PLANTATION

* 1597 *

Doktor Simeon Pincher war auf Irland ausgezeichnet vorbereitet. Der große, hagere Mann, dessen strenge, schwarze Augen sein blasses Gesicht noch fahler erscheinen ließen, war erst Ende Zwanzig, wurde aber bereits kahl. Er war wie geschaffen dafür, von einer Kanzel zu predigen. Pinchers Bildung war umfassend: Er hatte am Emmanuel College in Oxford studiert, wo er nun auch erfolgreich lehrte. Als man ihm jedoch eine Position im neu gegründeten Trinity College in Dublin anbot, akzeptierte er sie umgehend. Und zwar mit einem Eifer, der seine neuen Gastgeber erstaunte.

»Ich werde sofort kommen, um Gottes Werk zu tun«, hatte er ihnen geschrieben. Und gegen diese Antwort ließ sich nun wirklich nichts einwenden.

Es war aber nicht allein rein missionarischer Eifer, der ihn nach Irland trieb. Schon vor seiner Abreise hatte Simeon Pincher sich ausführlich über die Einheimischen kundig gemacht. Er wusste beispielsweise, dass die »wilden Iren«, wie man die ursprünglichen Einwohner Irlands in England inzwischen nannte, primitiver als Tiere lebten, und dass man ihnen nicht trauen durfte. Denn sie waren Katholiken.

Der Gelehrte brachte allerdings noch eine andere Voraussetzung mit, die ihn für ein Leben in Irland hervorragend qualifizierte. Er glaubte fest daran, dass die Iren ein minderwertiges Volk waren, das Gott – neben anderen Völkern natürlich – seit Anbeginn der Zeit dazu verdammt hatte, im ewigen Höllenfeuer zu schmoren. Doktor Simeon Pincher war nämlich Calvinist.

Um zu begreifen, wie der Doktor die schwierige Lehre des großen protestantischen Reformators deutete, musste man sich nur eine seiner Predigten anhören. Bereits in jungen Jahren galt er als mitreißender Kanzelredner, der für seine drastischen Worte gerühmt wurde.

»Die Logik des Herrn«, verkündete er gern, »ist genau so vollkommen wie seine Liebe. Und weil Gott uns in seiner unendlichen Güte die Gabe der Vernunft geschenkt hat, dürfen wir seine Ziele erkennen.« Doktor Pincher lehnte sich an diesem Punkt meist leicht nach vorn, um sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu versichern, und erklärte dann:

»Bedenket dies: Es ist unbestreitbar, dass Gott, der Quell allen Wissens, in seiner unendlichen Weisheit von allem Kenntnis hat. Von der Vergangenheit, der Gegenwart und all dem, was kommen wird. Und daher ist gewiss, dass er ganz genau weiß, wer am Tage des Jüngsten Gerichts gerettet werden soll, und wer in die tiefsten Tiefen der Hölle gestoßen wird. Er hat alles von Anfang an vorbestimmt. Obwohl er uns in seiner Barmherzigkeit unser Schicksal nicht offenbart hat, sind einige für den Himmel auserwählt, und andere für die Hölle bestimmt. Diejenigen, die dazu bestimmt sind, errettet zu werden, nennen wir die Auserwählten. Alle anderen, die bereits von Anbeginn der Zeit an verdammt waren, werden untergehen.« Er fixierte seine Zuhörer mit grimmigem Blick und donnerte: »Und darum sollt ihr euch stets fragen: Was erwartet mich?«

Johannes Calvins Prädestinationslehre war in ihrer unerbittlichen Logik nur schwer zu widerlegen. Es stand außer Zweifel, dass Calvin ein tief religiöser und wohlmeinender Mann gewesen war. Seine Anhänger strebten danach, sich der Liebe zu weihen, die in den Evangelien gelehrt wurde, und ein ehrliches, arbeitsames und wohltätiges Leben zu leben. Aber für Calvins Kritiker barg seine Form der Religion auch Risiken, denn ihre praktische Ausübung verlangte unverhältnismäßige Strenge. Calvin war von Frankreich in die Schweiz ausgewandert und hatte 1541 seine Kirche in Genf eingerichtet. Die Kirchenordnung, nach der seine Gemeinde lebte, war strenger als die der Lutheraner, und Calvin forderte, dass der Staat ihre Einhaltung durch Gesetze erzwingen sollte. Die Gemeindemitglieder, die sich diesem strikten moralischen Regime unterworfen hatten – und jeden Nachbarn bei den Behörden denunzierten, falls er sein Leben nicht ganz nach Gottes Gesetz ausrichtete –, strebten nicht nur danach, einen Platz im Himmel zu erlangen. Sie wollten auch auf Erden sich selbst und der Welt beweisen, dass sie tatsächlich zu jenen prädestinierten Erwählten gehörten, die ohnehin bereits dazu bestimmt waren, das Paradies zu schauen.

Bald waren auch in anderen Teilen Europas calvinistische Gemeinden entstanden. Schon die schottischen Presbyterianer waren dafür berüchtigt, dass sie sich streng und einigermaßen freudlos an die Prädestinationslehre hielten, aber die anglikanische Kirche von England und ihre irische Schwesterkirche trugen mittlerweile auch calvinistische Züge. »Nur die von Gott Erwählten sind Teil der Kirche«, verkündeten ihre Prediger.

Aber war jedes Gemeindemitglied ein Auserwählter, der ins Paradies eingehen würde? Das ließe sich nicht mit Sicherheit sagen, räumten die Calvinisten ein. Jeder moralische Lapsus konnte als Anzeichen für die ewige Verdammnis gelten. Und selbst bei gottesfürchtigem, frommem Lebenswandel blieb immer noch eine große Unsicherheit. Doktor Pincher hatte dies in einer seiner besten Predigten treffend ausgedrückt:

»Niemand kennt sein Schicksal. Wir gleichen Männern, die auf dem Eis eines zugefrorenen Flusses wandeln. Wie Narren verschließen wir die Augen davor, dass das Eis jederzeit nachgeben und brechen kann. Dann stürzen wir in die eisigen Fluten – unter denen, noch tiefer verborgen, die brennenden Feuer der Hölle lodern. Seid also nicht stolz darauf, dass ihr den Gesetzen des Evangeliums folgt, sondern erinnert euch daran, dass wir alle elende Sünder sind. Seid demütig. Denn dies ist die göttliche Falle, und aus ihr gibt es kein Entrinnen. Alles ist vorherbestimmt. Gottes vollendeter Wille wird sich niemals ändern.« Woraufhin Doktor Pincher seine verzweifelte Gemeinde ansah und laut ausrief: »Aber ich bitte euch, verzagt nicht! Auch wenn ihr, falls Gott es so bestimmt hat, der ewigen Verdammnis anheim fallen werdet. Denn ihr dürft niemals vergessen, dass uns auch auf dem schwersten Wege die Hoffnung immer begleiten muss.«

Gab es eine solche Hoffnung vielleicht auch für jene, die nicht der calvinistischen Gemeinde angehörten? Das schien zweifelhaft. Besonders für diejenigen, die dem katholischen Glauben anhingen, sah die Zukunft ziemlich düster aus. Denn sie gaben sich dem Aberglauben hin und verehrten die Heiligen als Götzen – was in der heiligen Schrift ausdrücklich verboten wurde. Und hatten sie nicht die Gelegenheit erhalten, sich von ihren Fehlern loszusagen? Für Doktor Pincher stand fest, dass alle Anhänger des römischen Papstes direkt zur Hölle fahren würden. Und die alteingesessenen Iren, deren schlechter Charakter hinlänglich bekannt war, befanden sich wahrscheinlich schon auf Erden in den Klauen des Teufels. Sie gehörten in die tiefsten Abgründe der Hölle, genau wie die heidnischen Geister, von denen es auf der Insel nur so wimmelte. Solche Gedanken stärkten Doktor Pinchers Entschlossenheit, während er das Meer in Richtung Dublin überquerte.

Durfte er selbst seinem Schicksal gelassen entgegen sehen? War sich Simeon Pincher in den verborgensten Winkeln seines Herzens ganz sicher, dass er selbst zu den Erwählten gehörte? Er musste es einfach hoffen. Natürlich gab es auch in seinem Leben gewisse Sünden oder zumindest Fehltritte. Es war schließlich das Los eines jeden Menschen, zu sündigen. Aber wer bereute, konnte immer noch gerettet werden. Und falls er in seinem eigenen Leben wirklich gesündigt haben sollte, dann bereute er das aus tiefstem Herzen. Und sein Lebenswandel und der Eifer, mit dem dieser Gelehrte dem Herrn diente, bewiesen doch sicherlich – wie er hoffte und glaubte –, dass er tatsächlich nicht der Geringste unter den Auserwählten war.

***

Es war ein ruhiger Tag, nur eine leichte Brise umwehte Pincher bei sei ner Ankunft in Dublin. Das Schiff ankerte in der Mitte des Liffey, und ein Bootsführer ruderte ihn zum Holzquai.

Gerade war er auf die Terra Firma Irlands geklettert, die der alte Quai repräsentierte, als ganz plötzlich etwas geschah, was seine Welt buchstäblich auf den Kopf stellte.

Als er wieder zu sich kam, lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. In seine Ohren drang ein tosender Lärm, und irgendetwas hatte ihm einen solchen Schlag in den Bauch versetzt, dass er kaum atmen konnte. Er hob den Kopf, blinzelte und blickte in das Gesicht eines Mannes – der Kleidung nach ein Gentleman –, der sich den Staub abklopfte und besorgt auf ihn hinunter starrte.

»Sind Sie verletzt?«

»Ich glaube nicht«, antwortete Pincher. »Was ist denn passiert?«

»Es gab eine Explosion.« Pincher rollte sich herum. Sein Blick folgte dem Finger des Fremden, und er sah, dass in der Mitte der Quais, wo ihm vorher ein hohes Gebäude mit einem Lastkran aufgefallen war, jetzt nur noch ein zerstörter Steinstummel stand. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren nur noch verkohlte Ruinen.

Pincher ergriff dankbar die Hand, die der Fremde ihm entgegen streckte und stand unsicher auf. Sein Bein schmerzte.

»Sind Sie gerade erst angekommen?«

»Ja. Ich bin zum ersten Mal in Dublin.«

»Dann folgen Sie mir, Sir. Mein Name ist übrigens Martin Walsh. Ganz in der Nähe gibt es ein Gasthaus. Ich werde Sie dorthin begleiten.«

Nachdem der hilfsbereite Gentleman Pincher im Gasthaus abgeliefert hatte, ging er wieder, um den Schaden zu begutachten. Eine Stunde später kehrte er zurück und berichtete:

»Eine merkwürdige Sache. Zweifellos ein Unfall.« Offenbar hatte ein Funken, den das Hufeisen eines Pferdes auf den Pflastersteinen geschlagen hatte, ein Fass mit Schießpulver entzündet. Dies hatte wiederum ein großes Schießpulverlager beim zentralen Lastkran zur Explosion gebracht. »Der untere Teil der Winetavern Street ist völlig zerstört. Sogar das Fundament der Christ-Church-Kathedrale wurde erschüttert.« Er lächelte gequält. »Ich habe schon oft gehört, dass Fremde schlechtes Wetter mitbringen, aber eine Explosion ist doch recht außergewöhnlich. Ich hoffe nur, Sie werden den Iren in Zukunft freundlicher gesonnen sein.«

Dies war ein harmloser, gutmütiger Scherz, wie Pincher wohl begriff. Aber freundliche Konversation war noch nie seine Stärke gewesen.

»Nicht«, antwortete er mit grimmiger Befriedigung, »wenn es sich um Papisten handelt.«

»Ah.« Der Gentleman lächelte wehmütig. »Da werden Sie in Dublin nicht lange suchen müssen, Sir.«

Erst nachdem dieser barmherzige Samariter ihn zum Trinity College geführt und ihn sicher der Obhut des Portiers übergeben hatte, erfuhr der Neuankömmling, dass auch Mr Walsh selbst dem römisch-katholischen Glauben angehörte. Ein peinlicher Moment, das war nicht zu leugnen. Aber wie hätte er auch ahnen können, dass der freundliche, so offensichtlich englische Gentleman ein Papist war? Tatsächlich hatte Walsh mit seiner Warnung Recht gehabt. Pincher stellte schon bald geschockt fest, dass viele Angehörige der Dubliner Führungsschicht Katholiken waren.

Nachdem der erste Schock sich gelegt hatte, bestärkte ihn dieser Umstand nur in der Überzeugung, dass hier viel Arbeit auf ihn wartete.

* 1607 *

An einem Abend im Hochsommer stand Martin Walsh mit seinen drei Kindern am Ben of Howth und blickte ruhig aufs Meer hinaus. Aber der ruhelose Verstand des Advokaten ließ ihn auch in diesem Augenblick über vieles nachgrübeln.

Martin war schon immer ein nachdenklicher Mensch gewesen – eine alte Seele in einem jungen Körper hatte man ihn früher genannt. Seine Mutter war gestorben, als er drei Jahre alt gewesen war, und sein Vater Robert Walsh war ihr ein Jahr später gefolgt. Martin war bei seinem Großvater Richard und seiner Großmutter aufgewachsen, und weil er von klein auf meist von alten Menschen umgeben gewesen war, hatte er sich unbewusst viele ihrer Einstellungen angeeignet. Eine davon war Vorsicht.

Er sah seine Tochter Anne liebevoll an. Sie war erst fünfzehn. Es war kaum zu fassen, dass er jetzt bereits solche Entscheidungen für sie treffen musste. Seine Finger schlossen sich fest um den Brief, den er in der verborgenen Tasche seiner Kniehose bei sich trug. Seit Stunden zermarterte er sich das Gehirn, ob er ihr davon erzählen sollte.

Die Eheschließung einer Tochter sollte eigentlich eine private Familienangelegenheit sein. Aber das war sie nicht, zumindest nicht mehr heutzutage. Er wünschte, seine Frau wäre noch am Leben. Sie hätte gewusst, wie man mit einer solch delikaten Angelegenheit umzugehen hatte. Natürlich musste er erst einmal mehr über den Charakter des jungen Smith herausfinden. Walsh hoffte, dass er ein guter Mann war. Aber das allein reichte noch nicht aus. Gut, er musste natürlich Prinzipien haben, und auch ein starker Wille wäre wünschenswert. Aber zusätzlich musste er noch eine weitere, undefinierbare und doch ungeheuer wichtige Qualität aufweisen. Und zwar das Talent zu überleben.

Denn für Menschen wie ihn selbst – für die loyale, altenglische Führungsschicht – war das Leben in Irland gefährlicher geworden als je zuvor.

***

Vor viereinhalb Jahrhunderten war der Normannenkönig Heinrich Plantagenet von England in Irland eingefallen, hatte die alten, irischen Hochkönige verdrängt und die irischen Prinzen so lange drangsaliert, bis sie ihn wenigstens dem Namen nach als ihren Herrscher akzeptierten. Aber außerhalb des Pale-Gebietes um Dublin hatten irische Prinzen und Großgrundbesitzer wie die Fitzgeralds – die sich bald selbst als Iren betrachteten – auch weiterhin die Insel regiert. Bis vor siebzig Jahren der englische König Heinrich Viii. die Fitzgeralds unterworfen und ein für allemal klargestellt hatte, dass England beabsichtigte, die Insel im Westen des Königreiches direkt zu regieren. Heinrich Viii. hatte sogar den Titel Kö nig von Irland angenommen.

Einige Jahre später verstarb der sieche Monarch mit den sechs Ehefrauen. Nach seinem Tod herrschte sechs Jahre lang sein kränklicher Sohn, der Kindkönig Eduard. Heinrichs Tochter Maria regierte fünf Jahre. Und nach ihnen bestieg Elisabeth I., die jungfräuliche Königin, den Thron von England, den sie beinahe ein halbes Jahrhundert lang nicht wieder hergeben sollte. Sie alle hatten versucht, Irland zu beherrschen. Und sie alle mussten bald feststellen, dass dies keine leichte Aufgabe war.

Man schickte Gouverneure auf die Insel. Einige waren weise, andere nicht. Beinahe immer stammten sie aus den Reihen des englischen Adels und trugen wohlklingende Namen oder Titel: Saint Leger, Sussex, Sidney, Essex, Grey. Und jeder Gouverneur stand vor den gleichen, traditionell irischen Problemen: Altenglische Großgrundbesitzer wie die Fitzgeralds und die Butlers, die sich gegenseitig immer noch voller Eifersucht beäugten; irische Prinzen, die ungeduldig nach königlichen Herrschaftsrechten strebten – die mächtigen O’Neills oben in Ulster hatten nicht vergessen, dass sie einst Hochkönige von Irland gewesen waren. Diese Leute – und das schloss auch die loyale altenglische Gentry, den alteingesessenen Landadel, mit ein – schickten nur zu gerne Gesandte zum Monarchen, um die Autorität des Gouverneurs zu untergraben, wenn dieser Entscheidungen traf, die ihnen nicht gefielen. Die Gouverneure hatten den Auftrag, Irland in ein zweites England zu verwandeln, und die Krone hatte dabei beileibe nicht nur das Wohl der Iren im Sinn. Mit ihnen kamen die unterschiedlichsten Einwanderer – die so genannten Neuengländer –, die in Irland ihr Glück machen wollten und nach Landbesitz hungerten. Einige Gauner unter ihnen behaupteten sogar dreist, sie würden von längst vergessenen Siedlern der Plantagenet-Ära abstammen und hätten daher ein uraltes Anrecht auf irischen Landbesitz.

Es überraschte also niemanden außer den Gouverneuren, dass Irlands Bevölkerung sich vehement gegen Veränderungen, neue Steuern und englische Abenteurer, die ihr Land stehlen wollten, zur Wehr setzte. Martin Walsh hatte in seiner Kindheit mehrere, örtlich begrenzte Aufstände erlebt, die besonders im Süden stattfanden, wo sich die Fitzgeralds aus Munster bedroht fühlten. Allerdings galt es als gesichert, dass einige englische Beamte die Unruhe absichtlich geschürt hatten. »Die Engländer wollen uns so lange provozieren, bis wir offen rebellieren«, schlossen einige irische Landbesitzer daraus. »Dann können sie unser Land konfiszieren und es in ihre eigenen Hände bringen. Diesen Gefallen werden wir ihnen nicht tun.« Aber am Ende von Elisabeths langer Regierungszeit kam es schließlich doch zu einem großen Aufstand.

Ulster galt als wildeste und rückständigste Provinz Irlands. Die Clanführer von Ulster hatten die Fortschritte, die englische Beamte nach und nach in den anderen Provinzen erzielten, mit Abscheu und zunehmender Unruhe beobachtet. Der mächtigste von ihnen – O’Neill, der in England ausgebildet worden war und den englischen Titel Earl of Tyrone trug – hatte es bisher meistens geschafft, den Frieden im Norden aufrecht zu erhalten. Aber am Ende führte eben jener Tyrone den Aufstand schließlich an.

Was wollte er erreichen? Ganz Irland regieren, wie es seine Vorfahren getan hatten? Vielleicht. Den Engländern einen derartigen Schrecken einjagen, dass sie ihn in Zukunft Ulster unabhängig regieren lassen würden? Gut möglich. Wie Silken Thomas Fitzgerald sechzig Jahre vor ihm appellierte auch Tyrone an katholische Loyalitäten gegen die englischen Ketzer und schickte Gesandte mit der Bitte um Truppen zum katholischen spanischen König. Und diesmal trafen auch wirklich katholische Truppen – viereinhalbtausend Mann stark – in Irland ein. Außerdem war Tyrone ein hervorragender Soldat. In der Schlacht von Yellow Ford schlug er die ersten englischen Truppen, die in Ulster gegen ihn ausgesandt wurden, vernichtend. Menschen aus ganz Irland hatten sich seiner Sache angeschlossen und unterstützten ihn. Seit diesem Aufstand waren noch nicht einmal zehn Jahre vergangen, und niemand in Dublin hatte damals gewusst, wie der Kampf ausgehen würde. Aber schließlich hatte der ausdauernde und fähige englische Befehlshaber Mountjoy in Munster Tyrone und seine spanischen Alliierten niedergeschlagen. Danach hatte Tyrone keine Chance mehr. Während in London die alte Königin Elisabeth auf dem Sterbebett lag, kapitulierte Tyrone, der letzte Prinz von Irland. Die Engländer behandelten ihn überraschend milde, und er durfte sogar einen Teil des alten O’Neill-Besitzes behalten.

Jetzt saß ein neuer König auf dem englischen Thron, Elisabeths Cousin Jakob I. Tyrone hatte ausgespielt, und das wusste er. Aber war Irland deswegen schon für die Engländer sicherer geworden?

***

Martin Walsh blickte aufs Meer hinaus. Zu seiner Rechten lag die weite Rundung der Dubliner Bucht, die sich bis zur südlichen Landzunge, dem Hafen von Dalkey, erstreckte. Er wandte sich nach links und sah auf die seltsame kleine Insel mit der zerklüfteten Klippe – die Menschen nannten sie Ireland’s Eye – und nach Norden über das Wasser, wo in der Ferne die blaugrauen Berge von Ulster steil anstiegen.

Wenn er das Thema Heirat ansprechen wollte, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, dachte er. Am nächsten Morgen würden seine beiden Ältesten schon nicht mehr hier sein.

Martin Walshs Charakter ließ sich an seiner äußeren Erscheinung ablesen. Seine weichen Lederstiefel waren mit einigen Spritzern getrockneten Schlamms bespritzt und ziemlich 6taubig, denn als er am Schloss seines Freundes Lord Howth am Anfang der Landzunge vorbei geritten war, hatte er beschlossen, zum Gipfel hinauf zu spazieren. Aber seine Kniehose und sein Wams, die man heute Morgen sorgfältig gebürstet hatte, waren immer noch fleckenlos und sauber. Da es ein warmer Tag war, war er ohne Umhang und Hut ausgeritten, und sein immer noch braunes Haar hing ihm locker auf die Schultern. Er trug einen kleinen Spitzbart, der bereits ergraut war. Walsh war besonnen, ordentlich, ruhig und bescheiden. Ein Familienmensch. Und alles, was ein neuer Bekannter noch zusätzlich über ihn wissen musste, verriet das silberne Kruzifix, das an einer Kette über seinem Herzen baumelte.

Ein Bote hatte ihm den Brief an diesem Morgen gebracht, und nachdem er ihn gelesen und den überraschenden Inhalt erst einmal verdaut hatte, kam er zu dem Schluss, dass der Absender ihn in aller Eile geschickt haben musste. Wahrscheinlich war ihm zu Ohren gekommen, dass Lawrence und Anne im Begriff waren, abzureisen.

»Ich habe einen Brief von Peter Smith erhalten«, sagte er leise. »Er betrifft seinen Sohn Patrick. Kennt ihr ihn?«

Seine beiden Söhne schwiegen, aber Lawrence sah Anne scharf an und wendete sich dann fragend seinem Vater zu.

»Ich habe ihn ein oder zwei Mal gesehen, Vater«, antwortete sie. »Als ich mit Mutter in Dublin war.«

»Hast du mit ihm gesprochen?«

»Ein paar Worte.«

»Welchen Eindruck machte er auf dich – sein Charakter, meine ich?«

»Er wirkte wie ein ehrlicher, frommer Mann.«

»Hat er dir gefallen?«

»Ich glaube schon.«

Martin Walsh dachte nach. Er kannte die Familie flüchtig. Smith war ein respektabler, katholischer Kaufmann aus Dublin. So viel war sicher. Aber sonst? Obwohl Smith in Dublin lebte, hatte er vor zwanzig Jahren einem Grundbesitzer südlich der Stadt für eine Bürgschaft auf sein Land Geld geliehen. Danach durfte er – wie es bei Bürgschaften in Irland Brauch war – das Anwesen so lange selbst nutzen, bis die Schuld getilgt war. In Walshs Augen war Smith mindestens zur Hälfte ein Gentleman. Und er machte einen beinahe aristokratischen Eindruck. Es hatte immer ein paar Zweifel über die Ursprünge der Familie gegeben, was Walsh nicht gefiel. Peter Smith selbst hatte die Gerüchte, sein eigener Vater Maurice sei ein gebürtiger Fitzgerald, nie entkräftet. Die MacGowans behaupteten, er sei der illegitime Sohn von O’Byrne von Rathconan, oben in den Wicklow-Bergen. Na ja, sei’s drum. Immerhin wäre der Mann dadurch sozusagen von Adel. Aber schlussendlich wusste er nur wenig über die Familie. Hatte Peter nicht mehrere Kinder? Martin Walsh dachte nach, aber er konnte keinem Smith ein bekanntes Gesicht zuordnen. Er musste mehr herausfinden. Bestimmt wusste sein Cousin Doyle Genaueres.

An Peter Smiths Brief hatte er nichts auszusetzen. Er begann mit einigen höflichen Komplimenten an seine Tochter und ihren untadeligen Ruf. Darauf folgte die ehrerbietige Frage, ob er bereit sei, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dieses Juwel seinem Sohn anzuvertrauen, den ihre Schönheit und ihr Charakter so tief beeindruckt hatten.

Martin musste jetzt wenigstens mit dem Dubliner Kaufmann sprechen. Alles andere wäre ein Affront.

»In dem Brief geht es um eine Verlobung. Ich finde es merkwürdig, dass er um deine Hand bittet, obwohl du seinen Sohn kaum kennst«, sagte er. Für Prinzen mochte es vielleicht angehen, jemanden nur aufgrund des Berichts eines Botschafters und eines Miniatur-Portraits zu heiraten, aber in der Dubliner Gesellschaft gingen Hochzeiten üblicherweise längere Bekanntschaften voraus.

»Ich würde ihn gern besser kennen lernen, Vater, falls er es mit seinem Interesse ernst meint.«

»Natürlich, mein Kind.« Er nickte und ließ seinen Blick wieder übers Meer schweifen.

So entging ihm, wie Orlando seine Schwester ansah, und ebenso der warnende Blick, den sie ihm zuwarf.

***

Orlando war aufgeregt und sehr zufrieden mit sich. Weil er es erraten hatte. Die erste Begegnung hatte im vergangenen Sommer stattgefunden, als Anne aus Frankreich zu einem Besuch nach Hause gekommen war. Sie und Orlando unternahmen einen gemeinsamen Spaziergang und begegneten dem jungen Mann ungefähr eine Meile von ihrem Haus entfernt. Anne und der Mann kannten sich offenbar, aber Orlando erfuhr den Namen des Fremden nicht. Zu dritt schlenderten sie zu einem kleinen Wäldchen, und als sie einen großen umgestürzten Stamm fanden, setzten sich Anne und der Mann nieder und begannen ein Gespräch, während Orlando den umliegenden Wald erkundete. Aus irgendeinem Grund nahm ihm Anne nach dem Spaziergang das Versprechen ab, dieses Treffen nicht zu erwähnen, und es erfüllte ihn mit Stolz, dass seine geliebte Schwester ihn so ins Vertrauen zog.

Obwohl Anne sechs Jahre älter war als Orlando, spielte sie in seinem Leben eine große Rolle. Er bewunderte seinen älteren Bruder Lawrence zwar wie einen Helden, und Lawrence war auch immer freundlich zu ihm. Aber Lawrence studierte im Ausland und war während Orlandos Kindheit nur selten zu Hause. Anne wurde von Father Benedict zu Hause unterrichtet, in dem Raum neben der Diele, den sie das Schulzimmer nannten. Und sie hatte Orlando das Alphabet schon vor seiner Schulzeit bei Father Benedict beigebracht. An Sommerabenden setzte sie sich oft zu ihm und las ihm vor. Sie strich dann immer ihr volles, braunes Haar zur Seite, so dass Orlando seinen Kopf an ihre Schulter lehnen und die Nase tief in den duftenden Strähnen vergraben konnte, während er ihr zuhörte. Oft erzählte sie ihm selbst erfundene Geschichten über komische Leute und brachte ihn so zum Lachen. Sie war eine wunderbare ältere Schwester.

Vor zwei Jahren hatte ihr Vater sie zu einer französischen Familie nach Bordeaux geschickt. »Ich will nicht, dass meine Tochter wie ein englisches Provinzmädchen aufwächst«, war seine Begründung gewesen. Anne war zwar nach ihrem ersten Jahr in der Fremde ernster geworden, blieb aber weiterhin eine liebevolle Schwester, und manchmal brach die lustige Anne, die Orlando so liebte, wieder durch. Als sie ihn bat, ihr Geheimnis zu bewahren, wäre er lieber gestorben, als sie zu verraten.

In den folgenden Wochen ritten sie mehrmals aus, um den jungen Mann zu treffen. Zwei dieser Begegnungen fanden an dem langen Sandstrand vor der kleinen Insel mit der zerklüfteten Klippe statt. Anne und der Mann ritten am Strand entlang, und Orlando spielte solange in den Dünen. Jedes Mal verpflichtete Anne ihn zur Geheimhaltung. Ihren Eltern sagte sie: »Ich bin mit Orlando zum Strand geritten.« Niemand hegte den geringsten Verdacht.

Als sie diesen Sommer nach Hause gekommen war, kam es zu erneuten Treffen. Gelegentlich gab Anne Orlando auch einen Brief, den dieser dann dem jungen Mann überbringen musste, der in einem nahe gelegenen Waldstück wartete. Aber den Namen des Mannes wusste er immer noch nicht, und er ahnte auch nicht, welche Beziehung ihn und seine Schwester verband. Und als er es ein- oder zweimal wagte, sie danach zu fragen, verwirrten ihn die Antworten seiner Schwester nur noch mehr.

»Er gibt mir Botschaften für ein anderes Mädchen im Seminar in Frankreich mit. Wir sprechen über sie. Das ist alles.«

»Wird er sie besuchen?«

»Eines Tages bestimmt.«

»Will er sie heiraten?«

»Das ist ein Geheimnis.«

»Wie heißt sie? Und wie heißt er? Und warum muss er diese Botschaften dir übergeben? Und warum dürfen wir niemandem davon erzählen?«

»Das sind alles Geheimnisse. Du bist noch zu jung, um das zu verstehen. Und wenn du mir weiterhin wie ein dummer Junge so viele Fragen stellst, dann nehme ich dich nicht mehr mit.« Orlando wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte, aber er wollte nicht riskieren, dass sie ihn aus ihrem Leben ausschloss. Also fragte er nicht weiter. Erst gestern hatte sie ihn beiseite genommen und ihm sehr ernst das Versprechen abgenommen, niemals irgendjemandem zu verraten, was er gesehen hatte. Und Orlando hatte es bei seinem Leben geschworen. Aber er hatte sich gefragt, was der Grund dafür war.

Und jetzt wusste er alles. Der junge Mann musste Peter Smiths Sohn sein. Er hatte Anne selbst den Hof gemacht, und nur er, Orlando, wusste davon. Seine Augen glänzten vor Stolz, weil er an einem solchen Abenteuer beteiligt war. Und er verschwendete kaum einen Gedanken daran, dass Anne es aus irgendeinem Grund für nötig gehalten hatte, ihren Vater zu hintergehen.

***

Lawrence räusperte sich. Er sah ernst aus. Das Verhältnis zwischen Martin Walsh und seinem ältesten Sohn war nicht spannungsfrei, aber beide achteten peinlich genau darauf, dies vor Anne und Orlando zu verbergen, besonders, seit ihre Mutter gestorben war. Deshalb bedeutete Lawrence seinem Vater respektvoll, dass er ihn allein zu sprechen wünschte.

»Gibt es keinen Zweifel«, fragte er leise, »an der Religion der Familie?«

Denn dieser Punkt barg die größte Gefahr.

Wie eine Reihe von Erdbeben hatte die Reformation in ganz Europa tiefe Gräben aufgerissen. Anfangs waren die Erschütterungen in Irland jedoch kaum zu spüren gewesen. König Heinrich Viii. hatte einige Klöster schließen lassen und ihren Besitz konfisziert. Es kam zu einigen Ausschreitungen, bei denen zum Beispiel in Dublin heilige Reliquien verbrannt wurden und der Stab von St. Patrick verschwand. Aber die Regierungszeit des Kindkönigs Eduard – während der in England eine protestantische Revolution stattgefunden hatte – war so kurz gewesen, dass die Protestanten auf der Insel Irland nur wenig ausrichten konnten, bis Königin Maria das Königreich ihres Vaters wieder in die Arme Roms führte. Bloody Mary, wie sie in England genannt wurde, war im Grunde genommen eine tragische Figur. Diese stolze Frau von königlichem Blut musste mit ansehen, wie ihre arme Mutter zurückgewiesen und gedemütigt wurde. Kein Wunder, dass sie mit solch brennender Überzeugung an ihrem katholischen Erbe festhielt. War ihr überhaupt bewusst, welchen Abscheu die Heirat mit ihrem Cousin Philipp II. von Spanien in ihren Untertanen hervorrief, die auf die Unabhängigkeit ihres Inselstaates so stolz waren? Bald darauf starb sie kinderlos, von Phillip verlassen, und die Engländer machten ihrem Gatten unmissverständlich klar, dass er in England nie wieder willkommen sein würde. Für Irland bedeutete die Regierungszeit Königin Marias jedoch eine Periode relativer Ruhe. Die Ländereien der Klöster, die Heinrich enteignet hatte, wurden der Kirche allerdings nicht zurückgegeben, denn so fromm waren die katholischen Gutsherren Irlands dann doch wieder nicht. Sie waren nicht bereit, aufzugeben, was ihnen quasi in den Schoß gefallen war. Aber was das Spirituelle anging, bedeutete Marias Regierungszeit eine Rückkehr zur Normalität.

Erst in Elisabeths I. langer Herrschaft begannen die religiösen Probleme Irlands richtig. Aber daran trug die Königin selbst nur wenig Schuld.

Königin Bess’ Parole lautete von Anfang an Kompromiss. Ihre Regierung argumentierte, dass es eine Staatskirche geben müsse, um die nationale Ordnung zu sichern. Aber die Anglikanische Kirche, die Elisabeth I. entwarf, war eine so geschickte Verschmelzung bestehender Traditionen, dass man hoffte, sowohl gemäßigte Protestanten als auch gemäßigte Katholiken könnten sie akzeptieren. Elisabeths Untertanen erhielten die deutliche Botschaft: »Solange ihr euch nach außen hin anpasst, dürft ihr im Privaten glauben, was ihr wollt.«

Aber die Geschichte schlug ihr ein Schnippchen. Ganz Europa spaltete sich in bewaffnete religiöse Lager auf. Die katholischen Mächte waren entschlossen, die protestantische Häresie niederzuzwingen. König Philipp von Spanien bot sogar nach seiner fehlgeschlagenen Verbindung mit Elisabeths Halbschwester Maria an, die Königin zu heiraten, um England so seiner Familie und dem katholischen Glauben zu sichern. Elisabeths I. Untertanen wurden jedoch immer protestantischer, ja sogar puritanisch. Die Bartholomäusnacht von 1572, in der das französische Königshaus ein großes Massaker an protestantischen Hugenotten organisierte und dabei auch Tausende unschuldiger Frauen und Kinder töten ließ, fügte der katholischen Sache in England ungeheuren Schaden zu. Aber der größte Schlag für Elisabeths Hoffnungen auf eine friedliche Kompromisslösung kam aus Rom selbst.

»Der Papst hat die Königin exkommuniziert.« Mit dieser Neuigkeit war Martins Großvater Richard eines Tages nach Hause gekommen. Für Martin war dies eine der frühesten Kindheitserinnerungen. »Und ich wünschte beinahe, er hätte es nicht getan«, sollte Richard danach noch oft hinzusetzen. Katholiken waren von nun an von ihrem Treueeid gegenüber der Königin entbunden. Daraufhin ergriff der englische Kronrat aus Angst vor katholischen Verrätern harte Maßnahmen gegen Katholiken. Ausländische Priester wurden als Spione und Aufrührer verhaftet, einige sogar hingerichtet. Und als schließlich Philipp II. von Spanien seine mächtige Armada über das Meer schickte, um die ketzerische Insel zu erobern – was vielleicht nur daran scheiterte, dass ein schwerer Sturm seine Galeonen über die ganze Küste zerstreute –, betrachteten die meisten Engländer Katholiken nur noch als die Erzfeinde Englands.

Ausgenommen vielleicht die irischen Katholiken. »Als mein Vater noch lebte«, erinnerte sich Königin Elisabeth I., »schickten die Jesuiten Gesandte zu den O’Neills, die sie zum Verrat anstiften sollten. Die O’Neills wiesen sie ab.« Und als während des Angriffs der Armada eine spanische Galeone an Tyrones Küste strandete, ließ dieser die unglückliche Besatzung sogar massakrieren, um der englischen Königin zu zeigen, dass sie ihren irischen Lords vertrauen konnte. Der englische Kronrat verstand durchaus, dass die irischen Prinzen zwar Katholiken waren, aber deshalb nicht unbedingt den Konflikt mit der Krone suchten. Was die auf ihre Loyalität stolzen Altengländer anging, so waren fast alle Mitglieder der Oberschicht und die meisten Kaufleute katholisch, praktizierten ihren Glauben aber diskret. Also versuchten die Königin und ihr Kronrat weiterhin, den Kompromiss aufrechtzuerhalten. Richard Walsh weigerte sich zwar, dem Papst abzuschwören und zu Elisabeths Kirche überzutreten – »Der Kirche von Irland, wie Ihre Majestät sie zu nennen beliebt«, pflegte er mit schiefem Lächeln zu sagen. Aber nachdem er einem Gottesdienst beigewohnt hatte, musste er zugeben: »Sie folgen dem wahren Ritus so genau, dass man sich beinahe vorstellen könnte, man sei in einer katholischen Kirche.« Wer dem Gottesdienst fernblieb, musste ein Bußgeld zahlen, das aber nur selten eingefordert wurde. Sogar katholische Priester duldete man, solange sie sich unauffällig verhielten. Schwerwiegender und beleidigender für die Altengländer war das Gesetz, das Katholiken von öffentlichen Ämtern ausschloss. »Aber das können sie nicht anwenden«, betonte Richard gerne. »Oft genug ist nämlich der einzige Gentleman, der in der Gegend für einen Magistratsposten in Frage kommt, Katholik.« Trat dieser Fall ein, dann wurde das Gesetz ignoriert. In einer solchen Umgebung gelang es Männern wie Richard Walsh, ihren beiden Loyalitäten gleichzeitig treu zu bleiben.

Aber im Lauf der Jahre wurde dies immer schwieriger. Die Neuengländer besiedelten das Land und nahmen immer mehr wichtige Positionen ein. Nach und nach wurden die altenglischen Katholiken aus der Regierung gedrängt. Die Gesetze gegen ihre Religion wurden verschärft. »Man behandelt uns in unserem eigenen Land wie Fremde«, begannen die Altengländer zu murren.

Nach dem Tod von Königin Elisabeth I. fiel der Thron an ihren Cousin Jakob Stuart, König von Schottland. Seine temperamentvolle Mutter Maria, Königin von Schottland, war Katholikin gewesen. Sie hatte sich immer wieder an Verschwörungen gegen die häretische Königin Elisabeth beteiligt, was ihr schließlich zum Verhängnis geworden war. Ihr Sohn Jakob war von den schottischen Lords protestantisch erzogen worden. Würde dieser König der loyalen, katholischen Oberschicht Irlands mehr Mitgefühl entgegenbringen? Es hatte deutliche Hinweise darauf gegeben, dass diese Hoffnung berechtigt war. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag im vergangenen Jahr.

Die Ereignisse des 5. November 1605 erschütterten ganz England. Unter der Führung eines gewissen Guy Fawkes versuchte eine Gruppe katholischer Verschwörer das Parlamentsgebäude mitsamt König Jakob I. in die Luft zu sprengen, was von den königlichen Spionen im letzten Moment vereitelt wurde. Das populäre Gedicht, das den damaligen Volkszorn über diesen Anschlag ausdrückte, sollte die Jahrhunderte überdauern:

***

Remember, remember

The Fifth of November

Gunpowder, treason and plot.

***

I see no reason

Why gunpowder treason

Should ever be forgot.

***

Für die englischen Puritaner und das englische Parlament war es danach unmöglich geworden, Katholiken zu vertrauen.

Wie wirkte sich das auf die Walshs aus? Sie befanden sich in einer schwierigen Lage, vielleicht sogar in Gefahr. So beurteilte jedenfalls Martin Walsh die Situation. Welche Eigenschaften sollte also ein zukünftiger Schwiegersohn aufweisen? Er musste natürlich Katholik sein, denn Martin Walsh wünschte sich keine protestantischen Enkelkinder. Er suchte einen Schwiegersohn, der ihm selbst glich: loyal, aber intelligent und umgänglich. Einen Mann, der sich von seinem Verstand und nicht von seinen Gefühlen leiten ließ, und der zu Kompromissen bereit war. Traf das auf den jungen Smith zu? Er hatte keine Ahnung.

Ihm wurde bewusst, dass sein älterer Sohn ihn die ganze Zeit beobachtet hatte. Martin lächelte.

»Sei unbesorgt, Lawrence. Ich werde genaue Nachforschungen anstellen, darauf kannst du dich verlassen.«

Aber Lawrence erwiderte sein Lächeln nicht. Martin schien es sogar, als drücke der Blick, den sein Sohn ihm zuwarf, kaltes Misstrauen aus. Dann machte Lawrence den Mund auf.

Und Martin zuckte zusammen und sah ihn voller Trauer an. Es war für einen Vater nur schwer zu ertragen, wenn der eigene Sohn ihn verachtete.

 

Lawrence wünschte sich beinahe, er hätte den Mund gehalten. Es widerstrebte ihm, seinen gütigen Vater zu verletzen. Aber leider klaffte ein tiefer Abgrund zwischen ihnen – und er wusste nicht, wie er eine Brücke darüber schlagen sollte. Und der Grund für diese Kluft zwischen ihnen lag in seiner Ausbildung.

Martin hatte in Fingal, im Herzen des Old English Pale, ein schönes Stück Land am Rand der uralten Ebene der Vogelscharen erworben. Sein Freund, der Lord of Howth, hatte sich zwar Elisabeths Kirche von Irland angeschlossen, aber der größte Teil der altenglischen Gentry – wie zum Beispiel seine Nachbarn, die Talbots von Malahide – bestand aus loyalen Katholiken, die ihre Kinder von katholischen Hauslehrern unterrichten ließen. Es war nicht zu leugnen, dass dieses System große Kompromissbereitschaft verlangte. Das Geld, mit dem Martin sein eigenes Haus errichtet hatte, stammte zum Beispiel von Ländereien, die Richards Ehefrau, eine Doyle, billig erworben hatte, als die Klöster aufgelöst worden waren. Martins Cousin Doyle war vor zehn Jahren – aus rein materiellen Gründen – zur protestantischen Kirche von Irland übergetreten. Lawrence hatte dafür nur Verachtung übrig, aber sein Vater nahm diese Entscheidung auch als guter Katholik mit philosophischem Gleichmut hin und unterhielt weiterhin freundschaftliche Beziehungen zu seinen protestantischen Verwandten. Nur als es um Lawrences Ausbildung ging, weigerte sich Martin, Kompromisse einzugehen.

»Die Engländer sind nicht mehr nur Protestanten, sondern werden allmählich zu Puritanern«, sagte er. »Auf keinen Fall lasse ich dich dort ausbilden.« Aber welche Alternativen blieben dann noch? Irland hatte nie eine eigene Universität besessen. Vor kurzem war in Dublin zwar ein neuer Hort der Gelehrsamkeit, das Trinity College, eingerichtet worden, um diese Lücke zu schließen. Aber bald stellte sich heraus, dass Trinity für die protestantischen Neuengländer bestimmt war und deshalb von den Katholiken gemieden wurde. Blieben also nur die Priesterseminare und Universitäten auf dem europäischen Kontinent. Und so entschloss sich Martin Walsh, genau wie viele andere katholische Gentlemen, seinen Sohn auf eine kontinentale Universität zu schicken. Ins spanische Salamanca. Und dort hatte Lawrence eine andere Welt kennen gelernt.

Als die mächtige katholische Kirche mit der protestantischen Reformation konfrontiert worden war, hatten viele Kirchenväter mit einem Aufschrei der Empörung reagiert. Aber einige mutige und fromme Katholiken vertraten eine andere Einstellung.

»Die Protestanten haben Recht mit ihrer Behauptung, dass Korruption und Aberglaube die Kirche unterwandert haben«, stimmten sie zu. »Aber das ist kein Grund, eine tausendjährige spirituelle Tradition zu zerstören. Wir müssen die Heilige Kirche reinigen und erneuern. Wenn das vollbracht ist, dann wird der Glaube in neuem, hellem Licht erstrahlen. Und diese heilige Flamme müssen wir beschützen. Wir müssen uns darauf vorbereiten, die Kirche gegen die Angriffe ihrer Feinde zu verteidigen.« Aus diesem Geist wurde die Bewegung geboren, die später als Gegenreformation bekannt wurde. Der reine, moralisch gefestigte, einfache und doch starke katholische Glaube würde zurückschlagen. Und auf diesen Kampf mussten sich die besten Männer und Frauen dieses Glaubens vorbereiten. Und wo wollte die Kirche die Kämpfer für diese große Sache rekrutieren? Natürlich dort, wo die besten jungen Männer ausgebildet wurden: in den Priesterseminaren.

Lawrence hatte Salamanca lieben gelernt. Er hatte dort im irischen College gewohnt und die Universität besucht, wo eine breite Palette unterschiedlicher Fächer gelehrt wurde.

Zu Beginn seines dritten Studienjahres hatte ihn der Rektor zu sich gebeten und ihn in leisem Ton gefragt, ob er sich zu einem Leben als Priester berufen fühle. »Ihre Lehrer und ich sind uns einig. Wir würden es begrüßen, wenn Sie die Priesterlaufbahn einschlagen und ein Studium der Theologie aufnehmen würden. Wir sind überzeugt davon, dass Sie die besten Voraussetzungen dafür mitbringen, ein Jesuit zu werden.«

Den Jesuiten beizutreten war wirklich eine große Ehre. Der Orden, der 1534 von Ignatius Loyola gegründet worden war, bildete sozusagen die intellektuelle Elite der Kirche. Seine Mitglieder waren Lehrer, Missionare und Verwaltungsbeamte. Statt sich von der Welt zurückzuziehen, hatten sie die Aufgabe, in ihr zu wirken. Als die Gegenreformation ihre Armee der Soldaten Christi aufstellte, standen die Jesuiten an vorderster Front. Diese Aufgabe verlangte Intellekt, Weltgewandtheit und Charakterstärke. Lawrence schien es, als habe ihn die ganze Geschichte seiner Familie, deren Vorfahren vor vier Jahrhunderten nach Irland aufgebrochen waren, um dort den Glauben zu stärken, darauf vorbereitet, eines Tages eine solche Rolle zu spielen. »Es ist möglich«, sagte ihm der Rektor, »dass wir dazu bestimmt sind, in Irland ein helleres und reineres Feuer des Glaubens zu entzünden, als dort jemals gebrannt hat.«

Es hatte Lawrence ziemlich überrascht, dass sein Vater nicht begeistert auf seine Eröffnung reagierte.

»Ich hatte mir von dir Söhne erhofft«, beklagte sich Martin. Das verstand Lawrence zwar gut, aber solche Gedanken kamen ihm unwürdig und kleingeistig vor. »Du bist immer noch ein lieber Kerl«, hatte sein Vater eines Tages wehmütig zu ihm gesagt, »aber etwas steht zwischen uns. Das spüre ich.«

»Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen«, hatte Lawrence ehrlich erstaunt erwidert.

»Ich sehe es an diesem Glänzen in deinen Augen. Du gehörst nicht mehr länger zu uns. Du könntest ebenso gut Franzose oder Spanier sein.«

»Wir alle sind Mitglieder der gleichen, wahren Kirche«, erinnerte ihn Lawrence.

»Das weiß ich«, sagte Martin Walsh mit traurigem Lächeln. »Aber es ist für einen Vater schwer, wenn ihn der eigene Sohn auf die Waagschale legt und für zu leicht befindet.«

Lawrence konnte nicht verleugnen, dass dieser Vorwurf ein Körnchen Wahrheit enthielt. Mit diesem Problem hatte nicht nur seine Familie zu kämpfen. Er kannte mehrere junge Männer, die nach ihrer Rückkehr aus den Seminaren mit der lässigen Religiosität ihrer Familien nicht mehr zurechtkamen. Er verstand seinen Vater und bedauerte ihn. Aber ihm waren die Hände gebunden.

Für Lawrence war eine mögliche Verbindung der Smiths mit seiner Schwester also eine äußerst ernste Angelegenheit. Welchen Einfluss würde eine solche Allianz auf seine Familie ausüben? Er versuchte, sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was er jemals über jene Familie gehört hatte. Er glaubte, sich zu erinnern, dass es zwei Söhne gab. Hatte nicht einer seine Ausbildung vorzeitig abgebrochen?

Noch wichtiger aber war der Glaube der Smiths. Waren sie standfest oder zu vorschnellen Kompromissen bereit? Er war nicht recht davon überzeugt, dass sein Vater dieser Frage mit der nötigen Strenge nachging.

Trotzdem war es taktlos, dass er zu seinem Vater sagte: »Ich hoffe, wir können die Möglichkeit ausschließen, dass dieser Smith genauso ein Ketzer wird wie Ihr Cousin Doyle.«

Sobald die Worte seine Lippen verlassen hatten, merkte Lawrence, dass er den Satz ungeschickt formuliert hatte. Es hatte anklagend geklungen, so als sei Doyle nur der Cousin seines Vaters, und als mache er ihn für dessen Verfehlungen verantwortlich. Er sah, wie sein Vater zusammenzuckte.

»Ich habe dir bereits gesagt, dass ich mich um die Angelegenheit kümmern werde, Lawrence. Geh nach Spanien und kümmere dich um deine Studien.«

Und Lawrence hatte im Ärger darauf etwas Unverzeihliches erwidert: »Ich werde meine eigenen Nachforschungen anstellen, Vater. So viel ist sicher.« Er sagte es halblaut, damit Orlando und Anne ihn nicht hörten. Aber die Botschaft war unmissverständlich: Er vertraute seinem Vater nicht mehr und erkannte dessen Autorität nicht länger an.

***

Worüber sprachen die beiden? Anne lauschte, aber sie verstand nichts.

Ihr Vater und Lawrence wirkten zornig. Wussten die beiden, dass sie hintergangen worden waren? Anne hatte nicht vorgehabt, ihre Familie zu hintergehen. Auf keinen Fall. Aber sie hatte sich verliebt. Auch das hatte sie nicht vorgehabt, aber als sie es gemerkt hatte, war es bereits zu spät gewesen.

Ihre Mutter hatte noch gelebt, als sie ihn vor zwei Jahren das erste Mal gesehen hatte. Auf dem Jahrmarkt von Curragh, einer großen Veranstaltung, die von Engländern und Iren aus der ganzen Gegend gleichermaßen besucht wurde. Anne blieb stehen, um einigen Dudelsackspielern zu lauschen, während ihre Eltern vorausgingen, um sich ein Pferderennen anzusehen. Sie hörte der Musik eine Weile zu und machte sich dann auf den Weg über den großen, offenen Platz. Sie bemerkte, dass ganz in der Nähe einige junge Männer aus der Grafschaft Wicklow ein Hurling-Spiel begonnen hatten. Obwohl dies ein traditionell irischer Sport war, hatten ein paar junge Engländer aus Dublin sich der Herausforderung gestellt. Es war ein lebhaftes Spiel, das die Wicklow-Männer mit Leichtigkeit gewannen, aber kurz vor dem Ende brachen zwei Dubliner mutig durch die irischen Reihen und der jüngere erzielte ein spektakuläres Tor. Gleich darauf war das Spiel zu Ende. Anne wollte gerade weitergehen, als sie sah, dass die beiden jungen Dubliner in ihre Richtung liefen. Beinahe ohne es zu merken, verlangsamte sie ihren Schritt, bis die beiden bei ihr angelangt waren. Sie konnte sehen, dass die Männer sie auch bemerkt hatten. Beide grinsten nach ihrem Spiel wie kleine Jungen.

»Hat Ihnen das Spiel gefallen?« Der ältere, ein dunkelhaariger junger Mann mit markantem, regelmäßigem Gesicht, lächelte freundlich.

»Ich bin Walter Smith, und dies ist mein Bruder Patrick.« Er lachte. »Sie haben ja sicher gesehen, dass wir unseren Kampf verloren haben.« Er sah Anne verstohlen, aber eindringlich an, doch sie merkte es gar nicht. Sie blickte nur auf Patrick.

Er war größer als sein Bruder, ein schlanker junger Mann von athletischem Körperbau. Und doch strahlte er Sanftheit aus. Er hatte sein ovales Gesicht einige Tage lang nicht rasiert – und offensichtlich hatte er starken Bartwuchs. Das braune Haar war kurz geschnitten, und ihr fiel auf, dass es sich am Ansatz bereits lichtete. Seine weichen, braunen Augen ruhten auf ihr.

»Haben Sie mein Tor gesehen?«

»Ja.« Sie lachte. Er ist richtig stolz darauf, dachte sie.

»Am Schluss habe ich gut gespielt«, sagte er.

»Sie haben uns einmal aus Mitleid durchgelassen«, spottete sein Bruder gutmütig.

»Du irrst dich.« Er schaute enttäuscht drein. »Hören Sie bloß nicht auf diesen Kerl hier.« Die sanften braunen Augen blickten direkt in die ihren, und zu ihrer Überraschung spürte sie, dass sie errötete. »Würden Sie mir Ihren Namen verraten?«, fragte er.

Anne hatte nicht erwartet, Patrick Smith oder seinem Bruder noch einmal zu begegnen. Deshalb versetzte es sie in große Aufregung, als sie ein paar Tage später mit ihrer Mutter nach Dublin fuhr und ihn neben der Christ-Church-Kathedrale stehen sah. Er war sofort zu ihnen geeilt, hatte sich höflich ihrer Mutter vorgestellt und zwanglos mit ihnen beiden geplaudert. So erfuhr er ganz nebenbei, dass Anne mit einer gewissen Regelmäßigkeit donnerstags nach Malahide ritt, um einen alten Priester zu besuchen, der dort lebte. Am folgenden Donnerstag hatte er am Weg nach Malahide auf sie gewartet und sie eine gute Meile des Weges zu Pferd begleitet.

Bald darauf reiste Anne nach Frankreich zurück, und noch im selben Jahr starb ihre Mutter. Bereits wenige Tage, nachdem diese Nachricht sie erreicht hatte, erhielt sie einen Brief von Patrick, in dem er ihr sein Mitgefühl ausdrückte und gestand, dass er oft an sie denken musste. In den langen Monaten danach fühlte Anne sich sehr einsam, und auch sie dachte oft an Patrick. Obgleich sie ihren Bruder sehr gern hatte und wusste, dass ihr Vater sie innig liebte, spürte sie doch eine schmerzhafte Leere in ihrem Leben, denn ihr fehlte die Liebe und die Gegenwart ihrer Mutter.

Nur wenige Tage nach ihrer Rückkehr traf sie Patrick wieder. Es war Annes Idee gewesen, Orlando mitzunehmen. Schließlich konnte ein Mädchen wie sie nicht einfach täglich verschwinden, ohne dass es irgendjemandem aufgefallen wäre. Und alleine, dazu noch ohne die Erlaubnis ihres Vaters, mit einem jungen Mann spazieren zu gehen, wäre völlig undenkbar gewesen. Also hatte sie zu dieser List gegriffen.

Aber sie fühlte sich nicht gut dabei.

Sie war ein normales junges Mädchen, kein leichtfertiger Mensch. Sie glaubte an die wahre Religion ihrer Vorväter. Sie liebte ihre Familie und vertraute ihr. Jeden Abend betete sie für die Seele ihrer Mutter und bat die heilige Jungfrau, sich ihrer anzunehmen. Sie verabscheute es, ihren Vater zu hintergehen, denn sie wusste, dass dies eine Sünde war. Wäre ihre Mutter noch am Leben gewesen, dann hätte sie sicherlich mit ihr über Patrick Smith gesprochen, aber mit einem Vater ging das nicht so leicht. Dennoch wünschte sie sich seinen Rat. Mehrere Male stand sie kurz davor, sich ihm anzuvertrauen, aber eines hielt sie immer wieder zurück: die Angst. Sie hatte Angst, ihr Vater werde ihr verbieten, Patrick wiederzusehen.

Sie brauchte ihn. Wenn sie mit ihm die Feldwege entlang spazierte, fühlte sie sich so leicht und glücklich wie nie zuvor. Wenn er dicht neben ihr stand, erbebte sie innerlich. Wenn seine weichen braunen Augen in ihre blickten, dann glaubte sie zu zerschmelzen. Die aufregenden heimlichen Treffen und die wachsende Gewissheit, dass auch er sie liebte, füllten die Leere, die der Tod ihrer Mutter hinterlassen hatte. Als der Sommer sich dem Ende zuneigte, konnte sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.

Was hätte ihr Vater gesagt, wenn er davon gewusst hätte? Er wäre sicherlich eingeschritten. Und an die Reaktion ihres Bruders Lawrence wollte sie lieber gar nicht denken. Nein. Sollte ihre Familie etwas herausfinden, dann würde sie Patrick Smith nie wieder treffen können.

Vor einer Woche schließlich hatte Patrick sie gebeten, seine Frau zu werden. Sie wussten, dass die Angelegenheit langsam und schicklich vonstatten gehen musste. Sein Vater würde sich mit dem alten Walsh in Verbindung setzen. Die Liebenden waren sich längst einig – jetzt mussten sich ihre Angehörigen beschnuppern. Selbst falls Patricks Vater davon gewusst hatte, dass sein jüngerer Sohn einem Mädchen den Hof machte, durfte Martin Walsh nichts davon erfahren. »Ich wage nicht, es ihm jetzt zu sagen«, sagte Anne. »Wenn er denkt, wir hätten ihn hintergangen, dann würde ihn das sehr verletzen und vielleicht gegen uns einnehmen.«

Einen schrecklichen Moment lang hatte sie gefürchtet, Orlando würde eine verräterische Bemerkung herausrutschen. Aber er hatte sich seines Versprechens erinnert und den Mund gehalten. Sie beschloss, morgen noch einmal ein – sehr deutliches – Gespräch mit ihm zu führen, bevor sie abreiste.

Mit etwas Glück waren sie und Patrick bereits einander versprochen, wenn sie das nächste Mal aus Frankreich zurückkam. Und ihr lieber Vater würde glauben, er selbst habe das alles arrangiert.

***

Martin Walsh hatte sich von Lawrence abgewendet und blickte nachdenklich zurück auf Anne. Sie war zu einer stattlichen jungen Frau herangewachsen, und sie erinnerte ihn bereits an seine geliebte Gattin. Aber sie war auch noch ein unschuldiges Mädchen, das er beschützen musste. Nun, er würde mit seinem Cousin Doyle über die Familie Smith sprechen. Aber in einer Hinsicht war er bereits jetzt fest entschlossen: Annes Glück zählte mehr als alles andere. Danach würde er sich richten.

Die kleine Insel mit der zerklüfteten Klippe, die sich hinter Anne aus den Wassern tief unten erhob, war in ein Licht getaucht, das dem einer erlöschenden, orangefarbenen Flamme glich. Am Horizont lag weit im Nordwesten der Hügel von Tara, hinter dem die blutrote Sonne gerade versank. Martin drehte sich noch einmal um und blickte nach Süden über die Dubliner Bucht. Dort dunkelte es bereits. Am anderen Ende der Bucht senkte sich auch über den kleinen Bezirk Dalkey langsam die Dämmerung. Und noch weiter im Süden, wo die fernen, vulkanischen Hügel in den letzten Strahlen der Abendsonne geglänzt hatten, war die gesamte Küstenlinie nur noch ein dunkler Umriss neben der eisengrauen, düsteren See.

Die Walshs stiegen vom Ben of Howth hinab und begannen den Heimritt nach Westen, über die alte Ebene der Vogelscharen. Hinter dem weit entfernten Hügel von Tara war die Sonne untergegangen, aber hier war der Himmel immer noch hell. Der nördliche Horizont leuchtete strahlend, und die Landschaft war noch deutlich zu erkennen. Sie waren noch ein gutes Stück Wegs von ihrem Heim entfernt, als sie, etwa eine halbe Meile vor ihnen, zwei Gestalten ausmachten, die von Norden die Straße in Richtung Dublin entlang ritten. Der unförmige Nachzügler, der ein Lastpferd führte, war zweifelsohne ein Diener. Aber der Mann, der voraus ritt, stach sofort ins Auge. In dieser Entfernung und in der hereinbrechenden Dämmerung wirkte sein großer, magerer, leicht vorgebeugter Körper wie ein Stock. Oder – da er sich stetig vorwärts bewegte – wie eine einzelne Schreibfeder, die eine tintenschwarze Linie über das Land zog.

Orlando war so versunken in diesen merkwürdigen Anblick, dass er den unterdrückten Fluch seines Vaters kaum hörte und gar nicht merkte, dass er anhalten sollte, bis Lawrence ihn am Arm packte und zurückhielt.

»Wer ist das?«, fragte er.

»Ein Mann, dem du nicht begegnen willst.« Die Stimme seines Vaters war sehr leise.

»Ein Protestant.« Lawrences Ton nach zu urteilen hätte es auch der Teufel persönlich sein können.

Schweigend beobachteten sie, wie die zaundürre Gestalt die menschenleere Ebene überquerte, offenbar ohne sie zu bemerken.

»Das«, sagte Orlandos Vater schließlich, »ist Doktor Pincher.«

***

Am Morgen desselben Tages war Doktor Pincher um den Erdhügel ge ritten, der am Hang über dem Fluss Boyne lag. Wie so viele andere, die vor ihm diesem Weg gefolgt waren, hatte auch er nach unten geblickt, wo die Schwäne majestätisch über die Wasser des Boyne glitten. Und auch ihm war aufgefallen, wie ruhig und friedlich es hier war. Er hatte auf die riesigen, grasbedeckten Erdhügel gestarrt, die sich wie schweigende Riesen entlang des kleinen Hügelkamms erhoben, und sich dabei gefragt, was es mit ihnen auf sich hatte und wie sie dorthin gelangt waren. Hätte ihn jemand darüber aufgeklärt, dass die uralten Hügel früher Gräber gewesen waren, die nach präzisen astronomischen Berechnungen erbaut worden waren, so hätte ihn das in Erstaunen versetzt. Hätte ein Einheimischer ihm weiter erklärt, dass unter diesen Erdhügeln die hell erleuchteten Hallen der Tuatha De Danaan lagen, der großen Krieger und Handwerker, die das Land vor dem Einfall der keltischen Stämme regiert hatten, so hätte Simeon Pincher nur verächtlich geschnaubt. Aber ihm fiel auf, dass vor dem größten Hügel viele weiße Quarzsteine verteilt lagen, und er fragte sich, ob diese vielleicht wertvoll seien.

Während er den Boyne überquerte und sich im Laufe des Morgens in Richtung Süden fortbewegte, dachte er über Vieles nach. Er hatte gerade einige interessante Tage in Ulster verbracht. So sehr beschäftigten ihn seine Erlebnisse, dass er den ganzen Morgen und den ganzen Nachmittag lang kein einziges Wort an seinen Diener richtete, nicht einmal, als sie rasteten, um eine Mahlzeit einzunehmen.

Er lebte nun seit zehn Jahren in Irland und seine Einstellung gegenüber den Iren hatte sich nicht verändert. König Jakob I. brachte es auf den Punkt, wenn er die keltischen Katholiken Irlands als wilde Tiere bezeichnete.

Einige mochten die Meinung des Königs vielleicht als seltsam empfinden – schließlich war seine eigene Mutter, Königin Maria von Schottland, überzeugte Katholikin gewesen, und die schottischen Lords stammten von irischen Stämmen ab. Aber da der neue Stuart-Monarch von Gott selbst auserwählt und außerdem ein gelehrter Mann war, konnte niemand an der Richtigkeit seines Urteils zweifeln. Und was die irische Regierungsfrage anging, so bewiesen die wiederholten Versuche der Iren, sich der Kontrolle Englands zu entziehen, doch zweifelsfrei, dass sie völlig unfähig waren, sich selbst zu regieren.

Als Doktor Pincher die Ebene der Vogelscharen überquerte, sah er aus den Augenwinkeln die Familie Walsh. Aber er tat so, als hätte er sie nicht bemerkt.

Trotz seiner Einstellung den Iren gegenüber war Pincher mit seiner Lehrtätigkeit an der neu gegründeten Hochschule sehr zufrieden. Trinity College war fest in protestantischer Hand, und er war nicht der einzige Anhänger Calvins unter der Lehrerschaft. Deshalb war es nicht überraschend, dass die Katholiken Trinity mieden. Die Regierungsbeamten und andere Neuankömmlinge aus England unterstützten die Einrichtung dafür umso enthusiastischer. Dank Pinchers erfolgreicher Vorlesungen über die Klassiker, Philosophie und Theologie fragte man ihn bald, ob er die Predigten in der Christ-Church-Kathedrale übernehmen wollte. Auch dort genoss er bei seinen Zuhörern bald einen sehr guten Ruf, und die Gehälter, die er für seine Tätigkeiten als Gelehrter und als Prediger erhielt, ermöglichten ihm ein sorgenfreies Leben.

Besonders, weil er bis jetzt noch immer unverheiratet war. Er trug sich zwar mit dem Gedanken, diesen Zustand zu ändern, und gelegentlich waren ihm auch Frauen begegnet, zu denen er sich hingezogen fühlte. Aber unweigerlich sagten oder taten sie schließlich etwas, das Pincher bewies, dass sie seiner unwürdig waren. Daher war er allein geblieben. Außerdem hatte er eine Familie, eine Schwester, die erst spät einen würdigen Mann namens Budge geehelicht hatte. Und vor knapp sechs Monaten hatte ihn ein Brief mit der Neuigkeit erreicht, dass seine Schwester ihrem Gatten einen Sohn geschenkt hatte, der auf den Namen Barnaby getauft worden war. Barnaby Budge. Ein anständiger, gottesfürchtiger Name. Und bis Pincher selbst verheiratet war und eigene Nachkommen in die Welt setzen konnte, betrachtete er diesen Säugling als seinen Erben.

»Ich werde mich dieses Kindes annehmen«, hatte er seiner Schwester geschrieben. Er schrieb dies zwar aus echter familiärer Zuneigung, aber dies war nicht der einzige Grund. Denn seine Schwester war ihm, ehrlich gesagt, in den vergangenen Jahren nicht ganz mit dem Respekt begegnet, der ihm gebührte. Die Schuld daran lag bei ihm, das konnte er nicht leugnen: Es gab da einige Aspekte seiner Jugendzeit, namentlich die dumme Sache, die seine schnelle Abreise aus Cambridge erfordert hatte – wovon sie leider wusste. Diese Erinnerungen waren Pincher sehr unangenehm. Seine beispielhafte Karriere in Dublin hatte jegliche Zweifel an seinem Charakter schon längst zum Verstummen gebracht. Er genoss einen untadeligen Ruf. Dafür hatte er hart gearbeitet, und deshalb verdiente er ihn auch. Er sparte schon seit Jahren. Er war immer vernünftig gewesen. Aber immer noch fehlte ihm der greifbare Beweis für den Status, den er innehatte: Eigentum, am besten natürlich Ländereien. Und jetzt bot sich ihm offenbar endlich die Möglichkeit.

Ulster. Gottes Belohnung auf Erden.

Mehrmals waren ihm an diesem Tag auf dem Ritt nach Süden die Worte des dreiundzwanzigsten Psalms durch den Kopf gegangen, die so wunderbar auf seine Situation passten. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er war ein treuer Diener gewesen, das wusste Gott. Nun musste er darauf vertrauen, dass Gott es ihm vergelten würde. Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde … und schenkest mir voll ein. Ja, die auserwählte Gemeinde würde genährt, ja zu einem Festmahl geladen werden, und das inmitten der Iren. Er weidet mich auf einer grünen Aue … Ah. Er hatte sie gesehen, in dieser vergangenen Woche. Die grünen Auen von Ulster. Die Belohnung des Herrn. Schon sehr bald würde der Sämann seinen Samen dort auf die fruchtbare Erde säen.

Ein Freund, ein gottesfürchtiger Mann, hatte ihm von einem Gut dort oben erzählt. Der Pächter beabsichtige, es in ungefähr einem Jahr aufzugeben. Danach wäre das Anwesen bestimmt zu einem guten Preis zu haben. Das Land sei hervorragend, und wenn er jetzt aufbräche, dann könne er sicher die Zusicherung erhalten, dass es ihm zuerst angeboten werde.

Also hatte er Ulster einen Besuch abgestattet und war sehr beeindruckt gewesen. Die Gegend war natürlich wild, aber fruchtbar. Der Prediger hatte sich besonders darüber gefreut, dass Gemeinden schottischer Siedler, alles aufrechte Calvinisten wie er selbst, bereits das Meer überquert und entlang der Küste kleine Bauern- und Fischerkolonien gegründet hatten. Er hatte das empfohlene Anwesen inspiziert und in dem Pächter einen Gleichgesinnten gefunden. Wenn er es wünschte, würde das Land bald ihm gehören. Das waren gute Aussichten. Aber den gottesfürchtigen Doktor Pincher inspirierte eine andere Idee noch viel mehr.

Wie wäre es, dachte er bei sich, wenn dieses Land auch mit Siedlern bepflanzt würde? Plantation, Besiedelung. Tatsächlich hatte bereits die katholische Königin Maria Tudor den Prozess der Besiedelung begonnen. Obschon die Iren Katholiken waren, misstraute sie ihnen, und so wählte sie im äußersten Süden Leinsters zwei Gebiete aus – King’s Country und Queen’s Country genannt –, in denen englische Kolonisten angesiedelt wurden. Diese Siedler sollten eine Art Militärgarnison für das Gebiet bilden, und diesen Prozess nannte man Plantation, Bepflanzung. Ähnliches hatte man auch in anderen Gebieten versucht, besonders unten in Munster, wo die Regierung nach der großen Rebellion unter Königin Elisabeths I. Herrschaft ganze Landstriche beschlagnahmt hatte. Man hoffte, dass die Siedler den Iren vielleicht beibringen würden, wie solide englische Freisassen zu leben. Obwohl nicht alle Siedlungsversuche erfolgreich verlaufen waren, hielt der englische Kronrat auch weiterhin begeistert an der Idee fest. Pinchers Meinung nach boten diese Plantations wunderbare Gelegenheiten dafür, Gottes Werk zu tun. Für ihn waren sie das genaue Gegenstück zu den Kolonien – wie zum Beispiel Virginia – in der Neuen Welt. Bewaffnete Gemeinden gottesfürchtiger Pilger inmitten eingeborener Heiden, die nach und nach entweder konvertieren mussten oder in die Wildnis zurückgedrängt wurden. Wo sie wahrscheinlich zu Grunde gehen würden.

Die Plantation folgte ganz einfachen Regeln. Man bestimmte ein riesiges Gebiet, das dann in verschieden große Parzellen aufgeteilt wurde. Dann rief man englische und schottische Investoren – die so genannten undertakers – dazu auf, sich an dem Unternehmen zu beteiligen. Diese verwalteten das Land, das ihnen gewährt worden war, siedelten zuverlässige englische Pächter darauf an – zum Beispiel protestantische Freisassen und Handwerker – und ernteten dafür die Profite, die ihr Unternehmen abwarf. Sie waren Grundbesitzer in einer idealen Gemeinschaft. Und für bescheidene Investoren wie ihn selbst würden sich exzellente Gelegenheiten bieten, Land von den undertakers zu pachten, dieses dann weiterzuvermieten und dabei einen schönen Profit zu erzielen.

Kein Wunder, dass sein Herz vor Freude hüpfte, als er diese Möglichkeit in Erwägung zog: ein riesiges, von allen Papisten gesäubertes Stück Ulster.

Würde es je dazu kommen? Wer konnte das schon sagen. Er musste einfach auf Gott vertrauen und daran glauben. Bis es soweit war, würde er sich dort oben schon mal eine gute Ausgangsposition sichern.

Der Prediger war also bester Laune, als er auf der Ebene der Vogelscharen die Walshs zu seiner Linken in der Ferne erblickte. Er ließ sich von ihrer Gegenwart nicht stören.

Seit jener ersten, peinlichen Begegnung am Holzquai war er dem katholischen Advokaten nur selten über den Weg gelaufen. Er hegte den Verdacht, dass Martin Walsh ihn nicht mochte, obwohl Walsh viel zu sehr Gentleman war, um ihm dies offen zu zeigen. Für Walshs jesuitischen Sohn hatte Pincher nur Abscheu übrig, über die beiden anderen Kinder wusste er nichts. Aber persönlich hatte er eigentlich nichts gegen Familien wie die Walshs. Schließlich – und diese Tatsache ließ sich nicht leugnen – war Walsh ein Gentleman, wenn auch ein papistischer. Solange er der englischen Krone loyal gegenüberstand – und das war mit Sicherheit der Fall –, gab es keinen Grund, sie zu enteignen, als seien sie wilde Iren. Pincher wusste nicht genau, was mit solchen Familien auf lange Sicht geschehen sollte: Nach und nach würden sie diskret aus allen Machtpositionen gedrängt werden. Um einige, zum Beispiel den Jesuiten Lawrence, würde man sich irgendwann kümmern müssen. Andere würde man einfach auslaugen. Aber im Moment gab es Wichtigeres zu tun.

Und dann durchzuckte ihn ein angenehmer Gedanke. Wenn sein Neffe Barnaby Budge erst einmal so alt war wie er selbst heute, ob dann Walshs jüngerer Sohn als Papist wohl immer noch die Früchte des Familienbesitzes ernten würde? Wohl kaum. Nein, überlegte sich Pincher fröhlich, dafür konnte er beinahe garantieren. In der Zukunft gab es keinen Platz mehr für die Walshs und ihresgleichen.

***

Anfang August eröffnete Martin Walsh seinem Sohn Orlando: »Du wirst den jungen Smith kennen lernen. Den Mann, den deine Schwester heiraten wird.«

Orlando wusste, dass sein Vater sich um diese Angelegenheit gekümmert hatte, seit Lawrence und Anne auf den Kontinent zurückgereist waren. Er hatte mit seinem Cousin Doyle diskutiert, lange mit einigen Dubliner Priestern gesprochen und sich auch mit den Smiths selbst getroffen. Nach jedem dieser Gespräche war sein Vater mit besorgtem Gesicht aus Dublin zurückgekehrt, aber er ließ nie verlauten, worum es in den Diskussionen eigentlich gegangen war. Als ihm sein Vater also sagte, der junge Mann werde an einem Samstagnachmittag allein zu ihnen nach Hause kommen, dort übernachten und am folgenden Morgen mit ihnen die Messe besuchen, freute sich Orlando aus ganzem Herzen für seine Schwester und war gleichzeitig ungeheuer aufgeregt.

»Ich glaube, du wirst Gefallen an ihm finden«, sagte sein Vater freundlich.

»Oh, da bin ich mir ganz sicher«, erwiderte Orlando.

Er hatte sich mit großer Sorgfalt auf die Begegnung vorbereitet, hatte sich immer an das Versprechen erinnert, das er seiner Schwester gegeben hatte. Niemand durfte von den heimlichen Treffen der Liebenden erfahren. Mit keinem Wort, mit keiner Geste würde er sich verraten. Mehrere Male ging er im Geiste alles durch. Er stellte sich jeden dummen Ausrutscher vor, der ihm passieren konnte, und bereitete sich auf alle Eventualitäten vor. Der große Tag rückte näher, und obwohl Orlando ihm nervös und aufgeregt entgegensah, war er sich sicher, dass er es schaffen würde. Sie konnten sich auf ihn verlassen.

Den Vormittag verbrachte er mit einem der Knechte. Er lud gerade eine Wagenladung Torf ab, der aus einem Moor im Norden stammte, als er in der Ferne eine Gestalt erblickte, die auf das Haus zuritt. Einen Augenblick lang überlegte Orlando, ob er zu dem jungen Smith rennen und ihm sagen sollte, dass sein Geheimnis bei ihm sicher sei und er nichts verraten werde. Aber nach kurzem Zögern entschied er sich dagegen. Vielleicht würde er dadurch nur Misstrauen wecken. Nein, es war besser, wenn er seinem ursprünglichen Plan folgte. Also drehte er sich stattdessen um, suchte seinen Vater und sagte ihm, dass ein Fremder sich dem Haus nähere.

Sein Vater begrüßte den jungen Mann vor der Haustür und rief nach dem Stallburschen für sein Pferd. Orlando heuchelte Schüchternheit und wartete im verschatteten Hausflur auf die beiden.

Orlando fühlte sich, als blicke er einen Tunnel entlang zu dem grellen Sonnenlicht, das durch die offene Tür hereinfiel. Er hörte die Stimmen draußen und sah, wie sich Schatten vorbei bewegten. Dann kam sein Vater durch die Tür, gefolgt von einer weiteren Gestalt, die das Sonnenlicht aussperrte. Jetzt waren sie im Haus und bewegten sich auf ihn zu. Sein großer Moment war gekommen.

»Ah, da ist er ja«, hörte er seinen Vater sagen.

Und dann blinzelte Orlando in dem Sonnenlicht, das durch die wieder freie Tür in den Raum flutete und starrte den jungen Smith mit einer Mischung aus Entsetzen und fassungslosem Erstaunen an.

Dies war überhaupt nicht der junge Smith. Diesen Mann hatte er noch nie zuvor gesehen.

*** Doyle hatte den Stein ins Rollen gebracht. Als Martin Walsh ihn besucht und wegen des Briefs von Peter Smith um Rat gefragt hatte, antwortete er ohne Zögern:

»Die Smiths sind von ehrbarem Ruf, Cousin Martin. Der Vater ist ein achtbarer, wohlhabender Mann. Und außerdem ein guter Katholik, das wolltest du sicher wissen. Obwohl dir in dieser Hinsicht sicher andere besser Auskunft geben können als ich. Er hat allerdings zwei Söhne. Für welchen Sohn hält er um deine Tochter an?«

»Er heißt Patrick.«

»Ah.« Doyle schüttelte den Kopf. »Darauf solltest du dich nicht einlassen. Der Richtige wäre Walter, der ältere Sohn. Er ist nicht durch ein Verlöbnis gebunden, soviel ich weiß.«

»Was spricht gegen Patrick?«

Doyle atmete tief ein und ließ die Luft langsam zwischen den Zähnen entweichen.

»Er hat nichts verbrochen, Cousin, und er ist kein schlechter Kerl. Er ist natürlich der jüngere Sohn. Was seinen Charakter angeht …« Er machte eine Pause. »Weißt du, er wurde in ein Priesterseminar geschickt. Aber er brachte seine Studien nicht zum Abschluss. Er bringt nie etwas zu Ende. Es mangelt ihm an Durchhaltevermögen. Und diese Schwäche verbirgt er meiner Ansicht nach hinter seinen galanten Manieren.«

»Galante Manieren?«

»Oh ja.« Der Kaufmann grinste und trug seine nächsten Worte in einer Parodie des höfischen Stils vor: »Der Jüngling ist ein wahres Muster aller edlen Tugenden. Er reitet, schießt mit Pfeil und Bogen und vermag zu laufen wie ein junger Hirsch. Er drechselt gewandte Verse, singt mit glockenreiner Stimme und tanzt noch geschmeidig dazu. Man sagt, dass alle Frauen bei seinem Anblick dahinschmelzen.«

»So ist das also«, sagte Martin grimmig.

»Patrick ist nur Smiths erstes Angebot, Cousin. Aber Walter ist der Richtige. Er ist gut ausgebildet, fleißig und von angenehmem Charakter. Smith wird bestimmt nur zu gerne eine Heirat aushandeln, die ihn mit der Familie Walsh verbindet, also kannst du durchaus die Bedingungen dafür aufstellen.«

Doyle versorgte Martin noch mit einigen weiteren nützlichen Informationen, und nachdem Walsh sich verabschiedet hatte, klangen ihm die letzten Worte seines Cousins noch lange in den Ohren:

»Vergiss es nicht, Cousin Walsh. Lass dich nicht mit Patrick abspeisen.«

Als Walsh wenig später Peter Smith seinen ersten Besuch abstattete, bat er darum, beide Söhne kennen zu lernen. Er merkte schnell, dass Doyle mit seiner Einschätzung Recht gehabt hatte. Patrick war seiner Meinung nach zwar ehrgeizig, aber weich und anbiedernd. Walter, der zwar höflich war, aber nicht so angestrengt zu gefallen versuchte, war offensichtlich ein unabhängiger Mann. Als Martin Smith mitteilte, dass Walter ihm besser gefiel, hatte der Kaufmann einen kurzen Moment lang besorgt dreingeblickt.

»Aber Anne und Patrick sind einander so zugetan«, protestierte er. »Die beiden sind wie zwei Turteltauben.«

»Sie kennt ihn kaum,« erwiderte Walsh fest.

»Ah.« Smith sah ihn einen Moment lang verwundert an, gewann aber sofort wieder die Fassung. »Das dürfen wir natürlich nicht vergessen.«

In den folgenden zwei Wochen war es zu mehreren Verhandlungen gekommen. Martin merkte, dass sein Cousin Doyle auch darin Recht behalten hatte, dass Smith lieber seinen besseren Sohn hergeben wollte als die Chance auf eine Verbindung mit den Walshs verlieren. Zwischenzeitlich hatte sich Martin einige Male mit dem jungen Walter unterhalten und fand ihn in jeder Hinsicht bewundernswürdig. Und schließlich war die Verlobung zur allseitigen Zufriedenheit beschlossen worden.

Das glaubte Martin Walsh jedenfalls.

***

Orlando war völlig durcheinander und wusste nicht, wie er sich verhal ten sollte. An diesem und dem folgenden Tag saß er während der Mahlzeiten, und wenn er sich sonst im Haus aufhielt, nur stumm auf seinem dreibeinigen Hocker und starrte wie ein Idiot den Gast an. Glücklicherweise hielt sein Vater dieses Verhalten nur für kindische Befangenheit und dachte sich nichts dabei. Orlando zerbrach sich den Kopf: Wusste Anne davon? Sollte er sie benachrichtigen? Und wenn ja, wie? Nachdem Walter Smith sich am Sonntagabend verabschiedet hatte, suchte er seinen Vater auf.

»Ich würde Anne gerne schreiben, Vater.«

»Ein Brief an deine Schwester. Das höre ich gern«, antwortete Walsh freundlich. »Du darfst noch einen Absatz zu dem Brief hinzufügen, den ich gerade schreibe.«

Und so stand bald unter den in sauberer Schönschrift verfassten Zeilen seines Vaters folgender Zusatz in Orlandos Kinderschrift: »Vater sagt, ich darf dich zu deiner Verlobung mit Walter Smith beglückwünschen. Er scheint ein achtbarer Gentleman zu sein, aber ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen.« Er hatte sich bemüht, möglichst viel Tinte zu benutzen, damit die letzten Worte besonders deutlich hervorstachen. Sein Vater warf einen Blick auf die Zeilen, gab einen Kommentar zu Orlandos schlechter Schrift ab, sagte aber sonst nichts dazu.

Danach konnte Orlando nichts mehr tun. Er nahm seine gewohnten Unterrichtsstunden bei dem Priester wieder auf. Im Haus kehrte Ruhe ein.

***

Zur größten Überraschung des ganzen Haushalts stand Anne zwei Wochen später vor der Tür. Noch am Tag, da sie den Brief von ihrem Vater und ihrem jüngeren Bruder erhalten hatte, war sie aus Bordeaux aufgebrochen, ohne von den Lehrern die Erlaubnis dafür einzuholen oder auch nur irgendjemanden davon zu erzählen. Sie verpfändete das goldene Kreuz und die goldene Kette, die ihr Vater ihr geschenkt hatte. Mit dem Geld reiste sie zur Küste und fand dort ein Schiff, das nach Dublin segelte. Ihr Vater wusste nicht, ob er wütend über ihren Ungehorsam sein oder sie für ihren Mut bewundern sollte.

Schließlich bekannte sie ihm, dass sie Patrick liebe. Und ihre Vehemenz erschütterte ihn so sehr, dass er sogar an Lawrence schrieb und ihn um Rat bat. Besonders machte ihm die Tatsache zu schaffen, dass er bis jetzt überhaupt nicht gewusst hatte, dass sie dem jungen Mann besonders zugetan war. Und der Anblick ihrer Tränen überwältigte bald den Ärger und die Trauer, die er über ihren Betrug empfand. »Ich wollte nur dafür sorgen, dass du glücklich wirst, mein Kind«, versicherte er. Und im Innersten wusste er, dass seine Entscheidung richtig gewesen war, auch wenn Anne jetzt schrecklich litt. Sie war zwar in Patrick verliebt, aber Martin wusste, dass dieser Mann sie auf Dauer nicht glücklich machen würde. Walter schon. Sanft aber eindrücklich versuchte er, sie davon zu überzeugen. »Manchmal ist es klüger, auf den Verstand zu hören als auf das Herz«, beschwor er sie. Aber sie hörte ihm gar nicht richtig zu. »Triff Walter doch wenigstens einmal und lerne ihn richtig kennen«, schlug er vor. Aber sie wollte nur ihre große Liebe Patrick sehen. Der arme Martin Walsh, der sich verzweifelt wünschte, seine Frau wäre noch am Leben, wusste nicht, ob er dies erlauben sollte. So verstrich eine Woche voller aufgeregter Diskussionen. Anne schlich traurig im Haus herum, dunkle Ränder unter den Augen. Ihr Vater fragte sich, ob es besser wäre, sie ins Seminar zurückzuschicken. Vielleicht sollte er auch einfach Walter Smith zu einem Besuch einladen, damit Anne sich mit eigenen Augen davon überzeugen konnte, was für ein guter Mann er war. Aber er hatte Angst, sie könnte ihn so heftig abweisen, dass der junge Mann das Interesse an ihr verlieren würde. Sollte er sich doch mit Patrick zufrieden geben? Sicher wäre es ein Fehler, aber es schmerzte ihn tief, seine Tochter so leiden zu sehen. In der zweiten Woche wurde sie so bleich und teilnahmslos, dass er mit dem Gedanken spielte, einen Arzt hinzuzuziehen.

Dann traf Lawrence ein.

Er war unverzüglich aus Frankreich aufgebrochen, und Martin freute sich zu seiner eigenen Überraschung über sein Kommen. Lawrence sagte zwar, er hoffe, seine Schwester sei gründlich gezüchtigt worden, aber als er sah, wie sehr diese Bemerkung seinen Vater schockierte, ließ er das Thema ruhen. Und danach erwies sich seine Gegenwart wirklich als ein Segen.

Lawrence sagte nur wenig und blieb ganz ruhig. Seine Schwester behandelte er sehr freundlich. Er machte ihr keine Vorwürfe, sondern bat nur darum, dass sie jeden Tag mit ihm betete. Er behielt den jungen Orlando freundschaftlich im Auge, nahm ihn auf ein paar lange Spaziergänge mit und ging sogar einmal mit ihm zusammen auf Kaninchenjagd.

***

Orlando war ungeheuer erleichtert, als Anne vor der Tür stand. Wenige Stunden nach ihrer Ankunft zog sie sich mit ihm zurück, und er erzählte ihr alles, was er über Walter Smith wusste.

»Ich habe nichts von euren Treffen erzählt«, versicherte er.

»Ich weiß. Ich werde niemandem sagen, dass du uns geholfen hast. Aber was Patrick angeht«, sagte sie kopfschüttelnd, »hilft mir das jetzt wahrscheinlich auch nichts mehr.«

Obwohl Orlando alles über ihre Gespräche mit Martin Walsh wusste und ihre Tränen sah, erfuhr er in den nächsten Tagen keine weiteren Einzelheiten von seiner Schwester. Offenbar wollte sie nicht mit ihm darüber reden. Eines Nachmittags bat sie ihn jedoch zu sich und sagte leise: »Du könntest mir helfen, kleiner Bruder.«

Am nächsten Morgen ritt er allein aus. Er hatte an diesem Tag keinen Unterricht, und sein Vater hatte andere Dinge im Kopf und achtete kaum auf ihn. Er ritt auf seinem Pony über die Ebene der Vogelscharen, und am späten Vormittag lag die Stadt bereits in Sichtweite. Er überquerte die alte Brücke über den Liffey, ritt durch das Stadttor und suchte das Haus der Smiths in der Winetavern Street. Am Eingang zum Hinterhof fand er einen jungen Bediensteten und fragte ihn, ob Patrick Smith im Haus sei. Als der Junge bejahte, bat er ihn, auszurichten, dass ein Freund draußen auf ihn warte. Wenige Minuten später erschien der junge Mann selbst.

Als Orlando ihn erblickte, hätte er beinahe einen Freudenschrei ausgestoßen. Patrick Smith sah genauso aus, wie er ihn in Erinnerung hatte: kräftig und voller Zuversicht. Er lächelte und in seinen Augen stand Freude darüber, Orlando wiederzusehen.

»Orlando, du weißt es wahrscheinlich bereits. Nicht ich, sondern mein Bruder wird sich bald mit deiner Schwester verloben«, sagte er sanft.

»Anne ist zurückgekommen. Sie ist zu Hause.«

»Sie ist hier?«, rief Patrick erstaunt aus. »Komm, lass uns den Quai hinabgehen. Du musst mir alles erzählen.«

Orlando erzählte von den Tränen seiner Schwester und dem Streit mit ihrem Vater.

»Sie will dich heiraten«, platzte es aus ihm heraus. Es war schwer zu sagen, ob diese Neuigkeit Patrick mehr erfreute oder erschütterte. »Sie will dich sehen, aber mein Vater verbietet es. Du musst dich heimlich mit ihr treffen.«

»Das geht nicht so leicht, Orlando. Mein Vater hat mir strengstens verboten, deine Schwester zu treffen.«

Orlando starrte ihn fassungslos an.

»Aber du kommst doch trotzdem?« Er konnte sich nicht vorstellen, dass sich der gut aussehende junge Held von einer solchen Kleinigkeit abhalten lassen würde. »Du willst sie doch treffen, oder?«

»Oh ja, das will ich. Und wie ich das will.«

»Soll ich ihr dann sagen, dass du kommst?« Und er erklärte, wie sich das Treffen bewerkstelligen ließ.

»Ich muss mich wegschleichen, ohne dass mein Vater etwas merkt. Oder mein Bruder.« Patrick verstummte und sah den Quai hinab. »Ich komme, sobald ich fort kann. Vielleicht morgen. Oder ein, zwei Tage später. Sehr bald jedenfalls.«

»Ich werde dort auf dich warten«, sagte Orlando.

Und er wartete. Der Ort war gut gewählt, eine verlassene Kapelle am Rand des Walsh-Anwesens, die kaum jemand aufsuchte. Statt Anne, die nicht jeden Tag verschwinden konnte, ohne Misstrauen zu erregen, würde Orlando dort warten. Sobald Patrick Smith dort eintraf, sollte Orlando den kurzen Weg nach Hause rennen, Anne holen und vor der Kapelle Wache halten, während sie miteinander sprachen.

Am folgenden Tag wartete er drei Stunden, bis es dämmerte. Tags darauf regnete es, aber er wartete trotzdem und kam völlig durchnässt nach Hause. Am dritten Tag klarte der Himmel auf, aber Patrick Smith erschien immer noch nicht. Genauso wenig am vierten Tag.

»Warum kommt er denn nicht?«, klagte Anne und brach in Tränen aus. »Bin ich ihm denn gleichgültig?«

»Er wird kommen. Er hat es mir versprochen«, rief Orlando. Und am nächsten Tag wartete er wieder. »Vielleicht sollte ich noch einmal nach Dublin reiten«, schlug er am Abend vor.

»Nein, er wird sich nicht blicken lassen«, sagte Anne tonlos. »Warte nicht mehr auf ihn.« Und bald darauf hörte er sie weinen. Aber obwohl sie bleich und teilnahmslos wurde, wartete er noch mehrere Tage lang bei der Kapelle. Aber bis Lawrence kam und seine Routine durcheinander brachte, sah er keine Spur von Patrick Smith und hörte auch nichts von ihm.

Als Lawrence ihn das erste Mal zu einem Spaziergang aufforderte, war Orlando sehr unruhig. Er wollte unbedingt wieder zum Treffpunkt zurückkehren, aber Lawrence ließ ihn einfach nicht gehen. Er stellte Orlando eine Frage nach der anderen.

Er erkundigte sich sehr freundlich nach seinem Unterricht und unwichtigen Kleinigkeiten, um ihm die Unsicherheit zu nehmen. Schließlich sagte er: »Ich mache mir Sorgen um Anne. Es schmerzt mich, sie so leiden zu sehen. Glaubst du, sie liebt diesen Patrick wirklich?«

»Ich glaube schon«, sagte Orlando.

»Und was hältst du von Walter Smith?«

Orlando gab seinen Eindruck so gut er konnte wieder, denn er hatte Walter Smith schließlich nur einmal getroffen. »Ich denke, er ist ein guter Mann«, gab er zu. Lawrence nickte beifällig.

»Ähnelt er Patrick sehr?«, fragte er.

»Nun ja …« Orlando wollte gerade antworten, da erkannte er die listige Falle, die ihm gestellt worden war. Innerlich verfluchte er seinen älteren Bruder. »Ich weiß es nicht. Anne sagt, Patrick sei größer.«

»Hast du ihn noch nie gesehen?« Die dunklen Augen schienen bis in sein Innerstes zu blicken und jedes Geheimnis offenzulegen.

»Als sie ihn kennen lernte, war sie mit unserer Mutter zusammen. Ich war nicht dabei«, antwortete Orlando kopfschüttelnd. Eine schlaue Antwort, die sogar stimmte.

»Hm«, brummte Lawrence und sprach das Thema nicht mehr an. Kurz darauf ritt er nach Dublin und blieb den Rest des Tages dort. Am nächsten Morgen hörte Orlando zufällig eine Unterhaltung zwischen Lawrence und seinem Vater mit.

»Sag es ihr selbst«, sagte Martin Walsh ungehalten.

»Es ist das Beste so, das versichere ich Ihnen«, hörte Orlando die Stimme seines älteren Bruders. »Ich werde freundlich zu ihr sein.«

Und dieses Versprechen hatte er offenbar gehalten.

»Ich saß gerade auf der Bank vor dem Haus in der Sonne«, erzählte Anne später Orlando, »als er zu mir kam und sich neben mich setzte. Er war gütig. Er sprach von der Liebe.«

»Lawrence hat über Liebe gesprochen?«

»Ja. Anscheinend war er selbst auch einmal verliebt. Stell dir das vor!« Sie lächelte flüchtig und runzelte dann die Stirn. »Ich glaube, er hat die Wahrheit gesagt.«

»Bedeutet das, er ist auf deiner Seite? Gegen Vater?«

»Oh nein. Er sprach über Patrick. Und davon, dass die erste Liebe ein starkes Gefühl sei. Aber erst nach langer Zeit könnten wir wissen, ob der Charakter unseres Liebsten wirklich zu unserem eigenen passe. Dann fragte ich ihn: ›Und wie sollen dann jene glücklich werden, die mit einem Menschen verlobt werden, den sie kaum kennen?‹«

»Darauf wusste er sicher keine Antwort.«

»Oh doch. ›Die Eltern können das besser beurteilen als die Liebenden – das hoffen sie jedenfalls‹, sagte er. Dann lachte er. Ich war sehr überrascht. ›Glaubt Vater wirklich, dass Walter besser zu mir passt?‹, fragte ich. ›Es geht nicht um das Vermögen der Familie, schließlich sind die beiden Brüder‹, antwortete er. ›Es geht um seinen Charakter. Im Moment liebst du Patrick, aber ich verspreche dir‹ – und dabei sah er mich sehr ernst an –, ›dass Walter dir ein guter Ehemann sein wird, der dir Zufriedenheit und Glück schenken wird.‹ Dies waren seine Worte.«

»Was hast du geantwortet?«

»Ich fragte, ob Vater mich zwingen wolle, Walter zu heiraten. ›Nein‹, schrie er darauf, das sei auf keinen Fall so. Ich solle ihn selbst fragen. ›Er möchte, dass du bis zum nächsten Frühjahr nach Frankreich zurückkehrst. Wenn du wiederkommst, sollst du Walter treffen und ihn besser kennen lernen. Und falls er dir dann nicht gefällt, falls du nicht denkst, dass du ihn lieben und ehren kannst, dann wird die Verlobung gelöst.‹«

»Das war alles?«

»Nein. Ich schwieg eine Weile, und schließlich nahm er meinen Arm und sagte lächelnd. ›Anne, denke immer an diesen kleinen Spruch, denn es steckt viel Weisheit in ihm:

***

Head over heart,

The better part.

Heart over head,

Better dead.

***

Dieser Spruch ist wahr, das weiß ich sicher.‹«

»Mehr hat er nicht gesagt?«

»Doch, eine Sache noch. Ich werde Patrick nicht wiedersehen.«

»Er hat es dir verboten? Ich gehe sofort nach Dublin und hole ihn her, wenn du willst«, schrie Orlando aufgebracht.

»Du hast mich nicht verstanden.« Ihr Gesicht verzog sich zu einer kläglichen Grimasse. »Er ist fort. Er ist nicht mehr hier. Er ist auf einem Schiff abgereist.«

»Aber wohin denn?«

»Wer weiß? England, Frankreich, Spanien – vielleicht sogar Amerika. Sie haben ihn fortgeschickt, und er darf mit Sicherheit erst zurückkommen, wenn ich jemand anderen geheiratet habe. Das ist mir völlig klar.«

»Hat Peter Smith dies getan? Patrick würde doch nicht einfach selbst …«

»Nein. Verstehst du denn nicht? Es war Lawrence. Er hatte hinter meinem Rücken bereits alles arrangiert. Oh, ich weiß es. Ich weiß es ganz genau. Ich hasse ihn!«, schrie sie plötzlich auf. Dann brach sie in Tränen aus.

Aber drei Tage später brach sie in recht gefasster Stimmung mit Lawrence nach Frankreich auf. Was wäre ihr auch anderes übrig geblieben.

***

Nach Lawrences und Annes Abreise kehrte im Haus der Familie Walsh wieder für Fingais typische Ruhe ein. Orlando nahm seine Studien wieder auf. Martin Walsh ritt ein- oder zweimal die Woche nach Dublin. Und sonntags gingen sie gemeinsam zur Burg von Malahide. In dem alten Gemäuer las ein Priester eine Messe – diskret natürlich.

Es war ein warmer, milder September. Martin Walsh, der die freundliche Ruhe seines Anwesens genoss, war seit einigen Tagen nicht mehr in Dublin gewesen. Eines Nachmittags kam Orlando gerade von einem Spaziergang zurück, als ein Reiter näher kam. Es war sein Cousin Doyle. Der große Mann stieg behände vom Pferd und nickte Orlando freundlich zu.

»Ist dein Vater hier? Ah, da ist er ja«, beantwortete er seine Frage selbst, als Martin Walsh im Türrahmen erschien. »Ich habe Neuigkeiten für dich, Cousin – falls du es noch nicht gehört hast?«

»Ich habe nichts gehört.« Er sah Orlando an und warf Doyle einen fragenden Blick zu.

»Der Junge darf es ruhig hören. Bald wird sowieso die ganze Welt davon wissen. Die Nachricht hat uns aus Ulster erreicht.« Doyle atmete tief durch. »Der Earl of Tyrone ist fort.«

»Gestorben?«

»Nein. Er hat ein Schiff bestiegen und ist fortgesegelt. O’Donnell, der Earl of Tyrconnell, und noch einige andere sind mit ihm gegangen. Die Grafen sind geflüchtet, Cousin Walsh. Sie haben Irland den Rücken zugekehrt und werden auch nicht zurückkommen.«

Der Graf von Tyrone. Orlando hatte ihn natürlich noch nie gesehen, aber in seiner Vorstellung hatte er immer einen festen Platz innegehabt. Eine große, dunkle Gestalt. Der heldenhafte, beinahe gottgleiche letzte Prinz des alten Irland. Der Erbe der Hochkönige aus der O’Neill-Sippe, die oben in Ulster herrschte. Orlando hatte sich immer vorgestellt, eines Tages werde Tyrone sich erheben und die englischen Beamten aus Dublin vertreiben. Und danach zweifellos Irland als neuer Hochkönig in Tara regieren. Und obwohl Orlando ein Altengländer war, hatte ihn diese Vision einer erneuten Herrschaft der alteingesessenen Iren nicht mit Schrecken erfüllt, sondern mit ehrfürchtiger Aufregung. O’Donnell war der mächtigste irische Prinz in Donegal. Der Norden und der Nordwesten waren die letzten Überreste der uralten Clangebiete gewesen, und nun waren ihre Herrscher Tyrone und Tyrconnell, die letzten Prinzen von Irland, geflohen.

»Und warum?«

»Warum?«, antwortete Doyle mit einem Achselzucken. »In Dublin munkelt man, O’Donnell habe sich mit dem spanischen König verbündet, genau wie Tyrone damals. Und schließlich habe er davon Wind bekommen, dass die Regierung von seinen Plänen wusste. Also rannte er fort, solange er noch konnte.«

»Aber Tyrone ging es doch gut. Sie haben ihm sogar einen Teil seines Besitzes, seines Territoriums gelassen. Er hatte doch keinen Grund zur Flucht.«

»Ich bin ganz deiner Meinung. Aber Tyrone sieht das anders. Die englischen Beamten beginnen sich für Ulster zu interessieren. Und keiner wird glauben, dass er nichts mit O’Donnell und dem spanischen König zu tun hatte.« Er seufzte. »Außerdem ist ein irischer Prinz einfach nicht für die Zeiten geschaffen, in denen wir leben. Er wird sich nie zum Diener des Königs machen.«

»Als Earl of Tyrone ist man ja wohl kaum ein Diener.«

»Ihm kommt es aber so vor. Die Iren sind frei, Martin. Gut, sie haben ihre Clans und Stämme, die Positionen ihrer Familien sind nach uraltem irischem Erbrecht geregelt. Aber sie haben einen unabhängigen Geist. Und ihre Prinzen müssen sich nur vor sich selbst verantworten. Tyrone wird nie einem aufgeblasenen, kleinen englischen Beamten gehorchen, der nur eine vorübergehende Stellung innehat – und den Tyrone sowieso für einen Ketzer hält. Der Mann ist dafür nicht geschaffen.«

»Also ist er ausgeflogen.«

»Wie ein Vogel. Wie ein Adler, sollte ich sagen.«

»Was hat er jetzt vor?«

»Durch Europa streifen. Einen katholischen Prinzen suchen, dem er dienen kann, ohne seinen Namen oder seine Religion zu entehren. Seine Truppen kommandieren. Du darfst nicht vergessen, dass er diese katholischen Könige und ihre Armeen bereits kennt. Sie werden ihn gerne aufnehmen.«

»Das stimmt«, nickte Walsh und seufzte. »Bitte sei heute Abend mein Gast. Iss und trink mit mir.«

Doyle lächelte.

»Das hatte ich vor.«

Sie aßen in der geräumigen Wohnhalle des Hauses früh zu Abend, und Orlando konnte die beiden Männer während ihrer Unterhaltung beobachten. Seinen ruhigen, würdevollen Vater und den dunklen, kleineren und temperamentvolleren Doyle. Während des Essens drehte sich das Gespräch natürlich um die politischen Auswirkungen, die Tyrones Flucht nach sich ziehen würde.

»Zweifellos wird die Regierung sofort den ganzen Besitz des Grafen konfiszieren«, merkte Walsh an. »Gesetzlich wäre das durchaus machbar.«

»Ich habe den Verdacht, sie werden den Norden besiedeln. Heute ist ein Freudentag für alle Männer, die sich ein Stück Land zu guten Bedingungen unter den Nagel reißen wollen«, sagte Doyle. Aber der Gedanke schien ihm persönlich nicht viel Freude zu bereiten.

Nach dem Essen blieben die beiden Männer am Tisch sitzen und tranken einträchtig zusammen. Obwohl Orlando wusste, dass er nicht an dem Gespräch teilnehmen durfte, blieb er einfach leise vor dem großen offenen Kamin am Ende der Wohnhalle sitzen, wo die Männer seine Gegenwart zu vergessen schienen. Auch wenn sie nur wenig sprachen – und er das meiste, was sie sagten, ohnehin nicht verstand –, wollte er an diesem wichtigen Tag trotzdem bei seinem Vater und seinem Cousin sein. Aufmerksam beobachtete er die beiden. Und trotz seiner Jugend spürte er, was sie empfanden. Er saugte es in sich auf, und er würde es nie vergessen.

Eines war sicher. Für die beiden Männer war der Abend voller Melancholie und beide teilten das Gefühl eines Verlustes. Doyle, Nachkomme von Wikingern und Generationen Dubliner Kaufleute, dem Namen nach Protestant – oder zumindest Anhänger der Kirche von Irland –, und sein Cousin Walsh, ein katholischer Grundbesitzer, dessen Familie seit fast fünfhundert Jahren eine Stütze der altenglischen Gentry war. Zwei Männer im Herzen des English Pale. Und doch auch zwei Iren, für die die Flucht von Tyrone und Tyrconnell einen persönlichen Schlag bedeutete. Emotional standen beide dem altirischen Prinzen näher als jedem Engländer, der aus London hergeschickt wurde.

»Die Flucht der Grafen«, sagte Doyle nachdenklich. »Ein Zeitalter geht zu Ende.«

»Möge Gott ihnen mehr Glück schenken«, sagte Walsh und erhob seinen Weinkelch.

»Darauf trinke ich«, antwortete Doyle.

Der junge Orlando sah schweigend zu und verstand, dass sich die Welt, in der er lebte, aus noch nicht klar umrissenen Gründen für immer verändert hatte.

Am folgenden Morgen rief der Vater Orlando zu sich, nachdem Doyle sich verabschiedet hatte. »Du kommst mit mir«, eröffnete er ihm, und als Orlando fragte, wohin es gehen solle, antwortete er nur: »Portmarnock.«

Das kleine Küstendorf Portmarnock lag an der Straße, die durch Dünen und Strände vom Rand der uralten Ebene der Vogelscharen nach Süden verlief. Orlando machte sich gleich daran, sein Pony zu satteln, aber sein Vater wehrte ab: »Nein, wir laufen.«

Eine leichte Brise wehte. Wolken zogen über den Himmel, der zwischen Blau und Grau changierte. Orlando ging zufrieden mit seinem Vater nach Osten in Richtung Portmarnock. Sie liefen Seite an Seite und sprachen nur wenig und selten. Als sie ihren eigenen Besitz verließen, passierten sie die verlassene Kapelle, in der Orlando auf Patrick Smith gewartet hatte. »Es ist eine Schande, dass uns unsere eigene Regierung verbietet, sie zu benutzen«, sagte sein Vater.

Während ihres Spaziergangs stießen sie überall auf die Spuren der mittelalterlichen Besatzung durch die Altengländer: Weizen- und Gerstefelder, hohe, dunkle Hecken, verstreut liegende alte Steinkirchen oder befestigte Häuser. Aber bald erreichten sie weit weniger geordnetes Terrain, auf dem Rinder grasten. Dies war die offene, zur See abfallende Ebene, die noch genauso kahl war wie damals, als Doyles Vorfahr Harold der Wikinger und seinesgleichen ihre nordischen Bauernhöfe auf der Ebene von Fingal errichtet hatten.

Nach weniger als einer Stunde erreichten sie ihr Ziel. Es war viel älter als alles in seiner Umgebung. Es stand einsam, abseits des kleinen Fischerdorfes.

»Dein Bruder heißt diesen Ort nicht gut«, sagte Walsh und verzog leicht das Gesicht. »Genauso wenig heißt er gut, dass ich hierhin gehe.« Orlando erlebte zum ersten Mal, dass sein Vater die Spannung ansprach, die zwischen ihm und Lawrence herrschte. »Aber gelegentlich bete ich hier allein.«

Der Anblick war nicht sonderlich beeindruckend: ein alter Brunnen, von einer niedrigen Steinmauer umschlossen. Irgendwann hatte man ein konisch zulaufendes Steindach darüber errichtet, das aber inzwischen verfallen war. Der Brunnen war ziemlich tief, aber als Orlando sich über die Brüstung lehnte, konnte er tief unten den weichen Schimmer des Wassers sehen. Er wusste nicht warum – vielleicht lag es an der einsamen Lage –, aber irgendwie erschien ihm das Wasser in der Tiefe seltsam und geheimnisvoll, ganz anders als das Wasser des Brunnens vor ihrem eigenen Haus. Was verbarg es? Vielleicht das prächtig glänzende Tor zu einer anderen Welt?

»Der Brunnen ist St. Marnock geweiht«, sagte sein Vater leise. »Dein Bruder Lawrence behauptet, früher sei es ein heidnischer Brunnen gewesen. Vor St. Patricks Ankunft wahrscheinlich. Er hält solche Dinge für Aberglauben, die wahren Gläubigen nicht würdig sind.« Er seufzte. »Vielleicht hat er Recht. Aber ich mag die alten Bräuche, Orlando. Wenn ich Sorgen habe, dann komme ich hierher und bete zum heiligen Marnock. Genau wie die einfachen Leute hier.«

St. Marnock. Einer der unzähligen Heiligen der Gegend, die außerhalb ihres kleinen Einflussgebietes beinahe vergessen waren. Oft hatten sie aber noch ihren eigenen Feiertag, und es gab einen Brunnen oder eine heilige Stätte, an denen ihrer gedacht wurde. »Ich mag die alten Bräuche auch«, sagte Orlando, der sich jetzt seinem Vater sehr nahe fühlte.

»Dann kannst du ein Gebet für deine Schwester sprechen und den Heiligen bitten, sie zu leiten.« Walsh umrundete den Brunnen, fiel auf der anderen Seite auf die Knie und versank eine Zeit lang in ein stummes Gebet. Orlando, der sich auch niedergekniet hatte, erhob sich erst wieder, als sein Vater dies tat. Dieser ging um den Brunnen herum und legte ihm zu seiner Überraschung den Arm um die Schulter.

»Orlando«, sagte er leise. »Versprichst du mir etwas?«

»Ja, Vater.«

»Versprich mir, dass du eines Tages heiratest und Kinder bekommst – dass du mir Enkel schenken wirst.«

»Ja, Vater, das verspreche ich. Wenn es Gottes Wille ist.«

»Hoffen wir, dass es Gott gefällt.« Er schwieg einen Moment. »Schwöre es mir, hier an diesem Brunnen, bei St. Marnock.«

»Ich schwöre es, Vater. Bei St. Marnock.«

»Gut.« Martin Walsh nickte und schenkte seinem Sohn ein liebevolles Lächeln. »Gut, dass du geschworen hast. Ich möchte, dass du den Tag nie vergisst, an dem dein Vater dich zu dem heiligen Brunnen des St. Marnock mitgenommen hat. Wirst du dich später auch an diesen Tag erinnern, Orlando?«

»Ja, Vater.«

»Dein ganzes Leben lang. Komm.« Den Arm um die Schultern seines Sohnes gelegt, führte Walsh seinen Sohn den Pfad durch die Dünen entlang zum breiten Sandstrand. Es war Ebbe, und der Strand erstreckte sich weit ins Meer hinein, das in der Sonne glitzerte.

Zu ihrer Rechten reichte der fahle Streifen Sand bis hin zum Ben of Howth, dessen Hügel hoch aus dem Wasser aufragte. Vor ihm lag die kleine Insel Ireland’s Eye wie ein Schiff vor Anker. In der Gegenrichtung, weit entfernt und am nördlichen Horizont nur undeutlich sichtbar, erhoben sich die Morne-Berge, die Wächter von Ulster. Sie schienen zu schlafen.

Orlando sah erst zu seinem Vater auf, der gedankenverloren aufs Meer hinausstarrte, und dann auf die Muschelscherben zu seinen Füßen. Eine Wolke schob sich langsam vor die Sonne, und der Glanz des Meeres erlosch.

»Ein Zeitalter geht zu Ende, Orlando.« Die Stimme seines Vaters war nur noch ein leises Murmeln. Dann drückte seine Hand sanft die Schulter seines Sohnes. »Erinnere dich an dein Versprechen.«

***

An einem klammen Wintertag Anfang des folgenden Jahres erhielt Anne Walsh in Bordeaux einen Brief von ihrem Vater.

***

Meine liebste Tochter,

Du musst jetzt stark sein, denn ich habe Dir sehr traurige Neuigkeiten mitzuteilen. Vor zwei Wochen stach Patrick Smith vom Hafen von Cork aus mit dem Handelsschiff in See, mit dem er eine Woche vorher dort angelegt hatte. An dem Morgen, als sie die Anker lichteten, war die See ruhig. Aber am selben Tag erhob sich gegen Abend ein schwerer Sturm, der das Schiff an die irische Küste zurücktrieb, es überwältigte und gegen die Klippen schleuderte. Es ist meine traurige Pflicht, Dir mitzuteilen, dass alle an Bord bei diesem Unglück ihr Leben verloren haben. Meine liebste Anne, ich weiß, wie schrecklich diese Nachricht für Dich sein muss. Ich trauere mit Dir und versichere Dir, dass meine Gedanken immer bei Dir weilen.

Dein Dich liebender Vater.

 

Es war vorbei. Ihr Liebster war fortgegangen und nun für immer verloren. Es gab keine Hoffnung mehr für sie. Anne brach in Tränen aus und weinte mehr als eine Stunde lang bitterlich.

Nach dem ersten Schock und der ersten Trauer überfiel sie Wut. Nicht auf ihren Vater – dies war nicht seine Schuld –, sondern auf Lawrence. Er war es gewesen, dachte sie bitter. Der intrigante ältere Bruder, der sich mit seiner kalten Vernunft immer einmischen musste. Der selbstgerechte, hinterlistige Lawrence hatte Patrick auf dem Gewissen. Wenn Lawrence nicht gewesen wäre, hätte Patrick nicht fortgehen müssen, wäre niemals in Cork gewesen und wäre nicht ertrunken. Sie trocknete ihre Tränen und verfluchte in ohnmächtiger Wut und Trauer ihren Bruder. Wäre er doch nur an Patricks Stelle gestorben. Niemandem hätte er wirklich gefehlt, nicht einmal seinem eigenen Vater.

Der Regen lief in Strömen an dem Glasfenster herab. Sie starrte in das eintönige Grau und spürte nur endlose Verzweiflung. Mochte mit ihr geschehen, was wolle. Es kümmerte sie nicht mehr.

* 1614 *

Tadgh O’Byrne hatte die Nase vorn. Das wusste er, weil er alles genau beobachtet hatte. »Bei dieser Totenwache wurde viel getrunken«, sagte er seiner Frau. »Aber ich habe die Nase vorn. Ich bin ganz vorne. Ich habe eben einen Kopf, der so hart ist wie ein Fels.«

»Das hast du«, sagte sie.

»Ich bin ein Berg«, verkündete er, obwohl er ziemlich klein war und es auch an Kraft mit den meisten Männern nicht aufnehmen konnte.

Tadgh, manchmal auch Tadc geschrieben, war kein ungewöhnlicher Name. Die Engländer machten oft Teague daraus, obwohl die Aussprache eigentlich an »Teig« erinnerte. »Es gab große Männer, die den Namen Tadgh trugen«, sagte er oft. »Mächtige Clanführer.« Und das stimmte auch. Das Problem war nur, dass Tadgh nicht zu ihnen gehörte, auch wenn er glaubte, dass er dazugehören müsste.

Und zwar statt Brian O’Byrne.

Vor sechzig Jahren war Sean O’Byrne von Rathconan gestorben. Die Nachfolge hatte sein Sohn Seamus angetreten. Aber als es daranging, einen Nachfolger für Seamus zu bestimmen, stimmten alle Familienmitglieder und wichtigen Personen des gesamten Gebietes darin überein, dass sein ältester Sohn ein Versager war. Der Clan hatte den drittältesten von Seamus vier Söhnen als Nachfolger bestimmt, einen prächtigen Kerl. Der nach irischem Gesetz und Brauchtum folglich Rathconan und die ein wenig undurchsichtige Clanherrschaft, die es repräsentierte, erhielt. Brian O’Byrne war der Enkel dieses prächtigen Kerls. Tadgh O’Byrne war der Enkel des Versagers.

Die Totenwache wurde für Brians Vater abgehalten. Aus ganz Wicklow und aus noch weiter entfernten Gegenden waren Gäste angereist: O’Tooles und O’Mores, MacMurroughs und O’Kellys. Und natürlich O’Byrnes. O’Byrnes von den Downs, O’Byrnes aus Kiltimon, O’Byrnes aus Ballinacor und Knockrath; O’Byrnes aus den ganzen Wicklow-Bergen. Alle waren gekommen, um Toirdhealbhach O’Byrne von Rathconan die letzte Ehre zu erweisen und seinen gut aussehenden jungen Sohn Brian als Erben zu begrüßen. Und kaum einer nahm auch nur die geringste Notiz von Tadgh O’Byrne. Denn alle waren sich einig, dass er nichts taugte.

»Schau dir das an.« Tadgh starrte so voller Verbitterung auf den jungen Brian O’Byrne, dass er nicht einmal darauf achtete, ob seine Frau ihm überhaupt noch zuhörte. Es war ihm auch egal. »Dieser Weichling schläft doch im Federbett«, höhnte er.

Brian O’Byrne war zwanzig Jahre alt, recht groß, hellhaarig und gut aussehend. Aber Tadgh O’Byrne erfüllte nur sein eigener Anblick mit Stolz. Er war inzwischen vierunddreißig. Sein dunkles Haar fiel ihm traditionell irisch frisiert in dicken Locken auf die Schultern. Für den besonderen Anlass hatte er sein übliches, safranfarbenes Leinenhemd gegen ein weißes ausgetauscht und trug einen Gürtel um die Taille. Um die Schultern hatte er einen hellen Wollumhang gelegt. Viele der anderen Männer hatten dunkle Jacken angezogen, um dem ernsten Anlass gerecht zu werden, aber Tadgh hielt nichts von Jacken. Viele trugen enge Hosen im Schottenkaro oder Wollstrümpfe, aber da es ein warmer Tag war, blieben Tadghs Beine unbedeckt. Seine Füße steckten in derben Straßenschuhen. Er sah aus wie ein Schafhirte.

Und da stand sein Cousin, der junge Clanführer, der Erbe von Rathconan, das doch eigentlich ihm, Tadgh, zugestanden hätte. Brian, dessen helles Haar kurz geschnitten war, der ein schwarzes, besticktes Wams und passende Kniehosen trug, dessen Beine in Seidenstrümpfen und dessen Füße in feinen Lederschuhen steckten. Er trug sogar einen goldenen Ring. Sein Aussehen gab seinem Blutsverwandten Tadgh den Anlass, auf den Boden zu spucken und »Engländer« zu murmeln. »Verräter.«

Das war ein bisschen ungerecht. Solche Kleider trugen Edelmänner in den unterschiedlichsten Teilen Europas, auch im bevorzugten Staat der alteingesessenen Iren, dem allerkatholischsten Königreich Spanien. Und viele wohlhabende und respektable irische Gentlemen bei der Totenwache trugen ganz ähnliche Kleidung. Ob sie sich dabei allgemein nach dem richteten, was in England, Frankreich und Spanien gerade Mode war, oder sich durch ihr Aussehen bei den englischen Verwaltungsbeamten in Dublin beliebt machen wollten, ließ sich nur schwer sagen. Sicher war jedoch, dass die englischen Verwaltungsbeamten nicht angenommen hätten, dass englische Manieren eine freundliche Einstellung der englischen Krone gegenüber bedeuteten. »Manche dieser verfluchten irischen Rebellen zur Zeit Königin Elisabeths hatten sogar in Oxford studiert!«, erinnerten sie sich angeekelt. Aber solche Feinheiten waren an Tadgh verschwendet. »Engländer!«, zischte er. Und ihn beherrschte nur ein einziger Gedanke: Eines Tages werde ich diesen Brian zu Fall bringen.

***

Es war eine beachtliche Versammlung. Der junge Brian war zu Recht stolz. Nicht nur darauf, dass so viele wichtige Männer von nah und fern gekommen waren, um seinem Vater die letzte Ehre zu erweisen, sondern dass sie ihn so offensichtlich gemocht und geschätzt hatten. Er empfand große Zuneigung für sie alle. Am stärksten aber beeindruckte ihn das Gut Rathconan. Hier schien die Zeit seit den Tagen seines Großvaters Sean vor einem Jahrhundert stehen geblieben zu sein. Das bescheidene Haus mit dem quadratischen Turm, dem man seine Jahre ansah, blickte von den Abhängen der Wicklow-Berge hinaus aufs Meer, das in der Ferne blau schimmerte. Die zusammengewürfelten Bauernhöfe, die in der Nähe lagen, waren unverändert geblieben, genau wie die kleine Steinkapelle, in der während Sean O’Byrnes Lebenszeit Father Donal die Messe gehalten hatte. Sogar die Nachfahren von Father O’Donal waren noch da. Einer war ebenfalls Priester, aber im Gegensatz zu Father O’Donal hatte er weder Frau noch Kinder. Nur noch wenige Priester lebten nach diesem alten irischen Brauch. Sein Bruder, ein Gelehrter und Dichter, bot seine Dienste als Hauslehrer sehr erfolgreich den Familien in der Gegend an. Dieser Beruf erlaubte es ihm, Körper und Seele wach und jung zu halten – und dabei unzählige Kinder in die Welt zu setzen. Priester und Gelehrte, Kuhhirten und Schäfer, die Rathconan-Familien und ihre Nachbarn bildeten die kleine Welt, die Brian O’Byrne geerbt hatte. Der Priester und sein Bruder hatten ihn ausgebildet, ein Schneider aus Dublin hatte ihn eingekleidet, und dank der Führung seines weisen und liebevollen Vaters war er stolz auf dieses Erbe.

Er war auch stolz darauf, ein O’Byrne zu sein. Sie gehörten zwar mit den O’Tooles zu den verzweigtesten Sippen, die in den Wicklow-Bergen herrschten, aber es war kaum möglich, auf einen von ihnen zu zeigen und auszurufen: »Das muss einfach ein O’Byrne sein.« Es gab dunkelhaarige, blonde, große und kurz gewachsene. Nach sechshundert Jahren Familiengeschichte bilden sich auch in einer begrenzten Region die unterschiedlichsten Typen heraus. Auch in ihrer politischen Einstellung unterschieden sie sich stark. Am Ende von Königin Elisabeths I. langer Regierungszeit kooperierten die O’Byrnes im nördlichen Wicklow, relativ nah bei Dublin, im Allgemeinen mit der englischen Regierung, obwohl keiner von ihnen zum Protestantismus übertrat. Die mächtigen O’Byrne-Clanführer in den südlichen Gebirgspässen hatten sich jedoch ihre stolze Unabhängigkeit bewahrt. Als Tyrone sich gegen die englische Krone erhob, war der Clanführer der südlichen O’Byrnes sein wichtigster Verbündeter gewesen. »O’Byrne war Tyrones Verbindung zum spanischen König. Er machte aus dem Aufstand einen Kampf für die katholische Sache«, hatte der Vater Brian stolz erzählt. »Aber Sie waren doch gar nicht Tyrones Meinung«, hatte Brian ihn erinnert. Die O’Byrnes von Rathconan hatten es den nördlichen O’Byrnes gleichgetan und sich aus dem Konflikt herausgehalten.

»Das stimmt«, sagte sein Vater wehmütig. »Aber trotzdem war es eine große Zeit.«

Sein Vater war in diesen schwierigen zwei Jahrzehnten die moralische Instanz der ganzen Gegend geworden. Ein irischer Prinz bis in die Fingerspitzen. Niemand zweifelte daran, für welche Seite das Herz dieses groß gewachsenen, mutigen, gut aussehenden Mannes schlug. Aber er war auch vorsichtig und weise. Als Tyrones großes Abenteuer scheiterte, war er zwar traurig gewesen, aber es hatte ihn nicht überrascht. 1606, ein Jahr vor der Flucht der Grafen, wurde das große, wilde Gebirgsland von Wicklow schließlich als englische Grafschaft deklariert. Trotz der Nähe zu Dublin war es das letzte Gebiet Irlands, das unter englische Verwaltung gestellt wurde. In den hohen, einsamen Gebirgszügen merkte man den Unterschied kaum. Aber wenigstens theoretisch war damit die Unabhängigkeit der Region zu Ende. Doch auch dieses Thema hatte sein Vater eher philosophisch betrachtet.

»Früher überfielen Generationen von O’Byrnes die englischen Bauernhöfe drunten in der Ebene. Und die schickten Soldaten in die Hügel hinauf. Manchmal wurden sie in einen Hinterhalt gelockt und getötet, und manchmal schlugen sie uns. Aber diese Zeiten sind vorbei. Es gibt andere Arten zu leben. Bessere.« Dies riet er in den schweren Zeiten seinen Nachbarn. Und zu Brian sagte er immer: »Wenn du Rathconan und alles, was dir wichtig ist, erhalten willst, dann musst du wie ein weiser Mann handeln. Gegen die Engländer kannst du dich nur behaupten, wenn du nach ihren Regeln spielst.«

»In welcher Hinsicht? Wie soll ich mich verändern?«

»Das weiß ich nicht«, bekannte sein Vater offen. »Du musst für deine Generation weise handeln. Das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann.«

Und nun war diese Zeit viel zu früh angebrochen. Sein Vater war noch nicht alt gewesen, aber er hatte seit über einem Jahr an einer schweren Krankheit gelitten, die ihm am Ende alle Lebenskraft genommen hatte.

Die Totenwache hatte bereits vor einiger Zeit begonnen. Die Leiche war geschmückt und aufgebahrt worden. Es hatte Totenklagen gegeben, aber die meisten Besucher hatten dem Toten ihren Respekt still erwiesen. Es gab reichlich zu essen und zu trinken. Ein Dudelsackpfeifer spielte eine klagende Weise; aber schon bald würde die Musik fröhlicher werden. Brian hatte bereits von allen Gästen Beileidsbekundungen erhalten. Jetzt mischte er sich unter die Besucher, um sicherzustellen, dass alle mit der Höflichkeit und Gastfreundschaft behandelt wurden, die dem Anlass angemessen war. Gerade hatte er bemerkt, dass Tadgh O’Byrne ihn stirnrunzelnd anstarrte und etwas vor sich hin murmelte. Er wäre dem Kerl gerne aus dem Weg gegangen, aber das durfte er eigentlich nicht. Er bereitete sich gerade innerlich auf ein Gespräch mit dem Nichtsnutz vor, als sein Blick auf den Abhang fiel und er eine seltsame, ihm völlig unbekannte Gestalt sah, die langsam den Weg zum Haus hinaufritt.

Es war ein großer, hagerer Mann. Sein Wams, sein Umhang und seine Kniehosen waren so schwarz wie Tinte. Keine Feder zierte seinen hohen schwarzen Hut. Hinter ihm ritt ein in Grau gewandeter Diener. Obwohl die Sonne auf den Weg schien, war es, als habe eine kleine Wolke des Unheils ihren Schatten auf die Gebirgspässe geworfen. Brian fragte sich, wer das sein mochte.

***

Bei seinem Treffen mit Doyle war Doktor Simeon Pincher schlecht gelaunt gewesen. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Der Prediger und Gelehrte war nämlich schon seit über einem Jahr schlechter Laune.

Wie in England traf sich das irische Parlament nicht regelmäßig zu Sitzungen, sondern nur dann, wenn es bestimmte Angelegenheiten zu erledigen galt. Aber im vergangenen Jahr war ein ständiges Parlament in Dublin einberufen worden, eine beeindruckende Versammlung. Den alten Parlamenten unter der Herrschaft der Tudors und der Plantagenets hatten größtenteils Gentlemen aus dem English Pale um Dublin angehört, aber dieses Parlament hatte Männer aus allen Teilen der Insel angezogen.

Zuerst hatte das für Probleme gesorgt. Die meist katholischen Altengländer hatten erst gedroht, der Versammlung fernzubleiben, aber schließlich hatten sie sich beruhigt und die Geschäfte aufgenommen. Und jetzt bewegte sich das Parlament – jedenfalls Pinchers Meinung nach – in die richtige Richtung. Die Verordnung, dass alle Regierungsbeamten den Oath of Supremacy schwören mussten, war bekräftigt worden. Sie mussten schwören, dass der König und nicht der Papst die höchste geistliche Autorität darstellte, sofern sie ihre Stellung nicht verlieren wollten. Dann hieß es, dass dieser Eid auch für alle Advokaten Pflicht werden sollte. Das hätte jedoch das berufliche Ende für loyale Katholiken wie Martin Walsh bedeutet, und der entsprechende Antrag wurde schnell wieder zurückgezogen. Katholiken, die sich weigerten, den alten Glauben aufzugeben, mussten Bußgelder bezahlen. Das Parlament war jedoch noch nicht bereit dazu, sie zu zwingen, der Kirche von Irland beizutreten, was Simeon Pincher sehr bedauerte. Immerhin wurden Proklamationen gegen ausländische Erzieher und reguläre Priester erlassen. Das Parlament hatte seine Fehler, aber es bewegte sich in die richtige Richtung. Und das lag hauptsächlich an seiner Zusammensetzung.

Denn die Protestanten waren den Katholiken zahlenmäßig überlegen. Mit einhundertzweiunddreißig zu hundert Stimmen. Einige Katholiken waren alteingesessene irische Fürsten, aber die meisten gehörten zu den Altengländern. Woher kamen also die ganzen Protestanten? Überwiegend aus den Plantations, den Besiedlungen. Und seltsamerweise ärgerte genau dieser Umstand Pincher. Er war nicht wütend auf die Plantation-Männer. Gott bewahre, nein. Er war wütend auf sich selbst. Denn Pincher hatte es versäumt, rechtzeitig zu investieren.

»Mein Glaube war nicht stark genug«, hatte er seiner Schwester in einem Brief gestanden. »Der Mut verließ mich zu schnell.«

Die Sache war ihm einfach zu groß geworden. Bei seinem Besuch in Ulster vor sieben Jahren hatte er die Möglichkeit erkannt, das Land erfolgreich zu besiedeln. Als nach der Flucht der Grafen und der Konfiszierung der Territorien von Tyrone und Tyrconnell folglich eine Plantation in Ulster in greifbare Nähe rückte, hatte er auf den Bauernhof verzichtet, der ihm angeboten worden war. Schließlich hatte er Besseres in Aussicht gehabt. Aber die Landstriche, die in Ulster und Connacht verfügbar wurden, waren derart riesig, dass die gesamte Operation ungeahnte Ausmaße annahm. Die undertaker übernahmen ungeheuer große Gebiete. Die Stadt London hatte das gesamte Gebiet Derry übernommen und in Londonderry umgetauft. Ursprünglich war man davon ausgegangen, dass die Männer Gebiete in einer Größenordnung von ein- oder zweitausend Morgen verwalten würden, aber die Landerschließer schnappten sich tausende, wenn nicht zehntausende Morgen.

Die Welt veränderte sich. Das Dublin, das Walsh, Doyle und sogar Pincher vertraut war, gehörte dem späten elisabethanischen Zeitalter an. Aber in London hatte sich im vergangenen Jahrzehnt einiges verändert. Das Zeitalter der wagemutigen, abenteuerlustigen Kaufmänner hatte begonnen. König Jakob I. hatte seine freudlose Jugend in Schottland hinter sich gelassen und frönte seiner Vorliebe für Luxus nun hemmungslos. Der englische Hof war bestechlich, seine heimlichen Herrscher waren Gier und Exzess. Verwegene, zupackende Männer auf der Suche nach schnellem Gewinn wurden ermutigt. Und solche Männer waren es auch, die in die Plantation von Ulster investierten.

Und als Doktor Pincher sah, welch durchtriebene Kerle Ulster in Besitz nahmen, hielt er sich zurück. Er habe nur begrenzt Zeit, redete er sich ein. Er müsse schließlich predigen und lehren. Sein Kapital sei zu bescheiden. Das ganze Geschäft war einfach eine Nummer zu groß für ihn. Diese Welt war ihm fremd, ja, sie machte ihm – er war ehrlich genug, dies zuzugeben – sogar Angst. Also hatte er gekniffen.

Und jetzt, da er mit ansehen musste, wie alle diese neu angekommenen Grundbesitzer von den Plantations nach Dublin kamen, überwältigte ihn das Gefühl, versagt zu haben. Wie die törichten Jungfrauen im biblischen Gleichnis war er nicht vorbereitet gewesen. Als der Augenblick gekommen war, hatte er versagt. Erst am Tag zuvor hatte ein junger Student am Trinity College den guten Doktor dabei erwischt, wie er gedankenverloren unter einem Baum saß. Der Doktor bemerkte ihn nicht, da er hinter ihm vorbeilief. Der Student näherte sich ihm und hörte, wie der Doktor recht deutlich murmelte: »Prädestinierter Profit; gerechtfertigte Gegenleistung.« Danach hatte der Doktor traurig den Kopf geschüttelt. Der junge Student, für den der Ausspruch keinen Sinn ergab, hatte sich auf Zehenspitzen davongeschlichen.

Simeon Pincher gestand sich ein, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er war entschlossen, dies wiedergutzumachen, und bis sich ihm die Möglichkeit dazu bot, lebte er in ständiger schlechter Laune.

An dem Morgen, da er mit Doyle gesprochen hatte, war er im Begriff, sich auf ein Unternehmen vorzubereiten, das ihm aller Wahrscheinlichkeit nach genau den Profit, der ihm inzwischen rechtmäßig zustand, einfach und sicher einbringen würde. Und er hatte in Gedanken gerade die Reise geplant, auf die er sich begeben musste, als er beim Betreten des Bezirks von Christ Church ein kleines Grüppchen bekannter Gestalten erblickte. Einer dieser Männer konnte ihm vielleicht nützlich sein.

Als Erstes begrüßte er Doyle mit einem höflichen Kopfnicken. Dieser wohlhabende Mann war schließlich eine Säule der Kirche von Irland und ein Mitglied der Trinity-Gilde. Außerdem schuldete er Doyle einen Gefallen. Am vergangenen Sonntag war er für eine Predigt in der Christ-Church-Kathedrale vorgesehen gewesen. Er wusste, dass außer den üblichen Beamten aus der Dubliner Burg auch einige protestantische Parlamentsabgeordnete seine Gemeinde verstärken würden. Eine ausgezeichnete Gelegenheit, einen guten Eindruck zu machen. Es gab nur ein kleines Problem.

Die Ratsherren von Dublin sollten eigentlich den Bürgermeister sonntags beim Kirchgang begleiten. Aber da viele von ihnen Papisten waren, gingen sie oft bereits vorher zur Messe. Sie brachten den Bürgermeister zwar dem Zeremoniell entsprechend zur Kathedrale und begleiteten ihn zu seinem Platz. Danach verfügten sie sich aber in aller Ruhe in ein nahe gelegenes Gasthaus, tranken ein paar Runden und kehrten erst nach der Predigt wieder zurück, um den Bürgermeister abzuholen. Dieses lässige, typisch irische Verhalten brachte Doktor Pincher ohnehin zur Weißglut, aber an dem Tag seiner Predigt fürchtete er es noch mehr als sonst. Die Besucher würden den Eindruck erhalten, dass den Ratsherren seine Predigt völlig egal sei. Also hatte er sich an Doyle gewandt.

In der Vergangenheit hatte Pincher manchmal den Verdacht gehegt, dass Doyle ihn nicht leiden konnte. Aber letzten Sonntag war er ihm auf jeden Fall beigestanden. Tatsächlich waren zehn Ratsherren erschienen. Den dreien, die Anstalten machten, wieder zu gehen, hatte Doyle einen so scharfen Blick zugeworfen, dass sie sich widerwillig wieder setzten. Sogar während der ganzen Predigt waren sie wach geblieben. Dafür schuldete er Doyle ewige Dankbarkeit, so viel war sicher.

Neben Doyle stand Walter Smith. Ein ernsthafter junger Mann, nur schade, dass er Papist war. Diese Tatsache hätte Pincher normalerweise dazu gebracht, von dem Mann keine Notiz zu nehmen. Aber er erinnerte sich daran, dass Walter Smith mit dem Walsh-Mädchen verheiratet war, und er wusste, dass Walsh und Doyle Cousins waren. Aus Höflichkeit gegenüber Doyle nickte er also auch Walter Smith kurz zu.

Der dritte Mann war Jeremiah Tidy. Und nun lächelte Doktor Pincher.

»Guten Tag, Master Tidy.«

»Auch Euch einen guten Tag, Euer Ehren.«

Gott sei Dank gab es Tidy. Ein verlässlicher Mann. Seit drei Generationen diente seine Familie Christ Church und der Kirche von Irland. Jeremiah war seit seiner Geburt auf diese Rolle vorbereitet worden und kannte jeden Zoll des Gebäudes, von der ausladenden Krypta bis hin zur Turmspitze. Mit nur zwanzig Jahren war er aufgrund der langjährigen Verbindungen seiner Familie mit der Kirche zum Küster ernannt worden. Heute war er fünfundzwanzig, aber mit seinen leicht gebeugten Schultern und dem kleinen Spitzbart wirkte er bereits jetzt auf eine Art alterslos, die seinen Dienstherren sehr gefiel.

Tidy war für die Gräber und Grüfte verantwortlich. Zusammen mit dem Kirchendiener arrangierte er die Predigten, und er läutete auch die große Glocke, die das Leben in der Kathedrale und der ganzen Stadt einteilte. Tidy war für einen kleinen Obolus immer gerne bereit, auch zusätzliche Arbeiten zu übernehmen, wenn er ihm damit helfen konnte. Außerdem hatte er große Hochachtung vor dem Trinity College. »Es waren die MacGowans, die Familie meiner Mutter, die alle Türen und Fenster für das College anfertigten, Euer Ehren«, rief er Doktor Pincher gern ins Gedächtnis. »Und es ist ein prächtiger Ort, da werdet Ihr mir sicherlich zustimmen, Sir.«

»So ist es«, stimmte Simeon Pincher zu.

»Ein Ort, der wie geschaffen ist für einen gelehrten Mann aus Cambridge wie Ihr es seid, Euer Ehren.« Woran lag es, dass er die sanfte Stimme des Küsters irgendwie beunruhigend fand? Sie war so höflich, so respektvoll, so weich und einschmeichelnd. Vielleicht beinahe zu respektvoll? Er warf dem Küster einen kurzen Blick zu und runzelte unsicher die Stirn.

Ein gelehrter Mann aus Cambridge: Was meinte Tidy damit? Pincher fragte sich oft, ob er überhaupt irgendetwas damit meinte. War es etwa möglich, grübelte der Prediger im Stillen, dass dem Küster irgendwie die dumme Sache damals in Cambridge zu Ohren gekommen war? Er konnte sich das nicht vorstellen. Aber warum erwähnte er Cambridge auf diese Art jedes Mal, wenn sie einander begegneten? Nein, Unsinn, beruhigte er sich. Das konnte nicht sein. Das alles war vor langer Zeit in einem anderen Land passiert. Und außerdem …

Es war nämlich Tidy gewesen, der ihm von der ausgezeichneten Pfründe mit viel versprechendem Grundbesitz erzählt hatte, die bald zur Verfügung stehen würde. Und es war dieser rechtzeitigen Mitteilung und seinem sofortigen Besuch beim Kapitular zu verdanken, dass Pincher nun zu einer neuen Reise aufbrechen würde.

Als er den drei Männern die Route beschrieb, die er nehmen wollte, und sie fragte, wo er am besten rasten könne, hatte Doyle einen Moment nachgedacht und dann vorgeschlagen:

»Sie könnten doch bei den O’Byrnes in Rathconan Rast halten.«

Als Pincher den Namen hörte, sank ihm das Herz. Ein Papist? Und dazu noch ein irischer Clanführer? Weder der Gedanke an die vielen Bündnisse mit den verschiedenen O’Byrnes noch der Gedanke an die traditionelle irische Gastfreundschaft gegenüber Reisenden, die bis in graue Vorzeit zurückreichte, beruhigten ihn. Pincher hatte schon viel zu viele Geschichten über die wilden O’Byrnes gehört, um einer solchen Begegnung gelassen entgegenzublicken. Aber er sah Walter Smith zustimmend nicken und sogar Tidy schien den Vorschlag seelenruhig aufzunehmen. Doyle erriet Pinchers Gedanken und lächelte.

»Man wird Sie dort freundlich willkommen heißen«, versicherte er ihm. »Die O’Byrnes von Rathconan pflegen eine recht englische Lebensart.«

Und, zweifellos um ihn zu beruhigen, warf Tidy ein:

»Sie haben bestimmt großen Respekt vor einem gelehrten Mann aus Cambridge, wie Ihr es seid, Euer Ehren.«

 

Und nun war er also hier und näherte sich dem Haus von Rathconan. Der Anblick, der sich ihm bot, erfüllte ihn mit Entsetzen.

Eine irische Totenwache. Offenbar hatte Doyle nicht gewusst, dass es in der Familie O’Byrne einen Todesfall gegeben hatte, als er ihm vorschlug, dort Rast einzulegen. Pincher fragte sich, was er tun sollte. Sollte er vielleicht ein anderes Haus suchen? Ein Stück weiter südlich lag das uralte Kloster Glendalough. Wahrscheinlich könnte er es bis zur Abenddämmerung erreichen. Gab es dort überhaupt ein bewohnbares Haus? Er wusste es nicht. Er hatte keinesfalls die Absicht, in der Hütte irgendeines Bauern zu übernachten oder die Nacht im Freien in der Wildnis der Wicklow-Berge zu verbringen. Sollte er gleich weiterreiten oder fragen, ob es in der Nähe noch andere Häuser gab? Er verharrte noch unschlüssig, da sah er einen gut aussehenden, hellhaarigen jungen Mann auf sich zukommen, der nach englischer Sitte gekleidet war.

Er stellte sich als Brian O’Byrne vor und sah Pincher mit seinen auffallend grünen Augen an.

Der Doktor trug sein Anliegen vor und erklärte, dass er auf Doyles Anraten hier sei. Er entschuldigte sich für sein unangebrachtes Eindringen. »Doyle wusste nichts vom Tod meines Vaters, als er Sie zu mir schickte«, antwortete der junge Mann. »Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen«, erwiderte Pincher. Wusste O’Byrne vielleicht ein anderes Haus in der Gegend, wo er für die Nacht unterkommen könnte? Davon wollte der junge Brian nichts hören. »Im oberen Stockwerk gibt es eine Kammer, wo Sie bequem die Nacht verbringen werden – auch wenn ich Ihnen nicht versprechen kann, dass es ruhig wird.« Pincher wusste nicht, wo er sonst unterkommen sollte, und wollte den jungen Clanführer auch nicht beleidigen. Also ließ er sich widerwillig zu dem alten Steinturm führen.

Rings um das Haus hatte sich eine große Menschenmenge versammelt, es waren bestimmt mehrere hundert Leute. Überall standen mit Speisen und Süßigkeiten beladene Tische. Einige Gäste tranken Wein, aber die meisten hielten sich an Bier oder Whiskey. Pincher wies seinen Diener an, die Pferde zu versorgen. Er hoffte nur, dass der Kerl nicht betrunken war, falls er ihn brauchte. Dann begleitete er Brian O’Byrne ins Haus. Er wusste immerhin so viel von irischem Brauchtum, dass ihm klar war, was ihn als Nächstes erwartete. Sein Gast führte ihn zu einem Zimmer im hinteren Teil des Turms, wo auf einem großen, mit weißen Laken verhüllten Tisch der Körper von Toirdhealbhach O’Byrne lag. Der Tote war gewaschen und rasiert; ein stattlicher Mann, das musste Pincher zugeben, auch wenn sein Gesicht im Tod in sich zusammengesunken war. Zwischen den gefalteten Händen steckte ein Kruzifix. Im Raum befand sich außer ihnen niemand mehr, denn die anderen hatten schon vor einiger Zeit von dem Toten Abschied genommen. Nur eine Frau mittleren Alters saß auf einem Hocker in der Zimmerecke, damit der Tote nicht allein sein musste. Das Zimmer war durch das Meer von Kerzen auf einem schmalen Tisch an der Wand hell erleuchtet, und der wächserne Rauch verlieh dem Raum eine beinahe kirchliche Atmosphäre.

Pincher versuchte, die Augen von dem verfluchten Rosenkranz abzuwenden und murmelte, wie es von ihm erwartet wurde, dass der ehemalige Clanführer sehr würdig aufgebahrt worden war. Da er den Gentleman selbst nicht kannte, konnte er nur erneut sein Beileid bezeugen. Danach zog er sich höflich zurück und folgte seinem jungen Gastgeber eine Wendeltreppe hinauf zu einer geräumigen Schlafkammer mit einem Holzbett, das nicht schlechter war als sein eigenes in Dublin. Kurze Zeit später erschien Brian O’Byrne wieder und brachte ihm höchstpersönlich Wein und Abendessen. In Anbetracht der Tatsache, dass gerade die Totenwache seines Vaters stattfand und er sich um alle Gäste kümmern musste, war das sogar in Pinchers Augen höchst anständig von ihm. Sein Gastgeber lud ihn auch herzlich ein, sich der Gesellschaft unten jederzeit anzuschließen, falls er den Wunsch dazu verspüre. Pincher verstand dieses Angebot zu Recht als Freundlichkeit, aber nicht als Zwang, und lehnte dankend ab. Und so blieb der gelehrte Prediger, der zu Höherem bestimmt war als der Gesellschaft von Iren, den Rest des Abends allein in seinem Zimmer.

Wenn es nur nicht so laut gewesen wäre. Das traditionelle Klagegeheul der Frauen, die wilden Klagelieder und die verzweifelten Schreie hatten ihn schon immer abgestoßen. »In ihrer Trauer sind sie Wilde«, hatte er einst seiner Schwester geschrieben. Gnädigerweise war dieser Teil der Feierlichkeiten bei seiner Ankunft bereits vorbei gewesen. Aber es sollte noch schlimmer kommen.

Einige Bräuche der Totenwache konnte er sogar verstehen, wie den, dass Freunde und Nachbarn sich versammelten und ihre Trauer miteinander teilten: Die freundlichen Worte und auch die respektvoll vorgetragenen Anekdoten aus dem Leben des Verstorbenen erschienen ihm durchaus angemessen und würdevoll. Nicht einmal die Speisen und Getränke störten ihn, solange niemand sich der Trunkenheit ergab. Und wenn ein Kind seinen Eltern entrissen worden war oder ein Elternteil die Familie bedürftig zurückgelassen hatte, waren diese Totenwachen ernste und traurige Angelegenheiten, bei denen die Nachbarn Trost und finanzielle Unterstützung spendeten. Aber wenn ein Mann ein langes, erfülltes Leben gelebt hatte und der Tod nicht überraschend kam, wenn die Gäste nicht nur Anekdoten erzählten, sondern auch Rätsel und Spiele spielten – die manchmal sogar die Leiche selbst mit einbezogen – dann bestätigte Pincher dieser Mangel an Ernst, diese Schamlosigkeit nur die heidnische Natur und die Unmoral der Iren. Dann konnte er sich nur noch angewidert abwenden.

Der Gedanke, dass die freundschaftlichen Spiele und der Humor – der Versuch, das Leben mit den Verstorbenen zu teilen – den Schmerz linderten und die Möglichkeit boten, sich mit der Endgültigkeit des Todes abzufinden, dieser Gedanke hatte in dem einfarbigen Weltbild des Doktors keinen Platz. Es war ihm schleierhaft, warum sie sich so benahmen.

Als die Sonne unterging, hörte er, wie die Frauen nasal zu singen begannen – eine langsame, traurige Weise, die seines Wissens nach cronan genannt wurde. Es klang nicht einmal unangenehm. Sie sangen, bis die Nacht einbrach, und da er keine anderen Geräusche hörte, nahm er an, dass alle Männer ihnen zuhörten. Als der letzte cronan geendet hatte, blickte er aus dem Fenster: Die ersten Sterne blinkten bereits am Himmel. Nach einer kurzen Pause stieg der Klang eines einzelnen Dudelsacks in die Nacht auf, und nun setzte sich auch Doktor Pincher in seinem Bett auf und lauschte.

Die betörende Melodie hallte über den Hügeln wider, voller Trauer und dennoch seltsam tröstlich. Und gegen seinen Willen verspürte auch Pincher jenes einzigartige Gefühl, das nur der Klang eines Dudelsacks auslösen kann: eine melancholische und doch lebensfrohe Wärme im Herzen. Er lauschte und wünschte, die Melodie würde niemals enden. Aber schließlich verstummte das Instrument.

Dann gab es eine kleine Pause, nach der der Musikus eine schwungvolle Weise anstimmte. Es klang zwar noch Trauer mit, aber schon bald stimmte eine Fiedel mit ein, deren fröhlicher Klang den Dudelsack wie einen guten Kameraden begleitete. Wäre es jetzt nicht allmählich angebracht, wenn die Gäste sich verabschiedeten und nach Hause gingen?, fragte sich Simeon Pincher. Als die Instrumente endlich schwiegen, seufzte er erleichtert.

Er legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Von unten hörte er leise Gesprächsfetzen, manchmal sogar Gelächter. Wenn ich jetzt gleich einschlafe, dachte er, kann ich schon im Morgengrauen von hier verschwinden. Er atmete langsam, hielt die Augen geschlossen und spürte, wie er sich entspannte.

Plötzlich erklangen die Fiedeln. Laut. Und sie wurden von einer Flöte begleitet. Ein fröhliches Stück. Schreie und Gelächter drangen hinaus. Bei allem Unheiligen: Sie spielten eine Gigue. Wütend fuhr er auf und stürzte ans Fenster. Draußen wurden Fackeln entzündet, er konnte sehen, dass sich alle um den Turm versammelt hatten. Sie tanzten. Es wirkte wie eine Szene aus der Hölle, ein heidnisches Ritual. Sie tanzten tatsächlich eine Gigue.

Entsetzt starrte er auf das Spektakel. Die Gäste tanzten fröhlich und immer länger und länger, als ginge es darum, wer am längsten tanzen konnte, ohne umzufallen.

Doktor Pincher hatte es natürlich schon immer gewusst, aber nun hatte er es mit eigenen Ohren gehört und mit eigenen Augen gesehen: dass es egal war, ob diese irischen Papisten dich anlächelten oder englische Kleider trugen. Sie waren in jedem Fall schlimmer als Tiere. Sie waren für die ewige Verdammnis ausersehen, das stand nun zweifelsfrei fest. Mit einem gequälten Aufschrei drehte er sich um, warf sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett und hielt sich die Ohren zu.

Aber die Musik und die Tanzerei ging weiter. Einige Tänze waren Gigues, die anderen waren ihm unbekannt. Er hatte gehört, dass die Iren einen Schwerttanz kannten. Womöglich vollführten sie den gerade, er wusste es nicht. Er wusste nur eines: Ruhe würde er heute Nacht nicht mehr finden.

Er versuchte, sich auf die Reise zu konzentrieren, die er am folgenden Morgen antreten würde. Sowohl Trinity College als auch die Christ-Church-Kathedrale besaßen sehr viel Land – auf dem gelegentlich eine gute Pacht verfügbar wurde. Er hatte schon lange auf eine solche Pacht gewartet. Aber die Gelegenheit, die sich ihm jetzt bot, war geradezu ideal.

Richard Boyle, der große Besiedler Irlands, war der reichste und gottesfürchtigste protestantische Grundbesitzer der ganzen Insel. In Königin Elisabeths Regierungszeit waren ihm riesige Landstriche in Munster zugesprochen worden. Unter seinem Schutz standen zahlreiche Pfründe, an denen ein guter protestantischer Prediger etwas verdienen konnte. »Ich habe gerade gehört, dass bald eine Pfründe im Norden von Munster frei wird. Es kann jeden Tag so weit sein. Und Sie sind ein gottesfürchtiger Mann, der Boyles Zustimmung erhalten wird«, hatte ihm der Kapitular erzählt. »Die Gegend ist aber noch nicht urbar gemacht. Sie müssten erst die Wälder roden, bevor Sie dort etwas anpflanzen könnten. Würde Ihnen das etwas ausmachen?«

»Oh nein. Das würde mir überhaupt nichts ausmachen«, erwiderte Pincher.

Waldland. Die riesigen Wälder, die einst den größten Teil der Insel bedeckt hatten, waren jahrhundertelang eine wertvolle Holzquelle gewesen. Das meiste Holz wurde ins Ausland exportiert. Einige der mächtigsten Kathedralen Englands trugen Dachbalken aus irischer Eiche. Und während der Tudorzeit, in der ungeheuer viel gebaut wurde, war der Bedarf stetig weitergestiegen. Nach und nach waren so die Wälder Irlands der Axt zum Opfer gefallen. In der Dubliner Region gab es kaum noch gute Eichen, aber weiter südlich warteten immer noch einige mächtige Wälder darauf, abgeholzt zu werden. Und wer Waldland aberntete, durfte sich auf einen sofortigen, einmaligen Gewinn freuen. So etwas machte eine neue Pacht besonders lukrativ. Manchmal wurden innerhalb weniger Monate ganze Hügel kahl geschlagen.

»Ich werde Licht dorthin tragen, wo bisher nur Dunkelheit herrschte«, hatte Pincher im Brustton der Überzeugung verkündet.

Der Hügelpfad, dem er nach Süden folgte, führte an einigen der schönsten Aussichtspunkte Irlands vorbei. Also hoffte er, sein Ziel binnen weniger Tage geistig erfrischt zu erreichen. Er schloss die Augen und versuchte, sich die Reise vorzustellen. Und obwohl er sich der Musik draußen bewusst war, döste er wohl ein- oder zweimal ein, bevor er um Mitternacht merkte, dass es draußen ruhig geworden war. Jetzt endlich durfte er selig einschlafen.

Tatsächlich glaubte er einen Moment lang zu träumen, als er ein lautes Knarren hörte. Er setzte sich ruckartig im Bett auf und sah, wie sich die schwere Eichentür der Kammer langsam öffnete.

In den unteren Zimmern und der Wohnhalle schliefen so viele Menschen, dass man überall Kerzen aufgestellt hatte. Schließlich sollte niemand, der nachts aufstand, über einen der Schlafenden stolpern. Deshalb sah Pincher jetzt auch im Schein einiger Kerzen die schreckliche Gestalt, die im Türrahmen stand und sich gerade anschickte, sein Zimmer zu betreten. Er trug die Kleidung der wilden Iren, seine Beine waren nackt und um das bleiche Gesicht mit den stechenden Augen fiel ihm ein wilder, hässlicher Haarschopf in Locken bis auf die Schultern. Eine Furcht erregende Erscheinung. Kein Wunder, dass Doktor Pincher krampfhaft die Bettdecke umklammerte und den Mund aufriss, um »Hilfe«, oder »Mord« zu schreien, falls die Kreatur noch einen Schritt weiter in sein Zimmer treten sollte.

Aber Tadgh O’Byrne verharrte im Türrahmen und trat noch nicht ein. Er wollte lieber noch ein bisschen schwankend stehen bleiben, bevor er sich darauf einließ, den nächsten Schritt ins Unbekannte zu wagen. Man konnte nie vorsichtig genug sein. Er war nicht betrunken. Vor kurzem war er das vielleicht noch gewesen, aber jetzt war er in einem Zustand völliger geistiger Klarheit. Allerdings arbeitete sein Verstand etwas langsamer als sonst. Er hatte versucht, auf dem Boden der Wohnhalle neben der Holzbank zu schlafen, auf der seine Frau bereits in tiefe Bewusstlosigkeit versunken war. Aber irgendwie war es ihm nicht gelungen, eine bequeme Lage zu finden. Er hatte überlegt, draußen zu übernachten. Die Nacht war mild, und wie er oft stolz betonte, machte es einem guten Iren wie ihm selbst nichts aus, wie ein Kuhhirte oder legendärer Held auf dem Erdboden zu schlafen, statt in einem Haus. Aber nach sorgfältigem Abwägen hatte er sich doch für drinnen entschieden. Vorsichtig stieg er über schlafende Körper, bis er sich schließlich langsam zu diesem Ort manövriert hatte, wo er eine Tür fand. Er konnte den zitternden Prediger im Dunkeln nicht sehen und fragte deshalb durchaus vernünftig:

»Ist hier noch ein Schlafplatz frei?«

Doktor Pincher verstand die auf Irisch gestellte Frage zwar nicht, aber es war ihm klar, dass er etwas antworten musste.

»Verschwinden Sie von hier«, schrie der Philosoph.

Die englische Antwort überraschte Tadgh O’Byrne, aber er verstand sie hervorragend. Er dachte nach. Das wichtigste Detail an der Antwort war neben der Sprache, dass sie nur von einer einzelnen Stimme herrührte. Er lauschte nach den Atemgeräuschen anderer Schläfer, hörte aber nichts. Seine nächste Frage stellte er dann auf Englisch:

»Haben Sie ein Weib da drin?«

»Wie können Sie es wagen! Natürlich nicht!«, zischte Doktor Pincher.

Tadgh O’Byrne war zwar kein studierter Philosoph, aber nach nur einem oder zwei Augenblicken wurde ihm klar, dass sich die Gestalt in der Dunkelheit gerade eines Non Sequitur schuldig gemacht hatte. Denn wenn sonst niemand im Raum war und der Fremde kein Weib bei sich hatte, dann bedeutete das ipse facto, dass es keinen Grund für ihn gab, zu verschwinden. Er wollte nicht unhöflich sein, deshalb überprüfte er seine Schlussfolgerung noch einmal gründlich, fand aber keine Schwachstellen. Und gerade als er sich dies bestätigt hatte, beging Doktor Pincher einen schweren Fehler. In der Annahme, dass die Gestalt vor ihm sowohl betrunken als auch begriffsstutzig war, sagte er sehr laut und deutlich:

»Dies … ist … mein … Bett.«

»Bett?« Ein ganz neuer Gedanke. »Haben Sie etwa ein Bett bekommen?« Für Tadgh war das Schlafen in Federbetten zwar ein Grund gewesen, seinem Blutsverwandten Brian Dekadenz und Weichlichkeit zu unterstellen, aber in diesem Augenblick erschien ihm die Aussicht, ein bequemes Bett zu teilen, besser als eine Nacht auf dem harten Holzboden. Er trat ein, schloss die Tür hinter sich, fand mit erstaunlicher Zielsicherheit das Bett und streckte suchend die Hand aus. Doktor Pincher, der aus Todesangst und Ekel so weit vor ihm zurückgewichen war als möglich, hatte ihm so unwillentlich genau den Platz verschafft, den er brauchte. »Na also«, sagte Tadgh freundschaftlich. »Hier ist doch genug Platz für uns beide.«

Und er wäre sofort neben dem fassungslosen Prediger eingeschlafen, wenn ihn nicht plötzlich die Neugier gepackt hätte. Wer mochte dieser englische Fremde sein, der bei der Totenwache des O’Byrne von Rathconan ein eigenes Zimmer bekommen hatte?

»Ein guter Mann«, sagte er in die tintenschwarze Nacht. »Kein Zweifel, Toirdhealbhach O’Byrne war ein guter Mann.« Er wartete auf eine Antwort, aber der Fremde neben ihm blieb so stumm wie die Leiche unten. »Haben Sie ihn gut gekannt?«, fragte er.

»Ich kannte ihn überhaupt nicht«, sagte Pincher in kaltem Ton.

Inzwischen hatte er begriffen, dass ihm von dieser abstoßenden Gestalt keine unmittelbare Lebensgefahr drohte. Im Moment beschäftigte ihn hauptsächlich die Frage, ob es besser sei, aus dem Bett zu steigen und selbst auf dem harten Boden zu schlafen, oder liegen zu bleiben und die Nähe – und den Geruch – dieses Mannes zu ertragen.

»Aber Sie sind sicher zu seiner Totenwache gekommen, um ihm Ehre zu erweisen«, sagte Tadgh. Engländer oder nicht, das war anständig, wenn auch ungewöhnlich. »Dürfte ich Sie nach Ihrem Namen fragen? Ich selbst heiße Tadgh O’Byrne«, sagte er höflich.

Warum mussten diese Iren nur alle derartig barbarische Namen tragen, fragte sich Pincher. Schon der Klang – Tighe O’Byrne neben ihm und der unten aufgebahrte Turlock O’Byrne – schmerzte den Ohren, aber die Schreibweisen Tadgh und Toirdhealbhach widersprachen jeglicher Vernunft. Im Stillen verfluchte er sie alle. Er hatte überhaupt keine Lust, sich mit Tadgh O’Byrne zu unterhalten. Andererseits würde die Kreatur vielleicht wütend werden, wenn er die Antwort verweigerte.

»Ich bin Doktor Simeon Pincher vom Trinity College in Dublin«, offenbarte er widerwillig.

»Vom Trinity College?« Also Engländer und Ketzer. Aber vielleicht trotzdem ein Gelehrter. Er wagte sich vor: »Dann sind Sie sicher in Latein und Griechisch bewandert?«

»Ich lehre Griechisch«, sagte Pincher mürrisch. »Außerdem Logik und Theologie. Ich predige in der Christ-Church-Kathedrale. Ich bin ein Dozent am Emanuel College in Oxford.« Er hoffte, diese eindrucksvolle Aufzählung werde seinen aufdringlichen Gesellschafter zum Schweigen bringen.

Tadgh hatte für Engländer und Ketzer nicht viel übrig, aber er war beeindruckt. Dieser Gentleman und gelehrte Mann war den ganzen Weg aus Dublin gekommen, um einem Anführer der O’Byrnes die letzte Ehre zu erweisen. Er musste höflich sein. Schweigend lag er da und überlegte, was er zu einer so wichtigen Persönlichkeit sagen sollte. Und dabei kam ihm noch ein Gedanke. Dieser wichtige, gelehrte Mann teilte mit ihm das Bett und dachte wahrscheinlich, er, Tadgh O’Byrne, sei nur ein armer Schlucker. Er musste ihm sagen, dass auch er eine wichtige Persönlichkeit war, das schuldete er sich. Er war zwar nicht so gelehrt, aber doch ein Gentleman.

»Sie wissen wahrscheinlich nicht, wer ich bin, oder?«, fragte er.

»Wahrscheinlich nicht«, seufzte Doktor Pincher.

»Ich bin der rechtmäßige Erbe von Rathconan«, verkündete Tadgh stolz.

Diese Eröffnung brachte den gewünschten Effekt. Er spürte, wie der Doktor neben ihm zusammenzuckte.

»Aber ich dachte, Brian …«

»Ah.« Jetzt kam Tadgh in Fahrt. »Er besitzt es. Das ist wahr. Aber hat er auch ein Recht darauf?« Er legte eine bedeutungsschwere Pause ein und ließ die Frage in der Dunkelheit verklingen. »Hat er nicht. Ich stamme nämlich vom ältesten Sohn ab. Seine Familie hat den Besitz an sich gerissen, aber sie haben kein Recht darauf. Ihre Ansprüche sind ungültig«, schloss er triumphierend.

Merkwürdig. Die Tatsache, dass unter genau dem uralten irischen Gesetz, das Tadgh sonst so vehement verteidigte, Brians Vorfahren rechtmäßig ausgewählt und seine eigenen rechtmäßig abgelehnt worden waren; die Tatsache, dass er als guter Ire keinerlei Anspruch auf Brians Position hatte und ihm das auch jeder andere gute Ire klar und deutlich gesagt hätte; und erstaunlicherweise auch die Tatsache, dass nur nach englischem, nicht nach irischem Recht der älteste Sohn besondere Ansprüche hatte: All diese Umstände hatten sich auf wundersame Weise in der Schwärze der Nacht aufgelöst, oder vielmehr hatte Tadgh sie verschwinden lassen wie ein Verbrecher, der eine Leiche beseitigt.

»Wollen Sie damit sagen, dass Brian O’Byrne also kein verbrieftes Eigentumsrecht auf diesen Besitz vorweisen kann?«, erkundigte sich Pincher.

»Genau. Nicht nach englischem Recht.« Was er als Nächstes sagte, gefiel ihm selbst nicht, aber er wollte diesen Mann vom Trinity College unbedingt beeindrucken. »Nach königlichem Recht hat er keinen Anspruch auf Rathconan. Der rechtmäßige Erbe bin ich.«

»Das ist ja sehr interessant«, murmelte Doktor Pincher. Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Ich würde jetzt gerne schlafen.«

Und Tadgh O’Byrne, der seinen Standpunkt deutlich gemacht hatte, fiel sofort zufrieden in tiefe Bewusstlosigkeit. Pincher blieb wach. Ihm stand der Sinn noch nicht nach Schlaf, er lag da und dachte nach. Wenn die Mitteilung, die er gerade erhalten hatte, stimmte, dann war sie von großer Bedeutung. Natürlich würde das dem abstoßenden Saufbold neben ihm niemals etwas nützen, Gott bewahre. Aber falls der freundliche junge Mann, der ihn in sein Haus eingeladen hatte, keine gültigen Besitzansprüche auf dieses Land vorweisen konnte, dann gab es legale Mittel und Wege, ihn zu enteignen. Pincher fragte sich, ob in Dublin sonst noch jemand davon wusste. Wahrscheinlich nicht. Ein Anwesen wie Rathconan hatte einen viel größeren Wert als der Profit, der ihn unten in Munster erwartete. Egal, wie dicht die Eichen dort standen.

Er überlegte, ob und wie er diese unverhofften Neuigkeiten zu seinem Vorteil ausnutzen konnte.

***

Seit einiger Zeit hatte Orlando das Gefühl, seinem Vater gehe es nicht gut. Da er jeden Tag mit ihm zusammen war, merkte er die kleinen Veränderungen im Leben seines Vaters.

Obwohl Orlando bereits sechzehn Jahre zählte, wohnte er immer noch zu Hause. Martin Walsh hatte alle Vorstöße von Lawrence, der Orlando nach Salamanca schicken wollte, leise, aber bestimmt abgewehrt. »Nein, ich möchte, dass er bei mir bleibt«, erwiderte er immer. »Er kann auch von den Lehrern hier eine gute Ausbildung erhalten. Das Rechtswesen werde ich ihm selbst beibringen.« Einmal wurde Orlando zufällig Zeuge einer solchen Auseinandersetzung und hörte seinen Vater ausrufen: »Sei doch vorsichtig, Lawrence. Die Regierung in Dublin steht ausländischen Schulen sehr misstrauisch gegenüber. Meine Loyalität wird nicht angezweifelt, aber vergiss eines nicht: In der Burg sitzen genügend Männer, die am liebsten verbieten würden, dass Katholiken Advokaten werden können. Diese Leute wissen bereits sehr genau, dass du Jesuit bist. Und da nun mal Orlando diesen Besitz erben wird, wenn ich nicht mehr da bin, ist es besser, wenn sie nicht hören, dass er in ein Priesterseminar geht. Er sollte lieber sicher an meiner Seite bleiben.« Orlando hörte, wie Lawrence eine Antwort murmelte, konnte aber den Wortlaut nicht verstehen. Er hörte seinen Vater jedoch in bestimmtem Ton erwidern: »Das glaube ich nicht. Sprich nicht mehr davon.«

Für gewöhnlich ging Martin Walsh ein- oder zweimal wöchentlich nach Dublin, um seine Geschäfte zu erledigen. Oft durfte Orlando ihn begleiten. Wo sie auch hingingen sah er, dass alle seinen ehrlichen, vorsichtigen Vater respektieren und mochten.

»Ein Advokat erfährt die Geheimnisse vieler Männer«, erklärte Martin seinem Sohn. »Und diese Männer müssen wissen, dass sie ihm alles anvertrauen können. Ein Advokat weiß alles, Orlando, aber er verrät nichts. Merk dir das.«

Manchmal zeigte er schelmisch auf ein hübsches Mädchen und fragte Orlando, ob er es gern heiraten würde. Dies hatte sich zu einem freundschaftlichen Ritual entwickelt. Orlando antwortete seinem Vater immer, sie sei nicht hübsch genug, er müsse sich schon ein bisschen mehr anstrengen. Dann fragte sein Vater ihn, wie viele Kinder er haben wolle. »Ein volles Dutzend. Sechs Jungen und sechs Mädchen«, erwiderte er dann. Und Martin freute sich.

Oft besuchten sie auch seine Schwester. Anne hatte bereits drei Mädchen geboren und hoffte immer noch auf einen Jungen, den sie Maurice nennen wollte. Sie war seit ihrer Heirat ein bisschen fülliger geworden, und ihr Ehemann und ihre Kinder beschäftigten sie den ganzen Tag lang, aber für Orlando war sie in vieler Hinsicht immer noch die alte Anne. Ihr Ehemann Walter hatte sich als Glückstreffer erwiesen, und je älter Orlando wurde, desto mehr Sympathie empfand er für ihn. Ein gütiger, aufrechter Mann, der Anne offensichtlich verehrte. Walter würde eines Tages ein stattliches Vermögen von seinem Vater erben, aber oft sagte der alte Peter Smith stolz: »Er braucht mein Geld gar nicht. Er hat es bereits selbst zu Wohlstand gebracht.« Peter Smith verbrachte seine Zeit am liebsten auf seinem Anwesen in Fingal, aber Walter und Anne blieben meistens mit ihren Kindern in der Stadt. Sie besaßen ein schönes Giebelhaus in der Saint Nicholas Street beim alten Tholsel. Das einzige Thema, das die beiden niemals ansprachen, war der Tod von Patrick Smith. Aber Orlando war sich sicher, dass Anne mit ihrem Leben inzwischen sehr glücklich war, dass sie den Schmerz über das Scheitern ihrer Jugendliebe überwunden habe.

Wenn er mit seinem Vater am Ende des Tages dann nach Fingal zurückritt, fiel Orlando manchmal auf, dass Martin müde und traurig aussah. Aber wahrscheinlich war sein Vater nur erschöpft nach dem anstrengenden Arbeitstag. Wenn er abends in seinem Lehnstuhl saß und gedankenverloren auf den Fußboden blickte, ließ sich jedoch nicht leugnen, dass sein Gesicht alt und eingefallen wirkte. Gelegentlich beobachtete Orlando, wie er plötzlich zusammenzuckte und den Kopf schüttelte. Aber wenn er sich dann aus seinem Stuhl erhob, straffte er die Schultern, atmete tief ein, streckte die Brust vor und nickte sich selbst aufmunternd zu. Und Orlando versicherte sich, dass sein Vater immer noch ein kräftiger Mann war, der noch viele Jahre bei ihm sein würde.

Normalerweise erledigte Martin Walsh Dubliner Angelegenheiten nicht zu Hause, deshalb überraschte es Orlando, als sein Vater eines Abends auf dem Heimritt zu ihm sagte: »Ich habe heute eine Botschaft von Doktor Pincher erhalten. Er will mich morgen früh in einer privaten Angelegenheit aufsuchen.« Orlando war dem großen, hageren Doktor vom Trinity College nur selten begegnet, aber das Bild des schwarzen Mannes, der die Ebene der Vogelscharen am Abend vor Annes Abreise nach Frankreich überquert hatte, stand ihm immer noch deutlich vor Augen. »Was will er denn von Ihnen?«, fragte er seinen Vater. »Ich weiß es nicht«, antwortete Walsh.

Voller Neugier beobachtete Orlando deshalb am nächsten Morgen den einsamen Reiter, der, dünn und schwarz gekleidet wie eine Schreibfeder, den sonnigen Pfad zum Haus hinaufritt. Dort begrüßte ihn sein Vater, und die beiden traten ins Haus. Ach, wenn er doch bei diesem Gespräch dabei sein könnte!

 

Die beiden Männer saßen sich an einem Tisch gegenüber. Walsh trug ein bequemes, tannengrünes Wams, Simeon Pincher hingegen war bis auf einen schmalen, weißen Kragen, der so spärlich als möglich bestickt war, gänzlich dunkel gewandet.

»Ich möchte Sie bitten, in einer Sache, die geheim bleiben muss, Nachforschungen für mich anzustellen«, begann er.

»Dies ist keine ungewöhnliche Bitte«, antwortete Walsh gelassen. »Aber warum kommen Sie damit ausgerechnet zu mir?«

»Überrascht es Sie, dass ich eine solche Angelegenheit einem …« Er zögerte.

»Katholiken anvertraue?«, ergänzte Walsh.

»Nun ja.« Der Prediger neigte höflich den Kopf. Denn obwohl für ihn zweifelsfrei feststand, dass sein protestantischer Glaube ihn in Gottes Augen über den Papisten stellte, war ihm doch unangenehm bewusst, dass Walsh als genau der Grundbesitzer geboren worden war, der Pincher selbst so gerne sein wollte.

»Ich vertraue mich gerne einem katholischen Advokaten an, Sir.« Er erlaubte sich ein Lächeln. »Aber ich würde vielleicht nicht unbedingt einen katholischen Wundarzt aufsuchen.« Simeon Pincher hatte nur wenig Erfahrung im Witze machen.

Walsh rang sich ein Lächeln ab.

»Bitte fahren Sie fort«, sagte er.

»Es geht um einen Besitzanspruch«, begann Pincher.

Seine Reise nach Munster war ein voller Erfolg gewesen. Die Pfründe mit der kleinen Kirche und dem noch kleineren Pfarrhaus war geradezu ideal. Dort könnte er gelegentlich eine Predigt halten und ansonsten einen armen Hilfspfarrer einstellen, der sich um die tägliche Gemeindearbeit kümmern würde. Und das Land war ausgezeichnet. Er hatte bereits Zwischenhändler damit beauftragt, die Bäume zu fällen und das Holz an die Küste auf Schiffe zu schaffen. Sie hatten ihm einen ausgezeichneten Preis geboten. Selbst wenn er nur die Hälfte des Waldes roden und verschiffen ließ, durfte er mit einem stattlichen Gewinn rechnen. Auch mit Boyle hatte es keinerlei Schwierigkeiten gegeben. Doktor Pinchers Freunde im Trinity College und der Christ-Church-Kathedrale hatten sich wärmstens für ihn ausgesprochen und Boyle davon überzeugt, dass dieser Prediger genau die Art gottesfürchtiger Mann war, die es zu unterstützen galt. Er hatte die Pfründe sofort erhalten. Und die Aussicht auf dieses von Gott gesandte Vermögen und das neue und hellere Licht, das dieses auf seinen Lebensweg warf, hatte seinen Glauben gestärkt und ihm den Mut verliehen, nach noch Höherem zu streben.

Nachdem er sich am Hafen von Waterford nach der Verschiffung von Holz erkundigt hatte, beschloss er, auf einem gerade auslaufenden Küstenschiff nach Dublin zurückzukehren. Die Reise war angenehm und ohne Zwischenfälle verlaufen. Während er die Küste an sich vorbeiziehen sah, wanderten Pinchers Gedanken immer wieder zurück zu der seltsamen Nacht, die er auf Rathconan verbracht hatte. Zweifellos war ihm da eine wichtige Enthüllung in den Schoß gefallen, sei es nun durch eine glückliche Fügung oder die unsichtbare Hand Gottes.

Jetzt erklärte er Walsh, was er beabsichtigte. Der Advokat hörte ihm mit unbewegter Miene zu, obwohl das leichte Zucken seiner Lippen einem aufmerksameren Beobachter verraten hätte, was er empfand.

Als der Gast geendet hatte, wiederholte Martin Walsh: »Also glauben Sie, dass Brian O’Byrne nach englischem Recht keinen gültigen Anspruch auf Rathconan hat. Und Sie wollen, dass ich diese Behauptung erst einmal überprüfe. Und falls sie stimmt, dann wollen Sie mich als Ihren Rechtsbeistand, um alleine oder mit Teilhabern diesen Besitz zu übernehmen.«

»Korrekt.«

Schon seit einiger Zeit forderten vereinzelt Regierungsbeamte und andere habgierige Menschen eine gründliche Untersuchung ungültiger Grundbesitzansprüche. Sie hofften darauf, altirische Besitztümer zu finden, deren angestammte Eigentümer auf legale Weise enteignet werden konnten. Der Besitz fiele dann an die englische Krone, und die würde sie an loyale Günstlinge weitergeben oder auf dem freien Markt verkaufen.

»Damit Sie, falls sein Anspruch ungültig sein sollte, das vor allen anderen wissen, die sicherlich begierig darauf warten, Brian O’Byrne sein Erbe wegzunehmen.«

»Genau«, antwortete Doktor Pincher.

»Gibt es noch einen anderen Anwärter auf den Besitz, falls Brian O’Byrne ihn unrechtmäßig innehat?«

»Vielleicht. Nur einen unbedeutenden Iren, der sicherlich keine Besitzurkunde vorweisen kann.«

»Dürfte ich fragen, aus welchem Grund Sie mit dieser Angelegenheit an mich herantreten?«

»Man sagte mir, dass Sie sich mit dem Grundbesitz in diesem Landesteil besser auskennen als jeder andere Mann, Sir.«

Das traf tatsächlich zu. Seit den Tagen der Plantagenets, lange bevor Heinrich Viii. die Klöster aufgelöst hatte, hatten fünf Generationen von Martin Walshs Vorfahren die Rechtsangelegenheiten der kirchlichen und säkularen Landbesitzer im gesamten Osten Irlands betreut. Die Familie kannte beinahe jeden Grundbesitz in Leinster und Meath, und dazu noch viele in Ulster und Munster. Dieses Wissen wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Auch Martin vermittelte es Orlando auf seine sanfte Art bereits seit einigen Jahren. Wenn Pincher jemanden suchte, der diskret Nachforschungen über Rathconan anstellen sollte, dann war er zum besten Mann gekommen.

Walsh nickte. Dann lehnte er sich leicht nach vorn.

»Ich bin nur ein einfacher Advokat, Sir, und Sie sind ein Philosoph. Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen? Ich selbst bin nicht gelehrt genug, um sie zu beantworten.«

»Ich werde Ihnen gern helfen.«

»Nun«, sagte der Advokat leise. »Meine Frage betrifft eher Philosophie als Gesetze. Falls wir herausfinden, dass Brian O’Byrne nach strikter Auslegung des englischen Rechts keinen Anspruch auf Rathconan hat, würden Sie dann sagen, dass der Verlust, den der junge Mann erleiden wird, unser Gewissen belasten sollte?«

»Nein, bestimmt nicht.«

»Warum?«

»Weil er es dann nicht ehrlich nach dem Gesetz besitzt, sondern nur nach einem barbarischen Brauch.«

»Einem Brauch der wilden Iren.« Walsh nickte. »Das wäre zweifellos der Fall. Und weil irische Bräuche barbarisch und widernatürlich sind, haben Iren keinen moralischen Anspruch auf unser Mitgefühl.«

»Sie haben es begriffen«, sagte Doktor Pincher hocherfreut.

Martin Walsh starrte ihn ausdruckslos an. Er hätte den Philosophen gern gefragt, ob Habgier also seiner Meinung nach keine Todsünde mehr sei. Aber er verkniff es sich. Stattdessen sagte er:

»Ich sollte Ihnen sagen, dass sogar in der Dubliner Burg einige Personen zur Vorsicht mahnen. Wenn der junge O’Byrne, wie ich vermute, der englischen Krone freundlich gesinnt ist, dann werden es diese Personen für klüger halten, ihm den Besitz, den er nach allgemeiner Ansicht rechtmäßig hält, zu lassen. Hier hat es keine Rebellion gegeben. Und O’Byrne hat auch nicht sein Land verlassen, im Gegensatz zu Tyrone. Diese Personen würden eine solche Enteignung als unklug bezeichnen, weil sie nur für Unruhe sorgen würde. Egal, wie das Gesetz lautet.« Genau diesen Rat hätte er auch der englischen Regierung selbst gegeben.

»Aber Sie und ich denken hoffentlich anders darüber«, sagte Pincher.

Walsh fragte sich, ob dieses Gespräch womöglich eine Falle war. Hatte die Regierung oder irgendeine Gruppierung Pincher geschickt, um seine Ansichten und das Ausmaß seiner Loyalität zu überprüfen? Möglich, aber unwahrscheinlich.

Nein, seiner Meinung nach waren Doktor Pinchers Worte völlig aufrichtig. Selbst nach siebzehn Jahren in Irland war der Trinity-Gelehrte noch so sehr von seinen Vorurteilen verblendet, dass er wirklich glaubte, er, Martin Walsh, werde ihm helfen, seinen irischen Glaubensbruder O’Byrne zu enteignen, nur weil er selbst ein Altengländer war. Hatte Pincher denn gar keine Ahnung von dem seltsamen, gegenseitigen Respekt zwischen den Familien, der im Laufe der Jahrhunderte gewachsen war, in denen die Walshs aus Carrickmines immer wieder die Überfälle der O’Byrnes zurückschlagen mussten? Wusste er denn nicht, dass in den Adern des jungen Brian O’Byrne einige Tropfen Walsh-Blut flossen, oder dass seine eigene Tochter Anne mit einem Mann verheiratet war, der zwar Walter Smith hieß, aber vermutlich ein uneheliches Kind O’Byrnes war? Aber nein, natürlich wusste Pincher nichts über so tief verflochtene Wurzeln.

»Ich werde Nachforschungen anstellen«, erwiderte Walsh. »Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass diese Angelegenheit zu Ihrer Zufriedenheit geregelt werden kann.«

Bald darauf verabschiedete sich Simeon Pincher. Walsh würde ihm schreiben, sobald es Neuigkeiten gab.

***

Am frühen Nachmittag rief Martin seinen Sohn zu sich und lud ihn zu einem Spaziergang ein.

»Wohin gehen wir, Vater?«, fragte Orlando.

»Nach Portmarnock.«

Eine leichte, angenehm kühle Brise wehte. Walsh freute sich darüber, dass Orlando so gern mit ihm wanderte. Der Junge wusste wahrscheinlich gar nicht, welchen Trost seine Gegenwart seinem Vater spendete. Und Martin wollte ihn auch nicht durch dieses Wissen belasten. Also schritten sie nebeneinander her, ohne viele Worte zu wechseln.

Als sie den langen Abhang erreichten, der zum flachen Küstenstreifen hinabführte, warf Martin seinem Sohn einen Blick zu und fragte leise:

»Orlando, würdest du jemals das Gesetz brechen?«

»Nein, Vater.«

»Das hoffe ich.« Er lief schweigend einige Schritte weiter. »Ich habe dir schon oft erklärt, dass zwischen Advokat und Klienten unbedingtes Vertrauen herrschen muss. Dieses Vertrauen ist heilig. Es zu brechen ist genauso, als bräche man das Gesetz. Es widerspräche allem, woran ich glaube. Es wäre Hochverrat.«

»Das weiß ich, Vater.«

»Das weißt du.« Martin Walsh holte tief Luft. Dann fuhr er leise fort: »Und doch wird in deinem Leben vielleicht eine Zeit kommen, mein Sohn, in der du einen solchen Verrat begehen musst. Wenn dadurch Schlimmeres verhindert werden kann.«

Er musste nichts mehr hinzufügen. Orlando hatte genau zugehört, er würde sich später, wenn es nötig wäre, an seine Worte erinnern.

Martin dachte wieder an das Dilemma, in dem er selbst jetzt steckte. Was er vorhatte, war Verrat. Falls jemand davon erfuhr, würde er sich mächtige Feinde machen, aber in Anbetracht aller Umstände glaubte er jetzt so handeln zu müssen. Er hatte das Gefühl, dass nicht mehr viel Zeit blieb.

Als sie den heiligen Brunnen erreichten, kniete Walsh nieder und betete eine Weile lang stumm. Orlando, der ihn nicht stören wollte, kniete sich in einigem Abstand zu ihm hin und versuchte, es ihm gleichzutun. Als Walsh fertig gebetet hatte, starrte er einen Augenblick nachdenklich auf den Brunnen und bedeutete seinem Sohn, ihm zu folgen. Gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg.

Als sie zu Hause ankamen, sagte er Orlando, er solle sich darauf vorbereiten, am nächsten Morgen eine längere Reise anzutreten. Dann zog er sich in sein Zimmer zurück, legte sich ein großes Blatt Papier zurecht und begann zu schreiben. Er überlegte sich jedes Wort mit großer Sorgfalt und brauchte mehrere Stunden, um den Brief zu beenden. Als er fertig war, fühlte er sich so erschöpft, dass er auf das Abendessen verzichtete und sich sofort schlafen legte.

Am nächsten Morgen erwachte er bei Sonnenaufgang und fühlte sich erfrischt und ausgeruht.

***

Orlando war sehr erstaunt über die Anweisungen, die sein Vater ihm erteilte. Um so etwas hatte dieser ihn noch nie gebeten.

»Geh nach Dublin zu deinem Cousin Doyle. Richte ihm aus, dass ich heute Mittag selbst zu ihm kommen werde. Du gibst ihm diese Nachricht von mir, in der ich ihn bitte, dir alles zu geben, was du brauchst. Bitte ihn um ein ausgeruhtes, starkes Pferd und andere Kleidung. Danach möchte ich, dass du Dublin unerkannt verlässt und nach Süden reitest.« Er zog den versiegelten Brief hervor, den er am Vorabend geschrieben hatte. »Du darfst diesen Brief nicht verlieren. Niemand darf ihn sehen oder in die Hände bekommen. Heute Abend wirst du dein Ziel erreichen und dort die Nacht verbringen. Danach kommst du auf dem gleichen Weg wieder hierher.«

»Wo reite ich denn hin?«, fragte Orlando.

»Nach Rathconan«, antwortete sein Vater. Dann erteilte er ihm die restlichen Anweisungen.

***

Es war ein schöner Tag mit klarem Himmel, und Orlando machte sich singenden Herzens daran, seinen Auftrag zu erfüllen. Er wusste nicht, was in dem Brief seines Vaters stand. Aber dass er ihm eine so wichtige Mission anvertraut hatte und er niemandem davon erzählen durfte, erfüllte ihn mit Aufregung und Stolz. Die geheimen Botengänge, die er als kleiner Junge für seine Schwester durchgeführt hatte, waren zwar ein echtes Abenteuer gewesen. Aber nun hatte sein verehrter Vater ihm in einer so wichtigen Angelegenheit sein Vertrauen geschenkt. Er platzte fast vor Glück und Stolz.

In Dublin wechselte er Pferd und Kleider, verbarg sein Gesicht unter einem abgewetzten, breitkrempigen Hut und ritt durch die Stadttore hinaus. Er durchquerte Donnybrook in Richtung Wicklow-Berge. Keine Menschenseele beobachtete, wie er die südlichen Obstwiesen hinter sich ließ, und niemand hätte erraten können, wohin er ritt. Mal im gemütlichen Schritt, mal im langsamen Trab ritt er die Ebene und schließlich die Hügel hinauf. Mittags rastete er eine Stunde lang und erreichte am späten Nachmittag Rathconan.

Wie sein Vater es ihm aufgetragen hatte, verschwieg er seinen Namen, aber als Brian O’Byrne herauskam und sich erkundigte, was er wolle, übergab er ihm den Brief. Außerdem sagte er, O’Byrne müsse ihn in seiner Anwesenheit lesen. Leicht überrascht führte Brian ihn nach drinnen und ging mit ihm in die Wohnhalle.

Orlando hatte nicht erwartet, dass O’Byrne so jung sein würde, nur ein paar Jahre älter als er selbst. Mit seinem verwuschelten blonden Haar wirkte er beinahe jungenhaft. Aber in den seltsamen grünen Augen lag eine stille Autorität, die Orlando sehr beeindruckte. O’Byrne setzte sich an einen Tisch aus Eichenholz und las langsam und sorgfältig. Nur ein- oder zweimal verriet sein Gesichtsausdruck einen Anflug von Überraschung. Dann stand er auf, holte Papier, Feder und Tinte und schrieb einige Worte nieder. Als er fertig war, sah er Orlando an.

»Bist du sein Sohn?«

»Ja.«

»Weißt du, was in diesem Brief steht?«

»Nein. Mein Vater hielt es nicht für angebracht, mir das zu sagen.«

»Und damit hat er Recht«, sagte Brian.

Der Inhalt des Briefes hatte ihn mehr aus der Fassung gebracht, als er sich anmerken ließ. Walsh hatte ihn kurz und bündig davor gewarnt, dass sein Erbe in Gefahr sei und ihm geraten, sofort etwas zu unternehmen. Martins Abscheu vor Pinchers nackter Habgier war nicht der Grund dafür – habgierige Menschen der unterschiedlichsten Schichten waren dem Advokaten beileibe nicht unbekannt –, sondern die kurzsichtige, politische Dummheit, die es bedeutete, einem angesehenen Iren wie Brian O’Byrne sein Land zu stehlen. Legalisiert oder nicht. Genau diese Dummheit der Neuengländer könnte eines Tages der Grund dafür sein, dass diese Insel nicht mehr regiert werden konnte. Und es war dieses hehre Pflichtgefühl, das Martin nach seinen Gebeten dazu bewogen hatte, das Vertrauen seines Klienten zu missbrauchen.

Es war nichts Ungewöhnliches, dass die englische Regierung die Besitzansprüche von Männern wie O’Byrne nachträglich beglaubigte. Er kannte ein paar Beamte in Dublin, die seine Ansicht teilten und hatte O’Byrne in dem Brief ihre Namen genannt. Ein diskretes Gespräch mit Doyle würde bestimmt auch einige protestantische Gentlemen auf seine Seite bringen. Aber da viele Parlamentarier und ihre Freunde – und nicht zu vergessen Doktor Pincher – begierig nach solchen Gelegenheiten Ausschau hielten, riet er O’Byrne, sofort diskret nach Dublin aufzubrechen, »bevor die Hunde Ihre Spur aufnehmen«. Aus Gründen, die er nicht nennen dürfe, müsse sein Anteil an dieser Geschichte für immer geheim bleiben. »Ich habe meinen Eid als Advokat gebrochen, um Ihnen dies mitzuteilen«, schrieb er offen.

»Orlando, sag deinem Vater, dass die O’Byrnes von Rathconan auf ewig in seiner Schuld stehen«, sagte Brian bewegt.

»Sie sollen den Brief vor meinen Augen verbrennen«, sagte Orlando.

»Das werde ich.« Brian führte ihn zur Feuerstelle und gemeinsam beobachteten sie, wie das Papier in Flammen aufging und zu Asche zerfiel.

»Bitte sei zum Essen mein Gast«, sagte Brian.

»Ich soll im Stall schlafen und darf meinen Namen nicht sagen«, erwiderte Orlando.

»Ah, natürlich.« O’Byrne lächelte. »Aber eines verspreche ich dir: Wenn wir uns das nächste Mal sehen, dann als Freunde, Orlando Walsh.«

***

Am nächsten Morgen brach Orlando bei Sonnenaufgang auf. Der Himmel über den Wicklow-Bergen war klar, und eine leichte Brise wehte landeinwärts. Er war ungeheuer stolz auf sich, weil er seine Mission in allen Punkten erfüllt hatte, und er konnte es kaum erwarten, seinem Vater davon zu berichten.

Im Lauf des Morgens drehte der Wind und blies jetzt kälter von Norden her. Als Orlando den Abhang erreichte, vor dem sich das ganze Panorama der Dubliner Bucht vor ihm ausbreitete, sah er, dass eine lange, graue Wolkenbank von Ulster herunterzog und ihre Schatten bereits auf das ferne Fingal warf. Da er sehr schnell geritten war, erreichte er den Hof von Doyles Haus jedoch noch vor Mittag.

Weder Doyle noch seine Frau waren zu Hause, aber ein Diener sagte ihm: »Sie sollen unverzüglich nach Hause reiten.« Genau das hatte Orlando auch vorgehabt. Er wechselte schnell das Pferd und brach sofort auf.

Der Schatten der Wolkenbank erreichte ihn, als er den Liffey überquerte. Es wurde immer grauer und drückender, obwohl er ein- oder zweimal zu seiner Rechten sah, wie das Sonnenlicht durch die Wolken brach und das Meer silbern aufleuchten ließ. Mit leichtem Herzen ritt er glücklich über die vertraute Ebene. Er lächelte, als eine Schar Möwen plötzlich aus dem Feld vor ihm laut krächzend in den eisengrauen Himmel aufstieg. Und ihm wurde ganz warm ums Herz, als er durch ein Wäldchen ritt und das Haus zum ersten Mal erblickte.

Er war überrascht, dass seine Schwester ihm die Tür öffnete.

»Hallo, Anne«, sagte er.

»Gott sei Dank bist du zu Hause. Er erwartet dich schon.«

»Das weiß ich.« Er lächelte, aber sie sah ihn nur seltsam an.

»Nein, Orlando, das weißt du nicht.« Er machte Anstalten, ins Haus zu gehen, aber sie hielt ihn am Arm zurück. »Du kannst erst in ein paar Minuten zu ihm. Er spricht noch mit Lawrence.« Sie holte tief Luft. »Dein Vater ist sehr krank, Orlando. Es geht ihm schlecht.«

Orlando fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.

»Seit wann?«

»Seit heute Morgen. Man schickte einen Boten zu uns nach Dublin und wir sind sofort gekommen. Niemand wusste, wo du steckst.«

»Ich musste etwas für Vater erledigen.«

»Das hat der Bote auch gesagt. Es hieß, du kämest bei Cousin Doyle vorbei, also hinterließen wir dort die Nachricht, du sollest sofort nach Hause kommen. Wo in aller Welt warst du denn?« Als sie sah, dass er nur den Kopf schüttelte, sagte sie: »Es ist auch nicht wichtig. Wenigstens kann er noch sprechen. Bleib hier unten. Ich sage ihm, dass du da bist.«

Orlando blieb alleine zurück und wartete. Im Haus herrschte eine seltsame Stille. Nach einer Weile kam Lawrence die Treppe herunter.

Er trug eine schwarze Soutane und sah sehr ernst aus. Er schenkte Orlando kein Lächeln, legte ihm aber leicht die Hand auf den Arm.

»Du musst jetzt tapfer sein. Unser Vater hat eine schwere Krise erlitten. Es war ein Hirnschlag. Er hat sich seit gestern sehr verändert. Bist du bereit?« Orlando nickte stumm. »Gut. Ich habe mit ihm gebetet. Deine Gegenwart wird ihm ein großer Trost sein.« Er verstummte und sah Orlando neugierig an. »Wo warst du eigentlich?«

»Das darf ich nicht sagen, Lawrence. Ich musste etwas für Vater erledigen.«

»Du kannst mir doch sicher wenigstens sagen, warum du nicht da warst?« Die Frage war freundlich gestellt, aber Orlando spürte, dass sein Bruder sein Verhalten missbilligte.

»Nein, ich habe es Vater versprochen.«

»Nun gut.« Der Jesuit runzelte die Stirn, bevor er zur Treppe blickte, auf der inzwischen Anne stand.

»Ist er bereit?«

»Ja.« Anne lächelte Orlando ermutigend zu.

»Wird er sterben?«, fragte Orlando.

Niemand antwortete ihm.

Er stieg die schwere Eichentreppe hinauf und schritt zum Zimmer seines Vaters. Die Tür war nur angelehnt, und er schob sie auf.

Martin Walsh war allein und lag auf Kissen gestützt in einer halb liegenden Position auf dem geschnitzten Eichenbett. Sein Gesicht war seltsam fahl, die Augen eingesunken. Aber er blickte Orlando liebevoll an und versuchte sogar, zu lächeln.

»Es tut mir leid, dass du mich so sehen musst, Orlando.«

Orlando brachte einen Moment lang kein Wort heraus.

»Mir tut es auch leid«, murmelte er schließlich. Er wollte eigentlich etwas ganz anderes sagen, aber er fand nicht die richtigen Worte.

»Komm her«, winkte ihn sein Vater zu sich. »Hast du meinen Auftrag erledigt?«

»Ja, Vater. Ich habe alles genauso gemacht, wie Sie es angeordnet haben.«

»Das ist gut. Ich bin stolz auf dich. Hat er irgendetwas gesagt?«

»Er stehe auf ewig in Ihrer Schuld.«

»Hat er den Brief verbrannt?«

»Ja. Ich habe es gesehen.«

»Jetzt würde es allerdings auch nichts mehr ausmachen, wenn er entdeckt würde«, murmelte sein Vater, aber die Worte waren mehr an sich selbst als an Orlando gerichtet. Er seufzte, ein leichtes Keuchen begleitete das Geräusch. Dann lächelte er Orlando an. »Das hast du sehr gut gemacht.«

Orlando wollte seinem Vater so vieles mitteilen. Er hätte ihm so gerne gesagt, wie sehr er ihn liebte. Aber er wusste nicht wie. Hilflos und stumm stand er einfach da. Sein Vater schwieg einen Moment lang mit geschlossenen Augen. Er schien alle Kräfte zusammenzunehmen. Dann öffnete er die Augen. Orlando spürte die Angst im Blick seines Vaters.

»Erinnerst du dich daran, was du mir versprochen hast, Orlando? Dass du heiraten wirst?«

»Natürlich, Vater.«

»Du hast mir Enkel versprochen.«

»Ja.«

»Wirst du Kinder bekommen?«

»Ja, Vater. Mindestens ein Dutzend, das verspreche ich.«

»Das ist gut. Ich danke dir. Bitte nimm meine Hand.« Orlando ergriff die Hand seines Vaters. Sie fühlte sich kalt an. »Kein Vater könnte sich einen besseren Sohn wünschen, Orlando.« Er lächelte, dann schloss er die Augen.

Eine Zeit lang verharrten sie schweigend, nur der leicht keuchende Atem seines Vaters war in der Stille zu hören. Orlando hielt immer noch Martin Walshs kalte Hand.

Dann rief sein Vater leise, ohne die Augen zu öffnen:

»Anne.«

Die Tür öffnete sich sofort, und seine Schwester erschien.

»Gott sei mit dir, mein Sohn«, sagte sein Vater. Dann führte Anne ihren jüngeren Bruder hinaus.

Sie bat ihn, nach unten zu gehen. Kurz danach begab sich Lawrence wieder nach oben. Orlando wartete, allein und verzweifelt. Etwa eine halbe Stunde später kam Anne nach unten und sagte ihm, dass sein Vater gestorben sei.

***

Am nächsten Morgen brach Orlando allein auf. Der Himmel war immer noch grau. Er lief langsam an der verlassenen Kapelle vorbei und erreichte bald den langen Abhang, der zum Meer hinab führte. Bis zu seinem Ziel, dem heiligen Brunnen von Portmarnock, begegnete er keiner Menschenseele.

Er kniete neben dem Brunnen nieder und begann zu beten. Aber obwohl ihm die Worte geläufig waren, konnte er sich nicht so gut konzentrieren, wie sein Vater es ihm vorgemacht hatte. Er stand auf, lief dreimal um den Brunnen und sprach viermal das Vaterunser. Er wusste, dass solche kleinen Zeremonien manchmal halfen. Dann kniete er sich wieder hin. Aber die Ruhe, die er suchte, fand er immer noch nicht. Er versuchte, an den alten Heiligen zu denken, dessen gütige Gegenwart die Wasser dieses Brunnens gesegnet hatte. Er dachte an seinen Vater und flüsterte:

»Ich verspreche es Ihnen, Vater. Ich verspreche es. Mindestens ein Dutzend.« Dann brach er in Tränen aus.

Erst über eine Stunde später war er wieder zu Hause. Lawrence hielt vor dem Haus nach ihm Ausschau.

»Wo warst du, Orlando?«

»Beim Brunnen von Portmarnock«, antwortete Orlando wahrheitsgetreu.

»Ah«, sagte Lawrence nachdenklich. »Ich glaube, es ist an der Zeit«, fuhr er dann freundlich fort, »dass du nach Salamanca gehst.«