier kam der Mann der Stunde.

»Hercules, mein Junge. Sei mir willkommen.« Der ehrenwerte Hercules Walsh: Der Erbe der immer reicher und mächtiger werdenden Familie war erst heute Morgen einem Schiff aus England entstiegen. Er verkörperte all ihre Hoffnungen für die Zukunft.

Er sah blendend aus. Er war erst zweiundzwanzig – im vergangenen Jahr hatte die Familie seine Volljährigkeit auf Mount Walsh gefeiert –, aber er wirkte ein paar Jahre älter. Er hatte sein Studium im Trinity College hier in Dublin absolviert und war nun in den Inns of Court in London tätig. Natürlich hatte er es eigentlich nicht nötig, einen Beruf zu ergreifen, aber diese Erfahrung gehörte nun einmal zur Ausbildung eines jungen Aristokraten, der Landgüter und ein Vermögen zu verwalten hatte und eines Tages wahrscheinlich eine politische Laufbahn einschlagen würde. Hercules hatte ein recht kantiges, gut geschnittenes Gesicht und wirkte wie ein junger römischer General. Sein dichtes, hellbraunes Haar wuchs nach vorne und kräuselte sich an den Enden. Seine weit auseinanderliegenden Augen waren braun, der Blick gemessen. Er war nicht sehr gesprächig, antwortete aber höflich auf alle Fragen, die man ihm stellte. Ein Lächeln zeigte er nur, wenn es notwendig war, und offenbar schien das für ihn nicht oft der Fall zu sein. Aber als er sich jetzt vor dem alten Mann und seiner Frau verbeugte, da lächelte er höflich.

»Großvater. Großmutter.«

Aber sein Großvater blickte bereits suchend in der Eingangshalle herum.

»Patrick! Patrick!«, rief Fortunatus laut. »Bringt Patrick zu mir. Ah, hier ist er.« Der junge Mann erschien in Begleitung seines Vaters.

»Stell dich neben deinen Cousin, Pat, ich will euch beide ansehen. So ist es gut. Habt ihr jemals zwei ansehnlichere Männer gesehen?«, rief er entzückt.

Obwohl Terences Sohn und Fortunatus’ Enkel eng miteinander verwandt waren, bildeten sie einen interessanten Gegensatz. Patrick war zwar ungefähr gleich groß wie Hercules, aber viel schmaler gebaut. Sein Gesicht war feiner geschnitten, und er wirkte wie ein kluger Advokat oder Doktor, ein Mann der Ideen. Seine Augen leuchteten. In zwangloser Gesellschaft versprühte er einen bezaubernden, jungenhaften Charme.

Als Fortunatus Patrick neben seinem Cousin Hercules sah, der ihn mit einem kurzen Nicken begrüßte, entging ihm nicht, dass sich das Gesicht seines Neffen kurz verdüstert hatte. Es wäre natürlich durchaus verständlich, wenn Patrick, der Sohn eines katholischen Arztes mit ausreichendem, aber bescheidenem Einkommen, seinem protestantischen Cousin gegenüber, der über ein Tausendfaches an Ressourcen verfügte, ein wenig befangen wäre. Aber solche Gedanken durften einen seit Generationen währenden Familienfrieden nicht trüben.

»Ach, Terence. Ich wünschte mir, unser lieber Vater könnte sie sehen«, rief Fortunatus glücklich. »Als unser Vater Donatus entschied, dass ich protestantisch erzogen werden sollte und Terence den katholischen Glauben der Familie weiterführen würde, wollte er damit erreichen, dass ein Zweig der Familie den anderen immer beschützen würde. Und wir sollten nicht vergessen, dass er selbst bis zu seinem Tode ein guter Katholik blieb. Gott hab ihn selig. Und bald wird es deine Aufgabe sein, Hercules, diese Tradition fortzuführen. Und ich weiß, dass du sie erfüllen wirst. Kommt, schüttelt euch die Hände. Genau so. Bravo.« Er blickte strahlend in die Runde und hakte dann seinen Bruder unter. »Komm mit, Terence. Lass uns zusammen ein Glas Rotwein trinken.«

Einträchtig gingen die Brüder in Richtung Salon, gefolgt von den beiden jungen Männern. Hercules lächelte nicht.

Georgiana hatte die Szene genau beobachtet. Sie mochte Patrick. Und was ihre Beziehung zum alten Fortunatus anging, so hatte ihr Ehemann vor vielen Jahren fröhlich zu ihr gesagt: »Mein Vater ist ganz vernarrt in dich.«

»Ich weiß«, hatte sie sanft darauf erwidert und ihm mit ihrem Fächer einen liebevollen Klaps auf den Arm gegeben. »Also vergiss nie, dass du einen Rivalen hast.« Der alte Gentleman gab seine Zuneigung zu Georgiana offen zu, aber seine Wertschätzung basierte auch auf rationalerem Kalkül: »Ich liebe meinen Sohn«, vertraute er seiner Frau an, »aber Georgiana hat den schärferen Verstand.«

Die Zeit war gnädig zu Georgiana gewesen. Ihr Haar war zwar ergraut, aber die gepuderten Frisuren und die Perücken, die gerade in Mode waren, kamen Menschen mittleren Alters sehr zupass. Sie hatte nur wenige Falten, und die machten sie nur noch attraktiver. Ihre Augen spiegelten ihre Lebenserfahrung wider, aber sie blickten immer noch wissbegierig und fragend in die Welt. Manchmal waren sie von einem wunderbaren Licht erfüllt.

Denn Georgianas größte Freude im Leben war es, andere Menschen glücklich zu machen. Und als reiche Frau, deren Ehemann im House of Lords saß, und die viele Häuser hatte, in denen sie Empfänge geben konnte, hatte sie oft und reichlich Gelegenheit dazu.

Ihre diplomatischen Unternehmungen wurden nie von Eigeninteresse geleitet. Ob es nun galt, eine Ehe zu arrangieren, einen Familienzwist zu schlichten oder einem netten Mann in Schwierigkeiten eine Arbeitsstelle zu beschaffen: Georgianas Klugheit und Güte waren beinahe sprichwörtlich geworden. Seit Jahrzehnten, beinahe seit den großen Tagen des Duke of Devonshire, waren die irischen Lord Lieutenants meist nur kurze Zeit im Amt geblieben und hielten sich nur während der Parlamentssitzungen in Dublin auf. Die Regierung Irlands und folglich auch alles Mäzenatentum lag in den Händen ihrer Beamten in der Dubliner Burg und bei den mächtigsten Parlamentariern, zum Beispiel den Ponsonbys und den Boyles. Aber schließlich war die Londoner Regierung zu dem Schluss gekommen, dass sie ein Vermögen für die Ponsonbys und ihre Freunde ausgab, und hatte Lord Townshend, einen gewitzten Aristokraten, nach Irland geschickt, der wieder Ordnung in die Regierungsgeschäfte bringen sollte. Das war vor mehr als drei Jahren gewesen. Townshend hatte still und leise die alten Cliquen entmachtet. Nur noch der Lord Lieutenant durfte Patronatsrecht ausüben, und Gefallen wurden nur noch selten erwiesen. »Einmischung!«, schrien die wütenden Ponsonbys empört. »Irland wird unterwandert!« Und viele stimmten ihnen zu. Aber der Machtwechsel kümmerte Georgiana nicht im Geringsten. Sie hatte sich schnell mit Lord Townshend angefreundet. Und da Lord und Lady Mountwalsh sich so geflissentlich jeder politischen Parteiergreifung enthielten und Georgiana nur um Hilfe für Menschen in Not bat, hatte sie erstaunlich viel Erfolg.

»Wie zum Teufel machst du das nur?«, fragte ihr Ehemann.

»Es ist ganz einfach«, antwortete sie. »Townshend ist stolz auf seine Ehrlichkeit. Also appelliere ich nur an seine Güte und biete ihm keine Gegenleistung an.«

In einer Periode, in der die Beziehungen zu Frankreich besonders schlecht waren, hatte sie ihn sogar dazu überredet, einen jungen Franzosen aus staatlichem Gewahrsam zu entlassen, weil sich, wie sie ihm offen sagte, seine Verlobte in Frankreich bestimmt Sorgen um ihn machte.

»Kann das Ihnen oder mir irgendwie von Nutzen sein?«, hatte Townshend amüsiert gefragt.

»Meiner Meinung nach überhaupt nicht«, hatte sie geantwortet.

Und dass auch der Lord Lieutenant sie ein- oder zweimal gebeten hatte, ihm aus Schwierigkeiten zu helfen – was sie gern getan hatte –, musste ja keine Seele in Dublin je erfahren.

Als sie den jungen Patrick und Fortunatus beobachtete, war es für sie also ein ganz natürlicher Impuls, zu überlegen, wie sie diesem bezaubernden katholischen Jungen weiterhelfen konnte.

Aber das musste warten. Heute hatte sie eine andere Mission zu erfüllen.

Manchmal machte sich Georgiana Sorgen um ihren Sohn. Er war nach einem Freund ihres Mannes benannt, der auch sein Taufpate gewesen war. Aber irgendwie hatte der Name auch seinen Charakter vorbestimmt. Hercules hatte alle Erwartungen, die an ihn gestellt wurden, vorbildlich erfüllt. Aber mit einer stumpfen, mechanischen Präzision, als sei er ein General, der eine unterlegene gegnerische Armee auslöscht. Es war beinahe beängstigend. Er spielte um zu gewinnen und nahm sich selbst sehr ernst.

Zu ernst. Vielleicht kamen in ihm ihre eigenen presbyterianischen Vorfahren wieder zum Vorschein. Sie wusste es nicht. Aber sie musste irgendetwas unternehmen. Die Lösung, die Georgiana vorschwebte, war denkbar einfach. Ihr Sohn brauchte eine Frau, die ihn von sich selbst ablenkte. Ob eine Geliebte oder eine Ehefrau war ihr fast egal. Und erst kürzlich hatte sie genau die Richtige gefunden. Das glaubte sie jedenfalls.

In ganz Irland gab es keine wichtigere Familie als das uralte Geschlecht der Fitzgeralds. Bis die Tudors ihre Macht brachen, hatten die mächtigen Earls von Kildare beinahe über ganz Irland geherrscht. Sie waren irische Prinzen, auch wenn sie einen englischen Namen trugen. Vor zwanzig Jahren hatte der jetzige Earl of Kildare damit begonnen, Dublin zu vergrößern, indem er die Liffey-Marschen unter St. Stephens Green erschloss, dort die Kildare Street legen ließ und an ihrem Rand ein prächtiges Herrenhaus errichtete. Das Anwesen erinnerte an ein palladianisches Landhaus und trug inzwischen – weil ihm der noch ehrwürdigere Titel Duke of Leinster verliehen worden war – den Namen Leinster House.

Die Familie Leinster war weitläufig verzweigt. Aber für die Familie Walsh bedeutete eine Heirat mit jedem Zweig der Familie den endgültigen Aufstieg vom Landadel in die Aristokratie. Als ihre Tochter Eliza einen Fitzgerald heiratete, der relativ eng mit dem Duke verwandt war, hatten George und Georgiana sich beglückwünscht. Und seitdem besuchten sie die riesigen Empfänge im Leinster House freudigen Herzens als Familienmitglieder.

Und dieser junge Fitzgerald hatte eine Schwester, die, wie Georgiana durch Zufall erfahren hatte, bald ein ansehnliches Erbe antreten würde, das ihr eine Tante hinterließ. Sie war also eine doppelt gute Partie. Aber dies war für Georgiana nur wichtig, um ihren Sohn und die Familie ihres Mannes zufrieden zu stellen. Hercules war bereits äußerst vermögend. Für Georgiana selbst war allein der Charakter der jungen Frau ausschlaggebend. Sie war klug, gütig und sehr humorvoll. Wenn überhaupt jemand es schaffen konnte, ihren Sohn in einen angenehmeren Zeitgenossen zu verwandeln, dann dieses Mädchen.

Hercules’ Besuch und die heutige Abendgesellschaft verschafften Georgiana die perfekte Gelegenheit, mit Eliza darüber zu sprechen. Das war ihr Programm für heute Abend.

Aber da war noch eine andere Familienangelegenheit. Bei der konnte ihr nur der heutige Ehrengast helfen – wenn er denn endlich auftauchte.

***

Fortunatus, der eine angenehme Viertelstunde lang mit verschiedenen Verwandten geplaudert hatte, freute sich, als er Hercules einen Moment lang allein erwischte. Er wollte sich mit dem jungen Mann unter vier Augen unterhalten. Denn so froh er war, dass sein Enkel endlich aus London zurückgekehrt war, so musste er doch zugeben, dass er ihn eigentlich kaum kannte. Als Hercules ein kleiner Junge gewesen war, hatte sein Großvater ihn nur in Gesellschaft anderer Kinder erlebt; dann hatte Hercules viel Zeit auf dem Anwesen in Wexford verbracht. Auch während seiner Studienzeit in Dublin hatten ihn seine Großeltern nur selten zu Gesicht bekommen. Studenten sind nun mal vollauf mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Und nach dem Studium hatte Hercules es sehr eilig gehabt, seine Ausbildung in London zu beenden. War der junge Mann vielleicht ein wenig zu ungeduldig?

»Es ist schade, dass wir dich während deiner Zeit in Trinity nur so selten zu Gesicht bekommen, mein lieber Junge«, begann er freundlich. »Du hast dort sicher Freundschaften geschlossen und einigen Unfug angestellt. Musstest sicher deinen Mantel ein paar Mal umdrehen, was? Erzähl mal. Wie viele Fensterscheiben hast du zerbrochen?«

Viele Studenten am Trinity College waren Sprösslinge wichtiger Familien. Wenn sie betrunken Schabernack trieben, schritten die Ordnungshüter nur selten ein. Da die Söhne adliger Männer aber goldene Litzen an ihren Studententalaren tragen mussten, drehten sie sie oft diskret auf links, bevor wieder mal Fenster zu Bruch gingen.

»Falls wirklich Scheiben entzweigegangen sein sollten, so habe ich sie nicht gezählt«, erwiderte Hercules leise.

»Kapital, kapital«, sagte der alte Fortunatus anerkennend. »Das ist der richtige Geist. Und wie gefällt dir London? Hast du viele Freunde dort? Gehst du ins Theater?«

»Es gefällt mir ziemlich gut.«

»Was gibt es Neues von unseren Freunden, den Sheridans, zu berichten?«

Die Freundschaft mit den talentierten Sheridans aufrechtzuerhalten, war eine der Auflagen gewesen, unter denen die Familie Hercules nach London geschickt hatte. Nachdem der brillante Tom Sheridan jahrelang das Dubliner Smock-Alley-Theater geleitet hatte, war es abgebrannt, was ihn beinahe ruiniert hätte. Tom folgte daraufhin dem Beispiel des alten Doktor Sheridan und ging nach London. Dort hatte er sich als Pädagoge einen Namen gemacht und sogar König Georg III. davon überzeugt, ihm eine großzügige Pension zu gewähren, während er ein Wörterbuch des gesprochenen Englisch verfasste. An diesem Buch arbeitete er immer noch. Seine Frau hatte in der Zwischenzeit einen populären Roman geschrieben, um die Finanzen der Familie aufzubessern.

»Der große Doktor Johnson ist der Meinung, dass Sheridans Lexikon nichts taugen wird«, antwortete Hercules kühl.

»Natürlich ist er das. Er schreibt selber ein Wörterbuch und ist eifersüchtig«, erwiderte Fortunatus. »Und Toms Sohn? Der junge Richard muss ungefähr in deinem Alter sein.«

»Er ist ein wenig jünger, glaube ich. Man sagt, er habe bereits ein Stück geschrieben.« Hercules’ Tonfall ließ seine Missbilligung darüber erahnen, dass die Familie Schriftsteller und Theaterleute zu ihren Freunden zählte.

»Sein Großvater Doktor Sheridan war ein wichtiger Mann«, wies Fortunatus ihn sanft zurecht. »Uralte Familie. Besaß fast das ganze County Cavan.« Er beschloss, das Thema zu wechseln. »Trinkst du viel?«, fragte er.

»Nur sehr maßvoll, Großvater.«

»Das schadet wahrscheinlich nichts«, räumte Fortunatus ein. »Dir ist bestimmt aufgefallen, dass die Hälfte aller Dubliner Gentlemen an der Gicht leidet. Und das ist nun wirklich kein Scherz.«

»Das ist in London genauso.«

»Kann ich mir vorstellen. Mein Bruder und ich sind bisher verschont geblieben. Aber eine oder zwei Flaschen Rotwein am Abend haben noch niemandem geschadet. Aber du bist doch sicher manchmal betrunken, oder?« Er warf seinem Enkel einen beinahe ängstlichen Blick zu.

»Das ist schon vorgekommen, ja.«

»In der Politik«, und hier sprach Fortunatus aus lebenslanger Erfahrung, »wird man einem Mann, der nie betrunken ist, auch nie vertrauen.«

»Das werde ich mir merken.«

»Du weißt ja, dass in ein paar Jahren mein Sitz im Parlament frei wird. Ich werde mich nicht noch einmal aufstellen lassen, darauf kannst du dich verlassen.«

Bis vor kurzem waren im irischen Unterhaus nur beim Tod des jeweiligen Monarchen Neuwahlen gehalten worden. Das kam den Parlamentsabgeordneten sehr gelegen. Waren sie erst einmal gewählt, behielten sie ihre Sitze – ohne sich um teure Wahlen kümmern zu müssen – bis zu ihrem Tod. Aber sogar in der politischen Stasis, in der das Dublin des achtzehnten Jahrhunderts vor sich hindämmerte, blieb schließlich nicht alles beim Alten. Man hatte beschlossen, alle acht Jahre Neuwahlen abzuhalten. In fünf Jahren musste sich Fortunatus seinen Sitz also erneut erkämpfen.

»Du wirst dann hoffentlich meinen Platz einnehmen, mein Junge. Es ist von Vorteil, wenn die Familie in beiden Häusern vertreten ist. Und im Parlament ist es, trotz aller Streitigkeiten, ein bisschen wie in einem Club.« Um Zustimmung heischend warf er einen Blick auf Hercules, der aber keinerlei Regung zeigte.

Was ging nur im Kopf seines Enkels vor? Verstand dieser entschlossen dreinblickende Zweiundzwanzigjährige die Tradition, deren Erbe er war, überhaupt? Er musste einfach. Fortunatus Gedanken wanderten zurück zu Patrick. Ah ja, die katholische Frage. Das war noch wichtig.

»Weißt du, es gibt Gerüchte«, fuhr Fortunatus fort, »dass in der nächsten Parlamentssitzung neue Gesetze verabschiedet werden sollen, die den Katholiken mehr Besitzrechte verschaffen. Zumindest längere Pachtverträge. Ein Zeichen dafür, dass neue Zeiten angebrochen sind, Hercules. Es würde mich nicht überraschen, wenn in ein paar Jahren – vielleicht nicht mehr zu meinen Lebzeiten, aber sicherlich zu deinen – die irischen Katholiken beinahe die gleichen Rechte genießen wie die Protestanten. Sowohl im Unterhaus als auch in der Burg wächst die Überzeugung, dass wir alle die Unterstützung der Katholiken brauchen können.«

Dies war nicht nur das Wunschdenken eines alten Mannes. Der lange Frieden der Ascendancy hatte zwar keineswegs die alte Angst vor dem Katholizismus besiegt, aber ihr doch wenigstens die Schärfe genommen. Vielen Protestanten war es inzwischen aufrichtig peinlich, dass anständige Gentlemen wie Doktor Terence Walsh oder die soliden katholischen Kaufleute in den Häfen so schäbig behandelt wurden. Der alte Fortunatus lächelte. »Eines Tages wird dein Cousin Patrick seinen Platz neben dir einnehmen und dir nicht mehr nur in der Familie, sondern auch im öffentlichen Leben ebenbürtig sein. Das hätte meinen lieben Vater sehr gefreut.«

Hercules senkte höflich den Kopf.

»So, jetzt hast du mir lange genug zugehört, glaube ich«, sagte der alte Mann abschließend. »Aber ich freue mich, dass du und dein Cousin Freunde seid. Es gibt nichts Wichtigeres als die Familie, mein Junge.« Damit überließ er seinen Enkel den Vergnügungen der Abendgesellschaft.

Ein paar Minuten später bemerkte er jedoch freudig, dass Hercules und Patrick miteinander sprachen.

Allerdings hätte er sich vielleicht ein anderes Gespräch gewünscht. Hercules wollte nur eine Information von Patrick.

»Kennst du einen Mann namens John MacGowan?«

»Vielleicht. Warum?«

»Dieser Mann ist kürzlich einem Club beigetreten, dem auch ich angehöre. Den Aldermen of Skinners Alley. Du hast vielleicht schon von uns gehört.«

»Ach so.«

Eines musste man Hercules wirklich lassen: Er verschwendete niemals seine Zeit. Schon wenige Stunden nach seiner Ankunft aus London war er in die Stadt gegangen und hatte erfahren, dass bereits am nächsten Tag ein Treffen der Aldermen – einem geselligen Club, der sich der Erinnerung an Wilhelm von Oranien verschrieben hatte – stattfinden würde. Patrick kannte den Club natürlich: Er war ungewöhnlich, weil alle Gesellschaftsschichten sich bei den Treffen fröhlich untereinander mischten. Natürlich nur, solange es Protestanten waren.

»Ich dachte, die MacGowans seien Katholiken«, sagte Hercules.

»Die meisten sind das auch sicherlich.«

»Dieser behauptet, er sei Protestant.«

Zögerte Patrick etwa einen Augenblick?

»Es sind so viele«, antwortete er nach kurzem Schweigen. »Es ist durchaus möglich, dass ein paar von ihnen Protestanten geworden sind.«

»Es ist ein Lebensmittelhändler. Kennst du einen John MacGowan, der mit Lebensmitteln handelt?«

Patrick runzelte die Stirn.

»Ich glaube schon. Aber es gibt eine ganze Sippe von MacGowans, die Lebensmittel verkaufen. Es sind alles Cousins. Wenn einer von ihnen behauptet, er sei Protestant …« Achselzuckend fuhr er fort. »Ich würde ihn nicht davon abhalten, falls du darauf hinaus willst.«

»Hmpf«, machte Hercules und drehte sich weg.

Und auch als seine Mutter kurz danach auf ihn zukam, blickte er noch verärgert drein.

»Hast du dein Gespräch mit deinem Großvater genossen?«, fragte sie.

»Er will, dass ich den Katholiken helfe, die gleichen Rechte wie wir zu erlangen.«

»Und wirst du das tun?«

Hercules zuckte mit den Schultern.

»Warum sollten wir unseren Vorteil aufgeben?«

Darauf antwortete Georgiana nicht.

»Komm mit und sprich mit deiner Schwester Eliza«, sagte sie stattdessen.

***

Der Ehrengast traf pünktlich zum vereinbarten Zeitpunkt ein. Fortunatus führte ihn in den großen Salon, wo die gesamte Familie wartete. Als die beiden eintraten, verstummten die Gespräche. Georgiana stand neben Hercules und beobachtete den Neuankömmling sehr genau. Er bot einen’ seltsamen Anblick. Ein älterer Mann in einem braunen, handgewebten Mantel. Er trug Strümpfe und Schnallenschuhe, aber keine Perücke. Lange, weiße Haarsträhnen hingen von seinem obenauf kahlen Kopf herab. Auf seiner Nase klemmte eine halbrunde Brille, über deren Rand er die versammelte Gesellschaft gutmütig betrachtete.

Was für ein netter alter Mann, dachte sie.

Mr Benjamin Franklin war zum ersten Mal in Irland. Fortunatus führte ihn durchs Zimmer und stellte ihm jedes Familienmitglied einzeln vor. Der Amerikaner nickte grüßend und schüttelte Hände, und das mit einer ungeheuer angenehmen Schlichtheit. Aber Georgiana kannte genügend Politiker. Ihr fiel schnell auf, dass die gütigen alten Augen alles sehr genau beobachteten. Und als er bei ihr ankam, und diese Augen beim Anblick ihres sanft gewölbten Dekolletees unmissverständlich aufleuchteten, lächelte sie in sich hinein und schloss: Dieser schlaue alte Kerl ist weit weniger harmlos als er vorgibt. Aber er ist ein erstklassiger Schauspieler.

»Mr Franklin hat bereits dem Unterhaus einen Besuch abgestattet. Dort lud man ihn ein, als Parlamentsmitglied einer Sitzung beizuwohnen, und dort hatte ich auch die Ehre, seine Bekanntschaft zu machen«, verkündete Fortunatus. »Den Grund für seine Anwesenheit in Irland möge er euch allen selbst erklären.«

Etwa eine Viertelstunde lang unterhielt sich Franklin mit einigen Gästen und antwortete bereitwillig auf alle Fragen. Ja, er war ein Mitglied der Legislatur in Philadelphia. Er war tatsächlich gebürtiger Bostoner. Er war in dringenden Angelegenheiten von Amerika nach London gereist, hatte aber früher lange Jahre dort gelebt und fühlte sich dort sehr wohl. Etwas später führte Fortunatus ihn ans Ende des Raumes, von wo aus er die ganze Gesellschaft ansprechen konnte.

Der Amerikaner sprach in schlichten, freundlichen Worten. Er sei nach Irland gekommen, erklärte er, da seiner Meinung nach die Situation hierzulande große Ähnlichkeit mit der Situation der amerikanischen Kolonie aufweise. »Genau wie Sie haben auch wir unsere Legislaturen, aber sie verfügen nicht über die Macht, die wir einfachen, freien Männer für angemessen halten. Wir können alle lokalen Angelegenheiten entscheiden, aber alle wichtigen Entscheidungen werden in London getroffen, und zwar von Männern, die wir nie zu Gesicht bekommen. In unseren Städten hat London Truppen stationiert. Wir werden von Regierungsbeamten regiert, die London auswählt und bezahlt, und deren Auswahl wir nicht beeinflussen können. Unser Handel wird von London beschränkt und reguliert. London kontrolliert unsere Währung. London erhebt umstrittene Steuern bei uns. Und doch sind wir in diesem Londoner Parlament, das unser Leben und unsere finanziellen Möglichkeiten so umfassend reguliert, überhaupt nicht vertreten. Wir sind Untertanen des Königs, aber wir gelten weniger als alle anderen Untertanen; wir sind freie Männer, und doch sind wir nicht frei. Ich muss also gestehen, dass die meisten amerikanischen Kolonisten dem König zwar treu ergeben sind, aber doch danach streben, diese unwürdigen Bedingungen zu verbessern. Bei meinem Besuch in London«, fuhr er fort, »beabsichtige ich, einige entsprechende Konzessionen auszuhandeln. Ich hoffe, dass wir Amerikaner uns mit denjenigen, die ähnliche Veränderungen im irischen Parlament wünschen, zusammenschließen werden. Gemeinsam haben wir bessere Aussichten auf eine angemessene Behandlung. Denn wenn die Forderungen der amerikanischen Kolonien nicht erfüllt werden«, setzte er ernst hinzu, »wage ich nicht an die Konsequenzen zu denken.«

Seine Rede wurde nicht überall mit Begeisterung aufgenommen, aber Fortunatus nickte zustimmend.

»Die Partei, die sich in unserem irischen Parlament für solche Veränderungen einsetzt – und deren Meinung ich mich oft anschließen muss –, heißt zurecht die Patrioten«, verkündete er. »Denn obwohl sie dem König unverbrüchlich treu sind, lieben sie ihr Heimatland doch genauso innig. Sie werden in Irland viele Freunde finden, Sir.«

Lord Mountwalsh unterbrach ihn sanft.

»Mein Vater hat natürlich Recht mit dem, was er gerade gesagt hat. Aber stimmt es nicht auch, dass Sie bereit waren, Schritte zu unternehmen, die England Schaden zugefügt haben? Nur um Ihren Standpunkt zu verdeutlichen?«, fragte er. »Wie rechtfertigen Sie diese Handlungen?«

»Wir haben uns geweigert, britische Waren zu kaufen und erreichten so, dass einige ungerechte Steuern abgeschafft wurden«, antwortete Franklin. »Jetzt importieren wir wieder britische Waren. War das gerechtfertigt? Ich glaube schon.«

»Tatsächlich hat Dean Swift den Iren schon vor fünfzig Jahren empfohlen, das Gleiche zu tun«, warf Fortunatus ein. Er bemerkte, dass sein Enkel bei seinen Worten die Stirn runzelte. »Hercules«, rief er laut. »Hast du eine Frage an Mr Franklin?«

Es war nicht zu übersehen, dass sein Enkel lieber geschwiegen hätte, aber Fortunatus war froh, dass Hercules Manns genug war, dennoch eine Frage zu stellen.

»Die Londoner Regierung bestreitet, dass die amerikanischen Kolonien nicht repräsentiert werden«, sagte er. »Der König selbst und die Abgeordneten des britischen Parlaments, denen Amerikas Interessen stets am Herzen liegen, sind ihre Repräsentanten. Wie stehen Sie dazu?«

»Sie benutzen dafür gerne folgende Phrase: Amerika fehlen zwar gewählte Abgeordnete, aber durch ihre Güte werden wir ideell repräsentiert«, nickte Franklin. »Und das ist ein sehr schöner Gedanke. Aber wenn wir dem zustimmen, dann habe ich noch einen weiteren Vorschlag.« In seinen alten Augen blitzte es schelmisch auf. »Wenn wir diese ideelle Repräsentation akzeptieren, dann zahlen wir auch nicht mehr selbst Steuern, sondern erlauben den Engländern, auch diese Aufgabe für uns zu übernehmen. Und das nennen wir dann ideelle Besteuerung.«

Er erntete allgemeines Gelächter. Hercules verzog keine Miene.

»Wir haben viel über die Loyalität der Kolonien gehört«, beharrte er. »Aber gleichzeitig deuten Sie an, dass es Konsequenzen geben wird, falls Ihre Forderungen unerfüllt bleiben. Meinen Sie etwa einen Aufstand?«

»Gott bewahre«, sagte Franklin fest. Aber der Gesichtsausdruck des jungen Mannes schien zu besagen, dass er ihm nicht ganz glaubte. Um einen Streit zu vermeiden, fuhr Franklin geschickt fort: »Ich hoffe darauf, dass unser Standpunkt in Irland auf großes Verständnis stoßen wird, weil unsere beiden Völker so außergewöhnlich eng miteinander verbunden sind. Sie alle wissen sicher, dass es inzwischen riesige Gemeinden aus Ulster stammender Presbyterianer in Amerika gibt. Aber auf fünf Presbyterianer kommen schätzungsweise auch mindestens zwei irische Katholiken – da sie in Amerika ihre Religion ohne Beschränkungen frei ausüben dürfen.« Hier blickte er mit einem Lächeln zu Terence Walsh und dessen Familie hinüber. »Wenn man beide zusammenzählt, dann steht zweifellos fest, dass jeder zweite Kolonist in ganz Amerika von dieser Insel stammt. Wir betrachten Sie also als unsere Familie.« Er lächelte in die Runde.

Diese Mitteilung löste überraschtes Gemurmel aus.

»Falls es dort also eine Rebellion geben wird, dann eine irische«, murmelte Hercules, aber glücklicherweise hörte ihn außer seiner Mutter niemand.

Nach dieser Rede löste sich die Versammlung in Grüppchen auf. Verschiedene Menschen kamen auf Franklin zu, der freundlich mit ihnen plauderte. Georgiana wartete noch kurz, dann gesellte sie sich zu dem großen Mann, der gerade mit Doyle sprach.

»Was mich am meisten überrascht hat«, sagte der alte Amerikaner gerade, »ist, um ehrlich zu sein, die Großartigkeit Ihrer Hauptstadt. Ihr Parlamentsgebäude ist beeindruckender als das Londoner Parlament.« Das Gebäude, in dem das Parlament inzwischen tagte, war Anfang des Jahrhunderts von einem jungen Architekten namens Pearce entworfen worden und stand tatsächlich in seiner Pracht dem römischen Reich in nichts nach. »Als ich in der riesigen Kuppelhalle des Unterhauses stand, fühlte ich mich ins Pantheon oder den Petersdom in Rom versetzt. Und diese breiten Straßen …« Franklin fehlten die Worte.

»Wir haben einen speziellen Ausschuss, der sich darum kümmert, dass die Straßen breit genug sind«, informierte Doyle ihn stolz. »Unsere Durchgangsstraßen und Plätze sollen die geräumigsten von ganz Europa werden. Haben Sie schon unser Rotunda-Krankenhaus gesehen? Auch ein sehr schönes Gebäude. Meines Wissens nach ist es das erste Krankenhaus speziell für gebärende Frauen und Wöchnerinnen auf der ganzen Welt.« Der Kaufmann pries gerne die Vorzüge seiner Heimatstadt, und Franklin war nicht der erste Besucher, den die wachsende Pracht des georgianischen Dublin beeindruckt hatte.

»Aber ich habe in dieser schönen Stadt noch eine weitere Entdeckung gemacht«, fuhr der Mann aus Philadelphia fort, »die mich ganz besonders entzückt hat. Und zwar ein ganz ausgezeichnetes Getränk. Es wird von einem Mann namens Guinness gebraut.«

»Ah«, rief Doyle aus. »Darüber kann ich Ihnen eine Anekdote erzählen. Denn meine verstorbene Mutter Barbara Doyle, eine bemerkenswerte Frau, war mit Guinness befreundet, als er sein Geschäft aufmachte. Und sie schlug ihm den Namen für sein Gebräu vor.«

»Tatsächlich?«

»Nun, sie behauptete es zumindest. Und nur ein sehr mutiger Mann hätte gewagt, ihr zu widersprechen, das kann ich Ihnen versichern. Guinness besuchte sie eines Tages – vor ungefähr zwölf Jahren, als er anfing – und sagte zu ihr: ›Ich habe ein gutes, dunkles Bier, das ich verkaufen möchte. Aber der Teufel soll’s holen, mir fällt einfach kein Name dafür ein.‹ Und sie sagte zu ihm: ›Nun, wenn Sie es den Stadtvätern verkaufen wollen, dann sollte denen der Name schon gefallen. Ich sage Ihnen, wie Sie es nennen sollen.‹ Und er folgte ihrem Rat.«

»Und nannte es Guinness Black Protestant Porter«, sagte Georgiana lachend.

»Genau. Guinness Black Protestant Porter«, wiederholte Doyle mit großer Befriedigung. »Obwohl es beileibe nicht nur Protestanten trinken.«

Der Gedanke an das ausgezeichnete Bier brachte die Unterhaltung kurzzeitig zum Erliegen, und diese Pause nutzte Georgiana, um ihre Frage zu stellen.

»Mr Franklin, ich frage mich, ob Sie in Philadelphia vielleicht etwas von meiner Familie gehört haben. Mein Onkel, der dort lebte, hieß Samuel Law.«

Sie schämte sich beinahe dafür, aber in den beinahe dreißig Jahren ihrer Ehe hatte sie den Kontakt zu der Familie ihres Vaters beinahe ganz verloren. Seit dem Zerwürfnis zwischen ihrem Vater und dessen Bruder John herrschte eisiges Schweigen zwischen den Dublinern und dem Familienzweig aus Ulster. Ihr Vater hatte mit Samuel – und nach dessen Tod mit seiner Witwe – in Philadelphia regelmäßig Briefkontakt gehalten, aber darüber hatte sie kaum etwas gewusst. Außerdem war sie zu sehr mit ihrer eigenen Familie beschäftigt gewesen, um sich darum zu kümmern. Sie wusste also überhaupt nichts über ihre amerikanischen Cousins. Falls sie überhaupt noch lebten. »Ich wüsste gar nicht, an wen ich dort schreiben sollte«, gestand sie.

»Aber ich erinnere mich noch sehr gut an den Kaufmann Samuel Law«, sagte Franklin herzlich. »Und ich weiß, dass er Brüder in Belfast und Dublin hatte. Das hat er mir selbst erzählt. Eine wunderbare Familie.« Und er erzählte ihr sehr Erfreuliches über die Laws – es waren Advokaten, Ärzte und wohlhabende Kaufleute mit schönen Häusern und ertragreichen Bauernhöfen in der Region um Philadelphia. »Ich glaube, Richter Edward Law gilt als Familienoberhaupt.«

»Oh, ich würde sie so gerne kennen lernen«, rief sie aus. »Und ich wünschte, auch Hercules könnte sie treffen.«

Bei diesem letzten Ausruf blickte Franklin ein wenig skeptisch drein. Aber er unterbreitete ihr gerne einen Vorschlag.

»Ich werde morgen oder übermorgen ein Paket Briefe nach Philadelphia schicken, Lady Mountwalsh. Falls Sie dem Richter einen Brief schreiben wollen, geben Sie ihn mir. Ich kann versprechen, dass er ihm persönlich übergeben wird.«

Dankend nahm sie das Angebot an.

Und als das Fest sich dem Ende zuneigte und der Ehrengast zur Türe geleitet wurde, war sie sich mit dem Rest der Familie darüber einig, dass es ein großer Erfolg gewesen war.

***

Mehr als vierzig fröhliche Gesellen hatten sich in dem Sitzungssaal im ersten Stock der Stadtschänke eingefunden. Wie immer war es eine sehr gemischte Gesellschaft: ein Perückenmacher, zwei Apotheker, verschiedene andere Handwerker und Kaufleute, ein halbes Dutzend Advokaten, der Betreiber der Postkutsche von Dublin nach Belfast, Beamte aus der Burg, einige Offiziere, zahlreiche Gentlemen und sogar ein paar Aristokraten, darunter auch der junge Hercules.

Die Aldermen of Skinners Alley trafen sich seit der Schlacht von Boyne vor mehr als achtzig Jahren einmal monatlich auf diese Weise. Ein paar neue Mitglieder wurden vorgeschlagen und aufgenommen. Dazu war nur eine einzige Qualifikation vonnöten: Der Bewerber musste ein anständiger Kerl sein – und natürlich Protestant. Danach wurden Neuigkeiten ausgetauscht. Hercules lernte bald John MacGowan kennen, der sich als angenehmer Zeitgenosse erwies. Er war recht groß, um die dreißig, mit zurückweichendem Haaransatz und einem ausgeprägten Sinn für Humor. Innerhalb einer Stunde war der geschäftliche Teil des Abends, zu dem auch das Einsammeln des Sixpence-Mitgliedsbeitrags gehörte, mit dem das heutige Abendessen finanziert wurde, erledigt. Die eigentliche Veranstaltung konnte beginnen.

Beim Festessen lief alles nach strengen Regeln ab. In der Mitte des langen Tisches stand die geheiligte Büste von König Wilhelm III. von Oranien, dem Befreier der Protestanten. Auf dem Tisch standen zahlreiche Krüge: blaue Krüge mit Rumpunsch, weiße Krüge mit Whiskypunsch, Zinnkrüge für Porter – Guinness Black Protestant Porter natürlich. Nachdem sich die Mitglieder gesetzt hatten und das Mahl begann, wurde eine große Platte mit Schafsfüßen hereingebracht; als Erinnerung daran, wie der katholische König Jakob aus Dublin davongerannt war, als König Billie heranrückte. Die Unterhaltung war lebhaft. Erst als das Essen vorbei war, begann der ernste Teil des Abends. Feierlich stimmte die ganze Gesellschaft »God Save the King« an. Und danach erhob sich der gewählte Zeremonienmeister, der im Club das Amt des Oberbürgermeisters innehatte, und verkündete: »Gentlemen! Ich präsentiere den Trinkspruch der Oranier.« Und als sich Schweigen über den Saal senkte – so gut das mit vierzig lustigen Gesellen, die bereits reichlich gegessen und getrunken haben, eben möglich ist –, intonierte er salbungsvoll die Worte:

»Dem glorreichen, frommen und unsterblichen Andenken des großen und guten Königs Wilhelm und natürlich Oliver Cromwell, der uns vor Papisterei, Sklaverei, Willkür, Blechgeld und hölzernen Schuhen gerettet hat. Möge uns nie ein Wilhelmit fehlen, der einem Jakobiten in den Arsch tritt! Und gepfiffen auf den Bischof von Cork! Und jeder, der nicht darauf trinkt, sei er nun Priester, Bischof, Dekan, Dudelsackpfeifer, Totengräber oder sonst ein Mitglied der Kirchenbruderschaft, soll vom Nordwind nach Süden und vom Westwind nach Osten geblasen werden! Wir wünschen ihm eine dunkle Nacht, eine Flaute auf See, einen peitschenden Sturm und ein leckes Boot, das ihn über den Styx trägt! Möge der Höllenhund Zerberus sich an seinem Rumpf laben und Pluto aus seinem Schädel eine Schnupftabaksdose machen; und möge der Teufel ihm mit einer glühenden Egge in den Rachen springen, mit jeder Spitze ein Gedärm heraustreiben und sein blankes Gerippe zur Hölle jagen! Amen!«

Die Sprache dieses Trinkspruchs sagte schon alles. Zur Hälfte Shakespeare-Englisch, zur Hälfte Predigt des siebzehnten Jahrhunderts: Er war protestantisch, antipapistisch, halb heidnisch und triumphal. Er war ernst gemeint, aber nicht zu ernst zu nehmen – natürlich nur, solange die freiheitsliebenden Protestanten auch weiterhin bequem auf ihrer Machtposition saßen. Der Spruch verkörperte das Dublin der Ascendancy.

»Amen!«, grölten sie alle. »Neun mal Neun!«

Und nun begann für alle, die es vertragen konnten, das eigentliche Trinkgelage.

Und als dieses in vollem Gange war, beging John MacGowan einen verhängnisvollen Fehler.

Hercules hatte eine ganz eigene Art, mit langen Saufabenden umzugehen. Erstens konnte er dank seiner Konstitution die meisten Männer unter den Tisch trinken. Zweitens war es einfach für ihn, einen kühlen Kopf zu behalten, weil er sich insgeheim langweilte – wie immer, wenn er nicht gerade ein nützliches Geschäft abschloss. Und drittens hatte er einige Übung darin, weniger zu trinken, als es den Anschein hatte. Wenn er mit seinen Freunden einen geselligen Abend verbrachte, war er weit weniger Trinkkumpan und viel mehr kalter Beobachter als ihnen klar war. Während des Festmahls saß er nicht weit von John MacGowan entfernt auf der gegenüberliegenden Tischseite. Dies verschaffte ihm die Gelegenheit, den Lebensmittelhändler von Zeit zu Zeit zu beobachten. Anfangs hatte MacGowan meist schweigend den anderen zugehört, vielleicht weil er sich als Neuankömmling noch ein wenig unsicher fühlte. Hercules fiel auf, dass seine hohe Stirn von Schweißperlen bedeckt war. Er fragte sich, ob die Hitze oder die Nervosität der Grund war. Allmählich schien MacGowan jedoch an Selbstvertrauen zu gewinnen. Er begann zu plaudern, sogar einen oder zwei Witze zu erzählen. Als diese von seinen Nachbarn positiv aufgenommen wurden, entspannte er sich sichtlich. Er trank mehr, sein Gesicht begann zu glühen. Mehrmals blickte er während einer Gesprächspause den Tisch entlang und lachte in sich hinein – ob er einfach betrunken war oder ob ihn die Versammlung insgeheim amüsierte, ließ sich unmöglich feststellen. Als der ältere Mann zu MacGowans Linken schließlich genug getrunken hatte und sich diskret verabschiedete, ging Hercules um den Tisch und nahm neben dem Lebensmittelhändler Platz.

MacGowan begrüßte ihn mit einem Nicken. Hercules zweifelte allerdings daran, dass der Mann sich überhaupt noch an ihn erinnerte. Einen Augenblick später sagte er beiläufig zu dem Lebensmittelhändler:

»Hatten Sie nicht erwähnt, Sie seien im Lebensmittelhandel tätig? Ein Familienunternehmen?«

»Das kann man wohl sagen. Schon seit einigen Generationen.«

»Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Offenheit, aber ist MacGowan nicht ein katholischer Name? Die Familie hat es sicher nicht gern gesehen, dass Sie inzwischen Protestant sind.«

MacGowan warf ihm einen misstrauischen Blick zu, aber Hercules lächelte und sah ihn mit großer Aufrichtigkeit an.

Der Händler nickte langsam. »Tatsächlich muss ich zugeben, dass eine Protestantin einst meine Familie gerettet hat. Die alte Mrs Doyle war eine bemerkenswerte Frau. Ohne sie wäre mein Großvater ruiniert gewesen, aber dank ihrer Hilfe starb er als reicher Mann. Das Geschäft ist inzwischen unter uns aufgeteilt, aber es ist ihr zu verdanken, dass es noch in Familienbesitz ist.« Er schwieg einen Augenblick und starrte nachdenklich auf den Tisch. Hercules fiel auf, dass der Mann dabei sein linkes Auge halb schloss und dafür das rechte weit aufriss.

Hercules griff nach einem blauen Krug und schenkte ihnen beiden Punsch ein.

»Darauf trinken wir«, sagte er.

Danach wurde MacGowan sehr zutraulich. Er machte ein paar Witze, über die Hercules gutmütig lachte, während er ihm Punsch nachschenkte. MacGowans Aussprache wurde immer undeutlicher, aber er trank tapfer weiter und Hercules ermutigte ihn freundlich dazu.

»Ich frage mich«, wagte Hercules schließlich den Vorstoß, »ob Sie vielleicht einen Doktor Terence Walsh zu ihren Bekannten zählen.«

»Doktor Walsh?« Das Gesicht des Lebensmittelhändlers leuchtete auf. »Den kenne ich tatsächlich. Ein wirklich ehrenwerter alter Mann.«

»Da stimme ich Ihnen zu. Ich selbst habe die Ehre, zu seiner Familie zu gehören.«

»Ah, tatsächlich?« MacGowans verwirrter Gesichtsausdruck zeigte Hercules, dass der Mann bereits vergessen hatte, wer er war.

»Dann kennen Sie sicher auch seinen Sohn, meinen Cousin Patrick, oder?«

»Aber ja, den kenne ich«, sagte MacGowan verständnislos, aber erfreut.

»Er hat mir alles über Ihr heutiges Erscheinen hier erzählt.« Hercules grinste und blinzelte MacGowan verschwörerisch zu.

»Wirklich?«

»Er ist schließlich mein Cousin. Ein ganz famoser Kerl.«

MacGowan lehnte sich vertrauensvoll zu Hercules und raunte:

»Er hat Ihnen von der Wette erzählt?«

Hercules nickte.

»Allerdings sagte er nicht, ob er selbst mit Ihnen gewettet hat.«

»Nein, er war nicht daran beteiligt. Das waren zwei andere Kerle. Aber er hat davon gehört. Er wird es doch sonst niemandem erzählen, oder?«

»Niemals.«

»Ein famoser Kerl.«

»Das kann man wohl sagen.« Hercules senkte die Stimme. »Dass ein Katholik sich hier einfach so einschleicht … hier bei den Orange Aldermen. Wirklich ein tollkühnes Unterfangen. Was bekommen Sie dafür?«

»Zwei Guineas dafür, dass ich überhaupt hineinkomme. Zwei weitere, wenn mich niemand entdeckt. Und noch mal zwei, wenn ich es nächsten Monat wieder schaffe.« Er grinste. »Zwei Guineas habe ich also schon sicher.«

Hercules lachte. Dann stand er auf, ging zum Oberbürgermeister und teilte ihm mit, dass sie infiltriert worden waren.

Die nächsten Minuten boten ein interessantes Schauspiel. So etwas Unerhörtes war noch nie vorgekommen. Die Gesellschaft musste also eine wichtige Entscheidung treffen. Was sollte mit diesem katholischen Lebensmittelhändler geschehen, der es gewagt hatte, die Heiligkeit des Abends zu entweihen und ihre geheimen Ratschlüsse zu belauschen? Wie der Oberbürgermeister sehr richtig zu bedenken gab, musste hier ein Präzedenzfall geschaffen werden. Während sie darüber diskutierten, hielten sie den Eindringling fest und versetzten ihm schon mal ein paar Tritte und Schläge. Einige Anwesende waren so empört, dass sie – da es bedauerlicherweise in diesem Fall kein Gesetz gab, welches dem Mann den Tod am Galgen einbringen würde, den er für seinen Frevel verdiente – als anständige Bürger vorschlugen, ihn fast zu Tode zu prügeln. Andere waren offensichtlich bereits so benebelt, dass sie für eine mildere Strafe plädierten, da das schändliche Verbrechen ja schließlich aufgrund einer Wette geschehen sei.

Hercules, der seine Pflicht bereits damit erfüllt hatte, die Schandtat ans Tageslicht zu bringen, beteiligte sich nicht an dieser Diskussion. Schließlich setzte sich der gemäßigte Oberbürgermeister durch, und so zerrten sie MacGowan nur zum Fenster und warfen ihn hinaus.

Es waren nur wenig mehr als vier Meter bis zum Kopfsteinpflaster der Straße, aber MacGowan fiel unglücklich und brach sich das Bein. Der Wundarzt konnte es wieder einigermaßen richten. Und damit war die Sache erledigt.

***

Zumindest für die Aldermen. Aber Hercules hatte noch eine Rechnung zu begleichen.

Am nächsten Tag bat er Patrick um ein Gespräch unter vier Augen. Die Unterhaltung dauerte nicht lange.

»Du wusstest, dass John MacGowan sich bei den Aldermen einschleichen wollte. Und du hast mir nichts davon gesagt.«

»Meine Lage war schwierig. Ich hatte ihm mein Wort gegeben. Außerdem war es ja nur eine dumme Wette.«

»Du hast mich belogen«, prangerte Hercules ihn an.

»Das ist nicht wahr. Ich habe eigentlich gar nichts gesagt. Ich habe gehört, dass der arme Kerl verletzt wurde.«

»Deine katholischen Ausflüchte ändern nichts daran. Du hast mich belogen.«

»Das verbitte ich mir«, erwiderte Patrick.

»Verbitte es dir, so viel du willst, du verdammter Papist!«

Patrick zuckte voller Verachtung mit den Schultern.

»Wenn wir uns bei Familientreffen über den Weg laufen«, fuhr Hercules kalt fort, »dann werde ich höflich zu dir sein. Ich werde Großvater nicht beleidigen. Aber bleib mir bloß vom Leib. Ich will dich nie wieder sehen.«

Und so endete ohne Fortunatus’ Wissen die Freundschaft zwischen den beiden Zweigen der Familie Walsh, die sein Vater eingefädelt und die er selbst achtzig Jahre lang gepflegt hatte.

***

In den Jahren, die Ben Franklins Besuch folgten, hatte Georgiana Mountwalsh alle Hände voll zu tun. Einige Monate, nachdem sie nach Philadelphia geschrieben hatte, erhielt sie einen höflichen Antwortbrief von Richter Edward Law. Der Richter schien sich darüber zu freuen, in England Verwandte mit einem so wohlklingenden Titel zu haben. Er berichtete ihr alle Neuigkeiten über ihre amerikanischen Cousins und legte einen Familienstammbaum bei. Außerdem hatte er Interessantes über die Stimmung in den amerikanischen Kolonien zu erzählen. Seiner Meinung nach deutete alles darauf hin, dass der Konflikt zwischen den Kolonisten und der englischen Regierung nur sehr schwer zu lösen sein würde.

Ein Jahr später erreichte sie ein weiterer Brief des Richters mit der Nachricht, dass die Bostoner Kolonisten eine wertvolle Schiffsladung Tee zerstört hatten.

***

Hier in Philadelphia konnte der Gouverneur eine derartige Eskalation vermeiden, indem er den Kapitän überredete, seine Ladung Tee wieder nach England mitzunehmen. Aber eine solche Herausforderung an London wird sicherlich rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Und leider kann jede Berufung auf das Gesetz diesen Konflikt nur verschlimmern. Ich habe auch an unsere Cousins in Belfast geschrieben.

 

Der letzte Satz war wahrscheinlich als diskrete Aufforderung an sie zu verstehen. Wenn Georgiana sich schon die Mühe gemacht hatte, die Beziehungen zu ihrer Familie im weit entfernten Philadelphia wiederzubeleben, dann wäre es doch nur richtig, das Gleiche auch für ihre Verwandten im nahen Belfast zu tun. Und da ihr bekannt war, dass ihr Onkel John einen Sohn namens Daniel hatte, wusste sie auch, an wen sie schreiben musste. Warum hatte sie es also bis jetzt nicht getan? Wenn sie ganz ehrlich war, dann wahrscheinlich aus Angst, ihre Verwandten aus Belfast – die nicht in so sicherer Entfernung lebten wie diejenigen aus Philadelphia – könnten sie irgendwie blamieren. Sie schalt sich für ihren Kleingeist und schrieb, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihr lieber Ehemann, Lord Mountwalsh, nichts dagegen hatte, einen Brief. Aber sie erhielt keine Antwort.

Im Jahr darauf starb Fortunatus’ Ehefrau. Danach sprach Georgiana mehrmals die Woche bei ihm vor, um dem alten Mann Gesellschaft zu leisten. Oft fand sie auch seinen Bruder Terence dort, und es wurde ihr warm ums Herz, wenn sie die beiden Brüder so einträchtig beisammensitzen sah. Aber auch wenn Doktor Walsh sich nur über sein steifes Bein beklagte, merkte Georgiana, dass es auch ihm nicht wirklich gut ging. Manchmal wirkte er ausgezehrt und erschöpft. Aber es schien ihm Freude zu bereiten, mit seinem Bruder den Nachmittag zu verplaudern. Und wenn Terence nicht da war, dann traf sie stattdessen häufig seinen Sohn Patrick an. »Es ist anständig von dem Jungen, mich zu besuchen«, sagte Fortunatus oft. »Schließlich hat er Wichtigeres zu tun.« Aber sie zweifeite nicht daran, dass Patrick die Gesellschaft des alten Mannes aufrichtig genoss.

Obwohl sein Vater den Wunsch geäußert hatte, Patrick solle wie er die Medizinlaufbahn einschlagen, hatte sich sein Sohn für den Weinhandel entschieden und arbeitete hart an seinem Erfolg. Je besser Georgiana Patrick kennen lernte, desto mehr mochte sie ihn. Er war klug, humorvoll und gutherzig. Und er hatte durchaus Ehrgeiz.

»Ich möchte mein Glück machen«, sagte er ihr offen. Und auf ihre Frage, ob er sich auch noch etwas anderes wünsche, antwortete er: »Ich könnte nie meinem Glauben entsagen. Aber wenn es je möglich wird, dass ein Katholik ins Parlament einzieht, dann möchte ich Abgeordneter werden.«

Obwohl diese Hoffnung immer noch recht vermessen schien, gab es doch einige kleine, aber ermutigende Entwicklungen für die irischen Katholiken. Vor einigen Jahren war der Papst nach zweihundert Jahren heftigstem Widerstand gegen die häretischen Könige Englands endlich zu einem Kompromiss bereit gewesen. Der Vatikan hatte König Georg III. als rechtmäßigen Monarchen von England anerkannt. Das erleichterte vieles. »Und die Probleme in der amerikanischen Kolonie führen dazu, dass die Regierung alle Bevölkerungsteile so glücklich als möglich machen will«, erklärte ihr Ehemann. In Irland waren Katholiken von allen Ämtern ausgeschlossen, weil der Oath of Allegiance, der Treueeid, so protestantisch formuliert war, dass kein Katholik ihn ablegen konnte. »Also versuchen wir, einen Ausweg zu finden.« Der protestantische Bischof von Derry hatte in Zusammenarbeit mit katholischen Priestern einen neuen Schwur ersonnen. Nicht alle katholischen Bischöfe waren davon begeistert, aber die meisten drängten ihre Gemeindemitglieder, ihn abzulegen. Schließlich würde sich so vielleicht eine Tür für die Zukunft öffnen.

»Wirst du den Eid ablegen?«, fragte Georgiana jetzt Patrick.

»Sofort, ohne zu zögern«, erklärte er. Und auch Fortunatus war begeistert.

»Genau dafür stand meine Familie auch in den Tagen meines Vaters und meines Großvaters: Loyalität ihrem Glauben gegenüber und unverbrüchliche Treue zum König«, erinnerte er sie. »Ich bete immer noch darum«, gestand er Georgiana nach einem Besuch von Patrick, »dass du noch erleben wirst, wie beide Zweige der Familie – Hercules und Patrick – nebeneinander im Parlament sitzen.«

Auch Hercules besuchte seinen Großvater natürlich gelegentlich. Fand er dort aber Patrick vor, dann entschuldigte sich bald einer von den beiden höflich und entfernte sich. Georgiana fiel das natürlich auf, und als sie Patrick einmal fragte, ob zwischen ihm und ihrem Sohn etwas vorgefallen sei, wich er ihrer Frage aus und antwortete: »Wir beide lieben Onkel Fortunatus sehr.« Als sie Hercules das Gleiche fragte, antwortete er kurz angebunden: »Er lebt sein Leben und ich das meine.« Und er weigerte sich, noch mehr zu sagen. Also ließ sie die Sache ruhen.

Aber ich mag Patrick, dachte sie. Auch wenn du, Hercules, ihn nicht mögen solltest.

Ihr Projekt, Hercules mit dem Fitzgerald-Mädchen zu verheiraten, war kläglich gescheitert. Eliza hatte ihr gesagt, ihre Tochter finde Hercules zu kalt. Und sein abschließendes Urteil über die junge Fitzgerald fiel ebenfalls hart aus: »Sie hat zu viele eigene Meinungen, um mich zu interessieren.«

Georgiana seufzte. Keine Mutter will schlecht von ihrem Sohn denken. Sie würde es weiter versuchen.

Anfang des Jahres 1775 hatte sie ihren Ehemann für einen Monat nach London begleitet. Es war ein sehr erfolgreicher Besuch gewesen. Sie hatten die Houses of Parliament besucht und Pitt, Fox und Burke, den größten Rednern ihrer Zeit, zugehört. Und sie hatten Premierminister Lord North dabei beobachtet, wie er offenbar halb schlafend im Oberhaus saß. Ein gut informierter Freund klärte sie auf: »Lord North ist viel schlauer als er aussieht, aber er hat seinen Posten nur aus Pflichtgefühl angenommen und mag ihn nicht besonders.« Sie unterhielten sich auch mit vielen Politikern. Georgiana gewann allmählich einen klareren Eindruck von der Einstellung, die die Londoner Regierung gegenüber den irischen Katholiken vertrat. »Es ist nicht zu leugnen, Lady Mountwalsh«, informierte sie ein zynischer Regierungsvertreter mit einem Lächeln, »dass dieser neue Schwur eine verteufelt gute Sache ist. Erstens, weil die katholischen Bischöfe sich nicht darüber einig sind. Das spaltet die Katholiken, was das Risiko verringert, dass sie uns Ärger machen. Zweitens erleichtert er katholischen Rekruten den Eintritt in die Armee. Wissen Sie«, fuhr er fort, »seit Jahren ist etwa jeder zwanzigste Soldat der britischen Truppen Ire. Im Prinzip müssten natürlich alle Soldaten den Oath of Allegiance schwören, aber bei Katholiken ließen wir das unter den Tisch fallen. Aber jetzt empfehlen ihnen sogar ihre eigenen Priester, den neuen Schwur abzulegen. Die Anzahl neuer Rekruten hat sich verdoppelt oder sogar verdreifacht. Wenn die Probleme in den Kolonien sich zu einem bewaffneten Konflikt auswachsen – und wir haben verteufelt wenig Soldaten –, schicken wir einfach die Iren nach Amerika, um dort zu kämpfen.« Er lachte. »Also bin ich im Augenblick ganz entschieden für die Katholiken, Mylady.«

Georgiana pflegte schon seit Jahrzehnten Umgang mit Politikern, und politisches Kalkül war ihr daher nicht fremd. Aber wenn sie an Fortunatus und die ehrliche Loyalität des jungen Patrick dachte, dann erfüllte sie der gefühllose Zynismus des Engländers mit Trauer und Ekel.

Dabei war sie eigentlich in London, um sich zu vergnügen. Sie hatte die neuesten Moden begutachtet, feine Seide und Schuhe gekauft, während George drei Gemälde italienischer Meister erwarb. Aber am schönsten war der Abend, an dem sie ins Theater gingen und sich die neue romantische Komödie ansahen, die London im Sturm erobert hatte.

Die Rivalen, mit seiner fast traumhaften Handlung und den lebendigen Charakteren – Sir Lucius O’Trigger, Sir Anthony Absolute, die Romane lesende Lydia Languish und nicht zu vergessen die unsägliche Malaprop, die immer das falsche Wort verwendete – war ganz offensichtlich dazu bestimmt, ein großer Bühnenerfolg zu werden. Sogar der große Schauspiellehrer Garrick hatte es bereits zum Meisterstück erklärt. Kaum zu glauben, dass der Autor erst dreiundzwanzig Jahre zählte!

Nachdem Lord und Lady Mountwalsh vor Lachen gebrüllt und herzhaft applaudiert hatten, erwartete sie noch ein ganz besonderes Vergnügen. Denn nach dem Stück durften sie hinter der Bühne dem gut aussehenden Dramatiker persönlich gratulieren. Es war Tom Sheridans Sohn Richard.

»Mein Vater wird sehr glücklich darüber sein, dass der Enkel seines geschätzten Freundes Doktor Sheridan in London so außergewöhnliche Erfolge feiert«, sagte George herzlich. »Und vergeben Sie mir, aber ich muss Ihnen eines sagen: Eine so spritzige, brillante Sprache wie die Ihre kann nur von einem Iren stammen.«

Über beide Komplimente schien sich Sheridan außerordentlich zu freuen.

»Ich erinnere mich an Ihren Vater. Da war ich noch ein kleiner Junge in Dublin«, rief er.

»Haben Sie denn auch unseren Sohn Hercules kennen gelernt, als er in London war?«, fragte Georgiana.

»Ah, ja«, erwiderte Sheridan.

Der Frühling verlief recht ereignislos für Georgiana, bis aus Amerika die Nachricht eintraf, dass es bei Boston zu Kämpfen gekommen war. Bald danach erhielt sie einen Brief von Richter Edward Law aus Philadelphia:

 

Nach einigem Zögern habe auch ich mich den so genannten Patrioten angeschlossen. Meiner Meinung nach sind etwa ein Fünftel unserer Bevölkerung Patrioten, die eine vollständige Abtrennung von England befürworten. Zwei Fünftel stehen der Krone loyal gegenüber, wollen aber Reformen. Weitere zwei Fünftel haben sich noch nicht entschieden, interessieren sich nicht dafür oder haben Angst, sich einer Partei anzuschließen. Die Sklavenhalter im Süden haben vor allem Angst, was einen Sklavenaufstand auslösen könnte.

Ich weiß, dass unsere Cousins in Ulster, wie die meisten Presbyterianer dort, ganz entschieden die Patrioten unterstützen und es gerne sähen, wenn Amerika – und Irland – von England unabhängig wären. Und Sie? Sind Sie für uns oder gegen uns?

 

Georgiana las sich den Brief sorgfältig durch und entschied sich dafür, nicht gleich darauf zu antworten. Als ihr Ehemann fragte, ob sie etwas von Interesse erfahren hatte, antwortete sie: »Nicht wirklich, George«, und schloss den Brief in ihrem Sekretär ein.

Ein Jahr später war die amerikanische Unabhängigkeitserklärung um die ganze Welt gegangen, viertausend Soldaten aus Irland waren nach Amerika geschickt worden, um die Kolonie niederzukämpfen, und man erfuhr, dass der liebe alte Mr Franklin Englands Erzfeind Frankreich um militärische Hilfe gebeten hatte. Wahrscheinlich war es klug gewesen, überhaupt nicht auf den Brief zu antworten, dachte Georgiana.

Im selben Jahr beanspruchte ein anderes Ereignis ihre Aufmerksamkeit.

Hercules hatte eine Frau gefunden. Die Eltern des Mädchens, die ein ansehnliches Anwesen im County Meath besaßen, hatten sie nach Dublin gebracht, um dort einen Ehemann für sie zu finden. Hercules hatte um sie geworben und ihr Herz erobert. Da sie ausdrücklich zu diesem Zweck in der Stadt lebte und er der Erbe von Lord Mountwalsh war, brauchte er dazu zwar nicht mehr als einen Funken gesunden Menschenverstandes. Diese Frau entsprach genau seinen Vorstellungen. Kitty war keine Schönheit, die überall Bewunderung auslöste, sah aber an seiner Seite sehr gut aus. Und da sie erst achtzehn war, sah sie zu Hercules auf. Als Georgiana sie einmal fragte, was sie vom Verhalten der amerikanischen Kolonisten hielt, blickte sie sofort fragend zu Hercules, der in bestimmtem Ton für sie antwortete: »Es sind Rebellen, die für ihren Hochverrat bezahlen werden.«

»Sogar der alte Benjamin Franklin?«, bohrte sie weiter.

»Franklin?« Kitty schien nicht zu wissen, wer das war.

»Besonders der. Der alte Teufel sollte gehängt werden«, sagte Hercules, und Kitty wirkte erleichtert.

»Wo gefällt es dir besser? Auf dem Land oder in der Stadt?«, fragte Georgiana das Mädchen dann.

Aber sogar bei dieser Frage sah Kitty Hercules unsicher an.

»Das hängt doch sicher von der Jahreszeit ab, oder?«, half er ihr freundlich weiter.

»Ja. Das hängt von der Jahreszeit ab«, wiederholte sie fest. Hercules hatte seiner Mutter einen so bösen Blick zugeworfen, dass sie keine weiteren Fragen mehr stellte.

Aber da der Ehestand seine Laune zu verbessern schien, musste sie dafür wohl oder übel dankbar sein.

Kurz darauf wurde Hercules ins Parlament gewählt.

Wahlen waren in England oder Irland immer höchst interessante Ereignisse. Gewählt wurde allerdings nicht sonderlich viel. Die meisten Sitze wurden von einer kleinen Anzahl einflussreicher Bürger oder Grundbesitzern aus der Region kontrolliert. Wer wählte, erwartete eine Gegenleistung für seine Stimme. Entweder Bargeld oder geschäftliche Unterstützung. Die Grundbesitzer wählten meistens Familienmitglieder oder Freunde.

Und natürlich versuchte die Regierung in allen Fällen, die Wahlmänner zu bestechen, linientreue Kandidaten ins Amt zu holen. Bei der Wahl im Jahr 1776 hatte diese Politik einigen Erfolg gezeitigt.

»Es sind achtzehn neue Adelstitel vergeben worden«, sagte George lachend zu Georgiana. »Wenn das so weitergeht, dann gibt es in Irland bald genauso viele Adlige wie Kesselflicker.«

Wie versprochen gab der alte Fortunatus seinen Sitz an seinen Enkel Hercules weiter, und so verlief der Stapellauf der nächsten Walsh-Generation in die rauen Wasser der Politik gänzlich problemlos.

Aber über der See zog sich der Himmel bereits drohend zusammen.

Das Parlament, aus dem Fortunatus ausgeschieden war, bestand aus verschiedenen Interessengruppen. Die Gruppe, die sich selbst »Die Patrioten« nannte und mehr Autorität für das irische Parlament verlangte, hatte mal mehr und mal weniger Mitglieder. Und ihr Anführer, ein gewandter Redner namens Flood, hatte vor nicht allzu langer Zeit ein Regierungsamt angenommen. Die Familie Walsh verfolgte einen moderaten politischen Kurs. Im Oberhaus konnte die Regierung meist auf Lord Mountwalshs Unterstützung zählen. Fortunatus hingegen, der im Unterhaus saß, unterstützte die Anliegen der Patrioten seit den Tagen Dean Swifts und des Kupfermünzen-Skandals. Aber er war ein umgänglicher Kerl und die Beamten der Burg hielten ihn für einen vernünftigen Mann, dessen Stimme sie gelegentlich ergattern konnten.

Aber plötzlich hatte die amerikanische Revolution die ganze Welt in ein neues, unheilvolles Licht getaucht. Die amerikanischen Patrioten in der Kolonie – respektable Grundbesitzer, Advokaten, Kaufleute und Bauern – hatten ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. »Und was haben wir hingegen hier erreicht?«, fragten sich diejenigen, die sich in Irland Patrioten nannten. Wenigstens mussten sie jetzt zusammenhalten und die Situation dafür nutzen, wirkliche Zugeständnisse zu erzwingen. Andere Parlamentsmitglieder, die ihren Forderungen bisher tolerant gegenübergestanden hatten, entschieden jetzt, dass in einer solchen Krise keinerlei Umwälzungen angebracht waren. Als sich das neue Parlament versammelte, machte die Regierung ihnen sehr deutlich, dass es nur zwei Positionen gab: »Wenn ihr nicht für uns seid, dann seid ihr gegen uns.« Die Patrioten schienen endgültig in die Isolation zu geraten. Dieses Parlament war eine ideale Umgebung für Hercules. Es sprach all seine natürlichen Instinkte an; er war wie ein Jagdhund, der Beute gewittert hat. Nur Stunden nach seiner Ankunft hatte er bereits alle regierungstreuen Parlamentarier aufgesucht und ihnen deutlich gemacht, dass er einer von ihnen war, egal, welche Position sein Großvater auch vertreten hatte. Hercules wollte Ordnung, die Patrioten wollten alles durcheinanderbringen. Also mussten die Patrioten vernichtet werden. Solch politischer Enthusiasmus war selten.

Aber auch die Patrioten hatten Freunde. Kurz nach der Wahl traf Georgiana sich mit Doyle, der ihr sagte:

»Die Regierung sollte aus dem amerikanischen Konflikt lernen und die freien Männer Irlands besser behandeln. In meiner Familie sind alle Patrioten«, verkündete er, »und das gilt für fast alle Dubliner Kaufleute, die ich kenne.« Und in allen Städten Irlands waren die protestantischen Kaufleute und Handwerker derselben Meinung.

Eines Tages stattete Georgiana ihrem Sohn einen Besuch im Parlament ab und fand ihn zu ihrem Erstaunen in ein ernstes Gespräch mit Patrick vertieft vor. Nachdem Patrick sich verabschiedet hatte, sprach sie Hercules darauf an:

»Ich dachte, du magst Patrick nicht.«

»Ich verabscheue ihn«, antwortete er, als sei das die natürlichste Sache der Welt. »Aber wir stehen auf der gleichen Seite. Zumindest im Augenblick.« Und später am selben Tag hatte Patrick ihr einen Besuch abgestattet und ihr die Sachlage erklärt:

»Ich organisiere eine Loyalitätsbekundung der katholischen Händler von Dublin – wir wollen unsere Unterstützung für die Regierung und unsere Ablehnung der amerikanischen Rebellen deutlich machen.« Er registrierte ihre Überraschung und fuhr fort:

»Die katholischen Gemeinden aller Städte in Irland schließen sich dem an. Wenn wir unseren Einfluss vergrößern wollen, dann ist jetzt der richtige Moment dafür. Wir müssen der Regierung zeigen, dass sie uns vertrauen kann – jedenfalls den anständigen Kerlen.« Er lächelte. »Hercules und ich harmonieren zwar nicht unbedingt miteinander, aber wir singen gerade die gleiche Melodie!«

Die Regierung erhielt jetzt zwar Unterstützung von den wohlhabenden Teilen der katholischen Bevölkerung. Aber sie hatte auch einen neuen, ernstzunehmenden Gegner bekommen, mit dem sie niemals gerechnet hatte:

Fortunatus Walsh. Der alte Fortunatus – weit über achtzig, ohne Frau, ohne Sitz im Parlament, aber immer noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte – hatte sich nach einem Leben voller freundlicher, vorsichtiger Kalkulation offenbar plötzlich dafür entschieden, dass ihm egal war, was andere von ihm hielten. War er so tief von der Rechtmäßigkeit der Sache überzeugt, oder war ihm nur langweilig? Auch Georgiana wusste es nicht genau. Aber was auch immer der Grund sein mochte, sofort nach seinem Ausscheiden aus dem Unterhaus wurde er leidenschaftlicher Patriot. Er sagte sich nicht nur von der Regierung los und verkündete fröhlich, dass die amerikanischen Rebellen im Recht seien, sondern machte aus seinem Haus am St. Stephens Green obendrein noch einen Treffpunkt für alle Patrioten, die sich untereinander austauschen wollten.

Die meisten Leute waren völlig überrascht. Georgianas Ehemann schüttelte liebevoll den Kopf. Hercules fand das Ganze allerdings gar nicht lustig. »Ich habe allen erzählt, dass mein Großvater altersschwach geworden ist und den Verstand verloren hat«, ließ er verlauten.

Georgiana besuchte Fortunatus auch weiterhin, und sie genoss ihre Besuche außerordentlich. Im Haus war es lebendiger denn je. Radikale Zeitungen wie The Freeman’s Journal lagen auf den Tischen verstreut. Aus der Kolonie kam sogar ein Exemplar des Common Sense, in dem Tom Paine für die Unabhängigkeit Amerikas plädierte. Die Doyles waren häufige Besucher, und einmal brachten sie einen radikalen Abgeordneten namens Napper Tandy mit, der zu ihr sagte: »Wenn wir die Handelsgilden erst genauso mobilisiert haben wie die Patrioten im Parlament, dann wird die Burg ganz schön überrascht sein, was wir alles erreichen können.« Das klang bedrohlich, aber auch sehr aufregend. Charles Sheridan, der ältere Bruder des Dramatikers, tauchte auch gelegentlich auf. Er war gerade als Patriot dem Parlament beigetreten und Fortunatus hatte ihn aufgesucht und persönlich zu sich eingeladen. Auch Charles überbrachte ihr interessante Neuigkeiten. »Mein Bruder Richard ist fest entschlossen, in England ebenfalls in die Politik zu gehen, falls er mit dem Stückeschreiben genügend Geld verdient. Wenn es ihm gelingt, dann haben wir einen Sheridan im Dubliner Parlament und einen in Westminster.«

Ein anderes Mal stellte ihr Fortunatus einen entzückenden jungen Advokaten vor, der vor kurzem ins Unterhaus gewählt worden war. Er war ein Gentleman, besaß aber nicht die erforderlichen zweitausend Pfund für einen eigenen Wahlkreis. Also hatte ihm ein patriotischer Oberhäusler einen Sitz verschafft. Sein Name war Henry Grattan, er hatte ein schmales, kluges Gesicht. Georgiana mochte den jungen Mann auf Anhieb. »Sie sehen wirklich aus wie ein Advokat«, sagte sie ihm.

»Ich weiß«, erwiderte er lächelnd. »Aber ich muss gestehen, dass ich in London, wo ich eigentlich Recht studieren sollte, immer nur in der Galerie des Unterhauses von Westminster zu finden war. Dort lauschte ich den Reden von Pitt, Fox und Edmund Burke. Ah, das sind große Männer! Dort habe ich Politik studiert, Lady Mountwalsh, und ich hoffe, dass ich darin Erfolg haben werde. Denn ich fürchte, als Advokat wäre ich ein hoffnungsloser Fall.«

Während des Gesprächs fiel Georgiana auf, dass er nicht nur klug wirkte, sondern seine Augen auch angenehm und gütig blickten, was ihr sehr gefiel. »Er erinnert mich an Patrick«, sagte sie Fortunatus später.

Sie hatte befürchtet, Fortunatus werde vielleicht enttäuscht sein, weil sein Lieblingsneffe Patrick eine Ansicht vertrat, die der patriotischen Sache entgegen lief. Aber falls sie noch irgendeinen Zweifel an der geistigen Schärfe des alten Mannes gehegt hatte, zerstreute er ihn mit seiner Antwort endgültig.

»Nein, meine Liebe. Der Junge hat völlig Recht. Die Katholiken sollten ihre Loyalität demonstrieren und die Regierung unterstützen. Überlass die Opposition uns.« Er sah sie verschmitzt an. »Vergiss eines nicht, Georgiana. Mein Vater gebot uns Brüdern, auf verschiedenen Seiten zu stehen, damit wir uns gegenseitig helfen können.«

»Sie schlauer alter Fuchs«, sagte sie anerkennend.

Aber was seinen Enkel Hercules betraf, war die Sachlage anders. Als Fortunatus einmal George und Georgiana im Merrion Square besuchte und Hercules dort vorfand, warf er ihm einen wütenden Blick zu und bemerkte:

»Der junge Grattan hat vor ein paar Tagen eine verdammt gute Rede gehalten.« Und schnaubend fügte er hinzu: »Deine taugte leider nicht viel.« Hercules antwortete mit einer knappen Verbeugung und verließ das Zimmer. Aber sein Großvater setzte noch deutlich hörbar hinzu: »Kein Redetalent. Überhaupt keins.«

Am folgenden Tag warnte Hercules Georgiana: »Ich halte es für unklug, dass Sie in Großvaters Haus gesehen werden. Sie bringen die Familie in Verlegenheit.« Eine Warnung, von der sie nicht die leiseste Notiz nahm.

Es war für alle ein Schock, als Doktor Terence Walsh Anfang 1777 ganz plötzlich einem Schlagfluss erlag. »Er musste nicht leiden«, tröstete Georgiana Fortunatus.

»Ich weiß«, sagte der alte Mann. »Ich danke Gott dafür, dass er noch erleben durfte, was für ein guter Mann Patrick geworden ist«, erwiderte er traurig. »Aber ich habe immer gehofft, ich dürfte als Erster gehen.« Halb Dublin versammelte sich bei der Beerdigung in der katholischen Kapelle, darunter auch Geistliche der Kirche von Irland. Es war sehr tröstlich, mit welcher Zuneigung dem beliebten Doktor gedacht wurde. »Ich fürchte allerdings, er hinterlässt kein großes Vermögen«, sagte Fortunatus später zu ihr.

In den folgenden Monaten freute Georgiana sich darüber, dass Patrick regelmäßig ein- oder zweimal wöchentlich seinen Onkel besuchte. Oft richtete sie ihre eigenen Besuche so ein, dass sie ihm dort begegnen musste. Es fiel ihr schwer, es zuzugeben, aber sie fühlte sich in seiner Gegenwart sehr viel wohler als in der ihres eigenen Sohnes. Auch wenn dieser sich allmählich einen Namen machte.

Der Krieg mit Amerika forderte seinen Tribut. Die Regierung hatte den Iren verboten, weiterhin mit Amerika zu handeln – was die irischen Kaufleute wütend machte. Aber der Krieg wirkte sich allgemein schlecht auf die Geschäfte aus. Besonders in Ulster war die Leinenindustrie schwer betroffen, viele Betriebe gingen Bankrott.

Die Patrioten machten für all das die Regierung verantwortlich, und der junge Grattan war ein so großartiger Redner, dass diese Argumentation Anhänger fand. Die Regierungstreuen schlugen jedoch zurück, und der brutalste Gegner der Patrioten war Hercules Walsh. Er besaß zwar nicht Grattans Sprachtalent, aber er konnte auf seine grobe Art sehr deutlich werden. Als die Nachricht eintraf, dass Ben Franklin und seine Kollegen Frankreich dazu gebracht hatten, in den Krieg einzugreifen und gegen England für Amerika zu kämpfen, wurden Hercules’ Attacken sogar noch beißender. Kurz nach einer besonders beleidigenden Tirade erhielt Georgiana einen Brief aus Ulster. Der Absender war Daniel Law.

 

Ich habe auf Ihren Brief bisher nicht geantwortet, weil ich nicht wusste, was ich Ihnen sagen sollte. Der Leinenhandel ist fast zusammengebrochen, und seit dem heutigen Tag existiert das Geschäft der Laws aus Belfast nicht mehr. Und das haben wir Ihrer Regierung zu danken. Und doch muss ich heute in der Zeitung lesen, dass Ihr Sohn mich und meine Gleichgesinnten in Ulster, die noch den ehrlichen und gottesfürchtigen Glauben unserer Vorväter pflegen, für ehrlose Verräter hält, für Hunde, die an die Kette gelegt und geknebelt werden müssen. Ich schreibe Ihnen jetzt, weil ich endlich weiß, was ich Ihnen sagen soll: Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Die Korrespondenz zwischen unseren Familien, die Sie zu eröffnen für angebracht hielten, sollte von nun an nicht mehr fortgeführt werden. Niemals wieder.

 

Seufzend legte sie den Brief beiseite. Sie konnte ihm schreiben, was sie wollte: Hercules würde es bestimmt mit seiner nächsten beleidigenden Rede wieder zunichte machen. Sie fragte sich, ob sie den Laws irgendwie helfen konnte, da sie wahrscheinlich in finanziellen Schwierigkeiten steckten. Aber sie gestand sich ein, dass sie jedes Angebot von ihr wahrscheinlich strikt ablehnen würden. Also legte sie den Brief zu dem aus Philadelphia in ihren Sekretär und betete um bessere Zeiten.

Bald danach bot sich ihr jedoch die Gelegenheit, einem anderen Mann etwas Gutes zu tun.

Sie war auf dem Weg vom St. Stephen’s Green zum Parlament, als sie mitten auf der sanft geschwungenen Grafton Street den jungen Patrick auf sich zukommen sah, begleitet von einem sympathisch wirkenden, etwas größeren Mann, der leicht hinkte. Sie begrüßte Patrick und bat ihn, ihr doch seinen Freund vorzustellen.

»Ah, ja«, sagte er nach einem kurzen Zögern. »Dies ist Mr John Mac-Gowan. Lady Mountwalsh.«

Der größere Mann verbeugte sich höflich und sagte »Zu Diensten«, aber sie sah, dass bei der Nennung ihres Namens das Lächeln auf seinem Gesicht erstorben war. Die meisten Menschen wären wahrscheinlich weitergegangen, ohne dem Vorfall große Bedeutung zuzumessen, aber Georgianas Neugier gewann wie immer die Oberhand. Da die Gebote der Höflichkeit die beiden Männer an sie fesselten, bis sie das Gespräch beendete, begann sie eine Unterhaltung mit ihnen. Sie erfuhr bald, dass John MacGowan wie Patrick Katholik war, und dass sein Lebensmittelgeschäft in den letzten sieben Jahren einen ungeheuren Aufschwung erlebt hatte. »Er hat sich auf gepökelte Lebensmittel spezialisiert«, informierte Patrick sie, »und obwohl er zu bescheiden ist, um sich damit zu brüsten, exportieren nur zwei Kaufleute in Dublin mehr Salzrindfleisch als er. Aber ich muss Sie warnen, er ist im Gegensatz zu mir kein Freund der Regierung«, fügte er lachend hinzu.

Die Regierung hatte mit eiserner Entschlossenheit dafür gesorgt, dass die Iren mit den rebellischen Amerikanern keinen Handel mehr betrieben. Und nun, da Frankreich in den Krieg eingetreten war, waren die Regierungsbeamten geradezu besessen von der Idee, irische Kaufleute wie MacGowan könnten die französische Armee und Marine mit den für sie unverzichtbaren Pökelwaren beliefern. Es hatte also neue Handelsrestriktionen gegeben. Und die wurden nicht gerade erfreut aufgenommen.

»Die Restriktionen sind Ihnen bestimmt zuwider«, sagte Georgiana lächelnd.

»Das ist wahr, Mylady«, erwiderte er, nachdem er Patrick einen skeptischen Blick zugeworfen hatte.

»Keine Sorge, John«, lachte Patrick. »Vor Lady Mountwalsh kannst du offen sprechen. Bei meinem Onkel bekommt sie viel Schlimmeres zu hören.«

»Um ehrlich zu sein, Lady Mountwalsh«, gestand der Lebensmittelhändler, »habe ich meine Sympathie für die protestantischen Herrscher an dem Tag verloren, als sie mich aus dem Fenster warfen und mir dadurch das Bein brachen.«

»Oh, Mr MacGowan. Das tut mir so leid.«

»In gewisser Weise«, fuhr er ruhig fort, »sollte ich ihnen wahrscheinlich sogar dankbar sein. Denn nach diesem Vorfall hinkte ich zwar, war aber so wütend und entschlossen, mich nicht unterkriegen zu lassen, dass ich mich mit all meiner Kraft darum bemüht habe, mein Geschäft auszubauen. Ohne ihre Grausamkeit wäre ich heute nicht so erfolgreich, wie ich es bin.«

»Es wäre doch eine gute Idee«, sagte Patrick mit einem Grinsen, »ihn mit zu Onkel Fortunatus zu nehmen. Besonders, weil die Patrioten im Augenblick ein so reges Interesse an uns Katholiken zeigen.«

Er sprach über die neueste Kehrtwende in der turbulenten irischen Politik, eine Kehrtwende, die Grattan zu verdanken war.

Die Patrioten konnten im Parlament zwar immer noch nicht die Mehrheit erlangen, aber sie konnten außerhalb des Parlaments wenigstens den Druck verstärken. Sie wussten den größten Teil der protestantischen Kaufleute auf ihrer Seite, und dazu noch viele kleinere Grundbesitzer. Aber nun galt es, die größte Gruppe auf ihre Seite zu ziehen, der mehr als vier Fünftel der irischen Bevölkerung angehörten – die Katholiken. Geachtete Männer wie Patrick verkündeten zwar ihre Loyalität – natürlich weil sie hofften, dadurch eine bessere Behandlung zu erreichen –, aber das hinderte die Patrioten nicht daran, ihnen zu versprechen, dass sie viel mehr für sie tun würden als die Regierung. »Freier Handel für Irland. Und dann Schluss mit den bösartigen, veralteten Strafgesetzen, die für jeden Katholiken eine Beleidigung darstellen«, forderte Grattan jetzt. Nicht alle protestantischen Patrioten standen voll und ganz hinter dieser Forderung, aber Grattan hatte sie davon überzeugt, ihn zu unterstützen. »Das wird der Regierung Angst einjagen«, betonte er. »So geraten sie unter Druck und müssen wenigstens ein paar unserer Forderungen erfüllen.« Moralische Überzeugung oder gerissenes, politisches Kalkül?

Schwer zu sagen. Aber auf jeden Fall beeindruckende Politik.

»Ich werde die Patrioten unterstützen«, sagte John MacGowan.

Georgiana fragte Patrick am folgenden Tag über seinen Freund aus.

»Ich wollte ihn nicht darauf ansprechen, aber wie kam es dazu, dass er aus einem Fenster geworfen wurde?«

Patrick erzählte ihr eine gekürzte Version des betreffenden Abends, einige Aspekte ließ er vollständig unter den Tisch fallen.

»Warum hat er sie nicht gerichtlich belangt?«

»Damit hätte er nur jeden protestantischen Dubliner Kaufmann für den Rest seines Lebens gegen sich aufgebracht. Es war klüger, nichts zu sagen. Seine Rache besteht darin, dass er reicher sterben wird als die meisten von ihnen.«

»Aber Hercules gehört doch auch zu diesem Club. Hatte er etwa etwas mit diesem Vorfall zu tun?«

»Vielleicht war er anwesend«, gab Patrick zu. »Es waren viele Leute da. Aber er hatte nichts damit zu tun, dass man John aus dem Fenster geworfen hat«, versicherte er ihr eilig. »Überhaupt nichts.«

An jenem Abend erzählte Georgiana ihrem Ehemann von ihrer Begegnung mit John MacGowan.

»Ich fühle mich irgendwie schuldig, George, auch wenn Hercules nicht für sein Unglück verantwortlich war. Ich wünschte, wir könnten ihn irgendwie entschädigen. Bestimmt hat sein Geschäft in letzter Zeit gelitten«, fügte sie hinzu. »Vielleicht könntest du da etwas arrangieren.«

»Was seine körperliche Verletzung angeht, bin ich deiner Meinung«, erwiderte er. »Aber sein Geschäft hat wahrscheinlich nicht gelitten. Das Embargo gegen Amerika ist zwar nicht besonders beliebt, aber die Lebensmittelhändler haben so viele Aufträge von der britischen Armee und Marine erhalten, dass dieser Krieg sie wahrscheinlich bereichern wird. Ich weiß, dass die Salzfleischhändler drunten in Cork wahre Vermögen verdient haben.« Er lächelte. »Aber sei’s drum. Ich werde mit einigen Beamten aus der Burg sprechen. Mal sehen, was sich tun lässt.«

Einen Monat später erhielt John MacGowan einen Großauftrag: Er sollte die britische Armee mit Salzrindfleisch versorgen. Als Georgiana ihm auf der Straße begegnete, kam MacGowan sofort auf sie zu und verbeugte sich tief vor ihr.

»Ich weiß sehr genau, wem ich für diesen Auftrag zu danken habe, Lady Mountwalsh.«

»Sind Sie jetzt besser auf uns zu sprechen?«, fragte sie.

»Nein. Aber ich bin reicher«, antwortete er lächelnd.

Sie erzählte Hercules nichts davon.

»Patrick und sein Freund MacGowan werden früher als gedacht Genugtuung erfahren«, sagte George ihr kurze Zeit später. Henry Grattans Strategie hatte sich bewährt. Die Londoner Regierung wurde zunehmend nervöser. Der Krieg mit der amerikanischen Kolonie weitete sich zu einem größeren Konflikt aus, der Handel litt, Truppen mussten ausgehoben werden. Das Letzte, was London jetzt noch gebrauchen konnte, wäre Unruhe im eigenen Herrschaftsgebiet. Wenn Grattan die Katholiken aufpeitschte, dann war es an der Zeit, ihm entgegenzukommen.

»Sie wollen nicht den Anschein erwecken, dass sie den irischen Patrioten nachgeben«, erklärte George. »Da das Strafrecht in allen drei Ländern gleich ist, wollen sie in Westminster zuerst ein allgemeines Gesetz für England und Schottland verabschieden und es dann auf Irland ausweiten.« Aber kurze Zeit später kam Lord Mountwalsh abends nach Hause und sagte kopfschüttelnd: »Die Gesetzesentwürfe für England und Schottland wurden fallen gelassen.«

»Hassen die englischen Abgeordneten die Katholiken denn wirklich so sehr?«, fragte Georgiana.

»An denen liegt es nicht. Nein, die englischen und schottischen Bürger schreien ›Nieder mit dem Papismus‹, und es ist sogar schon zu Straßenschlachten gekommen.« Der irische Gesetzesentwurf sollte dennoch verabschiedet werden. »Burke glaubt, dass er eine moderate Änderung für Irland im Londoner Parlament durchbringen kann. Und ich wage zu behaupten, dass wir das auch hier in Dublin schaffen.«

Er hatte Recht. Im Sommer des Jahres 1778 wurde der Catholic Relief Act in beiden Parlamenten angenommen, obwohl es viele Gegenstimmen gab. In Dublin unterstützte zwar die Regierung den Entwurf, aber viele loyale Protestanten weigerten sich diesmal, ihrer Führung zu folgen, darunter auch Hercules Walsh. Das Gesetz erlaubte es irischen Katholiken, Land zu erwerben und es an ihre Erben weiterzugeben. Fortunatus und Georgiana gingen mit Patrick und seiner Familie zur Verabschiedung im irischen Unterhaus. Beim Ergebnis der Abstimmung brachen Grattan und die Patrioten in Jubel aus.

Am folgenden Abend richtete Fortunatus ein großes Fest in seinem Haus aus. Viele Patrioten erschienen, darunter auch Henry Grattan. George und Georgiana nahmen ebenfalls an der Feier teil, allerdings ohne Hercules. Terences Familie war eingeladen, und Fortunatus hatte sogar an Terences alten Gemeindepriester gedacht. Patrick brachte John MacGowan mit.

Georgiana hatte den alten Mann noch nie so aufgeregt erlebt. Sein Gesicht war gerötet, seine Augen glänzten beinahe fiebrig, und er trank nicht wenige Gläser Rotwein. Er hielt eine kurze, begeisterte Ansprache, die Grattan elegant erwiderte. Und immer wieder suchte er Patricks Nähe, legte ihm liebevoll die Hand auf die Schulter und verkündete: »Dies ist nur der Anfang, mein Junge. Genau das hätte sich mein lieber Vater gewünscht.« Er sagte all seinen Gästen, dies sei einer der schönsten Abende seines Lebens.

Im Nachhinein erschien es Georgiana nicht mehr als überraschend, dass der alte Mann nach all dieser Aufregung noch in derselben Nacht einen Schlagfluss erlitt. Im Morgengrauen wurde die ganze Familie an sein Bett gerufen.

Der Doktor brauchte nichts zu sagen. Allen war klar, dass Fortunatus im Sterben lag. Sein Gesicht war grau und wächsern, kleine Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn und er atmete schwer und mühsam. Aber er erkannte sie offenbar alle. Er konnte zwar nur unter großen Schwierigkeiten sprechen, aber er bedeutete ihnen, dass er sich von ihnen allen einzeln verabschieden wollte. George und Georgiana flüsterte er Worte des Dankes zu; mit Hercules sprach er nicht, schaffte es aber, ihm die Hand zu drücken; Kitty tätschelte er freundlich den Arm; er sprach ein, zwei Worte zu Eliza und Fitzgerald und erlaubte ihr, seine Wange zu küssen. Auch von Terences Familie verabschiedete er sich so, obwohl er bereits sichtlich erschöpft war. Er bestand trotzdem darauf, dass Patrick sich noch einmal zu ihm neigte. Fortunatus nahm seine Hand und flüsterte: »So stolz. So stolz auf dich.«

Der Arzt wollte sich ihm nähern, aber Fortunatus versuchte zu sagen, dass er einer Person noch etwas mitteilen wolle. Er sah Georgiana an. Sie eilte an seine Seite. Er nahm ihre Hand und drückte sie schwach, aber voller Zuneigung. Offenbar wollte er sprechen und musste dafür seine letzten Kräfte zusammennehmen. Endlich schien er bereit dazu. »Eine einzige Enttäuschung.« Seine Stimme war brüchig. »Nur ein Bedauern.«

Sie verkrampfte sich innerlich und wäre fast zurückgewichen. Ihr war natürlich klar, dass er von Hercules enttäuscht sein musste. Ihr Sohn war von grobem und brutalem Wesen, ein trauriger Gegensatz zum edlen Charakter Patricks. Aber dies war nicht der richtige Augenblick für ein solches Geständnis, und sie wünschte, er würde schweigen.

Er sammelte seine Kräfte erneut. Er wollte ihr etwas zuflüstern. Sie konnte ihm diesen Wunsch nicht verweigern und beugte sich zu ihm. »Wenn ich doch nur«, flüsterte er so leise, dass nur sie es hörte, »an Georges Stelle gewesen wäre.« Und mit letzter Kraft küsste er ihr die Hand.

Erleichterung übermannte sie so heftig, dass sie beinahe laut aufgelacht hätte. Mit großer Zuneigung beugte sie sich erneut über Fortunatus und küsste ihn auf die Wange.

Der Arzt drängte sie sanft aber bestimmt beiseite und fühlte Fortunatus’ Puls. Georgiana nahm ihren Platz an Georges Seite wieder ein. Alle warteten. Plötzlich setzte sich Fortunatus ruckartig auf und sah sich mit weit aufgerissenen Augen um. Dann fiel er zurück und sie wussten, dass es vorbei war.

»Was hat er zu dir gesagt?«, fragte George, als sie den Raum verließen.

»Nichts Wichtiges«, wich sie aus.

»Er hat dich sehr lieb gehabt.«

»Ja.«

Und mitten auf der Treppe, die nach unten führte, brach sie unvermittelt in Tränen aus.

***

Einige Tage später wurde Fortunatus’ Testament verlesen. Der Hauptteil seines ansehnlichen, wenn auch nicht riesigen Vermögens ging an George Mountwalsh, zusammen mit einem Brief. Fortunatus schrieb, dass er das Anwesen in Fingal gerne im Besitz der Linie seines Ältesten wissen würde, George den Rest des Vermögens aber gerne an andere Verwandte verteilen dürfe, falls er selbst das Geld nicht brauche. Und dies tat George, mit Georgianas uneingeschränkter Zustimmung, sofort. Auch einige mit Bedacht ausgesuchte persönliche Erinnerungsstücke waren aufgeführt, so zum Beispiel ein Ring für Georgiana und ein paar wertvolle Drucke für Hercules.

Aber es gab noch eine weitere Klausel. Ein Teil von Fortunatus’ Grundbesitz, der ungefähr ein Fünftel des Gesamtvermögens ausmachte, ging ohne Auflagen an seinen Neffen Patrick. Niemand hatte davon etwas geahnt, am wenigsten Patrick selbst. Aber da alle wussten, wie gern Fortunatus den jungen Mann gehabt hatte, dessen eigener Vater ihm kaum etwas hinterlassen konnte, kam es niemand in den Sinn, sich darüber zu beklagen.

Mit Ausnahme von Hercules.

Georgiana hatte ihren Sohn schon oft ärgerlich, kalt, verächtlich und sogar brutal erlebt. Aber so hatte sie ihn noch nie gesehen, und sie war froh darüber, dass er sie alleine im Haus seines Vaters aufsuchte, wo er außer ihr niemandem begegnen würde. Er war außer sich vor Wut.

»Wie kann er es wagen, diesen Besitz Patrick zu hinterlassen?«, schrie er. »Das war mein Erbe.«

»Aber du brauchst dieses Land doch gar nicht, Hercules«, sagte sie besänftigend. »Das Anwesen in Fingal geht an dich über, und du wirst ein riesiges Vermögen erben.«

»Verstehen Sie denn nicht, dass es hier ums Prinzip geht?«, schrie er sie an. »Dieses Land gehört den Walshs. Uns!«

»Die Entscheidung lag bei Fortunatus. Außerdem ist dein Cousin Patrick ebenfalls ein Walsh.«

»Vom verfluchten katholischen Zweig. Sollen sie doch alle in der Hölle verfaulen!«, brüllte er. »Wenn dieser verdammte Papist das Erbe antritt, dann ist er ein gemeiner Dieb!«

Das war zu viel.

»Du bist eifersüchtig, weil dein Großvater Patrick geliebt hat, Hercules. Du solltest dich bemühen, deine Gefühle unter Kontrolle zu halten.«

Die eiskalte Miene, mit der er sich ihr nun zuwandte, traf sie bis ins Mark.

»Sie verstehen gar nichts, Mutter«, sagte er eisig. »Es ist mir völlig egal, was mein Großvater von mir gehalten hat. Das kümmert mich schon seit meiner Kindheit nicht mehr. Patrick verabscheue ich. Aber wer mir meinen Besitz nimmt«, fuhr er in einem mörderischen Tonfall fort, den sie noch nie zuvor gehört hatte, »ist mein Feind. Und ich vernichte meine Feinde. Und Großvaters Namen will ich von nun an nie wieder hören.«

»Er hat dir einige Drucke hinterlassen. Die wirst du wahrscheinlich trotzdem behalten«, stieß sie angeekelt hervor.

Er sah sie mit leeren Augen an.

»Die habe ich heute Morgen verkauft. Für fünfzig Guineas.«

Und damit verließ er den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.

Nach diesem Vorfall fiel es ihr schwer, noch Zuneigung für ihn zu empfinden. Aber sie versuchte es. Schließlich war sie seine Mutter.

***

Georgiana verabscheute das Verhalten ihres Sohnes zutiefst, aber in den folgenden Monaten musste sie sich gelegentlich fragen, ob er mit seinen politischen Ansichten nicht vielleicht doch Recht hatte.

Die Situation in Irland wurde immer gespannter – trotz des Erfolgs, den die Patrioten in der katholischen Frage errungen hatten. Die Handelsbeschränkungen für Irland waren immer noch in Kraft. Grattan führte weiterhin scharfe Verbalattacken im Parlament, während sein Freund Napper Tandy eifrig die Dubliner Kaufleute mobilisierte: Sie folgten dem Beispiel der amerikanischen Rebellen und drohten, keine englischen Waren mehr zu kaufen. Für Hercules waren sie nur aufwieglerischer Pöbel. Aber er hatte auch ernst zu nehmende Bedenken. »Wenn Grattan uns im Parlament angreifen will, darf er das gerne tun«, verkündete er. »Aber er und Tandy sind nicht zimperlich bei der Wahl ihrer anderen Mittel. Ich sage Ihnen, bald haben wir hier Straßenschlachten.«

Genauso besorgniserregend war die Frage nach Irlands Selbstverteidigung. »Frankreich befindet sich im Krieg mit England, und unsere besten Truppen sind nach Amerika abgezogen worden«, gab George zu bedenken. »Wenn Frankreich auf den Gedanken kommt, uns anzugreifen, dann sind wir praktisch wehrlos.« Im Parlament war beschlossen worden, eine Miliz aufzustellen, aber das war nur eine leere Geste, weil nicht genug Geld da war, um eine wirkungsvolle Armee zu finanzieren. In Ulster begann man Freiwilligeneinheiten aufzustellen.

Eines Samstagmorgens stand Georgiana an ihrem Schlafzimmerfenster, als sie vorbeimarschierten – eine Kompanie von ungefähr hundert Mann überquerte den Merrion Square. Sie trugen bunt zusammengewürfelte Uniformen; einige hielten Musketen, andere nur Piken. An der Spitze ritt ein Offizier, und direkt hinter ihm marschierte ein junger Mann, den sie als einen Doyle erkannte. Stolz schwenkte er die Fahne mit dem Georgskreuz.

Kaum zehn Minuten später traf Hercules im Haus ein.

»Haben Sie die Volunteers gesehen?«, fragte er. »Sie kamen bei mir vorbei, also sind sie sicher auch hier vorbeimarschiert.«

Georgiana war überrascht gewesen, als Hercules trotz seiner Abneigung gegen Fortunatus vor kurzem das Haus seines Großvaters bezogen hatte. Natürlich hatte er alles, was an den alten Mann erinnerte, daraus entfernt und jeden Raum neu tapezieren und streichen lassen. »Es ist geschickt für mich, am St. Stephens Green zu wohnen«, erklärte er. »Und Kitty gefällt es dort.«

»Die Freiwilligen sahen prächtig aus«, sagte sie jetzt.

»Prächtig? Sie sahen nach einer Menge Ärger aus!«, gab er zurück.

»Aber es sind alles gute Protestanten, die nur ihr Land verteidigen wollen.«

In letzter Zeit hatten sich auf der ganzen Insel Volunteers formiert. Die protestantische Stadtbevölkerung hatte sich mit dem Landadel zusammengetan und der Bewegung angeschlossen. Schließlich wollte kein Protestant, egal welcher politischen Überzeugung er anhing, von den Franzosen erobert werden.

»Ist Ihnen nicht aufgefallen, wer die Fahne dieser kleinen Kompanie trägt? Ein Doyle. Und die stecken alle mit Napper Tandy unter einer Decke. Verstehen Sie denn nicht?«, rief er ungeduldig. »Das sind Grattans verfluchte Patrioten. Nur sind sie jetzt bewaffnet.«

Stimmte das etwa? Zufällig waren Georgiana und George am selben Abend im Leinster House zum Abendessen eingeladen. Vor dem Essen unterhielten sie sich mit dem Herzog, und sie fragte ihn nach seiner Meinung dazu.

»Ich fürchte fast, Ihr Sohn hat Recht«, erwiderte er. »Ich persönlich bezweifle, dass diese Volunteers gegen gut ausgebildete französische Soldaten eine Chance hätten. Aber wir können ihnen nicht verbieten, sich zu formieren. Meiner Meinung nach sollten wir sie unserer Unterstützung versichern. Nur so können wir sie vielleicht unter Kontrolle halten.« Er sah George an. »Ich hoffe, ich kann auf Ihre Hilfe zählen, Mountwalsh.« Der große Aristokrat verzog sein scharf geschnittenes Gesicht zu einem Grinsen. »Wie geht doch das Sprichwort? Kannst du sie nicht schlagen, dann schließ dich ihnen an.«

Ein paar Monate später gebar Kitty Hercules sein erstes Kind, einen Sohn. Georgiana gratulierte den frisch gebackenen Eltern als Erste und besuchte ihren Enkel. Alles war gut gegangen. Sie sah das Baby lange und aufmerksam an.

»Er soll William heißen«, verkündete Hercules stolz. »Nach Wilhelm von Oranien.«

Erst als Georgiana zu Hause in Sicherheit war, brach sie in unbändiges Gekicher aus.

»Ich konnte mich vor Hercules fast nicht beherrschen«, sagte sie ihrem Ehemann. »Aber Gott sei Dank habe ich es geschafft. Du musst dir den Kleinen ansehen. Er ist Patrick wie aus dem Gesicht geschnitten.«

***

Aber auch dieses freudige Ereignis konnte Georgiana nicht von der Tatsache ablenken, dass das Leben in Dublin zunehmend beängstigender wurde. Napper Tandy und seine Kaufleute hatten ihre Drohung wahr gemacht und weigerten sich, in den Häfen englische Waren zu löschen. »Den englischen Tuchhändlern reißt das ein großes Loch in die Taschen«, sagte Doyle ihr voller Schadenfreude. Viele Zeitungen unterstützten die Aktion, und die Volunteers wurden von Woche zu Woche zahlreicher. Im Sommer reiste Hercules für kurze Zeit nach London und kehrte mit düsterem Gesicht zurück. Er hatte sich mit einigen Politikern getroffen, unter anderem auch mit Lord North, dem Premierminister.

»Ich habe noch nie einen Mann gesehen, dem sein Amt so schrecklich auf der Seele lastet«, berichtete er. »Er sehnt sich nach dem Ruhestand und bleibt nur, weil der König ihn darum gebeten hat. Die amerikanischen Probleme machen ihm schwer zu schaffen. Das halbe Parlament ist bereit, den Kolonisten nachzugeben, nur der König bleibt weiterhin standhaft. Und an Irland verzweifelt er allmählich. Er hat mir im Privaten gestanden, dass er langsam darüber nachdenkt, unser Parlament ganz abzuschaffen und die Insel direkt von Westminster aus zu regieren. Ich kann es ihm nicht verübeln.« Er zuckte mit den Schultern. »In London gibt es keine Männer mit Rückgrat.«

Kurz danach sprach er erneut bei seinen Eltern vor. Er hielt ein Blatt Papier in der Hand und schnaubte vor Wut.

»Haben Sie das gesehen?«, schrie er. Es war ein Pamphlet. Der Autor empfahl, dass Irland dem Beispiel des rebellischen Amerika folgen und sich vollständig von England lossagen solle. »Und er hat die Frechheit, das natürliche Gerechtigkeit zu nennen. Und wer ist dieser Schmierfink? Ein Patriot aus unserem eigenen Parlament. Der verdammte Charles Sheridan.« Er sah seine Eltern grimmig an. »Und meine Familie bezeichnet die Sheridans immer noch als Freunde«, brummte er. »Ich hätte Ihnen schon lange sagen können, dass diese Leute nichts taugen.«

Das Ereignis, das Georgiana zwang, zuzugeben, dass Hercules’ Sorge vielleicht nicht ganz grundlos war, geschah im Herbst. Sobald die neue Sitzungsperiode im Parlament begann, warfen sich die Patrioten mit neuem Eifer ins Gefecht. Grattan forderte, Irland ein für allemal einen eigenen Freihandel zuzugestehen und die englischen Kontrollen abzuschaffen. Die Volunteers organisierten unterdessen mehrere kleine Paraden, bei denen patriotische Reden gehalten wurden. Aber Gerüchten zufolge war das nur ein Vorspiel.

»Wartet auf König Billies Geburtstag«, hieß es überall.

Für alle protestantischen Dubliner Kaufleute war der wichtigste Tag des Jahres der Geburtstag von König Wilhelm III. von Oranien im November. Jedes Jahr wurde er mit Festessen und loyalen Festreden gefeiert. Dieses Jahr wurde angekündigt, dass die Volunteers vor König Billies Statue auf dem College Green eine Parade abhalten würden. Alle erwarteten ein großes Spektakel.

Zufällig weilte George Mountwalsh zu dieser Zeit gerade geschäftlich auf dem Anwesen in Wexford, und deshalb bat Georgiana, die diese Parade unbedingt sehen wollte, Hercules, sie zu begleiten.

»Gehen Sie bloß nicht dorthin«, lehnte er ab. »Sie sollten das Haus nicht verlassen. Zum einen, weil ich den Volunteers nicht traue. Und selbst wenn sie sich benehmen, will ich nicht, dass Sie dort gesehen werden.«

»Ich wäre völlig sicher, wenn ich mit dir hinginge. Und das würde auch allen Missverständnissen vorbeugen«, beharrte sie.

»Auf keinen Fall. Ich verbiete es Ihnen.«

Hätte Hercules seinen letzten Satz verschluckt, wäre sie vielleicht sogar zu Hause geblieben. Wahrscheinlich wollte er sie nur beschützen, aber es stand ihrem Sohn nicht zu, ihr Befehle zu erteilen. Also schwieg Georgiana und traf ihre eigenen Vorbereitungen. Sie wusste, dass es leichtsinnig wäre, sich als Dame ohne männliche Begleitung in eine so riesige Menschenmenge zu begeben. Wen sollte sie darum bitten, mit ihr hinzugehen? Und dann wurde ihr klar, dass sie den idealen Begleiter kannte.

Sie wartete bereits ungeduldig, als Doyle bei ihr eintraf. Der Kaufmann war bester Laune.

»Das Wetter ist geradezu perfekt«, verkündete er. »Und ich habe alle nötigen Vorkehrungen getroffen.«

Sie gingen um den Merrion Square, an der riesigen Fassade von Leinster House vorbei, und bogen an der Ecke links nach Westen ab. Zu ihrer Rechten erstreckte sich die graue Mauer, die das Trinity College umfriedete. Die Straße war voller Menschen, die alle in die gleiche Richtung strömten. Bald herrschte ein solches Gedränge, dass Georgiana doppelt froh über Doyles Begleitung war. Als sie die Kildare Street passiert hatten und auf die Hauptgebäude des College zusteuerten, musste sie sich dicht hinter den Kaufmann drängen, der sich unbeirrt einen Weg durch die Menge bahnte. Als sie endlich das College erreichten, fürchtete sie schon, dass sie von der Parade überhaupt nichts sehen würde. Das ganze Green war abgesperrt, und die Menge stand so dicht gedrängt, dass sie nur den oberen Teil des riesigen Parlamentsgebäudes sehen konnte, der über ihren Köpfen aufragte. Doyle ging jedoch weiter und bog unvermittelt in einen Hauseingang ein.

»Hier wohnt ein Freund von mir«, erklärte er grinsend. Und einen Augenblick später stiegen sie die schmale Treppe des Kaufmannshauses hinauf, an der ersten Etage vorbei zur zweiten Etage, wo die Schlafzimmer lagen. Auf dem Treppenabsatz wurden sie von einem wohlhabenden Schneider und dessen Familie herzlich empfangen und in ein einfaches Schlafzimmer geführt, wo bereits ein Tisch mit Erfrischungen auf sie wartete. Georgiana erhielt sofort eine Tasse heiße Schokolade und ließ sich an eines der Fenster führen, vor denen die ganze Familie und ihre Dienerschaft die Geschehnisse draußen beobachteten.

Das weitläufige College Green war völlig leergefegt. Im Zentrum saß auf einem hohen Steinsockel King Billie auf seinem Pferd wie ein römischer General, der gleich einen Triumphzug anführen wird. Hinter ihm blickte die gelehrte, klassische Fassade des Trinity College gleichmütig auf ihn nieder, als habe sie schon viel zu viel erlebt, um sich hiervon beeindrucken zu lassen. Das Parlamentsgebäude hingegen, dieser prächtige Emporkömmling, hoffte wie das Kolosseum in Rom unverfroren darauf, ein paar spannende Spiele zu erleben. In den Privathäusern war jedes Fenster in einen Logenplatz für Ladies und Gentlemen verwandelt worden, und einige Diener hatten sich sogar auf die Dächer geschlichen.

Einige Zeit später kündigten Trommelwirbel und Querpfeifen die Ankunft der Volunteers an. Zuerst kam die Kavallerie, mehr als einhundert berittene Soldaten. Mit roten Röcken, gezogenen Schwertern und glänzenden, mit Helmbusch geschmückten Helmen. Auch ihre Pferde waren prächtig. Als sie auf den Paradeplatz trabten, jubelte die Menge. Dann folgte die Infanterie: Dreispitze, blaue oder grüne Röcke mit weißen Beinkleidern. Die einfachen Männer trugen Musketen, die Offiziere, die man an ihren Schärpen erkannte, marschierten mit gezogenem Schwert. Jede Kompanie hatte ihre eigenen Farben und ihr eigenes Emblem. Sie marschierten in perfektem Einklang zu dem scharfen Marschrhythmus ihrer Trommeln um das Green und formten so ein hohles Quadrat um den Platz, an dessen vierter Seite die Statue stand. Noch viel mehr aber beeindruckte Georgiana die Tatsache, dass hinter der Infanterie ein Waffenzug aus einem halben Dutzend Feldkanonen vorbeigeschoben wurde. Sie hatte nicht gewusst, dass die Volunteers Kanonen besaßen. »Drei meiner Söhne marschieren da unten mit«, verkündete Doyle voller Stolz.

Zum Entzücken der Menge vollführten die Soldaten eine einfache, aber perfekt ausgeführte Exerzierübung. Als nächstes traten die Offiziere und Farbenträger vor, um König Billie zu salutieren und ihm respektvoll ihre Fahnen zu präsentieren. Auf ein Kommando hin feuerten die Soldaten auf allen drei Seiten abwechselnd Ehrensalven in die Luft. Die geschlossenen Reihen verschwanden beinahe im dichten Rauch, und der Lärm hallte von Echo zu Echo im gesamten College Green wider.

Der Rauch verzog sich. Die Volunteers standen so still, als seien sie ebenfalls Statuen. Und dann passierte etwas Unerhörtes.

Das erste Banner erhob sich aus der mittleren Kompanie hinter der Statue. Das grüne Tuch spannte sich zwischen zwei langen Stangen. Sorgfältig waren in römischen Lettern die lateinischen Worte PARATI PRO PATRIA MORI darauf geschrieben.

Bereit, fürs Vaterland zu sterben. Dann entrollte auch die linke Kompanie ein Banner: rote Lettern auf weißem Tuch. Es war ebenso sorgfältig gefertigt wie das erste, aber dieses Mal in englischer Sprache beschrieben.

FREIER HANDEL

Die Menge tobte. Georgiana schnappte vor Überraschung nach Luft und warf Doyle einen Blick zu. Er nickte anerkennend. Und nun sah sie zu ihrer Rechten ein drittes Banner. Weiße Lettern auf rotem Tuch. Es war um einiges breiter als die anderen beiden.

FREIER HANDEL ODER REVOLUTION

Sie konnte es nicht glauben. Die Menge jubelte sogar noch lauter als zuvor. Revolution? Die biederen Protestanten von Dublin planten eine Revolution? Waren sie denn verrückt geworden? Sie starrte auf die prächtigen Schärpen der Offiziere. Würden sie eine solche Unerhörtheit dulden? Offenbar duldeten sie sie nicht nur, sondern billigten sie von Herzen. Denn sie ordneten eine weitere Ehrensalve an, während die Banner stolz getragen wurden.

Es gab erneute Kommandos. Die Soldaten machten auf dem Absatz kehrt und marschierten mit schwingenden Fahnen und erhobenen Bannern einmal rund um das Green. Als sie das Parlament passierten, sah Georgiana, dass einige Abgeordnete, darunter auch ihr Sohn, vor das Gebäude getreten waren, um die Parade zu betrachten.

Auf dem College Green war es wieder relativ ruhig, als Doyle und Georgiana das Haus verließen. Sie wollten gerade ihren Heimweg am Gelände des Trinity College vorbei antreten, als Doyle einen seiner Söhne sah, der aus der Dame Street kam. Es war sein jüngster Sohn, der mittlerweile um die dreißig sein musste. Er hatte den Rang eines Sergeant inne und sah in seiner Uniform sehr ansehnlich aus. Zwei weitere Volunteers begleiteten ihn, deren Uniformen allerdings der seinen nicht glichen. Doyle winkte seinem Sohn zu und bedeutete ihm, herzukommen.

Sergeant Doyle verbeugte sich höflich vor Georgiana und fragte sie freundlich, ob ihr die Parade gefallen habe. Sie antwortete irgendetwas Nichtssagendes. Dann informierte er seinen Vater, dass er und seine Brüder sich in Kürze im Haus der Familie treffen würden. »Ich bringe auch diese beiden braven Kerle aus Ulster mit«, kündigte er an. »Sie sind aus Belfast angereist, um uns in Augenschein zu nehmen. Ich hoffe, wir haben sie gebührend beeindruckt.«

Die beiden Männer schienen im gleichen Alter wie Doyles Sohn zu sein und wirkten ruhig und umgänglich.

»Wir waren beeindruckt«, sagte der Größere mit einem Lächeln.

»Sehr beeindruckt«, wiederholte der zweite mit dem gleichen, nördlichen Akzent. »Gut exerziert.«

»Und was hielten Sie von dem Banner?«, mischte sich Georgiana in die Konversation ein. »Freier Handel oder Revolution? Haben Sie etwa vor, wie die Amerikaner gegen die Engländer zu kämpfen?«

Die beiden Männer aus Ulster sahen sich an.

»Unsere Vorfahren haben sich dem Covenant verschworen«, erwiderte der Größere. »Wenn Prinzipien in Gefahr sind, dann ist es manchmal notwendig, zu den Waffen zu greifen.«

»Aber nicht, wenn es sich vermeiden lässt«, warf der andere ein.

»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt.« Der große Mann lächelte Georgiana offen an. Seine blauen Augen blickten freundlich. Hatte sie diesen Mann schon mal irgendwo gesehen?

»Darf ich Ihre Namen erfahren?«, fragte Doyle.

»Ich bin Andrew Law«, erwiderte der Größere. »Und das ist mein Bruder Alex.«

»Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen. Dies ist Lady Mountwalsh.«

Mit den beiden Männern ging eine außergewöhnliche Verwandlung vor. Sie sahen sich an und verstummten völlig. Es war, als wären sie zu Eis erstarrt.

Georgiana starrte sie an. Deshalb war der Größere ihr so bekannt vorgekommen. Als sie den beiden forschend ins Gesicht blickte, sah sie noch andere Ähnlichkeiten – nicht auffällig, aber doch deutlich – mit ihrem eigenen, lieben Vater.

»Sie sind die Söhne von Daniel Law?«

Andrew Law senkte den Kopf kaum wahrnehmbar, aber das blieb seine einzige Antwort.

Sie verstand ihre Haltung natürlich. Aber aus irgendeinem Grund – sie wusste selbst nicht genau, warum – hatte sie das dringende Bedürfnis, mit ihnen zu sprechen, sie besser kennen zu lernen.

»Ich bedauere, dass unsere Familien sich nicht näher stehen«, sagte sie leise. Sie legte so viel Freundlichkeit als möglich in ihre Stimme und hoffte, dass sie auch würdevoll klang. Aber ihr Friedensangebot wurde nicht angenommen. Die beiden Männer standen stumm vor ihr, als beteten sie zu Gott, er möge sie von ihrer Gegenwart erlösen. Die beiden Doyles beobachteten sie erstaunt. Andrew und Alex Law starrten ausdruckslos vor sich hin. Es lag kein Hass in ihrem Blick, dafür waren sie zu gute Menschen. Aber Georgiana begriff, dass diese beiden sie genau wie zwei Älteste der Presbyterianischen Kirche als Unberührbare betrachteten, als Ehebrecherin, ja als gefallene Frau. So war sie noch nie behandelt worden, und sie empfand es als seltsam verstörend.

»Nun«, sagte der junge Doyle, »ich glaube, wir müssen uns auf den Weg machen.« Die beiden Laws verbeugten sich höflich vor seinem Vater und drehten sich um.

Doyle erwähnte den Vorfall auf dem Heimweg zum Merrion Square nicht, und so hing Georgiana alleine ihren Gedanken nach. Sie fühlte sich seltsam entwurzelt, als sei gerade ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt worden. Und als sie die große, leere Fläche des Merrion Square erreichte, die sie doch eigentlich so liebte, war ihr das Herz entsetzlich schwer. Lag es an der Parade oder an der Ablehnung ihrer Cousins, dass sie plötzlich von einem Gefühl der Verzweiflung und des Verlustes überwältigt wurde? Sie wusste es selbst nicht. In den folgenden Wochen heftete sich diese Niedergeschlagenheit an sie wie eine tückische Schlingpflanze, die einen hilflosen Schwimmer einwickelt und auf den Grund zieht.

 

Einen Monat nach der Parade entschieden Lord North und seine Regierung, dass es klüger wäre, den Iren zu geben, was sie wollten, und alle Handelsbeschränkungen für Irland aufzuheben. Grattan und die Patrioten triumphierten. »Das wird sie und die Volunteers erst mal ruhig stellen«, sagte George zu seiner Frau. Auch die Sanktionen gegen die Presbyterianer wurden in jenem Frühling eingestellt, und sie hoffte, dass sich die Laws aus Ulster darüber freuen würden. Die ersten Monate des Jahres 1780 verliefen ohne Zwischenfall. Das Wetter wurde allmählich schöner, und eigentlich hätte Georgiana sich besser fühlen müssen. Was aber nicht der Fall war. Mitte April schlug George ihr vor:

»Warum fährst du nicht für eine Weile nach Wexford? Vielleicht tut dir ja die Luftveränderung gut.«

***

Es war wirklich schade, dachte sie, dass sie bis jetzt das riesige, palladianische Herrenhaus nur so selten genutzt hatten. Nur einen oder zwei Monate lang jeden Sommer. Das bescheidenere Familienhaus in Fingal benutzten sie viel öfter. Es war ganz typisch für ihren freundlichen Mann, der alles getan hatte, um den Status der Familie in der Gesellschaft anzuheben, dass er lieber weiter als der gütige Landedelmann lebte, der er im Grunde genommen war, statt in Wexford wie ein großer Lord Hof zu halten und prächtige Empfänge zu geben. Und sie war mit dieser Art zu leben vollkommen glücklich.

Einige der neu errichteten irischen Herrenhäuser lagen in riesigen, sorgfältig gestalteten Parks, die denen ihrer englischen Vorbilder in nichts nachstanden. Mount Walsh fehlte diese ländliche Großartigkeit. Das Haus war zwar groß und eindrucksvoll, aber vor ihm lag nur eine weite, offene Rasenfläche. Begrenzt war sie durch einen versenkten Zaun, der das vorwitzige Rotwild abhielt. Aber jenseits des Zauns erstreckten sich nach allen Seiten Wälder und Dickichte, die nur schlichten, geraden Linien folgten. Die Landschaft von Wexford war jedoch sehr reizvoll. Ihre weiten Felder und sanften Hügel waren auch den englischen Freisassen, die sich vor langer Zeit hier angesiedelt hatten, gleich heimatlich vertraut gewesen.

Dann hielt der Sommer seinen Einzug. Und als Georgiana jeden Morgen in der Dämmerung vom jubelnden Gesang der Vögel geweckt wurde, als sie über die Felder spazierte, den Kühen beim Grasen zusah oder in der Molkerei die Milchmädchen beim Buttermachen beobachtete, fühlte sie sich zwar noch nicht wieder glücklich, aber wenigstens von tiefem Frieden erfüllt.

Sie dankte Gott für ihren Ehemann. Er konnte nicht die ganze Zeit in Wexford bleiben, aber er verbrachte viele Wochen dort mit ihr. George verhielt sich sehr rücksichtsvoll. Wenn sie sich traurig und gereizt fühlte, dann wusste er instinktiv, wann er sie alleine lassen musste. Aber in seiner stillen Art war er immer für sie da und gab ihr Halt.

Aber wenn er sich in der Stadt aufhielt, fühlte sie sich einsam. Einige Dienstboten im Haus hatten schon in Dublin für sie gearbeitet, aber für die Gutsverwalter und ihre Pächter waren sie und George noch Neuankömmlinge, und obendrein noch seltene Gäste.

Georgiana gegenüber verhielten sich alle freundlich und höflich – und wachsam, denn sie wussten sehr genau, wessen Geld den Gutshof finanzierte –, aber nur mit wenigen stand sie auf nur annähernd freundschaftlichem Fuß. Also freute sie sich, als sie entdeckte, dass es im Haus jemanden gab, der noch viel einsamer zu sein schien als sie.

Ihr Name war Brigid. Sie war erst sechzehn, ein dünnes, blasses dunkelhaariges Geschöpf. Wie viele Landmädchen war sie auf einen Bauernhof in der Nähe ihres Elternhauses geschickt worden, um dort als Dienstbotin zu arbeiten. Der Bauernhof war dreißig Meilen von ihrer Heimatgegend entfernt gewesen. Dies war eine gute Möglichkeit für Mädchen aus großen Familien, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und dabei lernten sie noch, einen Haushalt zu führen, bis sie – mit Gottes Hilfe – einen Ehemann fanden. Aber der Bauer hatte sie schlecht behandelt, und sie war erst ein Jahr dort gewesen, als der Gemeindepriester von einer freien Stelle in Wexford hörte. Er hatte mit ihren Eltern gesprochen und arrangiert, dass das Mädchen mit ihrer Mutter die Haushälterin von Mount Walsh aufsuchte. Die stellte sie unter Vorbehalt ein, bis Lady Mountwalsh ihre Zustimmung dazu gab. Es galt als einmalige Gelegenheit, in einem solch feinen Haushalt zu arbeiten, und nachdem die Mutter sich vergewissert hatte, dass ihre Tochter dort gut behandelt würde, ließ sie das Mädchen dort.

Dennoch war Brigid unglücklich, weil sie ihre Familie nun nur noch zweimal im Jahr sah. Sie verrichtete zwar ihre Arbeit tadellos, sprach aber kaum ein Wort. »Sie ist so bleich wie ein Geist und spindeldürr«, sagte die Haushälterin zu Georgiana, »und ich bringe sie nicht dazu, beim Essen mehr als ein paar Löffel voll zu schlucken.«

Also nahm Georgiana das Mädchen unter ihre Fittiche. Sie vertraute ihr gelegentlich die Aufgaben einer Kammerzofe an, brachte ihr bei, ihr das Haar zu kämmen und sie zu frisieren und versuchte, sie dabei zum Sprechen zu bringen. Sie erfuhr, dass Brigids Vater Handwerker war, und dass sie lesen und schreiben konnte. Georgianas Freundlichkeit schien das Mädchen ein wenig aufzuheitern, und sie nahm sogar ein paar Gramm zu. Und Georgianas Sorge um das Wohlergehen des Mädchens hatte noch einen weiteren, unerwarteten Effekt. Dieses kleine Projekt beanspruchte ihre Aufmerksamkeit, und allmählich fühlte Georgiana selbst sich auch weniger einsam und ein bisschen fröhlicher. Anfang Juli ging es ihr schon viel besser. Und nun kamen Hercules und Kitty mit dem kleinen William nach Wexford. Sie freute sich über ihre Gesellschaft, auch wenn Hercules das Anwesen manchmal so ansah, als freue er sich schon auf die Zeiten, in denen das alles ihm gehören würde. Er betonte immer wieder, dass das Herrenhaus für Gesellschaften mit politischen Freunden wie gemacht sei und er es viel besser nutzen würde als seine Eltern das taten. Aber sie wusste, dass er es nicht böse meinte. So war er eben einfach. Und als er sie warnte, dass einige Gentlemen und Bauern aus der Gegend verdammte Patrioten seien und er Beweise dafür habe, ließ sie sich davon nicht verunsichern.

Die meiste Zeit war er ein angenehmer Gast. Und Kitty blühte richtiggehend auf. Sie war zwar keine Konversationskünstlerin, aber auf dem Land war sie in ihrem Element. Sie wusste genau, wie alles zu ordnen war, und bald behandelten sie alle Angestellten vom Hofknecht bis zum Küchenmädchen freundlich und respektvoll. Wahrscheinlich, dachte Georgiana ohne jede Missgunst, wird sie das Haus viel besser führen als ich. Und wenn sie Kitty Arm in Arm mit Hercules spazieren gehen sah und ihr Glück spürte, dann musste sie zugeben, dass ihr Sohn sich vielleicht doch die richtige Frau ausgesucht hatte.

Aber ihre größte Freude war der kleine William.

Er war ein zauberhafter kleiner Bub, und da sie seine Großmutter war, schien niemanden zu stören, wie viel Zeit sie mit ihm verbrachte. Manchmal rief sie Brigid, um ihr dabei zu helfen, und das Mädchen bewies eine sehr gute Hand im Umgang mit ihm.

Er war ein so fröhlicher Bursche. Und er sah immer noch aus wie Patrick. Aber das behielt sie für sich. Einmal sagte die Köchin, die vor vielen Jahren für Fortunatus gearbeitet hatte, ganz unschuldig zu Hercules: »Sieht der Kleine nicht genauso aus wie Master Patrick in seinem Alter?«

»Überhaupt nicht«, sagte Hercules kühl.

»Ah, wahrscheinlich waren Sie noch zu jung, um sich daran zu erinnern«, sagte sie freundlich.

»Er sieht ihm überhaupt nicht ähnlich«, donnerte Hercules und bedachte die Köchin mit einem so drohenden Blick, dass sie das Thema nie wieder ansprach. Ein Glück, dass Hercules noch nicht der Hausherr ist, dachte Georgiana bei sich. Sonst hätte die arme Frau wahrscheinlich sofort ihre Koffer packen müssen.

Georgiana fühlte sich fast so, als sei der Junge ihr eigenes Kind. Die Gegenwart des Kleinen und die Aussicht auf all die glücklichen Jahre, in denen sie ihn heranwachsen sehen würde, ließen sie endlich wieder zu ihrer Heiterkeit zurückfinden. Am Ende des Sommers sagte George lächelnd zu ihr: »Du bist beinahe wieder ganz die Alte.«

Im Herbst kehrte sie für die Sitzungsperiode des Parlaments mit ihm nach Dublin zurück. In den folgenden Monaten blieb alles recht undramatisch. In Irland traf die Nachricht ein, dass die Rotröcke sich gegen die amerikanischen Rebellen im Süden gut behaupteten, und dass der neu eingetroffene General Cornwallis eine südliche Armee unter Gates Kommando vernichtend geschlagen hatte. »Die Sklaven strömen herbei, um sich uns anzuschließen, weil wir ihnen die Freiheit versprochen haben«, berichtete George. Grattan und seine Patrioten ließen sich durch diese militärischen Erfolge jedoch nicht entmutigen. Nach den Zugeständnissen, die er während der letzten Sitzungsperiode errungen hatte, drängte er nun auf die Unabhängigkeit des Parlaments. Er erhielt allerdings nur mäßige Unterstützung. Bald erfuhr ganz Dublin, dass der junge Richard Sheridan ins Londoner Parlament gewählt worden war. An Weihnachten erhielten die Walshs einen Brief von ihm, in dem stand, dass er sich bereits jetzt den Anführern der Whigs angeschlossen hatte, die die Opposition bildeten. »Sie sind entschlossen, etwas für die irischen Patrioten zu tun«, schrieb er. »Wenn wir jemals Lord North loswerden können, der wahrscheinlich bis zum St. Nimmerleinstag hier sitzen will.«

Am Ende des Frühlings gebar Kitty Hercules einen zweiten Sohn, den sie Augustus nannten. Georgiana freute sich darüber, dass das Baby vermutlich in Wexford gezeugt worden war.

Und im Mai brach auch sie mit großer Freude wieder nach Mount Walsh auf.

***

Es war Georges Idee gewesen, Patrick mitzunehmen. Er selbst musste sich um seine Geschäfte kümmern und würde erst in einigen Wochen nachkommen. Hercules und Kitty hatten entschieden, dass sie mit dem neugeborenen Baby den Sommer lieber in Fingal verbringen wollten, das näher an Dublin lag. Aber Patrick, der mehrere Monate ohne Ruhepause gearbeitet hatte, war ganz begeistert davon, einige Zeit mit Georgiana in Wexford zu verbringen.

Er war wirklich ein angenehmer Reisegefährte. Instinktiv schien er zu wissen, wann er eine unterhaltsame Geschichte erzählen und wann er schweigen sollte. Manchmal ritt er neben ihrer Kutsche her, und gelegentlich nahm er auch neben ihr Platz. Sie reisten ohne Zwischenfälle in den Süden. Nachmittags passierten sie Wicklow, die Nacht verbrachten sie in Arklow. Am nächsten Morgen brachen sie früh auf und erreichten Mount Walsh bequem vor Einbruch der Dämmerung. Als sie das große Haus erreicht hatten, ging Patrick sofort in die Küche und begrüßte die Köchin und die anderen Dienstboten, die er noch aus seiner Kindheit kannte. Am nächsten Morgen führte sie ihn auf dem Anwesen herum, und er sprach so nett und freundlich mit allen, die sie trafen – abwechselnd auf Englisch oder auf Irisch –, dass ihn nach diesem Tag offensichtlich alle ins Herz geschlossen hatten. Er stattete auch dem örtlichen Priester Father Finnian einen Besuch ab und ließ ihn wissen, dass er während seines Aufenthalts bei ihm zur Messe erscheinen würde, ohne seine protestantischen Cousins im Herrenhaus in Verlegenheit zu bringen. Und zwei Tage später erfuhr er zu seiner Freude, dass Mr Kelly, ein katholischer Gentleman aus der Gegend, dessen kleines Anwesen nur drei Meilen entfernt war, ein alter Bekannter war, den er vor einigen Jahren in Dublin kennen gelernt hatte.

Er machte auch noch eine andere Entdeckung. Besagter Gentleman hatte eine unverheiratete Schwester, die ein paar Jahre jünger war als Patrick. Ein paar Tage nach seiner Ankunft sprachen die beiden auf Mount Walsh vor. Jane Kelly war charmant, intelligent und sehr hübsch.

»Irgendwann«, sagte Georgiana, als die Gäste sich verabschiedet hatten, »solltest du vielleicht darüber nachdenken, zu heiraten.«

Mit dem bescheidenen Nachlass von Fortunatus und dem Gewinn, den er allmählich im Weinhandel erzielte, war Patrick Walsh wohlhabend genug, um sich eine Ehefrau zu suchen. Und solange George und ich noch am Leben sind, dachte sie, wird er Familienbeziehungen haben, die ihm weiterhelfen.

»Sie unverbesserliche Ehestifterin«, neckte er sie mit einem liebevollen Grinsen.

Aber zwei Tage später brach er am Vormittag zu seinem Freund auf und kehrte erst nach dem Abendessen zurück.

Sie fielen bald in eine sehr angenehme Routine. Einmal wöchentlich schickte Patricks Buchhalter einen Boten mit Nachrichten aus dem Dubliner Geschäft nach Wexford. Ein oder zwei Stunden lang war er dann damit beschäftigt, eine Antwort zu verfassen, aber die restliche Zeit stand ihm völlig frei zur Verfügung.

Manchmal besuchten sie ihre Nachbarn aus der Gegend und luden auch einige ins Herrenhaus ein. Georgiana entging nicht, dass Patrick mindestens einmal in der Woche die Kellys besuchte. An ruhigen Tagen gingen er und Georgiana spazieren, aßen gemeinsam und lasen sich nachmittags gegenseitig vor. Patrick begann auch, die Bibliothek zu sichten. George hatte ihn gebeten, während seines Aufenthalts auf Mount Walsh die Bücher zu katalogisieren und eine Liste derjenigen Werke zu erstellen, die seiner Meinung nach fehlten. »Es gibt ein paar ausgezeichnete Bücher, die aus Onkel Fortunatus’ Nachlass stammen«, berichtete er Georgiana. »Und Sie besitzen eine bemerkenswerte Sammlung an wunderschön gebundenem Schund.« Georgiana informierte ihn, dass ein Buchhändler ihnen die meisten Bücher geschickt hatte. »Der verdammt genau wusste, dass sie sowieso niemand aufschlagen würde«, lachte er. »Ich bin schon dabei, eine Liste zu erstellen.« Er brauche allerdings unbedingt jemanden, der die Liste ins Reine schrieb, gestand er ihr. »Meine Handschrift ist so unleserlich, dass es mir peinlich ist. Ich werde Father Finnian fragen, ob er jemand Geeignetes kennt«, schlug er vor.

Er war überrascht, als Georgiana am nächsten Tag mit dem Mädchen Brigid in die Bibliothek kam. Sie schlug ihm vor, es erst einmal mit ihr zu versuchen. Erstaunt merkte er, dass Brigid nicht nur eine wunderschöne Handschrift hatte, sondern auch problemlos Titel in französischer und lateinischer Sprache verstand. »Sie kann sogar mein Gekritzel entziffern«, lachte er. »Und das ist wirklich eine reife Leistung. Dein Vater hat dich sicher in eine Hedge School geschickt, oder?«, fragte er das Mädchen. Brigid nickte. Folglich bekam Brigid die Anordnung, jeden Tag ein oder zwei Stunden am großen Tisch in der Bibliothek Platz zu nehmen und die Notizen zu überarbeiten, die Patrick ihr gab.

Georgiana hatte bei ihrer Ankunft erfreut festgestellt, dass ihr blasser junger Schützling ein wenig mehr Fleisch auf den Rippen hatte. Sie gratulierte sich zu ihrer neuesten Idee, mit der sie das Selbstvertrauen des Mädchens steigern würde.

Mitte Juni traf George ein. Er war beeindruckt von Patricks Fortschritten in der Bibliothek und dankte ihm herzlich. Er bat ihn auch, noch länger bei ihnen zu bleiben, aber Patrick lehnte bedauernd ab. Er müsse am folgenden Tag nach Dublin zurückkehren und sich um seine Geschäfte kümmern, erklärte er. An seinem letzten Nachmittag stattete er den Kellys einen Besuch ab.

Aber später aßen er, Georgiana und George gemeinsam zu Abend. Es war ein wunderbares Familienmahl, das die drei nicht im großen Esssaal, sondern in einem kleinen Salon einnahmen. Die Unterhaltung drehte sich zuerst um allgemeine Neuigkeiten, wendete sich aber bald der Politik zu. George hatte einiges zu berichten.

»Grattan und seine Patrioten sind fest entschlossen, ihre Forderungen in der nächsten Sitzungsperiode durchzusetzen. Ich habe im letzten Monat mit einigen Abgeordneten geredet. Das unabhängige irische Parlament, das sie wollen, stünde immer noch unter der Hoheit des Königs. Sie wollen sich nicht völlig lossagen wie die Amerikaner, sondern nur die Macht des englischen Parlaments über Irland ein für allemal brechen.«

»Aber das schaffen sie nicht«, sagte Georgiana.

»Nein. Im Dubliner Parlament bekommen sie diesen Antrag nicht durch. Ihnen fehlen die nötigen Stimmen. Und Lord North wird ihnen niemals eine Zusage geben. Falls unser junger Freund Sheridan und die Whigs jemals an die Macht gelangen, wollen sie sich für uns einsetzen. Aber im Moment sieht es wirklich nicht danach aus.«

»Und die Volunteers?«, fragte Patrick.

»Sie zögern. Ihren Freihandel haben sie ja bekommen. Aber vor einer Revolution schrecken die meisten doch zurück.« Er schwieg einen Augenblick. »In Ulster herrscht allerdings eine bedrohlichere Stimmung. Die Presbyterianer dort haben für England nichts übrig, denn im Herzen sind die meisten schottische Bündnistreue. Sie würden dem Beispiel Amerikas augenblicklich folgen, wenn sie könnten.«

Georgiana dachte an ihre Cousins, die Laws.

»Für sie ist alles eine Frage des Prinzips«, warf sie ein.

»Wahrscheinlich ja«, stimmte George zu. »Aber wir können sie unter Kontrolle halten.«

Beim Nachtisch kamen sie auf ein angenehmeres Thema zu sprechen.

»Patrick, ich möchte dich um eine Gefälligkeit bitten«, begann George Mountwalsh, »die hoffentlich dafür sorgen wird, dass du dich in Zukunft viel öfter hier unten aufhältst. Deine Empfehlungen für die Bibliothek sind so ausgezeichnet, dass ich mich gefragt habe, ob du vielleicht bereit wärst, die Bücher für uns zu erwerben, die du für angebracht hältst. Und diese Bücher dann in die Bibliothek einzuordnen. In anderen Worten: Möchtest du die Verantwortung für die Bibliothek übernehmen und ein wahres Schmuckstück daraus machen?«

»Würdest du das für uns tun, Patrick?«, bat auch Georgiana.

Patrick schürzte die Lippen. Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass schlussendlich Hercules die Früchte seiner Arbeit genießen würde, und diese Vorstellung gefiel ihm gar nicht. George schien seine Gedanken zu lesen.

»Wenn ich es selbst übernehme, dann wird das Ergebnis nur mittelmäßig ausfallen. Hercules wird sich überhaupt nicht darum kümmern, da er kaum liest. Aber ich würde dem kleinen William und den Generationen nach ihm gerne etwas Besonderes hinterlassen. Es würde mir – und ganz bestimmt auch Fortunatus – große Freude bereiten, wenn in hundert Jahren unsere Nachkommen ihren Besuchern eine edle Bibliothek zeigen könnten. Mit den Worten: ›Das haben wir unserem Cousin Patrick zu verdanken.‹«

Wie hätte er ihre Bitte jetzt noch ablehnen können?

***

Ende des Sommers kam Patrick wieder, als George auch gerade in Wexford weilte. Die drei verbrachten zwei sehr schöne Wochen miteinander. Patrick hatte eine Liste der Bücher mitgebracht, die er bereits erworben hatte. Außerdem vier große ledergebundene Folianten, in denen er die Bibliothek katalogisieren wollte. Er verbrachte einen ganzen Tag mit Brigid in der Bibliothek, richtete den Katalog ein, zeigte ihr genau, wie sie die Einträge schreiben musste und hakte jeden Eintrag, den sie geschrieben hatte, auf seiner Liste ab. Danach verkündete er, wie zufrieden er mit ihrer Arbeit sei und unterhielt sich sogar noch eine halbe Stunde mit ihr. Später sagte er zu Georgiana: »Da haben Sie wirklich einen Schatz in Ihrer Obhut.«

Es wäre übertrieben gewesen zu behaupten, dass Brigid über den Sommer üppiger geworden wäre, denn sie war immer noch dünn und blass. Aber Georgiana fand, dass sie viel besser aussah als früher, und dieses wohlverdiente Lob von Patrick würde dem Mädchen sicher noch mehr Selbstvertrauen schenken.

Als sie ein paar Tage später in die Küche kam, fand sie dort Patrick vor, der seine alte Freundin, die Köchin, besuchte und ihr und den Dienstboten eine lustige Anekdote erzählte. Niemand hatte sie an der Tür bemerkt, und so sah sie ihm schweigend zu und freute sich daran, wie sehr ihre Gesichter vor Zuneigung zu dem jungen Mann leuchteten. Am Schluss der Geschichte lachten alle schallend, und sogar Brigid stimmte lächelnd mit ein. Georgiana wurde bewusst, dass sie das ernste Mädchen zum ersten Mal lachen sah. Sie zog sich leise zurück und gratulierte sich selbst dazu, dass ihre Anstrengungen und die Gegenwart Patricks aus Mount Walsh einen glücklicheren Ort gemacht hatten.

Aber was war denn nun mit dem Kelly-Mädchen? Patrick hatte die Kellys am Tag nach seiner Ankunft besucht. Ein paar Tage später sprach er erneut bei ihnen vor. Georgiana lud Kelly und seine Schwester ein, in der folgenden Woche einen Tag bei ihnen zu verbringen. George erfüllte seine Rolle als loyaler Verwandter und schien sich ausgezeichnet mit Kelly zu verstehen, während sie vor dem Mädchen unauffällig Loblieder auf Patrick sang. Aber als sie Patrick abends, nachdem die Besucher sich verabschiedet hatten, allein erwischte und ihn fragte, was er denn nun wirklich von dem Mädchen hielt, gab er ihr nur eine sehr unbefriedigende Antwort: »Ich mag sie sehr gerne.«

»Und wie gerne, wenn ich fragen darf?«

»Schwer zu sagen, um ehrlich zu sein. Wir stimmen in vielen Dingen überein.«

»Und sie ist katholisch.«

»Ja. Ihr Verstand, ihre Umgangsformen, ja ihr ganzer Charakter sind alles, was sich ein Mann nur wünschen könnte. Meine Gefühle für sie sind …«

»Zärtlich?«

»Oh ja. Zärtlich.« Aber der Gedanke schien ihm nicht zu gefallen.

»Du bist aber nicht verliebt in sie.«

»Ich weiß nicht.« Er schwieg. »Nein, ich glaube nicht.«

»Gemeinsame Interessen, Respekt und Zärtlichkeit sind die besten Voraussetzungen für eine Ehe, Patrick. Das weiß ich genau. Oft entwickelt sich daraus Liebe.«

»Ja. Das stimmt natürlich.«

»Empfindet sie denn auch etwas für dich?«

»Ich glaube schon. Sie hat angedeutet …« Er zögerte. »Ich muss gestehen, meine Gefühle verwirren mich. Ich weiß einfach nicht …«

»Gibt es eine andere?«

»Eine andere? Oh. Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Eigentlich nicht.«

Georgiana seufzte. Das Mädchen tat ihr leid, aber sie sagte nichts mehr dazu.

Ein paar Tage später brachen sie alle gemeinsam nach Dublin auf. Sie saß mit George in der großen Kutsche, der ein Wagen mit zwei Dienern und einigen Reisetaschen folgte. Patrick ritt bis Wicklow neben der Kutsche her. Dort verabschiedete er sich von ihnen, da er in die Berge reiten wollte, um die Klosterruine von Glendalough zu besichtigen. »Ich habe schon so viel von der Schönheit dieses Ortes gehört«, sagte er zu Georgiana. »Aber zu meiner Schande war ich selbst noch nie dort.« Er versprach, sie in der folgenden Woche am Merrion Square zu besuchen.

Als sie sich Dublin näherten, wandte sich Georgiana ihrem Ehemann zu.

»Ich habe nachgedacht. Wenn Patrick sich nicht für das Kelly-Mädchen entscheiden kann, dann gibt es vielleicht noch eine bessere Alternative.« Und sie erklärte ihm, an wen sie dachte.

»Ach du lieber Gott«, sagte George.

***

Da das Mädchen nicht in der Stadt war, vergingen einige Wochen, bis sie ein Treffen arrangieren konnte. Die Sitzungsperiode des Parlaments hatte begonnen. Die Patrioten und ihre Freunde forderten parlamentarische Unabhängigkeit, erreichten aber nichts damit. Das Fest, das Georgiana am Merrion Square ausrichtete, diente also weniger der Politik als dem Vergnügen. Die ganze elegante Gesellschaft war eingeladen, sogar die Leinsters. Eliza kam mit ihrem Ehemann, aber Hercules hatte erfahren, dass Patrick erwartet wurde, und zog es vor, den Geselligkeiten fernzubleiben. Eliza brachte die junge Dame mit, um die es ging.

Ein tragischer Unfall hatte dafür gesorgt, dass Louisa Fitzgerald wieder zu haben war. Ein Jahr, nachdem Hercules sie wegen ihres scharfen Verstandes als Ehefrau abgelehnt hatte, heiratete sie einen Grundbesitzer aus der Gegend, der ihr eine Tochter schenkte. Dann starb ihr Ehemann bei einem Jagdunfall, und lange Zeit war sie untröstlich darüber. Aber nun hatte sie sich so weit erholt, dass sie sich wieder in der Öffentlichkeit zeigte. Sie verfügte über den Grundbesitz ihres Mannes, bezog eine Witwenrente und hatte immer noch das Erbe ihrer Tante zu erwarten, was sie zu einer der besten Partien Dublins machte.

»Du verfolgst wirklich ehrgeizige Ziele«, warnte George sie. Und das war noch untertrieben. Hercules, den reichen Erben von Lord Mountwalsh, mit Louisa zu verheiraten, wäre durchaus denkbar gewesen. Sein armer Cousin war zwar ein anständiger Kerl, aber eine Heirat mit einer Fitzgerald? Die Dubliner Gesellschaft würde aus allen Wolken fallen. Georgiana liebte Patrick zwar sehr, aber diese Herausforderung machte das Vorhaben für sie erst richtig reizvoll. Und Louisa war eine junge Witwe, die ihren eigenen Kopf hatte. Wer konnte schon sagen, wie sie sich entscheiden würde? »Und außerdem ist er Katholik«, fügte George hinzu. »Und sie ist Protestantin.«

Das war natürlich eine weitere Hürde. Die aber nicht unüberwindlich war. Georgiana zählte einige Aristokraten zu ihren Freunden, die eine gemischte Ehe führten. Solange sie sich über die Kinder einig werden konnten – die meist protestantisch erzogen wurden –, ließ sich alles andere arrangieren.

Das Fest war ein voller Erfolg. Louisa lernte Patrick kennen, und Patrick war einfach bezaubernd zu ihr. Ein paar Tage später erhielt er eine Einladung zu einem Empfang im Leinster House. Es war zwar möglich, dass dem Herzog und der Herzogin seine Bekanntschaft so gefallen hatte, dass sie ihn auf die Gästeliste setzten, aber Georgiana vermutete, dass wahrscheinlich Louisa dahintersteckte.

Wie Patrick ihr später erzählte, hatte er sie dort gesehen. Sie war auf ihn zugegangen und hatte ihn eingeladen, sie zu besuchen. »Ich hoffe, du nimmst ihre Einladung an«, sagte Georgiana. »Magst du sie?«

»Ja«, antwortete er, diesmal ohne zu zögern. »Ich mag sie sehr gern.«

Noch ermutigender war die Nachricht, die Eliza ihr ein paar Tage später überbrachte: »Louisa hat großen Gefallen an Patrick gefunden.«

»Und seine finanziellen Umstände?«

»Würden ihr nichts ausmachen.«

»Seine Religion?«

»Ist an sich auch kein Hindernis. Aber ich glaube, dass sie ihre Kinder nicht den Nachteilen aussetzen will, die alle Katholiken ertragen müssen, egal von welchem Rang sie sind.«

»Nun«, sagte Georgiana, »dann müssen wir nur noch Patricks Entscheidung abwarten.«

In den folgenden zwei Wochen besuchte Patrick auch prompt Louisa, und zwar sogar zweimal. Dann verkündete er, dass er nach Wexford gehen wolle.

Er brach mit einem Wagen voller Bücher nach Mount Walsh auf, die er bereits für die Bibliothek gekauft hatte. »Er erledigt seine Aufgabe wirklich sehr gründlich«, sagte George anerkennend. Patrick blieb eine Woche auf dem Anwesen, und da seine Arbeit in der Bibliothek kaum seine ganze Zeit in Anspruch nehmen konnte, nahm Georgiana an, dass er wahrscheinlich viele Stunden mit Jane Kelly verbrachte. Hatten seine Begegnungen mit Louisa ihn dazu gebracht, sich seine Gefühle für das katholische Mädchen aus Wexford einzugestehen? Versuchte er, sich für eine der beiden zu entscheiden? Sie hörte, er sei wieder in Dublin, aber er besuchte sie eine Zeit lang nicht. Und sie wäre vor Neugier fast aus der Haut gefahren, wenn nicht ein Ereignis eingetreten wäre, neben dem alles andere verblasste.

»Wir haben Amerika verloren. Cornwallis hat sich ergeben.« Doyle überbrachte ihr die Nachricht. George kam mit Hercules eine Stunde später aus dem Parlament nach Hause.

Welche Auswirkungen würde diese Niederlage haben? Den ganzen Winter über gab es in ganz Dublin kein anderes Gesprächsthema. Bedeutete Cornwallis’ Kapitulation bei Yorktown, dass der Krieg vorbei war? Würde die Regierung neue Truppen ausheben oder war die Kolonie endgültig verloren? Sobald George die Nachricht erfahren hatte, stand seine Meinung fest: »Sie haben nicht mehr den Willen, weiterzumachen. Amerika ist verloren.« Besonders Hercules war sehr niedergeschlagen. »Wenn die amerikanischen Rebellen gewonnen haben, dann werden die irischen Rebellen ihrem Vorbild folgen«, prophezeite er düster. Und tatsächlich erreichte sie aus Ulster die Nachricht, dass die Volunteers Triumphmärsche veranstalteten und die Unabhängigkeit forderten.

Patrick kam erst im Januar wieder ins Haus am Merrion Square und kündigte an, dass er geschäftlich nach London reisen musste. »Ich will für Sie dort auch einige Buchhändler aufsuchen«, sagte er zu George. Georgiana fragte ihn, ob er Jane Kelly oder Louisa getroffen habe. Er bejahte das, war aber ansonsten sehr ausweichend. »Was auch immer er vorhat, er will es uns nicht sagen«, lachte ihr Ehemann. Sie fand das sehr ungerecht, da sie doch beide Heiratskandidatinnen mit so viel Mühe ausgesucht hatte. Ihre Tochter Eliza hatte von Louisa nur erfahren, dass Patrick offenbar hin und her gerissen war. Ihn quält bestimmt die Religionsfrage, dachte Georgiana.

Er blieb wochenlang weg. Ob er ihnen aus dem Weg gehen wollte? Blieb er deshalb so lange in London? Vielleicht. Inzwischen veranstalteten die Volunteers aus Ulster einen riesigen Aufmarsch in Dungannon. »Sie haben ein Manifest verfasst, in dem sie die Unabhängigkeit fordern. Sie werden nur Kandidaten ins Parlament wählen, die diese Forderung unterstützen«, sagte George. »Jetzt haben wir wieder einen Covenant.«

Ende März kam die entscheidende Nachricht aus London.

»Lord North und seine Regierung sind zurückgetreten. Das Parlament gibt Amerika auf, und König Georg droht, ebenfalls abzudanken.«

Bald danach erschien Hercules mit aschfahlem Gesicht bei seiner Mutter. »Der König wird bleiben, aber in London wird es einen Regierungs-Wechsel geben. Die verdammten Whigs sind an der Macht. Ihr verfluchter Freund Richard Sheridan ist jetzt Minister. Und wissen Sie, was er im Londoner Unterhaus verkündet hat? Die englische Kontrolle über das irische Parlament sei nichts anderes als ›anmaßende Tyrannei.‹« Er schüttelte resigniert den Kopf. »Die Welt ist verrückt geworden.«

Ob verrückt oder vernünftig, würde die Zeit zeigen, jedenfalls begriffen alle, dass eine große Veränderung in der Luft lag. In London waren die Whigs an der Macht und die Volunteers von Ulster schickten Gesandte mit ihrem Manifest nach ganz Irland. Dies war die einmalige Gelegenheit, auf die alle Patrioten so lange gewartet hatten. Henry Grattan legte dem Dubliner Parlament sofort einen Antrag vor, in dem er Unabhängigkeit für das irische Parlament forderte. Aber unter Anerkennung der Krone.

»Wir werden demselben König unterstehen wie die Engländer«, verkündeten die Patrioten. »Aber mit der Würde einer eigenständigen Nation.« Am Tag der großen Debatte sah sich Georgiana alles von der Galerie aus an. Grattan war an jenem Tag krank, hatte sich aber aus dem Bett gequält, um dabei zu sein. Nicht einmal seine Feinde konnten leugnen, wie schlicht und würdevoll er wirkte, als er über seine Krankheit triumphierte und eine seiner besten Reden hielt. Viele Abgeordnete, die üblicherweise mit Hercules stimmten, merkten, dass der Wind plötzlich aus einer anderen Richtung blies und stimmten jetzt für die Patrioten. Unter lautem Jubel wurde der Antrag angenommen, und das irische Parlament erklärte sich mit großer Mehrheit von England unabhängig. Und da die Whigs in London die Patrioten immer unterstützt hatten, würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als diese Unabhängigkeit anzuerkennen. Grattan hatte gesiegt. Irland hatte gesiegt. Aber gerechterweise musste man zugeben, dass Hercules nicht ganz Unrecht hatte, als er verkündete: »Das haben wir nur den verdammten Amerikanern zu verdanken.«

***

Patrick kehrte eine Woche nach der Debatte nach Dublin zurück, und diesmal besuchte er Georgiana unverzüglich.

»Du hast die ganze Aufregung versäumt«, sagte sie.

»Ich habe in London exzellente Geschäfte abgeschlossen«, informierte er sie. »Und ich habe veranlasst, dass die zahlreichen Bücher, die ich für Ihre Bibliothek erworben habe, nach Irland verschifft werden.«

»Und hast du eine Entscheidung getroffen? Ich meine, was die Frauen in deinem Leben angeht.«

»Ja«, erwiderte er ruhig. »Ich glaube schon.« Aber mehr sagte er nicht, und Georgiana zwang sich, nicht weiter in ihn zu dringen.

Zwei Tage später sprach er bei Louisa vor, aber was sich zwischen den beiden abspielte, konnte noch nicht einmal Eliza herausfinden. Anfang Mai brach Patrick mit zwei Wagenladungen voller Bücher in Richtung Mount Walsh auf. Das englische Parlament wollte erst Mitte des Monats über die irische Frage abstimmen, also blieben George und Georgiana in Dublin, bis wie erwartet die Nachricht eintraf, dass die Whigs die Forderungen der Patrioten erfüllt hatten. Dann brachen auch sie nach Wexford auf.

»Bis wir dort sind, hat Patrick bestimmt alle neuen Bücher katalogisiert und der Bibliothek einverleibt«, sagte George zufrieden. »Und vielleicht sagt er mir dann endlich, ob er sich für Louisa oder Jane Kelly entschieden hat«, fügte Georgiana hinzu. »Auf wen tippst du?«

»Ich glaube, Louisa und ihr Vermögen haben ihn schwer in Versuchung gebracht, aber sein Gewissen hat ihn zu dem katholischen Mädchen zurückgeführt«, sagte George.

Als sie jedoch Mount Walsh erreichten und nach Patrick fragten, wurde ihnen nur mitgeteilt, dass er am vorigen Tage abgereist war.

»Ich könnte schreien vor lauter Enttäuschung«, gestand Georgiana lachend, als sie im Schlafzimmer alleine waren.

Sie bemerkte, dass ihr Ehemann nachdenklich aussah.

»Irgendwas geht hier vor«, sagte er. »Ist dir nicht aufgefallen, wie seltsam alle Dienstboten uns angesehen haben?« Kurz danach ließ er sie allein und kehrte zehn Minuten später zurück. »Die Bücher stehen in der Bibliothek und sind wunderschön katalogisiert. Alles ist in bester Ordnung. Aber ich sage dir, hier geht irgendetwas vor.«

»Überlass das mir«, sagte sie mit einem Lächeln und ging schnurstracks zur Köchin hinunter.

Diese führte Georgiana in die Speisekammer, wo sie ungestört waren. Dort brach es aus der braven Köchin nur so heraus. »Oh Mylady«, begann sie. »So etwas Unerhörtes. Der Butler wartet nur darauf, dass seine Lordschaft herunterkommt, um ihm die Situation zu erklären.«

»Welche Situation?«

»Es ist Mr Patrick. Miss Kelly und er wirkten doch so respektabel zusammen … so durchzubrennen.«

»Er ist mit Miss Kelly durchgebrannt?«

»Oh Mylady, wenn es nur so wäre. Aber es ist das Mädchen. Er ist mit Brigid auf und davon und hat niemandem auch nur ein Wort davon gesagt. Ein solcher Gentleman und sie … was immer sie auch sein mag. Und sie war immer so still und dünn … oder vielleicht ist sie jetzt nicht mehr so dünn, Gott helfe ihr.«

»Er hat Brigid mitgenommen? Aber wohin denn?«

»Nach Dublin. Sie soll in seinem Haus leben. Hätte er sie lieber bis ans Ende der Welt gebracht, das wäre besser für sie gewesen. Aber sie sind auf jeden Fall nach Dublin gegangen.«

»Wussten Sie etwas davon?«

»Ich hatte keine Ahnung. Direkt vor unserer Nase, und wir haben nichts gemerkt. Und dabei waren die beiden stundenlang alleine in der Bibliothek.«

»Er hat sich schändlich verhalten«, schrie Georgiana. Und in ihrem Herzen dachte sie: und wie ein Narr gehandelt.

»Sie muss ihn verhext haben«, sagte die Köchin überzeugt. »Ich hätte es ahnen müssen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hätte gleich am ersten Tag wissen müssen, dass sie gerissen ist. Beim ersten Blick in ihr Gesicht.«

»Aus welchem Grund?«

»Aber Mylady, sind Ihnen denn nie ihre seltsamen grünen Augen aufgefallen?«

Die Augen des dunkelhaarigen Mädchens waren tatsächlich von tiefem Grün. Aber Georgiana hatte nie weiter darüber nachgedacht.