CONALL UND DEIRDRE
* 1742 *
Die Falle war gestellt. Doktor Terence Walsh lächelte still vor sich hin, als er über die Brücke ans Nordufer des Liffey eilte. Er freute sich, dass er seinem gutmütigen Bruder nützlich sein konnte, vorausgesetzt natürlich, es klappte und das Opfer, eine junge Dame, ging ihnen in die Falle. Aber alles war so sorgfältig und listig geplant, dass eigentlich nichts schiefgehen konnte. Wie Viehdiebe im alten Irland würden Fortunatus und er die Beute nach Hause bringen, und die Familie würde sicherlich nicht mit Beifall geizen.
Es war ein schöner Morgen im April, und Terence ging zu Fuß. Obwohl schon mittleren Alters, hatte er einen drahtigen Körper, einen federnden Gang und immer noch wahre Luchsaugen. Er lächelte und nickte allen zu, die ihn grüßten, und das waren viele, denn er war beliebt. Doch er blieb bei keinem stehen, um einen Schwatz zu halten, denn er war auf dem Weg zu einem Patienten.
Er konnte sich nicht entsinnen, wann MacGowan, der Krämer, das letzte Mal über gesundheitliche Beschwerden geklagt hatte. Als daher eines der vielen Krämerkinder mit der Nachricht zu ihm gekommen war, dass sein Vater krank sei, hatte er es nach Hause geschickt und ausrichten lassen, dass er in spätestens einer Stunde vorbeischaue.
Als er sich nun dem Haus näherte und den Hof betrat, fiel ihm auf, dass es seltsam still war. MacGowans Frau empfing ihn an der Tür. Sie war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie murmelte ein paar unverständliche Worte und winkte ihn zum Kamin.
Der Krämer saß zusammengesackt in einem Sessel. Sein Gesicht war aschfahl, sein Rückgrat gekrümmt wie bei einem alten Mann, und er hatte so stark abgenommen, dass seine Kleider wie Lumpen an ihm hingen. Als er aufschaute, sah Terence in seinen Augen nur Schmerz und Hoffnungslosigkeit.
Der Winter 1740/41 war in ganz Irland sehr streng gewesen, und seitdem gab es in vielen Teilen des Landes Missernten. Das Gebiet um Dublin war noch glimpflich davonkommen, sodass die Versorgung der Hauptstadt nicht gefährdet war, aber Munster hatte es besonders schwer getroffen. Vor einem halben Jahr, im Sommer 1741, war Terence in Munster gewesen. Die Zustände in den ländlichen Gebieten, wo die Ärmeren buchstäblich verhungerten, hatten Terence entsetzt. Wie immer in solchen Zeiten waren es die Alten und die Kinder, die hinweggerafft wurden, aber ihre Zahl war hoch. Er hatte nie zuvor eine Hungersnot erlebt, und die Erinnerung an die Menschen, denen er in den Dörfern, durch die er kam, begegnet war, verfolgte ihn seitdem. Viele hatten so ausgesehen wie MacGowan jetzt.
Nur litt der Dubliner Viktualienhändler ganz gewiss nicht an Unterernährung.
»Haben Sie Schmerzen?«, fragte Terence.
»Nur im Rücken, Doktor.« MacGowan deutete zwischen seine Schulterblätter. »Ein dumpfer Schmerz, der immer wiederkommt.«
Litt der arme Teufel unter einer Art Schwindsucht oder kündigte sich ein Schlagfluss an?
»Sind Sie kurzatmig?«
»Eigentlich nicht.«
»Haben Sie sonstige Beschwerden? Schlafen Sie gut?«
»Nein«, mischte sich seine Frau ein. »Er hustet und wälzt sich die ganze Nacht, und dann sitzt er stundenlang so da. Er bewegt sich kaum noch.« In ihrer Stimme schwangen Besorgnis und ein Anflug von Ärger mit. »Er kümmert sich kaum noch um das Geschäft.«
Mit den Jahren war Terence Walsh ein guter Arzt geworden. Denn er besaß die beiden wichtigsten Vorzüge, die einen praktischen Arzt zu allen Zeiten auszeichnen: Er kannte die menschliche Natur und hatte ein intuitives Gespür für das Befinden seiner Patienten. Er glaubte zu Recht, dass ein Arzt ohne Intuition nutzlos sei.
»Und wie gehen die Geschäfte, Mr MacGowan?«, fragte er.
»Ganz leidlich.«
Doch seine Frau schüttelte den Kopf.
»Es liegt an dieser Schiffsladung Wein. Davor ging es ihm noch gut.«
Terence betrachtete den Krämer nachdenklich.
»Mrs MacGowan«, sagte er, »ich brauche zwei kleine Becher, und dann möchte ich mit dem Patienten allein gelassen werden.«
Als man seinen Wünschen nachgekommen war, zog Terence eine silberne Taschenflasche aus seinem Rock.
»Brandy, MacGowan«, sagte er und goss davon in jeden Becher. »Ich genehmige mir auch einen.« Er sah zu, wie der Krämer seinen Becher in einem Zug leerte, und nippte an seinem. »Ich schlage vor, Sie erzählen mir jetzt die ganze Geschichte.«
Es dauerte nicht lange, und Doktor Walsh stimmte Mrs MacGowans Diagnose zu. Die Ursache für den Zustand des Krämers war mit ziemlicher Sicherheit eine Schiffsladung Wein.
In gewisser Weise waren die Probleme des Mannes das Resultat seines Erfolgs. Seine Viktualienhandlung war immer gesund gewesen, und im Lauf der Jahre hatte MacGowan seine Geschäfte erfolgreich ausgeweitet und seinen Marktstand vergrößert. Und er hatte einen bescheidenen Großhandel aufgezogen, indem er von Bauern aus dem Umland größere Mengen Getreide, Mehl und Butter kaufte und an andere Händler veräußerte. Dabei kam es ihm zugute, dass er Katholik war. Da nämlich nur die katholischen Händler in Dublin Katholiken beschäftigten, tätigten die katholischen Bauern aus dem Umland ihre Geschäfte am liebsten mit ihnen. Auf diese Weise hatte er ein ausgedehntes Netz von Geschäftsbeziehungen geknüpft. Die älteren seiner Kinder gingen entweder bei anderen Kaufleuten in die Lehre oder hatten sich selbstständig gemacht, die jüngeren halfen im väterlichen Betrieb. Als rühriger Mittfünfziger stand MacGowan kurz vor der Aufnahme in den erlesenen Kreis jener Kaufleute, deren Namen in der Kaufmannsgilde der Stadt auftauchten.
Dann beging er jedoch einen verhängnisvollen Fehler. Nachdem er seine Tüchtigkeit in einem Geschäftszweig unter Beweis gestellt hatte, erlag er der Versuchung, sich in einem anderen zu versuchen, von dem er nichts verstand. Er investierte sein gesamtes Kapital und noch einmal die Hälfte der Summe, für die er eigens einen Kredit aufnahm, in eine Schiffsladung Wein.
Sie kam aus Bordeaux, über einen Händler in Galway. Der Preis war gut – zu gut. Hätte er einen beliebigen Weinhändler in Dublin um Rat gefragt, so hätte der ihn vor Geschäften mit dem Mann aus Galway oder dem Verschiffer in Bordeaux gewarnt. Da er aber in fremdem Revier wilderte, hielt er seine Unternehmung geheim. Er bezahlte den Wein, und das Schiff lieferte. Der Wein war ungenießbar, und der Mann aus Galway nicht aufzufinden.
Sein Kapital war verloren. Und er hatte hohe Schulden. Es gelang ihm, von seinen üblichen Lieferanten etwas Kredit zu bekommen, sodass er seine Geschäfte weiterführen konnte. Doch was er auch unternahm, die Schuldenlast drückte auf seine Brust wie ein Alp, der sich nicht abschütteln ließ. Wochen vergingen, doch er sah keinen Silberstreif am Horizont. Die Schulden drohten ihn zu vernichten. Und schlimmer noch. Sie drohten auch seine arme Familie mit in den Abgrund zu reißen. Dieser Gedanke war ihm unerträglich. MacGowan verlor jeden Antrieb und versank in Teilnahmslosigkeit.
Wenn keine Abhilfe geschaffen wird, dachte Terence Walsh, wird der Mann entweder dahinsiechen oder einen Schlag bekommen und tot umfallen.
Das Tragische an der Sache war, dass der Krämer ein gut gehendes Geschäft führte, wenn man einmal von seinen Schulden absah. Terence selbst hatte als junger Mann zwar keinen Gefallen am Kaufmannsberuf gefunden, aber er kannte den Handel gut genug, um beurteilen zu können, wie es um MacGowan bestellt war. Der Mann hatte nicht nur einen großen Verkaufsstand und eine treue Kundschaft, sondern auch zahlreiche Lieferanten und somit alle Möglichkeiten, aus der gegenwärtigen Verknappung und Verteuerung von Nahrungsmitteln Kapital zu schlagen. Eigentlich war jetzt sogar ein günstiger Zeitpunkt, das Geschäft zu vergrößern. Wäre MacGowans Schuldenlast kleiner, dachte Terence, und hätte ich keine Familie zu versorgen, würde ich das Risiko eingehen und ihm selbst einen Kredit geben.
»Ich kann nichts versprechen«, sagte er zu dem Krämer, »aber Sie dürfen nicht aufgeben. Meines Erachtens ist Ihre Lage nicht so hoffnungslos, wie Sie glauben. In ein paar Tagen schaue ich wieder vorbei. Inzwischen müssen Sie essen, jeden Tag ein Glas Brandy trinken und zur Christ Church gehen, jeden Tag hin und zurück. Ich werde mit Ihrer Frau sprechen. Sie soll dafür Sorge tragen, dass Sie meine Anweisungen auch wirklich befolgen. Dann werden wir weitersehen.« Und nachdem er Mrs MacGowan seine Vorschläge noch einmal nachdrücklich ans Herz gelegt hatte, verabschiedete er sich.
Es war das erste Mal, dass er sich anschickte, einen kranken Patienten durch die Beschaffung von Geld zu heilen, doch er freute sich auf die Aufgabe. Er mochte MacGowan, und Terence war entschlossen, sein Möglichstes zu tun, um ihn zu retten.
Als er das Ende der Straße erreichte und sich noch einmal nach dem Haus des Krämers umblickte, kam ihm eine andere Person in den Sinn, der er vor langer Zeit zu helfen versucht hatte. Fast zwanzig Jahre war es jetzt her, dass er dem jungen Garret Smith dort eine Lehrstelle vermittelt hatte und dass der junge Mann ganz plötzlich aus Dublin verschwunden war. Der Himmel wusste, was aus ihm geworden war.
***
Der Abendhimmel färbte sich rosa. Die Kutschen hatten ihre menschliche Fracht vor dem eingefriedeten Bezirk von Christ Church abgeladen, und wie ein glitzernder Bach strömte die vornehme Dubliner Gesellschaft hinunter zu der stattlichen Music Hall, die sich jetzt neben der Fishamble Street, einer mittelalterlichen Durchgangsstraße, erhob. Die Herren hatten heute auf ihre mit Edelsteinen besetzten Degen, das Zeichen ihres Standes, verzichtet und die Damen auf ihre Reifunterröcke, die ihre Kleider normalerweise so bauschten, dass sie wie mit Bändern geschmückte Schlachtschiffe aussahen. Dieser Verzicht war auf besonderes Ersuchen der Musical Society geleistet worden, da die vielen Zuhörer sonst keinen Platz gefunden hätten.
Innen bot sich ein prächtiges Bild. Die Music Hall schien von zehntausend Kerzen erleuchtet. Vorn, auf einem Podium, saßen die vereinten Chöre der Kathedralen Christ Church und St. Patrick’s, der größte Chor von ganz Dublin. Als der hohe und der niedere Adel zu den reservierten Plätzen strebte, konnte man Vertreter aller berühmten Familien sehen, Fitzgeralds und Butlers, Boyles und Ponsonbys, dazu Bischöfe, Dekane, Richter, Gutsbesitzer und sogar die bekanntesten Kaufleute der Stadt. Siebenhundert Gäste hatten eine Eintrittskarte erhalten, mehr noch, als den Saal bei der triumphalen Probe fünf Tage zuvor gefüllt hatten.
Endlich hielt der Lord Lieutenant mit seinem Gefolge Einzug, als Letzter, wie es sich für den Repräsentanten des Königs geziemte. Beim Anblick des würdevollen Herzogs brach der ganze Saal in Beifall aus, und nicht allein aus Achtung vor seinem Amt und seiner Person, sondern auch weil er, der großzügige Kunstfreund, es in erster Linie gewesen war, der den berühmten Komponisten nach Irland gelockt hatte, sodass nun die feine Dubliner und nicht Londoner Gesellschaft die Uraufführung eines Werkes hören sollte, das bereits als das bedeutendste dieses Tonkünstlers gepriesen wurde: Der Messias, das neue Oratorium von Georg Friedrich Händel.
Für diesen einen Abend konnte man vergessen, dass in Irland eine Hungersnot wütete. Und doch machte Fortunatus ein sorgenvolles Gesicht, während er auf das Einsetzen der Musik wartete. Er hatte viel Geld für die Plätze bezahlt. Seine Frau und sein Sohn George saßen neben ihm. Ebenso der Gentleman namens Grey, den er nur flüchtig kannte. Aber die nächsten fünf Plätze in der Reihe waren bislang leer geblieben. Immer noch gingen Menschen umher, suchten nach Lücken und nahmen ihre Plätze ein. Fortunatus wagte nicht, sich umzusehen.
Die Falle war gestellt. Aber wo zum Teufel blieb das Opfer?
***
Alles hatte an einem Abend vor drei Monaten begonnen. Fortunatus hatte mit Terence bei einer Flasche Rotwein im Salon gesessen, als sein Bruder ihn ansah und sagte:
»Ich habe neulich etwas gehört, das dich interessieren dürfte. Kennst du Doktor Grogan?«
»Flüchtig«, antwortete Fortunatus.
»Nun, er hat zwar nicht so viele Patienten wie ich, aber er ist durchaus erfolgreich und kein übler Kerl. Er hat mir erzählt, dass er eine Familie namens Law behandelt.«
»Henry Law?«
»Ganz recht. Kennst du ihn?«, fragte Terence.
»Ein Leinenhändler aus Belfast. Mehr weiß ich nicht über ihn.«
»Das überrascht mich nicht. Er führt ein ruhiges Leben und kümmert sich um seine Geschäfte. Aber das ist nicht alles. Grogan hat zufällig ein paar Dinge aufgeschnappt, als er in dem Haus war, und daraufhin Erkundigungen eingezogen. Er ist ein sehr neugieriger Mensch, dieser Grogan.« Er machte eine Pause, um die Spannung zu erhöhen. »Henry Law ist einer der reichsten Männer in Dublin.«
»Ein alter Fuchs ist er. Und weiter?«
»Er hat nur Töchter. Keinen Sohn.«
»Verstehe. Reiche Erbinnen.«
»Es kommt noch besser«, sagte Terence. »Es sind drei: Anna, Lydia und Georgiana. Lydia ist krank, und Grogan hat mir versichert, dass sie nur noch ein oder zwei Jahre zu leben hat. Folglich wird das ganze Vermögen zu gleichen Teilen unter ihren Schwestern aufgeteilt.«
»Denkst du an George?«, fragte Fortunatus.
»So ist es.«
»Er ist erst zwanzig.«
»Georgiana ist sechzehn. Wenn sie achtzehn ist …«
»Und du meinst, wir sollten möglichen Rivalen zuvorkommen.« Fortunatus dachte darüber nach. Sein Sohn George war ein gut aussehender und intelligenter Junge. Und eine Frohnatur. Die Leute mochten ihn. Aber Fortunatus war Menschenkenner genug, um zu wissen, wo die Interessen seines Sohnes lagen. Sein anderer Sohn, William, wäre vollauf zufrieden, wenn er das Gut der Familie in Fingal verwalten könnte. Als er ihn einmal in das großartige neue Parlamentsgebäude mitgenommen hatte, das jetzt auf College Green herabblickte, hatte William zwar höfliches Interesse gezeigt, aber er hatte ihm angemerkt, dass er sich langweilte. Ganz anders George. Seine Augen nahmen alles auf. Er lauschte den Reden nicht einfach nur, sondern ließ darüber hinaus erkennen, dass er den Stil jedes Redners sorgfältig studierte. »Hier wäre ich gern«, sagte er seinem Vater. Und er stellte Fragen über Fragen, wollte Näheres über die führenden Politiker und ihre Familien wissen, erkundigte sich, wer über wen Macht hatte. »Ich kann dir zu einem Start verhelfen«, hatte Fortunatus damals, nach ihrem ersten Besuch, ganz offen zu ihm gesagt, »aber wenn du es in der Welt zu etwas bringen willst, musst du dir eine reiche Frau suchen.«
»Welcher Konfession gehören die Laws an?«, erkundigte er sich jetzt bei Terence.
»Sie waren Presbyterianer. Doch als Henry Law nach Dublin kam, trat er der Kirche von Irland bei.«
»Ich möchte nicht für einen Mitgiftjäger gehalten werden«, sagte Fortunatus langsam.
»Auf keinen Fall. Das würde deine Chancen zunichte machen.«
»Hast du einen Plan?«
»Vielleicht. Aber zuerst musst du ein paar Dinge erfahren.«
***
Barbara Doyle war gern gefällig gewesen. Abgesehen davon, dass ihr Haar mittlerweile ergraut war, hatte sie sich erstaunlich wenig verändert. Und Fortunatus stand mittlerweile seit vielen Jahren bei Cousine Barbara hoch in der Gunst, genauer gesagt, seit dem Skandal um Woods Kupfermünzen.
Seine Reden im Parlament waren nicht der Grund. Sie waren so brillant wie nutzlos gewesen, denn die englische Regierung hatte es nicht für nötig befunden, die Haltung Dublins in dieser Angelegenheit auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Aber dann hatten Swifts gedruckte Attacken begonnen.
Die Tuchhändlerbriefe erschienen über einen Zeitraum von mehreren Monaten. Sie waren anonym, aber jeder wusste, dass sie aus der Feder des Dekans Swift stammten. Wer sonst hätte eine so beißende und mit Ironie gewürzte Prosa schreiben können? Die englische Regierung sah sich der Lächerlichkeit preisgegeben, und da ihre Mitglieder anderen Politikern an Eitelkeit nicht nachstanden, war Swifts Spott mehr, als sie ertragen konnten. Die Münzen wurden zurückgezogen. Die Iren frohlockten. Fortunatus hatte Cousine Barbara erzählt, dass das Ganze seine Idee gewesen sei und dass er sie zusammen mit Swift oben in der Grafschaft Cavan ausgebrütet habe, und so geriet er fast in Panik, als er Barbara eines Tages zufällig vor dem Parlamentsgebäude traf und gleich darauf Dekan Swift aus dem Trinity College trat und direkt auf sie zukam. Mrs Doyle hatte nicht gezögert, ihn anzusprechen.
»Wie ich höre«, sagte sie herausfordernd, »war es mein Cousin Fortunatus, der Sie zu diesen Tuchhändlerbriefen angeregt hat.«
»Tatsächlich?« Der Dekan starrte zuerst sie, dann Fortunatus an. Er erinnert sich an die Impertinenz des jungen Smith in Quilca, dachte Fortunatus mit sinkendem Mut, und wird mich bestimmt verleugnen. Die Verdopplung seiner Miete schien unabwendbar. Doch sei es, weil er die besorgte Miene seines Gegenübers sah, sei es aus reiner Gutmütigkeit, jedenfalls beschloss der Verfasser von Gullivers Reisen, barmherzig zu sein. »Ich schrieb sie erst, nachdem er mich dazu überredet hatte«, bestätigte er, was nicht einmal gelogen war. Cousine Barbara hatte Fortunatus angestrahlt und ihm seit damals nie wieder Schwierigkeiten gemacht.
Seine erste Begegnung mit Henry Law, dem Leinenhändler, etwa sechs Wochen vor der Uraufführung von Händels Messias, hätte nicht unverfänglicher sein können, da sie beide zufällig dieselbe Gemeindekirche besuchten. Henry Laws Frau stand der Witwe Doyle, die in ihren Augen mit den Jahren immer eingebildeter wurde, nicht besonders nahe. Sie hatten einander wenig zu sagen. Doch Henry Law war einer Unterhaltung mir Mrs Doyle nie abgeneigt, zumal er Respekt vor ihrem Geschäftssinn hatte. Nach dem Gottesdienst plauderten sie häufig ein paar Minuten, während Mrs Law gesellschaftliche Kontakte pflegte. So fiel es Barbara an jenem Sonntag nicht schwer, das Gespräch auf Familien zu lenken, die durch den Glauben gespalten wurden.
»Das gilt auch für meine Familie«, bemerkte Henry Law. »In Ulster war ich Presbyterianer, doch als ich hierher kam und heiratete, nahm ich den Glauben meiner Frau an und trat der Kirche von Irland bei.«
»Das wusste ich nicht«, log Barbara Doyle.
»Ach ja«, seufzte er, »seitdem spricht mein Bruder in Ulster nicht mehr mit mir.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann ja gut verstehen, was er empfindet, aber ich selbst habe nie so stark empfunden. Bislang waren alle meine Versuche, den Riss zu kitten, vergebens.«
Ob er Doktor Terence Walsh kenne?, fragte sie. Nur dem Namen nach, antwortete er. Ein entfernter Verwandter von ihr, und Katholik, fuhr sie fort. Doch sein Bruder, Mitglied des Parlaments und ein überzeugter Mann der Kirche von Irland, lasse nicht zu, dass die Religion sie entzweie. »Er tut alles, was er kann, um Terence zu helfen. Die beiden sind die besten Freunde. Wie ich überhaupt sagen muss, dass sie sehr gute Menschen sind.«
»Tja, so sollte es sein«, sagte Henry Law. »Ich wünschte, mir wäre dasselbe gelungen. Besitzen diese Walshs nicht ein Gut in Fingal?«
»Alter Landadel. Aber einfache Leute. Ohne törichte Allüren«, sagte sie fest. »Arbeiten hart und stehen zu ihrer Familie.«
»Es wäre mir eine Freude«, sagte Henry Law versonnen, »diesen Mr Walsh bei Gelegenheit einmal kennen zu lernen.«
»Am liebsten«, berichtete Cousine Barbara hinterher Fortunatus, »wäre er sofort in Ihr Haus gekommen. Aber ich weiß, dass das nicht in Ihrem Sinn wäre. Also habe ich nichts gesagt, und wir sind auseinander gegangen.«
»Bedeutet ihm die Familie tatsächlich so viel?«
»Unbedingt. Er hat im Leinengeschäft ein Vermögen gemacht, aber er ist jederzeit bereit, was er hat, mit seiner Familie zu teilen. Das weiß ich vom Vikar. Seinen Bruder in Philadelphia hat er unter großen Opfern zweimal vor dem Ruin bewahrt. Ihr Verhältnis zu Terence wäre ihm äußerst wichtig.«
»Er muss es bedauern, dass er keinen Sohn hat.«
»Er hatte einen. Er wurde nach den Mädchen geboren, ist aber gestorben. Auch das weiß ich vom Vikar. Er selbst spricht nie darüber. Danach, so scheint es, hat er sich verändert. Er liebt seine Töchter, davon bin ich überzeugt, aber er hat mit ihnen nicht dieselben ehrgeizigen Ziele.« Cousine Barbara grinste. »Aber die Mutter hat mit den Mädchen Großes im Sinn. Also heraus mit der Sprache«, forderte sie ihn freundlich auf, »wie gedenken Sie, die Mutter um den Finger zu wickeln?«
Isaac Tidy ließ den Blick durch den Raum schweifen. Es waren noch drei Wochen bis zu der großen Aufführung des Messias. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Herzog ihn bei diesem Ereignis brauchen würde, aber heute Abend gab der Lord Lieutenant anlässlich des St. Patrick’s Day in Dublin Castle einen Ball, und Tidy hatte seit dem Morgen emsig an den Vorbereitungen gearbeitet.
Einige, das wusste er, verübelten es ihm, dass er Dekan Swift verlassen hatte. Dabei war es ihm nicht leichtgefallen. Der Gesundheitszustand des Dekans hatte sich zusehends verschlechtert, und mit ihm seine Laune. Swift hatte sich mit Sheridan überworfen. Als er immer mürrischer und apathischer wurde, hatte Tidy begriffen, dass er nicht mehr viel für ihn tun könne. »Es sei denn, ich wollte als Swifts Kindermädchen enden, aber das will ich nicht«, sagte er zu seinen Verwandten. Just zu dieser Zeit kam ihm zu Ohren, dass im Haushalt des neuen Lord Lieutenant eine Stelle frei geworden war, und er bewarb sich sogleich. Zu seinem Erstaunen führte der Herzog persönlich das Einstellungsgespräch.
»Ich möchte nicht, dass es heißt, ich hätte ihn dem Dekan von St. Patrick’s weggeschnappt«, sagte der Herzog offen zu ihm.
»Euer Gnaden haben mein Wort, dass ich bereits aus seinem Dienst geschieden bin«, antwortete er bestimmt. In der Annahme, dies könnte zur Bedingung seiner Einstellung gemacht werden, hatte er es nämlich darauf ankommen lassen und am selben Morgen bei Swift gekündigt.
Es mochte sein, dass einige Leute seine neue Stellung für einen beruflichen Abstieg hielten. Schließlich hatte der Herzog bereits einen Butler. Aber Tidy war jetzt ein Unter-Butler, und als solcher stand er weit über der Legion livrierter Lakaien, die im großen Haushalt des Herzogs herumstolzierten. Er war auch nicht mehr das geschätzte Faktotum, sondern ein Neuling. Und mit Sicherheit erwies ihm niemand die Ehre, ihn mit Mr Tidy anzusprechen. Aber er war bereit, diese kleineren Demütigungen hinzunehmen, da er mit dem Wechsel zum Herzog ein kleines Privathaus gegen den Palast eines mächtigen Potentaten getauscht hatte. »Höher als der Herzog«, erklärte er stolz seiner Familie, »kann man in Irland nicht kommen.« Sollte er es jemals zum Butler bringen, würde er jeden unfreien Mann in Dublin überragen. Er übte sich daher in Vorsicht, gab es auf, jene, die keine Gentlemen waren, mit verächtlichen Blicken zu strafen, behandelte sie stattdessen mit gewinnender Höflichkeit und machte sich denen, die über und unter ihm standen, nützlich. Im Rahmen seiner Möglichkeiten war er wirklich sehr klug.
Isaac Tidy war glücklich. Bald würde der Ball beginnen. Der große Saal in Dublin Castle sah großartig aus. Der große Umbau der irischen Hauptstadt zu einem Meisterwerk des Klassizismus hatte nun endlich auch die heruntergekommene alte Burg erreicht. So wurde bereits an einem großartigen Treppenhaus und an einer Flucht von Prunksälen gearbeitet. Bis auf weiteres wurde noch der große alte Saal für Festlichkeiten wie die heutige benutzt, doch selbst den hatte die Kunst des Ausstatters für den heutigen Abend in ein großes klassisches Pantheon verwandelt. Und die Gäste sorgten für zusätzlichen Glanz. Lords, Ladies, Gentlemen – hier war in der Tat die feine Gesellschaft versammelt. Viele Gesichter kannte er, denn Tidy erinnerte sich grundsätzlich an jede Person, die irgendwann einmal eine der herzoglichen Residenzen besucht hatte. Als er seine Augen durch den Saal wandern ließ, bemerkte er am anderen Ende das fröhliche Gesicht von Fortunatus Walsh.
Was Isaac selbst betraf, so stand er, für die ganze Gesellschaft sichtbar, nur einen Schritt vom Herzog von Devonshire entfernt, in diskreter Erwartung dessen persönlicher Befehle. Er gestattete sich ein leichtes Lächeln und senkte den Blick auf seine auf Hochglanz polierten Schuhe. Und in diesem kurzen Augenblick der Glückseligkeit bemerkte er nicht, dass Walsh soeben einer Person aus der Entourage des Herzogs zugenickt hatte.
Augenblicke später winkte ihn der Herzog zu sich. Tidy glitt rasch und geschmeidig an seine Seite und war in höchstem Maße überrascht, als ihm aufgetragen wurde, Fortunatus Walsh zu holen.
Niemandem entging, dass Tidy den Saal durchquerte. Teils weil alle Anwesenden aus den Augenwinkeln das herzogliche Gefolge beobachteten, teils weil schlechterdings nicht zu übersehen war, wie der elegante und gepuderte Diener, vom Herzog kommend, mitten durch den Saal stolzierte und wie Damen und Herren vor ihm zur Seite wichen. Jeder im Saal fragte sich, zu wem er wohl wollte.
Nicht zuletzt auch Eliza, die Frau des Leinenhändlers Henry Law.
Eliza war überrascht gewesen, als sie von einer Dame, die sie gar nicht besonders gut kannte, gefragt wurde, ob sie nicht Lust habe, sie zum Ball des Vizekönigs zu begleiten. Ihr Gatte, so die Dame, habe außerhalb der Stadt zu tun. »Und alleine möchte ich nicht hingehen.« Die Kanzlei des Vizekönigs, so versicherte sie ihr, habe nichts dagegen einzuwenden, wenn sie für ihren Gatten einspringe.
»Aber was ist, wenn mich jemand zum Tanzen auffordert?«, wollte Eliza wissen.
»Dann tanzen Sie selbstverständlich«, lachte die Dame.
Die unverhoffte Einladung konnte Eliza unmöglich ausschlagen. In den letzten Jahren hatte sie kaum etwas mehr bedauert als das schwindende Interesse ihres Gatten an Gesellschaften. Das hatte sie nie verstehen können. »Wie kannst du dich langweilen«, hatte sie ihn mit ehrlicher Verwunderung gefragt, »wenn getanzt wird?« Ihr zuliebe ging er gelegentlich ins Theater oder in ein Konzert oder sogar zu einer Versammlung, und sie hatte ihm freundlich zu verstehen gegeben, dass er bald mehr für seine Töchter tun müsse. Aber zu mehr ließ er sich nicht bewegen. Wenigstens hatte er keine Einwände dagegen erhoben, dass sie heute diesen Ball besuchte.
Ihre Begleiterin lächelte. Wie es der Zufall wollte, war ihre Begleiterin eng mit Doktor Terence Walshs Frau befreundet, was Eliza Law freilich nicht wusste.
»Ist das nicht ein großartiger Anblick? Der Herzog sieht heute Abend sehr gut aus.«
Der Herzog von Devonshire war der zweite bedeutende Aristokrat, der in den letzten zehn Jahren als Vizekönig nach Irland gesandt worden war, und sein unermesslicher Reichtum und seine Stellung gaben der Dubliner Gesellschaft ein Gefühl von Stabilität. Wie er so in seiner ganzen Herrlichkeit dastand, in einem blauen und goldenen Rock, das breite, intelligente Gesicht unter einer gepuderten Perücke, und träge, aber wohlwollend auf die Festgesellschaft blickte, symbolisierte er Größe und Frieden. Europa mochte seit langer Zeit in rivalisierende dynastische Lager gespalten sein, Invasionen mochten drohen, auch wenn sie anscheinend nie wahr wurden, und selbst die jakobitische Sache mochte hier und dort wieder aufleben, aber in Dublin bot sich das Bild eines bescheiden wachsenden Wohlstands – von dem die alteingesessenen Iren natürlich ausgeschlossen waren – und des politischen Friedens.
Doch es war nicht der Herzog, der Eliza faszinierte – sie hatte ihn schon einmal gesehen –, sondern seine Entourage. Sie war wirklich prächtig anzuschauen.
»Die Ponsonbys sind alle da«, bemerkte ihre Freundin. Eliza war begeistert. Die Ponsonbys waren Nachfahren von Cromwells Siedler und von Haus kaum vornehmer als ihre eigene Familie. Aber zwei Generationen hatten es durch Intrigen und politische Protektion von einflussreicher Seite so weit gebracht, dass sie heute sogar noch mehr Gewicht hatten als die reiche Familie Boyle unten in Munster. Zu der Zeit, als der Herzog von Devonshire nach Irland kam, waren die Ponsonbys und ihre Gefolgsleute bereits in der Lage, der Regierung die nötigen Stimmen zu verschaffen, um ein Gesetz reibungslos durch das Dubliner Parlament zu bringen. Und es hatte ihr Ansehen weiter gemehrt – und dem Herzog politisch in die Hände gespielt –, dass unlängst einer ihrer Söhne eine Tochter des Herzogs geheiratet hatte. Das Beste von allem war, jedenfalls in Eliza Laws Augen, dass dieser Aufstieg der Familie nicht nur Wohlstand, sondern auch einen Titel eingebracht hatte.
Ach. Einen Titel. Heutzutage waren in Irland viele zu haben. Besonders die irische Peerswürde wurde häufig für politische Verdienste verliehen. Ein Mann brauchte nur zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein und so zu stimmen, wie es der Regierung genehm war, um Lord zu werden – eine Auszeichnung, die beinahe Ewigkeitswert hatte, denn der Titel war erblich. Wer nach gesellschaftlichem Prestige für seine Familie strebte – und wer in dieser Gesellschaft tat das nicht? –, der musste eine Peerswürde erlangen.
Bei dem Gedanken an einen Titel bekam Eliza einen verträumten Blick. Sie selbst würde niemals mit Lady Law angeredet werden, aber wie sehr wünschte sie sich das für ihre reizenden, schwanengleichen Töchter. Junge Gentlemen mit Aussichten auf einen Titel, das erträumte sie sich für die Mädchen. Und nun standen die jungen Gentlemen hier im Saal vor ihr, geballt vor allem in der strahlenden Entourage des Vizekönigs. Wie wunderbar. Eliza Law konnte sich nicht erinnern, jemals so beglückt gewesen zu sein.
Dann sah sie Tidy zurückkommen. Er ging einem gut aussehenden Mann mittleren Alters voran, der ihm quer durch den Saal folgte. Sie steuerten direkt auf die Gruppe um den Herzog zu. Alle Augen waren auf die beiden gerichtet. Die Landadligen, die Lords und Ladies, die künftigen Lords, sie alle sahen zu, in diesem großen Saal, den zehntausend Kerzen erleuchteten. Alle sahen zu, und das allgemeine Gemurmel verstummte, als Fortunatus Walsh beim Herzog anlangte. Der Herzog streckte ihm die Hand entgegen und lächelte.
Als Walsh nahte, hatte sich der Herzog zu seinem Schwiegersohn hinübergebeugt.
»Worum handelt es sich noch einmal?«, hatte er sich freundlich erkundigt.
»Fortunatus Walsh. Mitglied des Parlaments. Alter Fingaler Landadel. Wünscht, mit Euer Gnaden gesehen zu werden. Wird nur eine Minute dauern.«
»Und es gibt nichts, was dagegen spricht?«
»Nicht das Geringste. Ein loyaler Mann. Stets hilfsbereit. Ein guter Freund.«
»Dann sollten wir ihm wohl gefällig sein.« Trotz seiner bisweilen behäbig wirkenden äußeren Erscheinung war der Herzog ein überaus kluger Mann, der sich glänzend auf Gefälligkeiten wie diese verstand. Er streckte die Hand aus. »Mein lieber Mr Walsh, wir freuen uns, Sie zu sehen.«
Sie sprachen über Händel, für den Fortunatus mit kundigen Worten seine Bewunderung zum Ausdruck brachte, dann plauderten sie über ein paar Stücke, die sie im Smock Alley Theatre gesehen hatten. Der Herzog fand rasch Gefallen an seinem Gesprächspartner und bot ihm – die höchste Form der Auszeichnung – sogar seine Schnupftabaksdose an. So unterhielten sie sich fünf Minuten lang, und ganz Dublin sah zu.
»Wir müssen uns wieder sprechen«, sagte der Herzog, um die Audienz zu beenden, jedoch mit einem Nicken zu seinem Schwiegersohn, um ihm zu bedeuten, dass es ihm ernst damit war. Darauf zog sich Fortunatus in stillem Triumph zurück. Kaum war er fort, raunte der Herzog Ponsonby zu: »So, und jetzt verraten Sie mir, worum es dabei geht.«
Die ganze Zeit über war Eliza Law von der Gunstbezeigung in diesem illustren Kreis so gebannt gewesen, dass sie kein Wort gesprochen hatte. Jetzt wandte sie sich an ihre Begleiterin.
»Wer ist der Gentleman?«
»Wie, Sie kennen ihn nicht? Das ist Fortunatus Walsh. Gute alte Familie. Und politisch in hoher Gunst, wie man hört.«
All diese sorgfältigen Vorbereitungen nebst der vertraulichen Information, dass die Laws in die Aufführung des Messias zu gehen gedachten, hätten nicht genügt, um die Falle an diesem Abend zuschnappen zu lassen, wäre nicht noch ein weiterer glücklicher Umstand zu Hilfe gekommen.
Nämlich der Umstand, dass der junge Tom Sheridan just zu dem Zeitpunkt nicht viel zu tun hatte.
Trotz des bedauerlichen Vorfalls vor so vielen Jahren war es Fortunatus gelungen, die Freundschaft mit Doktor Sheridan und seiner Familie am Leben zu erhalten. Von den Söhnen des guten alten Doktors war Tom in seinen Augen der umtriebigste. Ein Patensohn Swifts, hatte er selbst eine ausgeprägte literarische Ader. Bis vor kurzem noch Student am Trinity College, hatte er die Lehranstalt inzwischen verlassen und den für einen jungen Gentleman zwar ungewöhnlichen, aber durchaus nicht beispiellosen Wunsch bekundet, Theater zu spielen und Stücke zu schreiben.
»Das Smock Alley ist meine Welt«, hatte er vergnügt zu Fortunatus gesagt.
Das Dubliner Smock Alley Theatre war mit Sicherheit ein Ort, an dem immer etwas los war. In der Wintersaison wurden alte und neue Stücke gespielt, und im Sommer gastierten dort die besten Londoner Aufführungen. Dieses Jahr war der Schauspieler Garrick, der in London neuerdings für Furore sorgte, angekündigt.
»Wenn Sie es schaffen, im Smock Alley ein Stück aufzuführen, werden wir alle kommen, Tom, das verspreche ich Ihnen«, hatte Fortunatus ihm versichert. »Aber wie wollen Sie bis dahin Ihren Lebensunterhalt bestreiten?«
Mit diversen kleinen Nebenbeschäftigungen, wie sich herausstellte, darunter eine bei der Musical Society. Und daran erinnerte sich Walsh, als er überlegte, wie sich das gewünschte Arrangement für den Messias zustande bringen ließ.
»Haben Sie Einfluss auf die Platzzuweisung bei den Konzerten, Tom?«, hatte er ihn gefragt, als sie sich eines Tages zufällig auf der Straße begegneten.
»Da ließe sich gewiss etwas machen.«
»Würden Sie gern zwei Guineen verdienen?«
»Ich würde sehr gern zwei Guineen verdienen.«
»Dann möchte ich«, sagte Fortunatus, »dass Sie uns im Messias neben die Familie von Mr Henry Law setzen.«
***
Jetzt kamen sie endlich. Offensichtlich waren sie aufgehalten worden, weil Eliza Law mit jemandem aus dem Publikum gesprochen hatte. Fortunatus verbarg seine Erleichterung.
Sie waren nicht zu verwechseln. Der Kaufmann, eine hagere und ansprechende Erscheinung, das Haar noch blond, lächelte verhalten. Er hatte das Aussehen eines Gentlemans, wie Walsh beifällig zur Kenntnis nahm. Seine Frau kümmerte sich rührig um ihre Töchter und spähte zugleich mit blassblauen Augen ins Publikum. Sie war schlank geblieben. Recht passabel. Dann die Töchter. Fortunatus sah sofort, welche Lydia sein musste – die mit dem langen Hals. Sie sah wirklich sehr blass und kränklich aus, genau wie Terence gesagt hatte. Doch bei den beiden anderen bekam er große Augen. Was für Schönheiten! Die eine war blond und lächelte, die andere, mit einem braunroten Schimmer im Haar, war keck und vollbusig. War sie Anna? Oder Georgiana?
Wo würden sie Platz nehmen? Würde es so kommen, wie er gehofft hatte? Er blickte stur nach vorn, lächelte abwesend und hielt den Atem an. Ja. Alles bestens. Er selbst, dann Grey, und gleich neben ihm Henry Law.
Nun war Grey am Zug.
Der ehrenwerte Gentleman wandte sich nach rechts und lächelte.
»Ah, Mr Law.«
»Na so was, Mr Grey. Ich bin hocherfreut, Sie zu sehen. Meine Liebe, ich glaube, du hattest noch nicht das Vergnügen. Mr Grey und ich haben geschäftlich miteinander zu tun.« Man begrüßte sich lächelnd.
Dann sagte Grey recht leise zu Law:
»Kennen Sie Mr Fortunatus Walsh, Mitglied des Parlaments? Ich bin in seiner Gesellschaft hier.«
»Oh. Nein, aber ich habe von ihm gehört.«
»Möchten Sie, dass ich Sie mit ihm bekannt mache?«
»Sehr gern.«
»Darf ich Ihnen Mr Henry Law vorstellen? Das ist Mr Fortunatus Walsh, Mitglied des Parlaments.«
»Mr Law, es ist mir eine Ehre.«
»Mr Walsh,« lächelte Henry Law aufgeregt, »die Ehre ist ganz meinerseits, Sir. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
***
Die Aufführung war grandios. Für Händel, für den Herzog, für die Music Society, für alle war es ein triumphaler Erfolg.
Als die Laws zu Fuß nach Hause gingen – da es nicht regnete und zudem nicht weit war, hatte es Henry Law für unnötig befunden, die Familienkutsche zu benutzen –, wandte er sich an seine Frau.
»Wenn wir ein Dinner geben, sollten wir, denke ich, Fortunatus Walsh und seine Gattin einladen. Er ist ein sehr kluger Mann, und ich glaube, er würde kommen.«
Im ersten Moment war seine Frau versucht, ihm zu sagen, dass Fortunatus Walsh nicht nur ein kluger Mann war, sondern auch hoch in der Gunst des Herzogs stand und nach allem, was sie wusste, Aussichten auf einen Titel und einen gut aussehenden unverheirateten Sohn hatte. Und dass sie sich, wenn sich die Gelegenheit böte, vor ihn auf den Boden werfen und ihn bitten würde, über sie hinweg zur Tür ihres Hauses zu schreiten. Doch sie besann sich anders. Besser, sie schwieg, denn ihr Mann würde es möglicherweise nicht gutheißen. Es genügte vollauf, wenn sie und ihre Töchter Bescheid wussten.
»Wie du wünschst, Liebling«, sagte sie und dankte Gott, dass er an diesem wunderbaren Abend nicht nur Händel, sondern auch Fortunatus Walsh in die Dubliner Music Hall geführt hatte.
***
Voller Neugierde zu erfahren, wie der Abend verlaufen war, kamen am nächsten Morgen sowohl Cousine Barbara als auch Fortunatus’ Bruder Terence in das Haus am St. Stephen’s Green.
»Es war großartig. Sie müssen unbedingt hingehen und sich Händel anhören«, sagte er zu Barbara.
»Ein Choral, den ich in der Kirche singen kann, ist mir Musik genug«, erwiderte sie entschieden. »Und jetzt Schluss mit dem Unsinn. Was ist mit Law?«
»Wir werden sehen. Aber ich glaube«, sagte Fortunatus mit voller Berechtigung, »er hat angebissen. Im Übrigen sind die Mädchen außerordentlich hübsch. Ganz besonders gefällt mir die Rothaarige. Georgiana.«
»Und welche gefällt George besser?«, erkundigte sich Terence.
»Ich habe ihn nicht gefragt. Aber unter den gegebenen Umständen«, sagte Fortunatus mit voller Berechtigung, »vertraue ich darauf, dass er die mögen wird, die ihn mag.«
»George und Georgiana«, sagte Barbara Doyle vergnügt, »das klingt gut in meinen Ohren.«
»Ja, stimmt«, sagte Fortunatus. »Aber ob nun etwas daraus wird oder nicht«, fügte er hinzu, »ich muss mich schon jetzt bei euch beiden bedanken.« Er lächelte Terence zu. »Mein lieber Bruder, ich werde dir nie vergessen, dass du dich für alle Gefälligkeiten erkenntlich gezeigt und mir so großzügig geholfen hast.«
Dann brachten sie zwanzig fröhliche Minuten damit zu, die ganze Geschichte noch einmal Episode für Episode durchzugehen und einander zu ihrer Gerissenheit zu beglückwünschen.
Erst danach bemerkte Terence Walsh:
»Ich will euch sagen, wer gegenwärtig weit mehr Hilfe braucht als jeder von uns, und zwar mein armer Patient MacGowan, der Krämer.« Dann erzählte er die ganze traurige Geschichte.
»Was willst du nun unternehmen?«, fragte Fortunatus, als er geendet hatte.
»Ich habe die Absicht, noch heute ein paar katholische Kaufleute aufzusuchen, die ich kenne. Vielleicht können wir uns zu einer kleinen Gruppe zusammentun, um ihn und sein Geschäft zu retten, das, wie ich ausdrücklich betone, immer noch sehr einträglich sein könnte.«
»Tu das«, sagte Cousine Barbara bestimmt. »Die katholischen Kaufleute halten meistens gut zusammen.«
»Das hoffe ich aufrichtig«, erwiderte Terence.
Bald danach musste Barbara Doyle gehen, aber Terence blieb noch etwas länger bei Fortunatus.
»Weißt du, wer mir noch in den Sinn kam, als ich von MacGowan fortging?«, fragte Terence seinen Bruder nach einer Pause.
»Sag schon.«
»Unser Verwandter, Garret Smith. Ich frage mich, wo er wohl steckt und wie es ihm geht.«
»Soweit ich weiß, hat er Dublin verlassen, ohne die Lehre abzuschließen, und ist nach Wicklow gegangen. Ich finde, er hat sich dir gegenüber sehr schlecht benommen.«
»Er war noch jung.«
»Er hat nie den Versuch unternommen, dich wiederzusehen, sich zu entschuldigen oder dir eine Erklärung zu geben.«
»Vielleicht ist es ihm peinlich.«
»Vergiss ihn, Terence. Dabei wird nie etwas Gutes herauskommen. Du hast Besseres zu tun.«
»Vermutlich hast du Recht.« Terence stand auf. »Ich muss jetzt an MacGowan denken.«
Der Krämer war es wert, gerettet zu werden, dachte Fortunatus. Garret Smith wahrscheinlich nicht.
***
Die beiden Brüder wären überrascht gewesen, wenn sie in diesem Augenblick Cousine Barbara hätten sehen können. Nachdem sie das Haus verlassen hatte, wies sie ihren Kutscher an, nach Norden zu fahren. Die Kutsche rollte am Trinity College und an dem prächtigen neuen Parla mentsgebäude vorbei, das mit seiner imposanten klassizistischen Fassade glauben machen konnte, London werde vom irischen Parlament aus regiert, bog dann auf die Brücke ein, die sich über den Liffey spannte, und fuhr weiter in Richtung Cow Lane.
Barbara Doyle befürwortete die Vormachtstellung der Protestanten und machte nur selten Geschäfte mit katholischen Kaufleuten, aber die Aussicht auf Profit stand für sie stets an erster Stelle. Und nach ihrer Einschätzung würde es mindestens ein oder zwei Tage dauern, bis Terence eine Sammlung unter katholischen Kaufleuten organisiert hatte. Sie hatte es immer für wichtig gehalten, die Erste zu sein.
Der verzweifelte Krämer war in höchstem Maße erstaunt, als er ein paar Minuten später von dieser unerwarteten und recht Furcht einflößenden Retterin aufgesucht wurde.
»Erzählen Sie mir alles«, befahl sie, »dann wollen wir sehen, was ich tun kann.«
Sie lauschte aufmerksam, als er ihr das Geschäft in allen Einzelheiten schilderte, dann erklärte sie: »Ich werde Ihre Teilhaberin und bekomme ab sofort ein Drittel des Gewinns, aber wir werden alle Ihre Gläubiger befriedigen. In sechs Monaten sind die Schulden getilgt. Entweder Sie akzeptieren, oder Sie lassen es bleiben.«
»Ich akzeptiere«, erwiderte er nervös, »aber …«
»Aber was?«
»Die Schulden sind hoch. Ich weiß nicht, wie wir sie zurückzahlen sollen.«
Barbara Doyle lächelte.
»Ich werde mit Ihren Gläubigern reden. Wir werden uns schon einigen.« Und leiser setzte sie hinzu: »Wer sagt denn, dass wir alles zurückzahlen werden?«
* 1744 *
Im Herbst 1744 wurden George Walsh und Georgiana Law getraut, ein Ereignis, das so selbstverständlich und unvermeidlich erschien wie der lange Frieden, den Irland nunmehr seit fast einem Menschenleben genoss. Und doch lag eine gewisse Angst über der Veranstaltung, so als sei in der Ferne eine böse Hexe aufgetaucht und nähere sich dem Hochzeitsfest.
»Die Franzosen kommen«, ging das Gerücht.
Natürlich waren Gerüchte über eine bevorstehende Invasion nichts Neues. In der nie endenden wollenden Rivalität der europäischen Mächte machte Großbritannien nun gemeinsame Sache mit Frankreichs Feinden. Das weckte bei den Franzosen den Wunsch, in Irland zu landen, um die Engländer zu ärgern. Nun aber kam ein neues Gerücht auf. Der Erbe der verlorenen Stuart-Krone, ein eitler junger Mann, denn die Schotten gern Bonnie Prince Charlie nannten – und den die Franzosen seit Jahren protegierten –, hatte angeblich die Absicht, nach Schottland zu kommen und seine Rechte einzufordern. Ein jakobitischer Aufstand in Schottland und eine französische Invasion in Irland: Dies war genau die Kombination, vor der sich die Regierung in London fürchtete.
Ausnahmsweise einmal war selbst der unerschütterliche Herzog von Devonshire nervös. Befehle ergingen. Die Truppen in den irischen Garnisonen sollten in Bereitschaft versetzt werden. Alle verdächtigen Subjekte sollten gemeldet, alle verdächtigen Priester in Sicherheitsverwahrung genommen werden. Die Iren selbst wurden immer nervöser. Würden sich die drohenden Wolken am Horizont wieder verziehen, wie immer in den Jahrzehnten zuvor? Oder würden sie sich zu einer dunklen Masse zusammenballen und übers Meer an die irische Küste jagen?
***
O’Toole lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und spürte die Sonne im Gesicht. Vor ihm saßen ein Dutzend Kinder im Gras. Einem der Jungen reichte er das Buch, Caesars Kriege auf Latein.
»Übersetze.«
Der Junge begann. Er machte seine Sache nicht schlecht. Aber nach ein oder zwei Minuten verhaspelte er sich. O’Toole zuckte zusammen.
»Nein. So nicht. Wer kann ihm helfen?« Ein anderer machte einen Vorschlag. »Noch schlechter.« Stille. »Conall, was sagst du?« Widerwillig antwortete der Junge. »Sehr gut.«
Der Junge mit dem zerzausten dunklen Haar und den weit auseinanderstehenden grünen Augen sagte immer nur dann etwas, wenn er gefragt wurde. O’Toole verübelte es ihm nicht. Während alle anderen im Gras hockten, thronte Conall Smith auf einem kleinen flachen Felsen, der aus dem Boden ragte. Jeder Versuch eines anderen, einerlei wie groß er war, ihn von dort zu vertreiben, würde damit enden, dass der Angreifer zu Boden gestreckt wurde, denn der junge Conall war mittlerweile außergewöhnlich stark. Doch es war ihm lästig, dass er immer die Fragen des Lehrers zu beantworten hatte, wenn seine Kameraden passen mussten, und manchmal gab er vor, die Antwort nicht zu wissen. Dann starrte O’Toole ihn an, denn er wusste genau, dass er die Antwort kannte, zuckte schließlich mit den Schultern und fuhr fort.
O’Toole liebte den Jungen beinahe so sehr, wie er seine Enkelin liebte. Das machte den heutigen Unterricht so schwierig.
Die Hedge School. Manchmal kauerte der Lehrer mit den wenigen Schülern tatsächlich hinter einer Hecke, auf einer versteckten Waldlichtung oder im Cottage eines Bauern – oder, wie in diesem Fall, hinter einer Steinmauer mit einem herrlichen Blick von den Wicklow-Bergen auf die irische See. Die Hedge School war natürlich verboten, weil die Unterrichtung katholischer Kinder verboten war. Dennoch gab es im ganzen Land Hunderte solcher Schulen.
Kurz nach seinem Besuch in Quilca vor beinahe zwanzig Jahren war O’Toole Lehrer der Hedge School in Rathconan geworden. Er galt als guter, wenn auch nicht als sehr guter Lehrer. Denn er verfügte zwar über exzellente Kenntnisse in den klassischen Sprachen, im Englischen und in den Fächern Geschichte und Geographie, doch in der Philosophie war er nur mäßig beschlagen, und sein mathematisches Wissen war nur ausreichend. Dabei war es vor allem die Mathematik, die die Iren schätzten: die Arithmetik für die Buchführung, die Geometrie für die Landmesserei und selbst die Astronomie. Die besten Mathematiklehrer der Hedge Schools schrieben stolz »Philomath« hinter ihre Namen. Ein alter Mann namens O’Brien, den O’Toole kennen gelernt hatte und der in ganz Irland als »der große O’Brien« bekannt war, genoss in Mathematikerkreisen einen Ruf, der bis nach Italien reichte. So war das illegale Erziehungswesen für Katholiken im Irland des 18. Jahrhunderts beschaffen.
Wenn O’Toole nur ein bescheidener Mathematiker war, so lagen seine Stärken auf anderen Gebieten. Mit seiner Dichtung und seiner Musik hatte er sich einen Namen gemacht und galt als bedeutende Größe, auch wenn er nicht ganz das Niveau des Komponisten und Harfners Turlough O’Carolan erreichte, der mit 18 Jahren an Pocken erkrankt und erblindet war. Vor sechs Jahren war O’Carolan verstorben.
Im Lateinunterricht mussten O’Tooles Schüler den Text zunächst ins Irische, dann ins Englische übersetzen. Er unterwies sie sogar in englischem Recht, was ihnen später von Nutzen sein konnte. Drei seiner ehemaligen Zöglinge hatten es als Kaufleute in Dublin und Wicklow weit gebracht, und ein anderer war nach Frankreich gegangen und studierte dort an einem Priesterseminar – keine schlechte Bilanz für ein kleines Dorf in den Bergen, wie er fand.
Natürlich machten sich nicht alle seine Schüler so gut. Bei den Brennans etwa erreichte O’Toole so gut wie nichts. Aber er musste es weiter versuchen. Er seufzte.
»Conall, geh und halte Wache.«
Budge ließ die kleine Schule gewöhnlich in Ruhe, solange sie unsichtbar blieb, obwohl er ihr Tun zutiefst missbilligte. Doch in seiner Eigenschaft als der hiesige Grundherr und Friedensrichter ritt er bisweilen aus und versuchte, eine Klasse auf frischer Tat zu ertappen. Sollte ihm das gelingen, würde es mit Sicherheit Ärger geben. Daher stellte O’Toole wie die meisten Hedge Schools während des Unterrichts einen Wachposten auf.
»Also, Patrick«, sagte er jetzt so freundlich, wie er konnte, zu dem ältesten der Brennan-Jungen, »lass mich hören, wie du liest.«
Während der Junge sich stotternd durch einen einfachen Abschnitt quälte – O’Toole hatte Conall auch auf Wache geschickt, um ihm dieses Gestammel zu ersparen –, konnte sich der Lehrer nur wundern: Wie war es möglich, dass der junge Conall Smith, ein Kind, dessen Verstand so scharf war wie sein eigener, wenn nicht schärfer, ein halber Brennan war?
Manchmal wünschte er, er hätte eingegriffen und Conalls Geburt verhindert. Es war ein närrischer Gedanke, gewiss, aber hätte er den Vater des Jungen vielleicht dazu überreden können, sein Leben zu ändern und sich eine andere Frau zu nehmen?
Wie ihm schien, hatte er nur ein einziges Mal dazu Gelegenheit gehabt. An jenem Tag vor fast zwanzig Jahren, oben in Quilca. Er hatte sofort erkannt, dass Garret Smith ein begabter junger Mann war. Aber er hatte auch seinen Zorn und seine Verbitterung gespürt. Wie sollte ein intelligenter katholischer Junge auch anders empfinden? Aber wenn er doch nur geahnt hätte, was in Garrets Kopf vorging, als dieser ihn fragte, ob er die Brennans kenne, und ihm am nächsten Morgen bei seiner Abreise mitteilte, dass er ihn in Rathconan besuchen würde. Wenn er es doch nur geahnt hätte!
Was hätte er tun können? Er hätte seinen ganzen Einfluss geltend machen und den jungen Mann beschwören können, einen anderen Weg einzuschlagen. Nur um wenigstens zu verhindern, dass er diesem ungebildeten Mädchen nachlief und in die nichtswürdige Brennan-Familie oben in Rathconan einheiratete. Wäre ihm das gelungen, wäre es jetzt bestimmt nicht so schlecht um Garret Smith bestellt, und Conall würde unter ganz anderen Familienverhältnissen aufwachsen.
Doch als O’Toole in jenem Herbst nach Rathconan zurückgekehrt war, wohnte Garret bereits bei den Brennans, war voller Groll und Verachtung gegen Nary, der das Mädchen fortgeschickt hatte, gegen Sheridan, die Walshs und ihresgleichen. Garret hing dem törichten Glauben an, er sei in einer Hütte in den Bergen ein freierer und besserer Mensch, als wenn er für den Krämer MacGowan in Dublin arbeitete. Wäre es nur darum gegangen, in den Bergen zu leben, hätte er vielleicht Recht gehabt. Ein Mann konnte in der unberührten Natur oder im großartigen Heiligtum Glendalough zu sich selbst finden. Aber in einer Hütte zusammen mit den Brennans? Das konnte sich O’Toole nicht vorstellen.
Innerhalb eines Jahres hatte ihm Kitty Brennan ein Kind geboren, bald darauf ein zweites. Garret hätte sie seiner Ansicht nach einfach sitzen lassen sollen. Aber dafür war er zu anständig. Stattdessen war er zu einem Priester gegangen und hatte Kitty geheiratet. Damit war sein Schicksal besiegelt.
Er hätte Lehrer in einer Hedge School werden sollen. Dafür hätte er mehr lernen müssen, aber das Zeug dazu hätte Garret gehabt. Jetzt war er ein Tagelöhner, ein Tischler und Holzschnitzer, der Aufträge für Figuren entgegennahm, die er nie lieferte. Ein Dichter, der seine Verse nie vollendete, ein Tagträumer, dessen jakobitische Visionen keine Aussicht hatten, jemals in Erfüllung zu gehen. Ein Trinker, der sich von Jahr zu Jahr mehr dem Trunk ergab. Ein Ehemann, der seine Frau inzwischen begraben hatte und der die Angehörigen seiner Frau in seinem Innersten längst verabscheuen musste, denn sie waren schmutzig, faul und dumm. Ein Vater, der seinen verlotterten Kindern von der jakobitischen Sache und dem Unrecht erzählte, das man ihm angetan hatte, oder sie verwünschte, ehe er in Trübsinn versank.
Er hatte drei Töchter, die noch am Leben waren. Zwei, in O’Tooles Augen Schlampen wie ihre Mutter, hatten im Tal geheiratet. Die dritte war Dienstmädchen in Wicklow. Zwei Jungen waren im Säuglingsalter gestorben. Und dann war, wie durch ein Wunder, Conall auf die Welt gekommen.
»Ich fürchte, er wird wie die anderen Jungen sterben«, hatte der Priester, der die Taufe vorgenommen hatte, zu O’Toole gesagt. Fast jeder in Rathconan hatte das geglaubt. Er sah ihn noch vor sich, wie er im Alter von drei Jahren aussah, so blass und schwächlich, mit diesen wunderbaren grünen Augen. Ein so bezauberndes Kerlchen, dass einem das Herz brechen wollte bei dem Gedanken, wie wenig Zeit ihm voraussichtlich blieb, das Leben kennen zu lernen. Als O’Tooles kleine Enkelin Deirdre, die nur zwei Monate jünger war, sich mit dem Jungen anfreundete, versuchte er behutsam zu verhindern, dass die Freundschaft zu innig wurde, um ihr allzu großes Leid zu ersparen, wenn der Junge starb. Aber er konnte sie schwerlich davon abhalten, mit ihm zu spielen oder Hand in Hand mit ihm den Berg hinaufzuwandern zu der Stelle, wo die Schafe weideten, oder sich mit ihm auf den Felsen zu setzen, der den vom Bergbach gespeisten Teich überragte, ihr Essen mit ihm zu teilen und stundenlang zu reden.
»Worüber sprecht ihr denn, Deirdre?«, hatte er sie einmal gefragt.
»Ach, über alles«, hatte sie geantwortet. »Manchmal erzählt er mir Geschichten von den Fischen im Bach, von den Vögeln oder den Rehen im Wald. Ich hab ihn sehr lieb.« Und obwohl ihm das Herz blutete, wusste er nicht, was er sagen sollte.
Der Junge war sechs, als Garret ihn zu ihm brachte. Überraschenderweise hatte er sogar das erforderliche Schulgeld dabei.
»Unterrichten Sie ihn«, sagte er zu O’Toole. »Bringen Sie ihm alles bei, was Sie wissen.«
»Fürs Erste könnten Sie ihn selbst unterrichten«, erwiderte O’Toole. »Umsonst.«
»Nein«, erwiderte Smith auffahrend, und nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich bin kein geeigneter Lehrer für ihn.« Ein schreckliches Eingeständnis, aber was sollte O’Toole darauf erwidern?
Also begann er, den Jungen zu unterrichten. Und er staunte. Der kleine Kerl hatte ein phänomenales Gedächtnis. Was man ihm einmal sagte, vergaß er nie wieder. Seine Denkweise, so stellte O’Toole bald fest, war ganz und gar ungewöhnlich. Er hörte ruhig zu, dann stellte er eine Frage, die bewies, dass er bereits jeden Aspekt des Gegenstands bedacht hatte und dabei auf den Punkt gestoßen war, den man vorläufig weggelassen hatte, um das Verständnis zu erleichtern. Was O’Toole jedoch am meisten freute, war die Ausdrucksweise des Jungen: seine merkwürdigen, halb spielerischen Formulierungen. Wie war das in einem so zarten Alter möglich? Ebenso gut hätte man fragen können, warum ein Vogel fliegen oder ein Lachs springen konnte.
Außerdem fiel ihm auf, dass der Junge ein reges Innenleben hatte. Es gab Tage, an denen er im Unterricht niedergeschlagen und geistesabwesend wirkte. An solchen Tagen sah O’Toole ihn anschließend meist alleine weggehen und eine stille Zwiesprache mit seiner Umgebung halten, an der niemand teilhaben konnte. Als das blasse Kerlchen acht Jahre alt wurde, liebte ihn der Lehrer fast so sehr, wie Deirdre ihn liebte.
Wären nur diese anderen Tage nicht gewesen, an denen Conall dem Unterricht fernblieb, weil er krank war, und O’Toole zu Garret Smiths Haus eilte und dort die kleine Deidre vorfand, wie sie Conall, an seinem Bett sitzend, mit Fleischbrühe fütterte oder ihm leise vorsang, während der kleine Junge so blass dalag, als könnte er ihnen noch am selben Tag entrissen werden.
Doch dann, vor zwei Jahren, wurde er plötzlich kräftiger. Ein Jahr später wirkte er so robust wie die anderen Kinder. Bald danach zählte er zu den stärksten, und heute war er allen anderen körperlich überlegen. Gleichzeitig bemerkte O’Toole eine neue Zielstrebigkeit im heranreifenden Verstand des Jungen. Er tat sich im Unterricht nicht nur hervor, sondern nahm den Lernstoff gleichsam im Sturm, sodass der Lehrer sich oft genötigt sah, ihm schwierigere Aufgaben zu stellen.
Auch die kleine Deirdre beobachtete diese Entwicklung mit sichtlicher Freude. »Ist er nicht stark?«, rief sie immer wieder. Und O’Toole schien es, als sei seine Enkelin der Ansicht, Conalls Wandlung sei ihr Verdienst. Gleichzeitig aber konnte er ihren Blicken und Bemerkungen, die sie gelegentlich fallen ließ, entnehmen, dass sie hinter diesem neuen Conall immer noch den blassen kleinen Jungen sah, den sie geliebt hatte. Und tatsächlich fiel Conall bisweilen immer noch in diese merkwürdige melancholische Stimmung, und dann gingen die beiden los und unternahmen gemeinsame Spaziergänge auf den Bergpässen.
Außer Deirdre hatte Conall keine engen Freunde. Zwar spielte er oft mit anderen Kindern zusammen, aber es war offensichtlich, dass er ihnen keine Geheimnisse anvertraute. Es gab nur zwei andere Menschen, denen er sich nahe fühlte. Der eine, so dachte O’Toole, war er selbst. Vielleicht. Durch die vielen Unterrichtsstunden hatte sich zwischen Schüler und Lehrer eine gewisse Vertrautheit eingestellt. Der andere war sein Vater.
O’Toole vermutete, dass Garret Smith in jenen Tagen außer seinem Sohn herzlich wenig hatte, wofür er lebte. Seine Trunksucht wurde immer schlimmer, und er sah zwanzig Jahre älter aus, als er tatsächlich war. Ohne seinen Sohn wäre es ihm sicherlich noch viel schlimmer gegangen. Und wenn es ihm bei aller Liebe nicht immer gelang, die bescheidenen Gebühren für die Hedge School pünktlich zu bezahlen, so holte er dies gewöhnlich früher oder später nach. An den Abenden, an denen er nüchtern war, führte er manchmal stundenlange Gespräche mit seinem Sohn. O’Toole hatte sich oft gefragt, worüber sie sprachen, und einmal hatte er Deirdre danach gefragt. Aber sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass Conall einmal zu ihr gesagt hatte: »Mein Vater und dein Großvater sind die einzigen beiden Menschen, die ich wirklich bewundere.«
Wusste der Junge, dass sein Vater im Dorf keine hohe Achtung genoss? Dem Schein nach sprachen die Leute höflich über Garret Smith: »Dein Vater ist ein großer Leser. Er weiß viele Dinge.« Aber wenn sie hinter seinem Rücken hinzufügten: »Er weiß mehr, als er arbeitet, und weniger, als er trinkt«, begann Conall, etwas zu ahnen. Als ein Junge einmal zu laut eine abfällige Bemerkung über seinen Vater machte, schlug Conall ihn zu Boden. Doch hinterher, als es niemand sah, brach er in Tränen aus. Und zu Deirdre sagte er traurig: »Außer dir versteht mich niemand.«
So waren sein Vater und Deirdre die einzigen, die Conall wirklich liebte und denen er vertraute. Und nach ihnen, so sagte sich O’Toole, komme möglicherweise ich.
Aus diesem Grund bekam der Lehrer jetzt quälende Schuldgefühle, als er, während Conall für die Hedge School Wache stand, an das Gespräch dachte, das er am Tag zuvor geführt hatte.
Es lag ihm schwer auf der Seele, dass er den Jungen möglicherweise würde verraten müssen.
***
Kurz nach Mittag verließ Robert Budge, Grundbesitzer und Friedensrichter, sein Haus und machte sich auf den Weg zu Garret Smith. Nach der Vertreibung von Walter Smiths Familie war das Landgut Rathconan zu einem Schleuderpreis zum Verkauf angeboten worden. Benjamin Budge hatte nicht den Wunsch verspürt, dorthin zurückzukehren, aber sein jüngerer Bruder, der aus härterem Holz geschnitzt war, hatte es mit Freuden gekauft. Die Budges konnten von sich behaupten, mittlerweile seit vier Generationen in Rathconan zu leben.
Er hatte noch nicht entschieden, was mit dem jungen Smith geschehen sollte. O’Toole würde keine Schwierigkeiten machen. Dafür hatte er bereits gesorgt. Und was den Vater des Jungen anging …
Aber der Junge konnte warten. Heute hatte er mit Garret Smith etwas anderes zu besprechen. Es ging um Rathconan House.
Wenn die alten Herren von Rathconan das Haus jetzt hätten sehen können, wären sie wohl ziemlich überrascht gewesen. Vielleicht hätten sie es sogar zum Lachen gefunden. Dabei sah es wie unzählige andere alte Häuser in Irland aus. Da der alte Turm irgendwann zu klein geworden war, hatte Budges Vater quer davor ein bescheidenes Haus errichtet, rechteckig und fünf Fenster breit. Es war in keinem speziellen Stil gehalten, aber mit seinen schmucklosen Fenstern hätte es georgianisch genannt werden können. Man hatte keinen Versuch unternommen, das Haus oder den alten, dahinter aufragenden Turm so zu verändern, dass sie sich zu einem harmonischen Ganzen verbanden. Das neue Rathconan war das, wonach es aussah: ein Haus, das man vor ein altes Fort gesetzt hatte.
Aber Robert Budge war hier zur Welt gekommen und aufgewachsen, und er war stolz darauf. Natürlich wurde er von den alteingesessenen Iren wie alle cromwellschen Siedler immer noch als unerwünschter Kolonist betrachtet. Und natürlich war er stolz darauf, Engländer und Protestant zu sein. Denn wenn die cromwellschen Familien nicht hier waren, um den protestantischen Glauben hochzuhalten und die konfiszierten Landgüter der früheren katholischen Besitzer mit Beschlag zu belegen, mit welcher Berechtigung waren sie dann überhaupt in Irland? So war sein Vater, ein Mann, der längst nicht so strenggläubig gewesen war wie der alte Barnaby Budge, mit seiner mehr oder weniger presbyterianischen Familie entschlossen der königlichen Kirche von Irland beigetreten, weil, wie er sich ausgedrückt hatte, »wir alle zusammenhalten müssen«.
»Denk immer daran«, hatte er Robert vor seinem Tod eingeschärft, »die guten Leute hier kennen dich schon dein Leben lang. Sie bearbeiten dein Land, und sie werden dich wahrscheinlich mit ›Euer Gnaden‹ anreden und dich jeden Tag grüßen. Aber wenn unsere Ordnung zusammenbricht, mein Sohn, werden sie dir ein Messer zwischen die Rippen stoßen. Vergiss das nie.«
Es war fast ein Jahrhundert her, dass Roberts Urgroßvater Barnaby hierher gekommen war. Und seitdem waren die anglo-irischen Siedler in gewisser Weise mit dem Land verwachsen. Wenn sich die Männer im irischen Parlament von ihren Landsleuten in London wie Fremde behandelt fühlten, so hatte die Schicht der kleineren anglo-irischen Grundbesitzer hier draußen auf dem Land einen ganz eigenen Menschenschlag hervorgebracht.
Sein Vater war dafür ein typisches Beispiel. Er hatte fast sein ganzes Leben in Rathconan verbracht und das Gut wie seine Westentasche gekannt. Er sprach Englisch mit einem ausgeprägten irischen Tonfall und betrachtete viele Seiten seines Lebens, darunter auch die Erziehung seiner Kinder, mit einer gewissen vornehmen Nachlässigkeit. Bestärkt wurde er darin von seiner Frau, die aus einer ähnlichen Familie mit denselben Anschauungen kam.
Natürlich schickten einige anglo-irische Familien ihre Söhne nach Oxford, Cambridge oder aufs Trinity College in Dublin. Nicht aber die Budges. Die Kinder erhielten, Jungen wie Mädchen, eine schulische Grunderziehung, aber mehr galt als überflüssig.
»Mein Vater«, pflegte Robert vergnügt seinen Freunden zu erzählen, »hatte eine Pfeife, mit der er seine Hunde rief. Aber wenn er zweimal pfiff, war ich gemeint.« Als die Mutter seine Schwester dabei ertappte, wie sie ein Buch las, statt an der frischen Luft zu spielen, sperrte sie sie zwei Stunden lang in einen dunklen Schrank und drohte ihr anschließend eine Tracht Prügel an, wenn sie sich noch einmal dabei erwischen ließ. Die Kinder der Budges wurden dazu erzogen, stark zu sein, Ländereien zu verwalten und, wenn nötig, zu kämpfen. Die Liebe zur Natur hatten die Budges mit den irischen Clanchefs gemein, die vor ihnen hier gelebt hatten. Es hätte sie überrascht zu erfahren, dass sie ungebildeter waren als ihre Vorgänger.
Es war eine Erziehungsfrage, die Robert Budge veranlasst hatte, so bestimmt mit O’Toole zu reden.
Robert Budge war erst fünfundzwanzig, wurde aber oft wie ein älterer Mann behandelt. Das mochte an seiner großen, imposanten Erscheinung liegen, aber nicht nur. Als Besitzer von Rathconan galt er den Behörden als brauchbarer Mann vor Ort, und so war er ein Jahr zuvor zum Friedensrichter ernannt worden. Solange er auf dem Land in Rathconan bleiben konnte, spielte er in dieser lokalen Welt gern die Rolle des starken Mannes, und unlängst war er in mehreren Häusern in den Grafschaften Wexford und Kildare zu Gast gewesen, um sich nach einer passenden Frau umzusehen. Er war auch ein paar Mal nach Dublin gereist, damit die Leute in der Burg und im Parlament sein Gesicht kannten.
Erst letzte Woche war er wieder in Dublin gewesen, um das Neueste über die drohende französische Invasion zu erfahren. Die Garnisonen in Wicklow und Wexford waren, wie er wusste, alle in Bereitschaft. Und die Zahl der schmucken, rot berockten Soldaten mit ihren Musketen, die er in den schönen Straßen der Hauptstadt sah, beeindruckte ihn. Wie jeder andere Friedensrichter hielt er in Rathconan nach verdächtigen Elementen oder Anzeichen von Aufwiegelung Ausschau, aber wenn er ehrlich war, hatte er bislang noch keine entdeckt, was insofern bedauerlich war, als er die Behörden gern auf sich aufmerksam gemacht hätte.
In Dublin hatte er nichts wirklich Neues über die Bedrohung aus dem Ausland erfahren, aber gegen Ende seines Besuches hatte er etwas Interessantes aufgeschnappt. Er hatte mit einer Gruppe von Männern, die Grundbesitzer waren wie er, um den Parlamentsangehörigen Fortunatus Walsh herumgestanden, als dieser sagte:
»Man gelangt immer mehr zu der Ansicht, dass etwas für die Erziehung von Katholiken getan werden muss. Überall gibt es Hedge Schools, wie wir alle wissen, aber unsere Kirche von Irland hat bislang nur ziemlich klägliche Versuche unternommen, ihnen etwas entgegenzusetzen. In einigen Gemeinden haben wir für arme Kinder protestantische staatliche Schulen eingerichtet, aber wie wir alle wissen, haben sie nur wenige Schüler angelockt.«
»Katholische Familien werden ihre Kinder niemals dorthin schicken«, bemerkte jemand.
»So ist es. Aber in der Regierung sitzen ein paar Leute, die empfehlen, etwas Neues auszuprobieren. Nehmt ein paar viel versprechende junge Katholiken aus anderen Gegenden und steckt sie weit weg von zu Hause in die besseren staatlichen Schulen.«
»Dann werden sie also Protestanten?«
»Das hofft man jedenfalls. Ich bin mir nicht sicher, ob es funktionieren würde, aber der Gedanke dabei ist, die schrittweise Ausbreitung des protestantischen Glaubens zu fördern, eine Aufgabe, an der unsere Strafgesetze und unsere Kirche von Irland bislang auf der ganzen Linie gescheitert sind.«
»Eine interessante Idee«, sagte Budge, nicht weil er davon überzeugt war, sondern damit Fortunatus Notiz von ihm nahm.
»Nun, Mr Budge«, schmunzelte Walsh, »falls Sie Kandidaten für ein solches Vorhaben wissen, finden Sie in der Burg zumindest ein paar Leute, die Ihnen dafür dankbar sein werden.«
Budge hatte darauf nichts erwidert, aber er hatte in Dublin weitere Nachforschungen angestellt, eine Schule besucht und auf dem Rückweg nach Rathconan gründlich über die Sache nachgedacht.
Falls er es in Angriff nehmen sollte, kam dafür nur ein einziger Kandidat in Frage.
»Ich trage mich mit dem Gedanken, den jungen Conall Smith zu schicken«, hatte er zu O’Toole gesagt und mit prüfendem Blick hinzugefügt: »Und ich erwarte, dass Sie mich dabei unterstützen.«
Aber er ist mein bester Schüler, wollte O’Toole einwenden, bis ihm einfiel, dass er damit die Existenz der Hedge School zugegeben hätte. »Wie könnte ich Sie dabei unterstützen?«
»Sie wissen sehr gut, dass er praktisch eine Waise ist. Sein Vater ist nicht imstande, sich um ihn zu kümmern.«
»Aber er ist trotzdem sein Vater. Und obendrein hat er Verwandte.«
»Die Brennans? Die Familie Brennan als Vormund für einen so aufgeweckten Jungen?«
Da O’Toole von den Brennans eher eine noch schlechtere Meinung hatte als der Gutsbesitzer, wusste er nicht so recht, was er darauf antworten sollte.
»Aber«, sagte er vorsichtig, »es würde böses Blut schaffen, in Zeiten wie diesen einen Jungen der Familie zu entreißen und in eine protestantische Schule zu stecken.«
»Soll das eine Drohung sein?«, fragte Budge gelassen.
»Nein. Aber ich glaube, es ist die Wahrheit«, erwiderte O’Toole offen.
»Aus diesem Grund zähle ich auf Ihre Unterstützung«, erwiderte Budge. »Ihr Wort hat hier Gewicht. Als ob Sie Priester wären.« Er zögerte einen Moment und fuhr dann scheinbar unvermittelt fort:
»Die Strafen für das Unterrichten in einer Hedge School sind streng, wie wir beide wissen.«
Eine unmissverständliche Drohung. Dass es überall Hedge Schools gab, änderte nichts daran, dass sie nach wie vor verboten waren. Und wenn der Friedensrichter sich in den Kopf setzte, die Hedge School aufzuspüren und gegen den Lehrer vorzugehen, konnte dieser ernste Schwierigkeiten bekommen. Theoretisch drohte ihm sogar die Deportation in die amerikanischen Kolonien.
»Steht Ihr Entschluss fest?«, fragte O’Toole.
»Nein, aber ich denke darüber nach.«
Tatsächlich war Budge noch unschlüssig. Hatte er Skrupel, den Jungen seinem Vater wegzunehmen? Er wusste es nicht recht. In politisch so unsicheren Zeiten wollte er in der Gegend nicht unnötig Unruhe stiften. Und obwohl er nicht an der Begabung des jungen Smith zweifelte, quälte ihn eine andere Sorge: Was, wenn der Junge, so gescheit er auch war, seinem missratenen Vater nachschlug? Das würde ein schlechtes Licht auf ihn selbst, Budge, werfen. Er wollte sich die Sache noch ein paar Tage durch den Kopf gehen lassen, ehe er eine endgültige Entscheidung traf.
»Ich habe Gewissensbisse«, sagte der Schullehrer.
»Dazu besteht kein Grund.«
»Ich habe Gewissensbisse, aber aus einem anderen Grund, als Sie denken.«
Was, fragte sich der Grundbesitzer, meinte er damit nun wieder?
Auf dem Weg zu Garret Smiths Hütte kam er an mehreren anderen vorbei. Eine sah wie die andere aus – niedrige Steinhütten mit Grassodendach. Manche hatten nur zwei Räume, von denen die Bewohner sich häufig einen mit dem Vieh teilten. Die meisten jedoch hatten neben einem Raum mit Feuerstelle und ein paar Holzmöbeln – Tisch, Bänken, Hocker – noch ein oder zwei weitere Zimmer. Manche besaßen sogar ein Bett, obwohl sich niemand daran störte, auf Stroh zu schlafen. Das Feuer, das mit Torf oder Holz unterhalten wurde, hatte manchmal sogar einen primitiven Abzug, aber gewöhnlich erfüllte Rauch den Raum, ehe er durchs Dach entwich.
Dem Auge englischer Besucher erschienen diese niedrigen und schmalen Hütten schmutzig und unwürdig, obwohl ihnen auffallen musste, dass die Frauen und barfüßigen Kinder, die aus ihnen hervortraten, überraschend sauber waren. Aber hätten sie genauer hingesehen, so hätten sie erkannt, dass die Verhältnisse, die sie hier vorfanden, einfach nur denen entsprachen, die das ganze Mittelalter hindurch in weiten Teilen Europas vorgeherrscht hatten.
Und dann sah er Garret Smiths Hütte vor sich.
Sein Vorfahr Barnaby Budge hatte die Iren für begriffsstutzig und unzuverlässig gehalten, und viele Gentlemen in London glaubten das heute noch. Aber die Budges lebten schon zu lange in Irland, um an solchen törichten Ansichten festzuhalten. Wenn ein irischer Handwerker versprach, einem eine neue Haustür zu zimmern, forderte man ihn nicht unbedingt auf, einen genauen Termin zu nennen. Eines schönen Tages, der ihm geeignet erschien, würde er schon auftauchen, aber kommen würde er auf jeden Fall, und er würde gute Arbeit leisten.
Als Robert Budge daher bei Garret Smith eine neue, dringend benötigte Vordertür für sein Haus in Auftrag gegeben und dieser sorgfältig Maß genommen und erklärt hatte, er werde mit der Tür wiederkommen und sie einsetzen, erwartete Budge nach sechs Wochen, dass er mit der Arbeit begonnen hatte. Als er Smith freundlich daran erinnerte, hatte dieser genickt und ihm versichert, dass die Tür bald fertig sei. Weitere sechs Wochen später folgte der nächste zarte Wink. Danach direkte Fragen: »Wo bleibt meine Tür?« Mittlerweile waren sechs Monate verstrichen, und Budge hatte die Nase voll. Er erreichte das Haus.
***
Es war bedauerlich, dass sich zwei ältere Bewohner von Rathconan zu Garret Smith gesellt hatten und dass jetzt alle drei Männer, obwohl es noch früh war, an dem einzigen Tisch in der Hütte saßen und tranken. Wie so oft, wenn ihm der Alkohol in den Kopf stieg, war Smith auf die jakobitische Sache zu sprechen gekommen und hatte die Meinung kundgetan, dass, wenn die Franzosen kämen und Bonnie Prince Charlie eine Schotten-Armee aufstelle, Irland eine Rückkehr der Stuarts und des Katholizismus erleben werde, noch ehe das Jahr um sei.
»Was du nicht sagst.« Fergal Brennan hörte das alles nicht zum ersten Mal. Früher hatten ihn die Bildung und der politische Eifer des jungen Mannes, der seine kleine Schwester geheiratet hatte, beeindruckt. Aber mittlerweile waren zwanzig Jahre ins Land gegangen, und aus Smith und seinen schönen Worten war nicht viel geworden.
Doch Dermot O’Byrne nickte beifällig. »Und wenn der Tag kommt«, sagte er finster, »werde ich selbst wieder in Rathconan sitzen, was mein gutes Recht ist, und Budge wird eine durchschnittene Kehle haben.«
Fergal Brennan seufzte. Auch nach eineinhalb Jahrhunderten hegte Dermots Zweig der riesigen Familie O’Byrne noch einen tiefen Groll gegen die Herren von Rathconan. In gewisser Weise glaubten sie immer noch, dass dieses Erbe eigentlich ihnen zustand. Dermot war davon felsenfest überzeugt. Doch es ärgerte Fergal, dass er sich wegen dieses Unsinns für etwas Besseres als die Brennans hielt.
»Die O’Byrnes von Rathconan sind mit den Wildgänsen fortgeflogen«, erwiderte er ruhig. »Sie werden hier die Herren sein, falls sie jemals zurückkehren.« Und auf Garret Smith deutend, fuhr er fort: »Er hat darauf mehr Anrecht als du.« Auch wenn im Dorf nicht viel darüber geredet wurde, so war doch jedem bekannt, dass Rathconan sich für kurze Zeit im Besitz von Garrets Vorfahren befunden hatte und dass das Blut der O’Byrne-Clanführer in ihren Adern floss, auch wenn sie nur ein unehelicher Ableger waren. »Außerdem hat seine Familie gutes Geld dafür gezahlt«, setzte er boshaft hinzu, »was bei deiner Familie, glaube ich, nicht der Fall war.«
»Es wurde uns gestohlen. Das ist die Wahrheit, ob es dir gefällt oder nicht«, entgegnete Dermot O’Byrne mürrisch und trank noch einen Schluck.
Hier hätte das törichte Gespräch enden können, denn die drei Männer tranken schweigend weiter. Mehrere Minuten verstrichen, ehe Garret Smith, der wie so oft, wenn er angetrunken war, über den Tisch gebeugt dasaß, die Rippen gegen die Kante gedrückt und auf die Platte stierend, plötzlich ein kurzes Lachen ausstieß.
»Was ist?«, fragte Brennan.
»Ich dachte nur eben daran, wie lächerlich das Ganze ist«, antwortete Smith und schüttelte belustigt den Kopf. »Ich habe O’Byrnes Ansprüche mal geprüft. Vor Jahren schon. Er hätte vor Gericht nicht die geringste Chance, weder nach englischem noch nach irischem Recht. Seine Vorfahren wurden übergangen, weil sie unbedeutend waren. Und die O’Byrnes von Rathconan hatten eine unanfechtbare englische Besitzurkunde für ihr Land.«
Dermot O’Byrne warf ihm einen kurzen Blick zu, dann spuckte er auf den Boden.
Aber Garret war noch nicht fertig. Manchmal, wenn er etwas getrunken hatte, verfiel er wieder in die Arroganz seiner Jugend. Und dann erinnerte er, auch wenn sein Haar ergraut war und er das rotfleckige Gesicht eines Trinkers hatte, wieder an den von sich eingenommenen jungen Mann, der nach Quilca geritten war. So auch jetzt.
»Deshalb finde ich es lustig, dass zwei unwissende Bauern darüber streiten, welcher von ihnen der Herr von Rathconan werden soll.«
Brennan und O’Byrne sahen einander an.
Wenn Garret Smith bei seinen Nachbarn nicht besonders beliebt war, so lag das nicht nur an seiner Unzuverlässigkeit und seiner Trunksucht, sondern auch an seinem Hang zur Überheblichkeit.
Nach dieser letzten Bemerkung trat deshalb Schweigen ein, und die beiden anderen gerieten ins Grübeln.
Es war Brennan, der schließlich das Schweigen brach.
»Wir waren nicht sehr begeistert, als du meine Schwester geheiratet hast, Garret.« Er hielt kurz inne, um die Worte wirken zu lassen. »Du selbst scheinst eine hohe Meinung von dir gehabt zu haben. Aber wir waren nicht begeistert. Denn so viel steht fest: Für den Unterhalt meiner Schwester, Gott hab sie selig, hast du herzlich wenig getan.«
»Da hat er Recht, Garret.« O’Byrne witterte eine Gelegenheit, es ihm seinerseits heimzuzahlen. »Du warst nie ein Arbeiter. Nichts, was du tust, wird jemals fertig. Ich frage mich, wie du eigentlich den Schullehrer bezahlst.«
»Das tut er ja nicht immer«, murmelte Brennan. »Er hat nur einen einzigen Sohn zu Hause, und trotzdem kümmert er sich überhaupt nicht um ihn. Man könnte meinen, dass der Junge ihm nichts bedeutet, so wie er trinkt und die Arbeit vernachlässigt.«
Das hatte gesessen. Er sah, wie Garret, der immer noch halb zusammengesackt dasaß, zusammenzuckte, als hätte er einen Schlag in den Bauch bekommen. Brennan war das gleich. Geschieht ihm ganz recht, dachte er. Er machte sich auf einen Wutausbruch – denn Garret verlor leicht die Beherrschung – oder eine beißende Bemerkung gefasst. Der Mann konnte weiß Gott scharfzüngig sein, wenn er wollte. Aber es kam nichts. Garret langte schweigend nach seinem Becher. Was immer er dachte, er behielt es für sich. Er ließ den Kopf ein wenig tiefer sinken und zog die Schultern hoch.
Es klopfte an die Tür.
Garret Smith rührte sich nicht, obwohl er es gehört haben musste.
Es klopfte erneut, lauter und gebieterischer.
»Garret Smith!«
Budges Stimme. Brennan und O’Byrne blickten einander erstaunt an. Was wollte er hier? Brennan ergriff die Becher und die Flasche und versteckte alles in einer Ecke. Das machte einen besseren Eindruck, dachte er. Auch O’Byrne straffte sich, sosehr er den Gutsherrn auch verachtete. Garret verharrte, wie er war.
»Besser, du lässt ihn herein«, sagte O’Byrne und ging zur Tür.
»Ist Garret da?« Wieder Budges Stimme.
»Ja, Euer Gnaden. Treten Sie ein und seien Sie uns willkommen«, sagte O’Byrne mit einem warnenden Blick nach hinten zu Garret, der sich noch immer nicht regte.
Budge zog den Kopf ein und trat durch die niedrige Tür in den Raum. Er spähte zu Garret hinüber, doch der hob nicht einmal den Kopf. Unter normalen Umständen hätte er ihn um ein Gespräch unter vier Augen gebeten, aber die offenkundige Grobheit ärgerte ihn. Gleichwohl begann er höflich.
»Ich komme wegen der Tür, Garret. Ist sie fertig?«
Er bemerkte, dass die beiden anderen einen Blick tauschten.
»Nein, noch nicht«, antwortete Garret leicht lallend. Er stierte unverwandt auf den Tisch.
»Es sind jetzt sechs Monate«, fuhr Budge fort, aber nicht ungehalten, sondern im Tonfall eines Mannes, der eine berechtigte Beschwerde vorzubringen hatte. Wieder fiel ihm auf, dass die beiden anderen Blicke wechselten. Sie schienen sich an Smiths Unbehagen zu weiden. »Sie müsste inzwischen doch so gut wie fertig sein.«
»Sie glauben also«, sagte Smith mit schwerer Zunge, aber ruhig, »dass ich schon angefangen habe?«
»Angefangen?« Das ging zu weit. »Gütiger Gott, Mann, was denken Sie sich eigentlich?«
»Diese Gentlemen werden Ihnen bestätigen«, sagte Garret kühl, »dass ich nie etwas zu Ende bringe.«
»Soll das heißen, Sie haben mich ein halbes Jahr warten lassen, obwohl Sie nie die Absicht hatten, die Arbeit zu Ende zu bringen?« Budge geriet in Wallung. »Wollen Sie das damit sagen?«
»Um ehrlich zu sein«, antwortete Garret, »kann ich mich nicht erinnern, ob ich die Absicht hatte, sie zu Ende zu bringen oder nicht.« Budge starrte ihn an. Er konnte unmöglich ahnen, welcher Groll, welcher Selbsthass und welche Verzweiflung sich hinter diesen Worten in Garret Smiths Seele verbarg, er konnte nur vermuten, dass der Mann entweder betrunken oder verrückt war oder aus unerklärlichen Gründen versuchte, ihn zu provozieren. Aber die Gründe spielten keine Rolle. So etwas durfte er sich nicht bieten lassen.
»Garret Smith«, brüllte er, »Sie sind ein nichtswürdiger Versager. Wollen Sie so Ihrem Sohn ein Beispiel geben?«
Er ahnte nicht, dass an diese Wunde schon ein anderer gerührt hatte. Nun aber, zum zweiten Mal tief verletzt, schnellte Garret in die Höhe.
»Zum Teufel mit Ihnen«, schrie er. »Das Einzige, was mein Sohn jetzt lernen muss, ist, wie man für die Franzosen eine Muskete abfeuert, wenn sie kommen.«
Budge wurde sehr still.
»Ich verstehe«, sagte er, machte auf dem Absatz kehrt und trat, sich rasch bückend, durch die Tür.
Die drei Zurückgebliebenen verharrten in Schweigen.
»Großer Gott«, sagte Brennan entsetzt. »Wie kannst du denn so was sagen?«
***
Zwei Tage später sah O’Toole zu, wie Budge den jungen Conall Smith wegbrachte. Nur der Umstand, dass Garret Smith bei seinen Ausfällen betrunken gewesen war, hatte Budge davon abgehalten, ihn als gefährliches Subjekt verhaften und in Ketten in die Wicklower Garnison bringen zu lassen. »Sie haben die Wahl«, hatte er bestimmt zu Garret gesagt. »Der Junge geht nach Dublin, oder Sie gehen nach Wicklow.«
»Er ist ohnehin nicht in der Lage, den Jungen zu erziehen«, hatte der Grundherr so laut, dass mehrere Dorfbewohner es hören konnten, erklärt. Wie auch immer sie zu Budge und seiner protestantischen Schule standen, es gab nicht wenige Feinde Garrets, die schadenfroh sagten: »Das hat er sich selbst eingebrockt.«
Und dem Jungen, dachte O’Toole. Denn er fand, dass er und Garret Smith den Jungen verraten hatten, jeder auf seine Weise. Garret durch seine Trinkerei und seinen Leichtsinn. Und er selbst? Was hätte er anderes tun können?
Er beantwortete die Frage mit einer anderen. Was, wenn nicht Conall, sondern Deirdre bedroht gewesen wäre? Hätte er eine Möglichkeit gefunden, sie zu schützen? Hätte er sie zu Verwandten geschickt, die woanders lebten? Tatsächlich hatte er gewusst, was er tat, und er hatte Garret Smith nicht einmal gewarnt.
Und warum nicht? Das war der Grund für sein schlechtes Gewissen. Er wusste es nämlich ganz genau.
Deirdres wegen. Sie liebte Conall. Wie hätte sie ihn nicht lieben können? Es gab in Rathconan und in der ganzen Gegend keinen zweiten Jungen wie Conall. Der Junge war ein Prinz, er konnte einen verzaubern. Aber er war auch der Sohn des Trinkers Garret Smith und der Brennan-Schlampe. Schlechtes Blut. Davor fürchtete er sich. Er hatte so etwas schon erlebt – ein viel versprechender Junge, der im Mannesalter auf verhängnisvolle Abwege geriet. Nein, er wollte nicht, dass seine kleine Deirdre dem jungen Conall noch näher kam und eines Tages – er sah es nur allzu deutlich vor sich – einen Bund fürs Leben mit ihm einging. Das wollte er nicht. Er hatte den Jungen geopfert. Es musste sein.
»Alles wird gut«, hatte er zu Conall gesagt, als dieser von ihm Abschied nahm. »Du kannst mir vertrauen.« Eine Lüge. »Du bist ja nur in Dublin und kannst uns oft hier besuchen.« Zwei weitere.
Und jetzt, gütiger Himmel, wohnte er der Abfahrt des Jungen bei. Mit einem Mal sah Conall jünger aus. Er weinte wie ein kleiner Junge und klammerte sich an seinen Vater, der selbst aussah wie ein Delinquent auf dem Weg zum Galgen, blass und verzweifelt – schlimmer als der Tod, ja, schlimmer als der Tod. Und der kleine Conall rief: »Lasst mich bei meinem Papa, ich will zu meinem Papa.« Aber die Männer zogen ihn fort, zerrten ihn zu dem Wagen, der ihn nach Dublin bringen sollte, setzten ihn hinein und hielten ihn fest, während er den Kopf drehte und, die grünen Augen weit aufgerissen, das Gesicht tränenüberströmt, flehend zu seinem Vater blickte, der hilflos dastand, stocknüchtern, ein Gespenst.
Dann knallte eine kleine Peitsche, und das vor den Wagen gespannte Pony setzte sich in Bewegung.
In dem Moment, als der Wagen anfuhr, löste sich Deirdre von der Seite ihres Großvaters. Er hatte sie an der Hand gehalten, doch jetzt entwand sie sich seinem Griff und ging allein und ohne Hast hinter dem Wagen her. In der ersten Biegung lag ein Felsblock am Wegrand, und sie stellte sich darauf und sah zu, wie der Wagen langsam ins Tal rollte. Sie stand ganz still da, wandte kein Auge von ihm, sondern sah ihm nach, bis er auf dem gewundenen Weg langsam dem Blick entschwand.
Doch auch dann blieb das kleine Mädchen mit den langen dunklen Haaren stehen, rührte sich nicht von der Stelle und starrte in die Ferne, in die tiefe Stille der Berge und in die Leere, die jetzt ihre Zukunft war. Und so verharrte sie, als sei sie selbst zu Stein geworden, über eine Stunde lang.