DER HEILIGE BRUNNEN

Father Lawrence Walsh genoss jeden Augenblick, den er mit seinem Bruder und seiner Schwester verbringen durfte. Es war Herbst, seine liebste Jahreszeit, und goldene Blätter fielen auf den Pfad, auf dem die Familie an diesem Sonntagmorgen zur Burg von Malahide ritt.

Orlando wurde von seiner Frau Mary begleitet, und Anne und Walter Smith hatten ihren Sohn Maurice mitgebracht. Als sie die kleine Burg der Talbots erreichten, hatten sich draußen schon einige Menschen versammelt, darunter auch die Dienstboten der Talbots und einige Dorfbewohner aus Malahide. Andere hatte einen weiteren Weg hinter sich: Zwei Familien des niederen Adels, die in der Gegend Anwesen besaßen, waren ebenfalls gekommen. Die Talbots begrüßten alle Gäste vor dem Haus, und als sie Lawrence erblickten, fragten sie ihn, ob er dem Priester assistieren wolle, der sich bereits im Haus befand. Aber Lawrence, der lieber bei seiner Familie sitzen wollte, lehnte freundlich ab. Bald danach gingen alle gemeinsam ins Haus. Schweigend stiegen sie die breite Treppe hinauf, die von der kleinen Eingangshalle in den ersten Stock führte.

Hier oben befand sich das so genannte Eichenzimmer, das jeden Sonntag der katholischen Gemeinde der Gegend als Kapelle diente und gerade genug Platz für die Gläubigen bot. Der betagte Priester Father Luke erwartete sie bereits und begrüßte den Jesuiten mit einem Lächeln. Seit Lawrence ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er hagerer geworden und ging ein wenig gebeugt. Der Duft von Weihrauch hing in der Luft. Durch das Fenster fiel zwar Licht in den Raum, dennoch waren auf den Beistelltischen Kerzen aufgestellt, deren warme Flammen die dunkle Holzvertäfelung glänzen ließen. Das schönste Objekt befand sich jedoch hinter dem kleinen Altar: eine große Eichentafel über dem offenen Kamin, die mit einer großartigen Halbrelief-Darstellung von Mariä Himmelfahrt geschmückt war. Lawrence sah das Kunstwerk voller Zuneigung an. Die Tafel hing schon an diesem Platz, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Als sich alle versammelt hatten, kniete die Gemeinde nieder und versank in ein kurzes, stilles Gebet. Der alte Priester eröffnete die Messe.

Warum waren diese Gottesdienste so besonders feierlich?, fragte sich Lawrence. Vielleicht weil sie sich – wie die Mitglieder der frühchristlichen Kirche – aus Angst vor Verfolgung heimlich treffen mussten.

Er blickte auf Orlando und seine Frau, die beide ins Gebet versunken waren; auf Anne, deren Augen in letzter Zeit ein wenig düster und gehetzt blickten; auf ihren grauhaarigen Ehemann Walter. Und er dankte Gott für ihre stille, beständige Frömmigkeit. Sogar der junge Maurice, inzwischen achtzehn Jahre alt, war sicherlich dankbar für die liebevolle, fromme Erziehung, die er genossen hatte – auch wenn er nicht mit dem religiösen Eifer brannte, den Lawrence und Orlando in seinem Alter gezeigt hatten. Agnus dei … Ora pro nobis … Diese Worte trösteten seit mehr als einem Jahrtausend die westliche Christenheit. Der Priester erhob die Hostie, das Wunder der Messe war vollbracht. Ja, dachte Lawrence, die römische Kirche war wahrlich allumfassend. Ihre Säulen waren moralische Leitlinien, ihre Rundbögen boten jeder christlichen Familie Schutz. War man einmal in ihrem Schoß geborgen, gab es keinen Grund, ihn je wieder zu verlassen. Nach dem Gottesdienst erhob er sich mit einem tiefen Gefühl des Friedens wieder von den Knien. Die Gemeinde verweilte noch eine Zeit lang im Eichenzimmer. Father Luke sprach noch mit jeder Familie einzeln ein paar Worte. Der alte Priester freute sich sehr darüber, Anne wiederzusehen, die schon lange nicht mehr in Malahide gewesen war. Als er hörte, dass auch ihre jüngste Tochter im vergangenen Sommer geheiratet hatte, sagte er schmunzelnd zu Maurice: »Dann bleibt ja nur noch dieser junge Kerl übrig, und der muss sich den Kopf ja noch lange nicht übers Heiraten zerbrechen.« Mit besonderer Wärme begrüßte er Orlando und Mary. Es war offensichtlich, dass er das fromme Paar sehr ins Herz geschlossen hatte.

Die beiden waren immer noch kinderlos. Lawrence wäre es nie in den Sinn gekommen, an Gottes Ratschluss zu zweifeln, aber er wunderte sich trotzdem sehr darüber, dass sein Bruder und dessen Frau noch nicht mit einem Kind gesegnet waren, und es betrübte ihn. Anfangs hatte er sich noch keine Sorgen darüber gemacht. Als Anne vor zehn Jahren auf dem Weg nach Portmarnock das Thema zum ersten Mal angeschnitten hatte, glaubte er noch, die beiden müssten nur ein wenig Geduld haben. Aber die Jahre vergingen, ohne dass ihnen ein Kind geschenkt wurde. Er fragte sich, warum Gott es für angebracht hielt, diesem Paar seinen Segen zu verweigern. Dass er sie damit für irgendeine Verfehlung bestrafen wollte, schien ausgeschlossen. Beide waren tiefgläubig und einander zärtlich zugetan. Ihre Kinderlosigkeit hatte ihren Glauben sogar noch verstärkt.

Lawrence war seiner Schwägerin in herzlicher Zuneigung verbunden. Früher war sie ein hübsches, braunhaariges Mädchen mit einer Stupsnase und weichen Wangen gewesen. Diese Wangen waren nun rau und gerötet, und die Nase wirkte irgendwie formlos. Ihre braunen, leicht hervorstehenden Augen blickten sehr ernsthaft in die Welt. Sie war eine stille Seele, die ihren Haushalt tadellos führte und ihre Dienstboten gut behandelte. Ihr Ehemann hatte alles, was er sich von einer guten Ehefrau wünschen konnte, und er verehrte sie so, wie sich das für einen guten Ehemann gehörte. Aber unter ihrer ruhigen, gelassenen Oberfläche musste sie furchtbar leiden. Orlando hatte zwar nie darüber gesprochen, aber Lawrence wusste sehr genau, welchen Schmerz ihm seine Kinderlosigkeit bereitete. Sein Glaube gebot ihm zwar, den Willen Gottes zu akzeptieren, und als frommer Mann tat er das bestimmt auch. Jedenfalls mit dem Verstand. Aber in seinem tiefsten Herzen nagte die Sehnsucht nach einer Familie, nach einem Erben an Orlando. Und vor allem natürlich der Wunsch, den Schwur zu erfüllen, den er vor seinem Vater geleistet hatte. »Er geht mindestens einmal die Woche alleine nach Portmarnock«, hatte Anne einmal Lawrence anvertraut. »Mary weiß nichts davon, aber mir hat er es gesagt.« Lawrence konnte es seinem Bruder nicht verdenken, auch wenn er selbst von solchem Aberglauben überhaupt nichts hielt. »Nun ja«, hatte er also freundlich gesagt, »dort kann man schließlich genauso gut beten wie an jedem anderen Ort.« Orlando verbarg seine Verzweiflung zwar aus Rücksicht sorgfältig vor Mary, aber sie wusste sicherlich, wie es um ihn stand. Die arme Frau spürte schließlich den gleichen Schmerz und suchte die Schuld wahrscheinlich bei sich. Lieber Gott, dachte der Jesuit. Wenn ich daran glauben würde, dass es wirkt, dann würde ich sogar selbst an Vaters altem Brunnen auf die Knie fallen und für die beiden beten.

Als die Gläubigen das Haus verließen und in die frische Luft hinaustraten, strahlte die Sonne und die goldenen Blätter an den Bäumen im ark leuchteten vor dem tiefblauen Himmel. Lawrence war gerade in den Sattel gestiegen, da bedeutete ihm Orlando, dass er sich mit ihm unter vier Augen unterhalten wolle.

Auf dem Ritt zurück führten Anne und Walter den kleinen Zug an, gefolgt von Mary und Maurice, der sich angeregt mit seiner Tante unterhielt. Orlando und Lawrence folgten in einigem Abstand nach. Das erste Stück Wegs ritten sie schweigend dahin. Orlando wirkte gedankenverloren, und Lawrence wollte ihn nicht stören. Er wartete darauf, dass sein Bruder das Gespräch eröffnete und nahm an, dass er mit ihm über die politische Situation sprechen wollte.

Nach Ansicht des Jesuiten hatte sich nicht viel verändert. Aus England war zwar die überraschende Neuigkeit eingetroffen, dass Buckingham, der Günstling des Königs, einem Attentat zum Opfer gefallen war, aber darüber war niemand sonderlich betrübt. Wenigstens war die englische Außenpolitik seitdem wieder vernünftiger geworden. In Dublin hatten die Walshs den tiefen Fall von Doktor Pincher miterleben dürfen. Cousin Doyle hatte ihnen genüsslich in allen Einzelheiten davon berichtet, wie er den Ruf des Predigers während seiner Audienz beim König ruiniert hatte. Nachdem die Delegation aus London zurückgekehrt war, hatte die Krone Irland die Gnadenerweise zugesagt. Also hatten die Iren mit großen Schwierigkeiten das Geld für den König aufgebracht. Aber die versprochenen Erleichterungen für die Katholiken waren ausgeblieben, und ein paar Jahre lang hatten die englischen Protestanten die Iren sogar wieder stärker verfolgt. Ein Lichtstreif zeigte sich erst am Horizont, als der König seinen Vertrauensmann und Lieutenant Wentworth, einen mächtigen, durchsetzungsstarken Mann, als Gouverneur nach Irland geschickt hatte. Wentworth war Anhänger der formellen, zeremoniellen anglikanischen Kirche und hatte die puritanischen Nonkonformisten schnell in ihre Schranken verwiesen. »Ich glaube, so zeigt uns der König, dass er wirklich ein Freund der Katholiken ist«, hatte Orlando damals zu Lawrence gesagt. Aber Lawrence sah keinen Grund, seine ursprüngliche Einschätzung der Lage zu revidieren. »Wentworth ist der Vertraute von König Karl, dem er treu ergeben ist. Also hat er nur ein Ziel: Er will die königliche Macht stärken. Um das zu erreichen, wird er Katholiken und Protestanten völlig gleichberechtigt unterstützen oder angreifen. Mehr steckt nicht dahinter.«

Vor kurzem war eine neue protestantische Plantation in Connacht, im Westen von Irland, angekündigt worden. »Es hat sich nichts verändert«, sagte Lawrence.

Orlando erwiderte: »Aber wenigstens dürfen Katholiken weiterhin ihre Religion ausüben, ohne verfolgt zu werden.«

Lawrence, der ein politisches Gespräch erwartet hatte, war also sehr überrascht, als Orlando sich, gerade als sie das Land der Talbots verließen, zu ihm umdrehte und sagte:

»Ich mache mir Sorgen um Anne.«

»Um Anne?«

Lawrence stutzte. »Sie sah heute zwar ein wenig blass aus, wirkte aber recht zufrieden. Ist sie etwa krank?«

»Nicht ganz.« Orlando schwieg einen Augenblick. »Es ist eigentlich noch schlimmer.« Er holte tief Luft. »Ich glaube, sie ist verliebt.«

»Verliebt?« Vor lauter Überraschung stieß Lawrence das Wort laut hervor. Schnell vergewisserte er sich, dass die Reiter vor ihnen ihn nicht gehört hatten. »In wen denn?«

»Brian O’Byrne.«

»Bist du dir ganz sicher?«

»Ja.«

»Aber sie würde doch sicher niemals …«

»Doch«, sagte Orlando. »Das würde sie.«

***

Jeremiah Tidy sah seinen Sohn Faithful voller Stolz an. Der Knabe war zu einem jungen Mann herangewachsen und hatte sich prächtig entwickelt. »Er ist größer als ich«, sagte Tidy oft freudig zu seiner Frau. Im Gegensatz zu seinem Vater hatte Faithful dunkles, braunes Haar und weit auseinander liegende Augen mit wachem, intelligentem Blick.

Er war auch ein eifriger Schüler, obwohl er anfangs nur widerwillig gelernt hatte. »Ich könnte doch Geld verdienen, statt die Nase in Bücher zu stecken«, hatte er sich oft beschwert. Und Tidys Frau unterstützte ihn dabei.

»Sieh dir doch nur an, was all diese Gelehrsamkeit dem armen Doktor Pincher angetan hat«, sagte sie manchmal. »Wenn er nicht so viel studiert hätte, dann wäre er sicher verheiratet.« Im Stillen stimmte ihr Tidy sogar zu, aber er ließ nicht zu, dass solche Bemerkungen seinen Sohn von dessen Aufgabe ablenkten. »Es geht um die Zukunft unseres Sohnes«, rügte er sie. Er hatte einfach ehrgeizigere Visionen als seine Frau. Und jetzt war der Junge seiner Meinung nach endlich bereit dafür. Es war der Augenblick gekommen, auf den er so viele Jahre gewartet hatte. Nach dem Morgengottesdienst eröffnete er seiner Frau: »Es wird Zeit, dass ich ihn zu Doktor Pincher bringe. Bitte arrangiere das für heute.«

 

Doktor Pincher freute sich über Mistress Tidys Besuch. Seit einiger Zeit fühlte er sich nicht sehr gut. Bis vor kurzem war ihm gar nicht bewusst gewesen, dass er allmählich alt wurde. Aber seine Zahnschmerzen hatten ihn daran erinnert. Viele seiner Zeitgenossen ruinierten sich die Zähne durch Tabak und Melasse aus der Neuen Welt, aber Doktor Pinchers moralische Strenge hatte ihn vor diesen Lastern geschützt. Daher hatte er noch alle Zähne. Sie waren lang und hatten die Farbe alten Elfenbeins. Aber vor einem Monat hatte er plötzlich rasende Zahnschmerzen bekommen und musste sich einen Zahn ziehen lassen. Nun klaffte eine Lücke in seinem rechten Unterkiefer, die er jeden Morgen traurig mit der Zunge untersuchte, und die ihn an seine Sterblichkeit erinnerte.

Aber dieses kleine Memento Mori verstärkte nur das allgemeine Gefühl des Versagens, das sein Leben seit zehn Jahren überschattete. Er hatte sich nie vollständig von seiner Zeit im Gefängnis erholt.

Es war wirklich seltsam gewesen. Er hatte nie genau herausgefunden, was eigentlich schief gelaufen war. In den ersten, aufregenden Monaten nach seiner großartigen Predigt war er eine Berühmtheit gewesen. Wichtige Männer – mächtige Großgrundbesitzer, ja sogar der frisch gebackene Earl of Cork, sein Gönner Boyle – hatten ihm geschrieben oder ihn aufgesucht und ihm ihre Unterstützung zugesichert. »Einmal musste es gesagt werden«, hatten alle bewundernd erklärt.

Aber dann war das Unfassbare geschehen, kurz nachdem die Delegation aus England zurückgekehrt war.

Soldaten waren ins Trinity College marschiert, hatten seine Vorlesung unterbrochen und ihn vor all seinen Studenten verhaftet.

Bevor er wusste, wie ihm geschah, wurde er Männern aus der Dubliner Burg vorgeführt, Männern, die er kannte. Sie sahen ihn mit grimmiger Miene an.

»Aufwiegelung, Doktor Pincher«, erklärten sie. »Vielleicht sogar Hochverrat. Sie haben die Königin beleidigt.«

»Wie bitte? Ja, wann denn?«

»Bei Ihrer Predigt in der Christ-Church-Kathedrale. Sie nannten sie eine Hure und Isebel.«

»Aber das stimmt nicht.«

»Der König ist da anderer Meinung.«

Das Ganze war absurd, aber er konnte nichts dagegen unternehmen. Er bekam keine Verhandlung, keine Chance, sich zu verteidigen. Pincher wurde sofort ins Gefängnis geworfen, und dort würde er so lange bleiben wie es dem König gefiel. Es hatte sogar Hinweise gegeben, dass ihn noch Schlimmeres erwartete. Voller Todesangst vegetierte er in seiner kleinen Zelle vor sich hin. Und er musste auch noch eine weitere unangenehme Entdeckung machen. Die Menschen, die er für seine Freunde gehalten hatte, ließen ihn im Stich. Die Regierungsbeamten, seine Bewunderer aus der Gemeinde und seine Kollegen vom College besuchten ihn nicht ein einziges Mal. Keiner sprach ein Wort zu seinen Gunsten. Er war ein in Ungnade gefallener Mann, es war gefährlich, mit ihm in Verbindung zu stehen. Nur zwei Menschen gaben ihm noch Hoffnung.

Die erste war Mrs Tidy, die ihn jeden Tag besuchte. Sie brachte ihm Brühe und Kuchen, ein wenig Bier oder Wein. Wie ein gütiger Engel stand sie ihm treu zur Seite und verlangte dafür nichts. Aber er bezahlte sie natürlich. Pincher erwartete auch einen Besuch von Tidy, aber der blieb dem Gefängnis fern. Egal. Sie genügte ihm. Er gestand sich ein, dass er ohne sie wahrscheinlich verzweifelt wäre.

Der andere war Boyle. Ohne den neuen Earl of Cork wäre er wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit in seiner Zelle versauert. Aber durch Gottes Gnade war der mächtige Großgrundbesitzer im Jahre 1629 Lord-Oberrichter geworden, und noch an Weihnachten desselben Jahres hatte Boyle angeordnet, dass Pincher freigelassen wurde. Um den Doktor zu trösten, hatte sein Gönner ihm Land im südlichen Leinster besorgt, auf dem zu Pinchers Freude dichte Wälder wuchsen, die er abholzen lassen konnte.

Also nahm er sein altes Leben wieder auf. Seine puritanischen Freunde hatten ihn zwar kein einziges Mal im Gefängnis besucht, behandelten ihn nach seiner Freilassung aber wie einen Helden. War er denn nicht für seinen Glauben ins Gefängnis gegangen? Seine Studenten applaudierten ihm, als er zu seiner ersten Vorlesung antrat. Wie jeder prominente Mann schmeckte auch er nun die bittersüße, oberflächliche Zuneigung seines Publikums. Und er lernte, für dieses Geschenk dankbar zu sein.

Nur eines gab ihm weiterhin Rätsel auf: Wie war es überhaupt zu jenen Anschuldigungen gekommen? Er fragte sich, ob einer der katholischen Abgesandten vielleicht am Londoner Hof geredet hatte. Er fragte sogar einmal Doyle danach.

»Wenn das der Fall war«, antwortete Doyle, »dann weiß ich davon nichts.«

Das Ganze blieb mysteriös.

Auch Pinchers Hoffnungen für die puritanische Sache hatten sich zerschlagen. Nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde, griff man wieder härter gegen die Katholiken durch. Aber als drei Jahre später König Karls I. neuer Gouverneur auf die Insel kam, hatten sich alle Hoffnungen auf Besserung für Pincher zerschlagen.

Wentworth. Wie einen Fluch murmelte er den Namen vor sich hin. Nie würde er den schrecklichen Sonntag kurz nach der Ankunft des neuen Lord Deputy vergessen. Er hatte sich verspätet und war erst sehr spät in Richtung Christ Church aufgebrochen. Als er ankam, war die Gemeinde bereits in der Kirche, und Wentworth saß mit seinem großen Gefolge in den königlichen Bänken. Hastig huschte Pincher in die Kirche und setzte sich unauffällig in eine der hinteren Reihen. Vor lauter Eile bemerkte er seine Umgebung kaum, kniete sich schnell zu einem kurzen Gebet hin und erhob dann langsam den Blick nach Osten zum Chor. Und riss entsetzt die Augen auf. Der östliche Bereich des Kirchenschiffes hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Der Abendmahlstisch stand nicht mehr in der Mitte, wo er bequem von allen Gläubigen erreicht werden konnte, sondern am Ostrand. Er war auf ein Podest gestellt und in einen Hochaltar verwandelt worden. Diesen Altar bedeckte ein mit glänzenden Goldfäden besticktes Altartuch, das mit sechs Kerzen in reich verzierten, silbernen Kerzenleuchtern geschmückt war. Vor dem Altar stand der Geistliche, der einen so prächtigen Chorrock trug, dass er gut in eine papistische Kirche in Spanien oder sogar Rom gepasst hätte.

Pincher starrte fassungslos auf diesen grässlichen Anblick. Er erhob sich halb aus dem Sitz. Nur sein Selbsterhaltungstrieb hielt ihn davon ab, zu schreien: »Papisten! Götzendiener!«

Dafür war der verfluchte Wentworth verantwortlich. Genau solche hochanglikanischen Rituale gefielen nämlich König Karl I. und seiner Frau, der katholischen Tochter des französischen Königs. Der ferne Hochaltar, die Kerzen, die reich gekleideten Pfarrer. Formelle Zeremonien waren wichtiger als die Predigt. Die Macht des Königs und seines Bischofs war größer als die der biblischen Lehre und der moralischen Autorität. Dies war Weltlichkeit und Korruption und nur dem Namen nach nicht katholisch. Es war die Verkörperung all dessen, was die Puritaner hassten und verabscheuten.

Hier vor seinen Augen war Christ Church – der Ort seiner Predigten, das Zentrum des protestantischen Dublin, der heilige, calvinistische Tempel inmitten der Wildnis irischen Aberglaubens – zu einer Heimstatt für Papisten und Götzendiener gemacht worden. Unter Wentworths Herrschaft würde Pincher nie wieder gebeten werden, dort zu predigen. Und er war absolut machtlos dagegen. Die Kathedrale, das Zentrum englischer Macht, hatte sich seitdem nicht mehr verändert. Er hätte diesen Ort gern gemieden, aber für einen Mann in seiner Position war es unmöglich, nicht mehr dort hinzugehen. Also ging er gedemütigt weiterhin dort zur Kirche, aber mit genauso viel Widerwillen wie die Katholiken Jahre zuvor. Die Veränderungen in Christ Church waren von einer Toleranz gegenüber Katholiken begleitet worden, für die noch nicht einmal die Aussicht auf eine neue protestantische Plantation in Connacht entschädigte. Simeon Pincher fühlte sich, als müsse er mit ansehen, wie alles, wofür er gearbeitet hatte, zerstört wurde.

Er dachte sogar daran, Irland zu verlassen und wieder nach England zurückzukehren. Aber das hätte bedeutet, den Posten am College aufzugeben. Denn dort war er trotz aller Veränderungen immer noch ein wichtiger Mann. Und in England würde ihn niemand willkommen heißen. Seine Schwester hatte ihm nie wieder geschrieben. Im Laufe der letzten zehn Jahre hatte er ihr noch zweimal einen Brief geschickt, aber nie eine Antwort erhalten.

Er hatte sogar diskrete Nachforschungen angestellt, ob sie vielleicht gestorben oder umgezogen sei. Aber er erfuhr nur, dass sie immer noch am selben Ort lebte und sich ausgezeichneter Gesundheit erfreute. Von Barnaby hatte er noch nie etwas gehört. Leider gab es keinen anderen Erben, dem er seinen Besitz überlassen könnte. Wenn er Trinity eine große Summe vermachte, würde das seinen Namen vielleicht unsterblich machen. Aber sogar dieser Gedanke bedeutete, dass er in Familiendingen versagt hatte.

Heute Morgen beim Gottesdienst war ihm mit erschreckender Klarheit bewusst geworden, dass er alt und einsam war. Deswegen war er für Mrs Tidys Besuch insgeheim sehr dankbar. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er von Jeremiah Tidy ein wenig enttäuscht gewesen war. Aber er wusste, dass er dazu eigentlich keinen Grund hatte. Wenn er den Küster und Kirchendiener traf, dann sagte dieser immer kopfschüttelnd zu ihm: »Ach, Euer Ehren. Christ Church ist wirklich nicht mehr das, was es einmal war.« Aber für Pincher klang diese Klage irgendwie unaufrichtig, ob dies nun begründet war oder nicht. Die treue Mrs Tidy war jedoch über jeden Zweifel erhaben. Wenn er an ihre Güte dachte, dann wunderte er sich jedes Mal darüber, wie bescheiden sie war. Sie machte nicht viel Aufhebens um ihre guten Werke. »Ich bin eine einfache Frau, Sir«, sagte sie oft. »Ich kann nicht einmal lesen.« Darüber musste er lächeln. »Gott schätzt uns für das, was wir tun«, versicherte er ihr. Einmal hatte sie ihn sehr traurig um geistlichen Rat gebeten. Eine Bekannte aus der Stadt, eine einfache Frau wie sie selbst, die nie jemandem ein Leid zugefügt hatte, war sehr krank geworden und schien an der Schwelle des Todes zu stehen. Aber sie war Katholikin. »Sir, Ihr habt immer gesagt, dass Gott uns in Auserwählte und Verdammte eingeteilt hat.« War es vielleicht möglich, fragte sie, dass Gott in seiner unergründlichen Weisheit ihre arme katholische Freundin trotz ihrer Religion retten würde? Pincher wollte die gute Seele nicht enttäuschen und sagte daraufhin: »Gottes Wege sind unergründlich, Mrs Tidy.« Die Erleichterung auf ihrem Gesicht rührte ihn so, dass er überzeugt hinzufügte: »Aber ich kann wohl mit Sicherheit sagen, dass Sie in den Himmel kommen werden, Mrs Tidy.«

Heute brachte sie ihm einen kleinen Pflaumenkuchen mit, in den sie auch einen Tropfen Branntwein gegeben hatte. Sie hoffe, dies sei keine Sünde, sagte sie schüchtern. Er nahm den Kuchen dankbar an und erkundigte sich nach ihrer Familie. Und als sie ihm sagte, dass ihr Ehemann ihn heute mit ihrem Sohn Faithful aufsuchen wolle, antwortete er freundlich:

»Aber natürlich. Schicken Sie sie um vier Uhr zu mir.«

***

Simeon Pincher verließ das Universitätsgelände, ging durch das Tor in der alten Stadtmauer und schlenderte die Dame Street in Richtung Christ Church hinauf. Als er an einer der drei neuen öffentlichen Uhren vorbeikam, die es inzwischen in der Stadt gab, hörte er die Glocke schlagen und sah, dass es drei Uhr war. Er wandte sich nach Westen und ging durch ein anderes Tor den Hang hinunter auf die uralte Brücke über den Liffey zu. Er schätzte, dass er genug Zeit hatte, die Brücke zu überqueren und gemütlich zurückzulaufen, bevor Tidy und sein Sohn bei ihm zu Hause ankamen. Am Flussufer fiel ihm auf, dass die Brise die Wasseroberfläche zu tausend winzigen Wellen kräuselte. Pincher betrat die verlassene Brücke; die Brise wehte ihm kalt um die Wangen, und er genoss das prickelnde Gefühl auf seinem Gesicht. Nach kurzer Zeit bemerkte er, dass auf der anderen Flussseite zwei Gentlemen die Brücke betreten hatten, die wahrscheinlich auch ein wenig Bewegung suchten. Der größere Mann trug dunkelgrüne Kleidung, der kleinere rostrote. Pincher erreichte die Mitte der Brücke und näherte sich den beiden Männern. Jetzt erkannte er in dem Kleineren Thomas Wentworth. Der Lord Deputy von Irland war unverwechselbar. Er trug einen Schnurrbart und einen sauber gestutzten kurzen Kinnbart, der seinen sinnlichen, aufgeworfenen Mund nicht vollständig verbergen konnte. Seine geschwollenen Augen blitzten kämpferisch, wenn er sprach. Wenn er schwieg, blickten sie düster drein. Das dunkle, lockige Haar trug er kurz geschnitten, dennoch wirkte es ungebärdig und wild. Ein mürrischer Knabe, dem der König große Macht verliehen hat, dachte Doktor Pincher. Wentworth hatte ihn erkannt und schritt direkt auf ihn zu. Eine Begegnung ließ sich nicht vermeiden. Drei Schritte vor Pincher blieb er stehen, und sein Begleiter, ein Beamter aus der Dubliner Burg, tat es ihm nach.

»Doktor Pincher.«

Steif nickte Pincher ihm zu. Wentworth starrte ihm weiterhin unhöflich ins Gesicht. Er schien nachzudenken.

»Sie haben doch Land in Südleinster gepachtet, nicht wahr?«

»Ja.«

»Hm.«

Und ohne ein weiteres Wort setzte der Lord Deputy seinen Weg fort. Der Mann in Grün folgte ihm.

Pincher war sprachlos. Er ging ein paar Schritte und blieb stehen. Am liebsten wäre er umgekehrt, aber dann hätte er dicht hinter Wentworth gehen müssen. Also ging er zur anderen Seite des Liffey und wartete dort, bis Wentworth außer Sicht war. Erst dann trat er, rasend vor Wut und Frustration, den Heimweg an.

Wentworth hatte ihn beleidigt. Dem Lord Deputy war natürlich an persönlicher Bereicherung gelegen, und von einem Mann, der ein hohes öffentliches Amt bekleidete, war schließlich nichts anderes zu erwarten. Aber zum wahrscheinlich ersten Mal seit Strongbows Ankunft in Irland vor viereinhalb Jahrhunderten wollte der Stellvertreter des Königs auch die Finanzlage seines königlichen Herrn aufbessern. Kein Monat verging, ohne dass Wentworth sich Land oder irgendwelche Pachterträge unter den Nagel riss. Und dabei machte er auch vor den Neuengländern nicht Halt. Es stimmte, dass die Kolonisten oft viel mehr Land in Besitz genommen hatten, als ihnen offiziell zugeteilt worden war; und nun ließ sie Wentworth dafür bezahlen. Das überschüssige Land fiel entweder an die Krone zurück, die dann damit wirtschaftete, oder es wurde erneut verkauft. Und was für die Ländereien des Königs galt, traf auch auf Kirchenland zu. Pachtverträge der Kirche wurden zurückgezogen oder unter scharfen Auflagen neu verhandelt. Und nun war der lüsterne Blick des Lord Deputy auch auf sein kleines Stück Land in Südleinster gefallen.

Pincher hatte sich während der vergangenen Jahre intensiv um seinen Grundbesitz gekümmert. Seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis reiste er einmal jährlich bei schönem Wetter nach Südleinster, inspizierte das Land und besuchte auch seine Pfründe in Munster. Dort kümmerte er sich um die Buchführung und predigte in der kleinen Kirche. An beiden Orten hatte er Licht in die Dunkelheit gebracht. Die Pfründe in Munster hatte er abholzen lassen und dadurch einen hohen Gewinn erzielt. Das Land war jetzt so ergiebig, dass er dem armen Hilfspfarrer sogar ein bisschen mehr Gehalt bezahlen konnte. In Leinster hatte er bis jetzt nur wenig Wald gerodet, gerade so viel, dass es für die Pacht reichte und ihm einen kleinen Zusatzverdienst verschaffte. Sein Pachtvertrag war völlig legal, signiert und gestempelt, mit einer Restlaufzeit von mehreren Jahren. Natürlich war die Pacht geradezu lächerlich niedrig, aber dennoch legal.

Aber er glaubte keinen Moment daran, dass diese Legalität den groben, brutalen Wentworth aufhalten würde. Er will mich angreifen, dachte Pincher. Und wenn er Erfolg hat und mir mein Einkommen wegnimmt, dann hat er umso mehr Geld für seine verfluchten Kerzen, goldenen Altartücher und papistischen Zeremonien in Christ Church. Simeon Pincher war so sehr in Rage, dass er es nicht über sich brachte, an der Kathedrale vorbeizulaufen, sondern über den Holzquai nach Hause eilte. Darauf kann Wentworth sich verlassen, dachte er: Bevor er sich mein Land aneignet, fälle ich jeden einzelnen Baum darauf.

Er war also äußerst schlechter Laune, als er seine Wohnung erreichte, vor der Jeremiah Tidy und sein Sohn Faithful geduldig auf ihn warteten.

***

Der Küster trug sein Anliegen sehr wortgewandt vor. Demütig begann er damit, welche Ehre es für ihn bedeute, dass der Doktor ihn seit so vielen Jahren zur Kenntnis nehme. Pincher wisse ja, dass er und seine Frau nur einfache Leute seien – wenn auch loyal, fügte er leise hinzu. Doktor Pincher würdigte dies mit einer leichten Neigung des Kopfes. Aber weil sie den gelehrten Doktor so sehr bewunderten, war ihr Sohn nicht nur als strenggläubiger Calvinist erzogen worden, sondern hatte auch eine Schulbildung erhalten. Tatsächlich sei er sogar ein ausgezeichneter Schüler. Pincher wusste, dass der Junge eine der kleinen protestantischen Schulen von Dublin besucht hatte. Was er dort gelernt haben sollte, konnte er sich nicht vorstellen. Und nun wollte Tidy offenbar, dass sein Sohn den größten Schritt seines Lebens machte und ein Studium am Trinity College aufnahm. Er könne die Kosten gerade aufbringen, auch wenn dies natürlich ein Opfer für die Familie bedeute. Tidy wollte aus Höflichkeit zuerst den Doktor um seinen Rat bitten. Und falls der gelehrte Doktor sich auch noch für Faithfuls Aufnahme aussprechen würde …

Solche Bitten waren in Oxford und Cambridge schon seit Jahrhunderten üblich. Söhne wohlhabender Freisassen und Kaufleute, ja manchmal sogar die Söhne einfacher Bauern und Handwerker, besuchten diese altehrwürdigen Colleges und stiegen als Geistliche oder Rechtsgelehrte oft zu ungeahnten Höhen auf. Auch viele Lehrende an den Colleges hatten ihre Laufbahn einst als arme Studenten begonnen. Und obwohl Trinity eigentlich für die Söhne der neuenglischen Großgrundbesitzer bestimmt war, gab es auch dort junge Männer aus bescheidenen Verhältnissen. Warum reagierte Pincher also mit einem missbilligenden Stirnrunzeln auf den Vortrag des Küsters?

Teilweise lag es natürlich daran, dass er immer noch wütend auf Wentworth war. Aber als er Tidy jetzt ansah, stieg das Gefühl in ihm auf, dass auch dieser ihm Unrecht getan hatte. Er klagte zwar über die Zustände in Christ Church, war aber immer noch gemütlich im Schoß der Kirche aufgehoben, während man ihn, Doktor Simeon Pincher, unbarmherzig ausgeschlossen hatte. Ohne Zweifel erlaubten die Gehälter und Vergünstigungen, die Tidy von der Kathedrale erhielt, es ihm, seinen Sohn aufs College zu schicken. Und nun wollte er, dass er ein gutes Wort für den Jungen einlegte. Faithful Tidy würde unter seiner Schirmherrschaft in Trinity studieren – und sein eigener Neffe Barnaby, für den er sich genau das gewünscht hatte, nicht. Oh, wie ihn das ärgerte. Er wandte sich an den Jungen.

»Du hast also fleißig gelernt?«

»Ja, Sir.«

»Hm.« Mal sehen. Pincher sprach den Jungen plötzlich auf Lateinisch an und stellte ihm eine Frage zu Cäsars Schriften.

Zu seiner Überraschung antwortete ihm der Junge in fehlerlosem Latein ausführlich und schloss mit einem Zitat des großen Mannes.

Pincher stellte ihm noch weitere Fragen, die der Junge alle auf Latein beantwortete. Er betrachtete den Jungen und merkte, dass auch dieser ihn mit seinen hellen, weit auseinanderstehenden Augen respektvoll, aber intelligent beobachtete.

Pincher war beeindruckt, zeigte es aber nicht. Hatte der Junge vielleicht ein Empfehlungsschreiben von seiner Schule? Tidy zog einen Brief aus der Tasche, den Pincher auf den Tisch warf, aber nicht las. Trotz seines Ärgers hatte er sich bereits entschlossen, den Jungen unter seine Fittiche zu nehmen. Schon um seiner gütigen Mutter einen Gefallen zu tun. Aber diese Leute sollten sich nur nicht einbilden, sie könnten ihn um den Finger wickeln. Er starrte sie so streng an, dass sein Gesicht beinahe zur Grimasse erstarrte. Und dieser unfreundliche Blick brachte Jeremiah Tidy dazu, seinen letzten Trumpf auszuspielen.

»Ich würde Euch nicht damit belästigen, wenn Ihr nicht immer so gut zu uns gewesen wäret. Das war sehr gütig von einem so großen Gelehrten, einem Mann aus Cambridge, wie Ihr es seid.«

Einem Mann aus Cambridge. Da war er wieder, dieser betont unterwürfige Tonfall. Pincher zuckte unwillkürlich zusammen.

»Ich werde tun, was ich kann, Tidy«, sagte er resigniert und winkte sie hinaus.

***

Nachdem sie ungefähr hundert Schritte gegangen waren, sprach Faithful seinen Vater an:

»Was sollte das eben mit Cambridge?«, fragte er.

»Ah«, lächelte sein Vater. »Was ist dir denn dabei aufgefallen?«

»Sobald Sie das Wort Cambridge aussprachen, sah er aus, als hätte ihn ein Floh gebissen.«

»Das ist sozusagen meine Geheimwaffe. Ist mir vor Jahren mal aufgefallen. Er hat wahrscheinlich irgendeine Dummheit in Cambridge angestellt und will nicht, dass jemand davon erfährt. Aber er vermutet, dass ich Bescheid weiß und das macht ihn nervös. Also lasse ich ihn in dem Glauben. Eine Hand wäscht die andere.«

»Was hat er denn angestellt?«

»Keine Ahnung.«

»Interessiert es Sie denn gar nicht?«

»Nein. Ich weiß es nicht, und das ist auch besser so. Mir reicht, dass er jedes Mal macht, was ich will, wenn ich Cambridge erwähne.«

Faithful merkte sich diese Worte.

Als sie sich der Kirche näherten, bedeutete Tidy seinem Sohn, ihm in die Kathedrale zu folgen. Sie war verlassen, und die beiden waren ganz allein in dem riesigen Raum. Tidy führte seinen Sohn zu dem langen Glockenseil, das von der Glocke herabhing, die alle Protestanten zum Gebet rief. Der Küster blieb neben dem Seil stehen und sah seinen Sohn bedeutungsvoll an. Er hatte sich vor vielen Jahren diese kleine Predigt zurechtgelegt, und jetzt war der Zeitpunkt gekommen, sie zu halten.

»Siehst du dieses Glockenseil, Faithful?« Faithful nickte. »Was bedeutet es?«, fuhr sein Vater fort. »Es ist nur ein Seil, sonst nichts. Ein Mann könnte sich daran aufhängen, oder daran emporklettern. Aber mein ganzes Leben gründet darauf, dass ich daran ziehe.« Er legte eine Pause ein und schüttelte staunend den Kopf, weil es so einfach war.

»Weil ich an diesem Seil ziehe, habe ich das Recht, auf dem Kirchengelände zu leben. Und was ist das für ein Ort, der Bezirk der Christ Church?«

»Ein Freibezirk«, antwortete sein Sohn.

»Ein Freibezirk«, wiederholte sein Vater. »Und was ist das Besondere an einem Freibezirk?«

»Wir stehen unter der Herrschaft des Dekans.«

»Korrekt. Wir gehorchen weder dem Bürgermeister von Dublin noch dem königlichen Sheriff, eigentlich nicht einmal dem Lord Deputy. Der Freibezirk ist im Grunde genommen ein eigenes kleines Königreich, in dem nur der Dekan herrscht. Und wir genießen alle Vorzüge eines solchen Freibezirks. Ich muss für meine Wohnung kaum Miete bezahlen. Ich darf in meinem Haus handeln – was ich auch tue –, ohne dass ich einer Gilde angehören muss oder Ehrenbürger werde. Für beides muss man nämlich bezahlen. Ich muss auch nichts von meinen Einkünften an die Dubliner Handelskammer abführen.« Er lächelte. »Ich genieße alle Vorzüge, die die Stadt bietet, zahle aber keine Steuern. Und das nur, weil ich an diesem Glockenseil ziehe.«

Und das waren beileibe noch nicht alle Vergünstigungen, die ein Kirchendiener genoss. Christ Church kümmerte sich wie alle uralten kirchlichen Einrichtungen sehr gut um die Seinen. Alle möglichen Leute, vom Küster und den Chorvikaren bis hin zum geringsten Straßenfeger und Lumpensammler, fanden Schutz und Unterstützung in den Nischen der Kathedrale. Sie erhielten Privilegien und Almosen, bekamen Schuhe, Kleider, Essen und Brennholz. Wenn die großen Kerzen auf dem Altar bis zu einem bestimmten Punkt niedergebrannt waren, tauschte Tidy sie aus und nahm die Stumpen mit nach Hause. Seine Familie beleuchtete ihre Wohnung mit den feinsten Wachskerzen und musste nichts dafür bezahlen. Dazu kamen noch die unzähligen kleinen Obolusse, die er für jeden kleinen Dienst erhielt, den er für die Laien verrichtete. Am meisten brachte ihm natürlich das Läuten der großen Glocke ein.

»Egal, ob sie zur Hochkirche gehören oder Calvinisten, Papisten oder Puritaner sind. Alle wollen, dass die Glocke läutet«, erklärte Tidy. »Und ich muss dafür nur an diesem Seil ziehen. Jeder Narr könnte das. Aber ich habe damit meinen Wohlstand begründet.« Obwohl Tidy sorgfältig vermied, darüber zu sprechen, hatte er inzwischen ein Vermögen angehäuft, das dem von Doktor Pincher durchaus ebenbürtig war.

»Und nun wirst du an diesem Seil in eine höhere Sphäre hinaufklettern, Faithful. Vielleicht wirst du ein Rechtsgelehrter oder ein Gentleman. Eines Tages wirst du mich vielleicht als einfachen, ungebildeten Mann belächeln. Aber vergiss nie, dass dieses Seil dich dorthin gebracht hat.«

Während Tidy seinen Sohn belehrte, hing Pincher, der sich nach dem Besuch der Tidys nicht vom Fleck gerührt hatte, ganz anderen Gedanken nach.

Irgendwann würde Wentworth scheitern, dachte der Gelehrte. Alle englischen Gouverneure von Irland scheiterten früher oder später. Und falls Karl aus irgendeinem Grund gezwungen sein würde, doch ein Parlament einzuberufen, würde dieses mit dem König abrechnen. Eine gerechte Rache, auf die alle Puritaner in England und Irland nur warteten. Welche Form diese Rache annehmen würde, wusste Pincher nicht. Aber er würde sich auf diesen Tag der Abrechnung vorbereiten. Wenn er ein Feind Wentworths war, musste er folglich von heute an auch ein Feind des Königs werden. Und so ging Doktor Pincher, ohne dass es ihm vollständig bewusst war, den ersten Schritt auf dem Weg zum Hochverrat.

***

Wenn Maurice nicht gewesen wäre, hätte Brian O’Byrne nichts von ihrer Anwesenheit erfahren.

Es war kurz nach Mittsommer, und Walter Smith hatte mit seiner Frau zwei Tage lang einen befreundeten Kaufmann in Wicklow besucht. Maurice und Orlando hatten das Paar begleitet. Auf der Heimreise beschlossen sie früh am Morgen, einen Abstecher nach Glendalough zu machen. Sie spazierten durch die uralten Ruinen, bewunderten den Rundturm und genossen die Stille, die an den beiden Bergseen von St. Kevins herrschte. Gegen Mittag brachen sie wieder auf. Die Tage waren lang, und auch wenn sie gemütlich ritten, konnten sie Dublin noch vor Anbruch der Dunkelheit erreichen. Nach einer Weile zeigte Orlando ihnen den Pfad, der nach Rathconan führte.

»Rathconan. Oh, ich würde es zu gern sehen«, rief Maurice daraufhin.

»Wenn du dem Pfad bis zu dem Baum da vorn folgst«, sagte Orlando und deutete auf einen nicht weit entfernten Baum, »kannst du das alte Turmhaus sehen. Aber reite nicht weiter, sonst sieht man dich noch. Ich habe Brian nämlich gar nicht gesagt, dass ich in der Gegend bin.«

Aber natürlich ritt Maurice doch weiter, und O’Byrne selbst erspähte den jungen Mann, erkannte ihn sofort und winkte ihn zu sich. Und zwei Minuten später stand Brian auf dem Hauptpfad, tadelte Orlando dafür, dass er so unfreundlich an seinem Haus vorbeiritt und lud Walter und Anne ein, bei ihm zu rasten. Es wäre unhöflich gewesen, abzulehnen. Walter sagte zwar: »Wir können nicht lange bleiben«, aber Anne lächelte und erwiderte: »Ich würde sehr gerne Ihr Haus sehen.« Maurice war schon längst zu dem Anwesen unterwegs.

Als sie sich dem alten Turm näherten, warf Brian Walter einen Seitenblick zu und murmelte: »Der Sitz Ihrer Familie.«

»Ah.« Walter rang sich ein schwaches Lächeln ab.

»Ihrem Sohn scheint es hier zu gefallen.« Maurice umrundete mit entzücktem Gesicht den Turm.

O’Byrne sah zu Anne hinüber, die sich anerkennend umschaute.

»Treiben Sie die Rinder dort hinauf?« Sie zeigte auf die wilden Berghänge über dem Haus.

»Im Sommer.«

Er erinnerte sich sehr gut an Orlandos Schwester. Orlando traf er zwar immer noch gelegentlich, aber Anne hatte er seit jenem Tag, da sie gemeinsam die Insel besucht hatten, nicht mehr gesehen. Das musste inzwischen schon mehr als zehn Jahre her sein. Sie hatte sich erstaunlich wenig verändert. Ein paar Falten mehr, einige graue Haare. Aber immer noch eine sehr attraktive Frau. Sie war ein wenig älter als er selbst, also musste sie Mitte vierzig sein. Und führte mit ihrem Mann immer noch das gleiche, langweilige Leben, dachte er im Stillen.

Auch sein eigenes Leben in Rathconan floss ruhig und friedlich dahin. Er hatte inzwischen eine ganze Schar Kinder. Die zwei Söhne wurden vom Priester unterrichtet, und die Mädchen lernten Lesen und Schreiben, aber sonst nichts. Vor einem Jahr war seine Frau bei der Geburt des siebten Kindes gestorben. Er hatte lange um sie getrauert, aber nun war ein Jahr verstrichen und allmählich musste er sich nach einer neuen Frau umsehen. Dem gut aussehenden Brian O’Byrne von Rathconan würde es nicht schwerfallen, eine junge Frau aus Wicklow zu finden, die gern sein Bett teilen, sein prächtiges Anwesen verwalten, seinen Haushalt führen und sich um seine lebhaften Kinder kümmern würde.

Auf Annes Bitte hin führte er seine Gäste herum. Sie bewunderten das alte Steinhaus und die wunderbare Aussicht. Maurice war besonders begeistert und starrte alle O’Byrne-Kinder, die ihm begegneten, an, um zu erkunden, ob sie die Smaragdaugen ihres Vaters geerbt hatten. Aber keines hatte grüne Augen. Er wollte mit O’Byrne den Hügel hinaufwandern zu den Sommerweiden, und Brian willigte ein. Anne wollte ebenfalls mitkommen. »Dann gehen wir eben alle gemeinsam«, gab Walter mit einem Seufzer nach. Als der Spaziergang zu Ende war, ging es bereits langsam auf den Abend zu. Brian drängte seine Gäste, mit seiner Familie zu essen und die Nacht in Rathconan zu verbringen. Und da Walter merkte, dass außer ihm alle darauf große Lust hatten, machte er gute Miene zum bösen Spiel und nahm die Einladung an.

Am großen Abendessen pflegte in Rathconan die gesamte Hausgemeinschaft teilzunehmen. Alle saßen nach alter irischer Tradition am selben Tisch, und oft gesellten sich noch Nachbarn oder Reisende dazu. Der Priester segnete das Essen, und oft spielte nach dem Mahl jemand ein Liedchen auf der Fiedel oder erzählte ein paar Geschichten. An diesem langen Sommerabend waren besonders viele Gäste zugegen. Man erzählte sich Abenteuer von Cuchulainn und Finn, und Geistergeschichten aus der Gegend. Musik erklang und es wurde getanzt. Brian O’Byrne beobachtete seine Gäste den ganzen Abend lang. Orlando fühlte sich natürlich wie zu Hause und wippte zufrieden im Takt der Musik mit dem Fuß. Bei Walter Smith war es anders: Obwohl der stämmige, grauhaarige Dubliner die ganze Zeit höflich lächelte, sah man, dass er sich nicht wirklich wohl fühlte. Kaum zu glauben, dass der Mann sein eigen Fleisch und Blut war, dachte O’Byrne. Der gut aussehende junge Maurice mit den grünen Augen hingegen hätte auch sein eigener Sohn sein können. Seine Augen leuchteten, sein Gesicht war gerötet, und er hatte sich schon ein hübsches junges Bauernmädchen ausgeguckt. Maurice gehörte nach Rathconan, kein Zweifel. Es kam eben nicht nur auf die Abstammung, sondern auf den individuellen Charakter eines Mannes an, dachte O’Byrne.

Immer wieder wanderte Brians Blick zu Anne. Sie amüsierte sich offensichtlich sehr und wippte genau wie ihr Bruder mit dem Fuß zur Musik. Als immer noch Leute tanzten, sah Brian, dass sie sich zu Walter beugte und etwas zu ihm sagte. Er schüttelte nur mit dem Kopf, woraufhin sie leicht verärgert mit den Schultern zuckte. Einen Augenblick später winkte sie Maurice zu sich, der sie zur Tanzfläche führte. Sie tanzte voller Grazie, und O’Byrne wäre gern selbst ihr Partner gewesen. Vernünftigerweise entschied er sich jedoch dagegen. Und obwohl sie ein- oder zweimal in seine Richtung blickte, tat er so, als sähe er sie gar nicht.

Aber nach dem Tanz führte Maurice seine Mutter direkt zu ihm, denn er hatte eine Bitte. Ihrem Sohn gefiele es so gut in Rathconan, erklärte sie, dass er sich frage, ob O’Byrne ihn vielleicht eine oder zwei Wochen als Gast bei sich aufnehmen wolle. Wäre das möglich?

»Aber natürlich, Mwirish«, antwortete Brian herzlich. »Du bist hier immer willkommen. Aber zuerst solltest du deinen Vater um Erlaubnis bitten.«

Und in den Minuten, in denen Maurice zu seinem Vater ging, der gerade in ein Gespräch mit dem Priester vertieft war, hatte O’Byrne zum ersten Mal das Gefühl, dass Anne Smith vielleicht ihm gehören könnte. Sie stand vor ihm, das Gesicht vom Tanz leicht gerötet. Mit einem Lächeln sagte er zu ihr, dass alle Mädchen aus der Gegend das Haus belagern würden, falls ihr hübscher Sohn sein Gast wäre. Sie lachte und legte ihm die Hand auf den Arm: »Ich beneide ihn darum, dass er hier bei Ihnen in den Bergen sein wird.« Und dabei blickte sie ihm direkt in die Augen. In diesem Moment erwachte all die unausgesprochene Intimität, die sie an jenem längst vergangenen Nachmittag auf der Insel gespürt hatten, zu neuem Leben und umhüllte sie. Er sah sie an und nickte. »Ich wünschte, du würdest mit ihm kommen«, antwortete er leise und ernst, und sie blickte nachdenklich drein.

»Ich glaube nicht, dass das möglich wäre«, erwiderte sie im gleichen Tonfall. »Vielleicht …«

Aus dem Augenwinkel sah Brian, dass der Junge mit seinem Vater sprach. Walter Smith blickte mit einem Stirnrunzeln zu ihnen herüber. Er entschuldigte sich bei Anne, ging zu dem Dubliner Kaufmann und richtete höflich das Wort an ihn:

»Ihr Sohn hat mich gerade gefragt, ob er mich irgendwann für eine Weile besuchen darf. Mein Haus steht ihm jederzeit offen, aber ich habe ihm gesagt, er solle erst seinen eigenen Vater fragen.«

»Sie sind sehr freundlich«, lenkte Walter sofort ein. »Ich hatte Angst, er hätte Sie belästigt.«

»Überhaupt nicht. Wir haben hier sehr oft Gäste, und er wäre mir lieber als die meisten.«

»Zurzeit geht es leider nicht«, sagte Walter. »In Dublin warten viele Aufgaben auf ihn.«

»Ich bin gelegentlich selbst in der Stadt. Wenn ich das nächste Mal nach Dublin fahre, werde ich bei Ihnen vorbeigehen. Falls Sie Maurice dann entbehren können, soll er mich begleiten. Falls nicht, dann eben ein anderes Mal. Und du«, sagte er an Maurice gewandt, »gib deinem Vater keinen Grund zur Klage, sonst bist du hier nicht willkommen, Mwirish.« Er grinste Walter Smith an, schließlich waren sie beide Väter. »Habe ich Recht?«

»Sie haben Recht«, antwortete Walter sichtbar erleichtert.

Brian O’Byrne stand meist im Morgengrauen auf, und am folgenden Morgen erwachte er unter einem strahlend blauen Himmel. Er ging nach draußen und lief zu einem Tor in der Befestigung, von dem man einen wunderbaren Ausblick auf die Küste und das ferne Meer hatte. Er sah gern zu, wie die Sonne aufging. Er blickte so konzentriert auf den östlichen Horizont, dass er gar nicht merkte, wie sich ihm jemand näherte, bis die Person plötzlich neben ihm stand. Es war Anne.

»Was machst du hier draußen?«, fragte sie.

Er zeigte auf den Horizont, über dem in diesem Moment der strahlende Rand der goldenen Sonnenscheibe erschien. Er hörte, wie sie scharf den Atem einzog. Sie beobachteten zusammen, wie die Sonne aus dem Meer aufstieg und ihren majestätischen Weg über den Himmel begann. Beide schwiegen. Er spürte ihren Arm an seinem.

»Ich habe dich von meinem Fenster aus gesehen«, sagte sie leise. »Alle anderen schlafen noch. Betrachtest du dir oft den Sonnenaufgang?«

»Immer, wenn der Himmel klar ist.«

»Ah. Das muss schön sein.«

Er nickte und sah einen Augenblick in Richtung Haus. Die ersten Sonnenstrahlen hatten die Mauern erreicht, aber das alte Haus lag immer noch wie schlafend da, als sei es unempfindlich gegen sie. Brian legte Anne sanft den Arm um die Taille, und sie ließ es geschehen.

Er warf ihr einen Seitenblick zu. Sie drehte den Kopf ein wenig zu ihm und lächelte.

»Vielleicht komme ich bald nach Dublin«, sagte er.

»Das wäre gut«, sagte sie. In diesem Augenblick ließ ein plötzliches Geräusch sie auseinander fahren. Aber sie sahen niemanden. Trotzdem lief Anne allein zum Haus zurück und ging wieder ins Schlafzimmer, wo ihr Ehemann schlief. O’Byrne ging in den Stall, um nach den Pferden zu sehen.

Sie wussten also nicht, dass Orlando das Geräusch verursacht hatte. Er hatte gesehen, wie sie sich schuldbewusst trennten.

O’Byrne kam erst Ende August nach Dublin. Wie versprochen stattete er den Smiths einen Besuch ab. Leider erfuhr er, dass Walter und sein Sohn vor zwei Tagen nach Kildare aufgebrochen waren und bereits am selben Nachmittag zurückerwartet wurden. Schade, dachte er. Eine verpasste Gelegenheit. Aber ein paar Minuten lang war er mit Anne im Wohnzimmer allein gewesen. Sie stand dicht vor ihm. Er blickte auf sie herunter. Sie hob den Kopf und sah ihn an. Und dann küssten sie sich, als sei es die normalste Sache der Welt.

Ein Geräusch an der Wohnzimmertür ließ sie wieder schnell auseinander fahren. Aber bevor Brian sich verabschiedete, schlug er vor: »Schick mir doch eine Nachricht, wenn dein Ehemann das nächste Mal verreist.« Und am vergangenen Abend war ein Bote mit einem Brief von Anne gekommen, in dem stand, dass Walter wieder verreisen würde. Voller Vorfreude machte sich Brian O’Byrne auf den Weg nach Dublin.

***

Am folgenden Morgen saß Anne Smith zu Hause und fragte sich, ob O’Byrne wohl kommen würde. Sie hatte fürchterliche Gewissensbisse. Was sollte sie nur tun? Was war nur in sie gefahren? Warum hatte sie es überhaupt nur so weit kommen lassen? Sie wusste es manchmal selbst nicht. Wenn sie geahnt hätte, wie O’Byrne ihren Seelenzustand beurteilte, hätte sie ihm wahrscheinlich sogar beigepflichtet. Aber sogar er konnte nicht wissen, welche Auswirkungen die jahrelange Selbstverleugnung, die Anspannung und Frustration gehabt hatten; das Gefühl, bereits tot zu sein, das sie oft überwältigte. Manchmal erinnerte sie sich gar nicht mehr daran, wie es war, sich lebendig zu fühlen. Seit Brian so plötzlich und unerwartet wieder in ihr Leben getreten war, erschien ihr die Welt wie durch ein magisches Licht verwandelt. Die Macht des Schicksals hatte Moral und sogar Religion zur Seite gedrängt. Bei jeder seltenen Begegnung mit O’Byrne – damals auf der Insel, in Rathconan und sogar hier, in ihrem eigenen Haus – zog es sie zueinander hin und die Ereignisse nahmen, wie von einer höheren Macht gesteuert, ihren Lauf.

Bis jetzt hatte sie sich einreden können, dass alles Schicksal gewesen war, über das sie – fast – keine Kontrolle hatte. Aber nun hatte sie gehandelt. Sie hatte ihn zu sich gerufen, das ließ sich nicht leugnen. Und jetzt kamen ihr Zweifel.

Sie vermutete, dass Orlando Verdacht geschöpft hatte. An dem Tag, als sie O’Byrne geküsst hatte, war Orlando nur wenige Minuten, nachdem sich der Ire verabschiedet hatte, hereingekommen. Er hatte sehr merkwürdig ausgesehen. Er sagte ihr, er habe in Dublin zu tun und wolle nur sehen, ob Walter schon wieder zurück sei. Dann fragte ihr Bruder stirnrunzelnd: »War das O’Byrne, den ich gerade aus dem Haus gehen sah?« Und wie eine Närrin hatte sie einen fatalen Augenblick lang gezögert, bevor sie sich fasste und mit einem leicht nervösen Lachen erwiderte: »Ja. Er wollte sich nach Maurice erkundigen.« Der misstrauische Blick, den ihr Bruder ihr zuwarf, war ihr nicht entgangen. Er wirkte besorgt und wollte gerade etwas sagen, als sie, Gott sei Dank, in die Küche gerufen wurde und das Gespräch abbrach. Als sich die ganze Familie zwei Wochen darauf in Fingal traf und gemeinsam in Malahide die Messe besuchte, sagte er nichts zu ihr.

Aber es war nicht die Angst vor ihrem Bruder, die sie zögern ließ. Es war ihre Zuneigung zu ihrem gütigen Ehemann. Am vergangenen Abend war Walter so glücklich gewesen. Nicht nur seine Frau und sein Sohn, sondern auch seine Töchter mit ihren Ehemännern und Kindern waren alle beisammen gewesen. Sie hatten gemeinsam gegessen und einen fröhlichen Abend miteinander verbracht. Sie spielten lustige Spiele, und Walter konnte gar nicht mehr aufhören zu lächeln. Auch sein irritierendes Glucksen ließ er einige Male hören, aber inmitten von so viel Freude störte es Anne überhaupt nicht. Sie beobachtete ihn und dachte: ein guter, aufrechter Mann, der mich liebt. Und auch ich liebe ihn für seine Güte. Als er sich am heutigen Morgen liebevoll von ihr verabschiedet hatte, sah sie ihm nach, bis er um die Ecke bog. Dann ging sie wieder ins Haus und dachte: Nein, das kann ich ihm nicht antun. Sie führte doch eine annehmbare Ehe. Sie musste einen Rückzieher machen und diese Treffen mit O’Byrne beenden, bevor es zu spät war.

Sie überlegte, ob sie Brian noch eine Nachricht schicken sollte. Vielleicht sollte sie ihn bitten, doch nicht zu kommen. Aber das ging nicht. Vielleicht war er bereits unterwegs. Und außerdem sollte sie ihm wenigstens von Angesicht zu Angesicht sagen, dass sie ihn nicht wiedersehen wollte. Ja, genau das musste sie tun.

***

Am frühen Nachmittag saß sie im Wohnzimmer, als sie hörte, dass je mand das Haus betrat. Sie erhob sich und merkte, dass ihr Herz plötzlich raste. Schon wollte sie zur Tür eilen. Aber es war nicht O’Byrne. Es war Lawrence. Ihr älterer Bruder kam ins Wohnzimmer, setzte sich und bat sie um ein Gespräch unter vier Augen. Zuerst plauderte er freundlich über die Familie und fragte sie, ob sie sich ohne Walter einsam fühlte. Dann legte er eine Pause ein. Offensichtlich hatte er noch etwas anderes auf dem Herzen. Sie wartete.

»Anne … ich habe mich gefragt, ob du mir vielleicht etwas sagen möchtest«, begann er leise.

»Ich weiß nicht, was du meinst, Lawrence.« Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos.

»Möchtest du mir etwas beichten?« Er sah sie forschend an.

»Ich habe doch einen Beichtvater, Lawrence.«

»Ich bin Priester, Anne. Ich könnte dir die Beichte abnehmen, falls du das willst.«

»Das will ich aber nicht, Lawrence.«

Sie sah, wie sein Gesicht sich verärgert verzog. In diesem Moment wirkte er wie der alte Lawrence aus ihrer Kindheit: streng und selbstgefällig. Sonst wäre das niemandem aufgefallen, aber sie war schließlich seine Schwester. Dann glättete der Jesuit seine Miene und fuhr fort:

»Natürlich, Anne. Wie du willst. Ich bin dein Bruder und liebe dich. Aber bitte höre mich an. Vor vielen Jahren habe ich dich dazu gedrängt, Walter seinem Bruder vorzuziehen. Erinnerst du dich daran?«

»Du sagtest mir: ›Head over heart, the better part.‹ Das weiß ich noch sehr gut.«

»Jetzt rate ich dir das Gegenteil. Denk an das Herz, Anne, das Herz deines Ehemannes. Ich bitte dich. Du darfst nicht so grausam sein, es ihm zu brechen.«

Er hatte in ernstem, drängendem Tonfall gesprochen. Nun legte er eine Pause ein, und sein Blick wurde streng. »Zu was dich der Teufel auch verführt haben mag, beende es. Ziehe dich zurück. Du bist auf dem Weg in die ewige Verdammnis, und wenn du diesen Weg weitergehst, dann verdienst du die Höllenfeuer auch. Deshalb bitte ich dich: Kehre um, bevor es zu spät ist.«

Anne starrte ihn schweigend an. Sie ahnte, dass Orlando sich ihm anvertraut haben musste. Es tat nichts zur Sache, dass er mit seinem Verdacht richtig lag. Ebenso wenig kam es darauf an, dass sie selbst zum gleichen Schluss gekommen war. Sie war nur wütend darüber, dass Lawrence schon wieder den großen Bruder spielte.

»Was wirfst du mir eigentlich vor, Lawrence? Drück dich deutlich aus«, sagte sie in gefährlich ruhigem Ton.

»Ich werfe dir gar nichts …«

»Da bin ich aber froh«, unterbrach sie ihn eisig. »Es klang nämlich fast so, als würdest du mich beschuldigen, meinen Ehemann zu betrügen.« In ihrer Stimme lag kalte Verachtung, die Lawrence empfindlich traf.

»Bist du bereit zu schwören, dass zwischen dir und Brian O’Byrne nichts Unziemliches vorgefallen ist?«, fragte er wütend.

»O’Byrne hat Maurice sehr freundlich zu sich eingeladen«, antwortete sie fest. »Das ist alles. Deine Unterstellung ist unerhört und unverschämt.«

»Ich hoffe, ich kann dir glauben.«

»Nennst du mich jetzt auch noch eine Lügnerin?« Sie war weiß vor Zorn. »Verlass mein Haus, Lawrence. Komm erst wieder, wenn du dir Manieren angewöhnt hast.« Sie stand auf und zeigte zur Tür. »Verschwinde«, befahl sie. Sie zitterte vor Wut. Ihr Bruder erhob sich ebenso wütend.

»Du beschämst mich, Schwester«, sagte er, als er den Raum verließ.

Nachdem er fort war, blieb sie wütend und trotzig stehen. Was bildete er sich eigentlich ein, ihr hier einen Vortrag zu halten? Hielt er sie immer noch für das kleine Mädchen, das vor all diesen Jahren verliebt gewesen war? Und dann beschuldigte er sie auch noch einer Sünde, die sie noch gar nicht begangen hatte. Und nannte sie obendrein noch eine Lügnerin.

Wenn das so ist, dachte sie in ihrer Wut, dann kann ich genauso gut sündigen.

Und sie war immer noch in dieser Stimmung, als Brian O’Byrne am späten Nachmittag bei ihr eintraf.

 

Kurz nach dem Besuch der Smiths im September hatte Orlando seiner Frau anvertraut, dass er sich wegen Anne und O’Byrne Sorgen machte. Kopfschüttelnd gestand er: »Ich kann einfach nicht glauben, dass meine eigene Schwester so etwas tun würde.« Auch Mary war schockiert, aber nicht ganz so sehr wie ihr Ehemann. Ob ihre Schwägerin und O’Byrne nun eine Affäre hatten oder nicht – Orlandos Eröffnung hinterließ einen bleibenden Eindruck bei Mary. Sie dachte wieder an eine Idee, die sie im Laufe der Jahre schon mehrere Male gehabt hatte. Und eines Abends Anfang Oktober sah sie ihren Ehemann, der mit ihr vor dem Kamin saß, an und sagte leise:

»Du brauchst einen Erben, Orlando. Und ich werde wahrscheinlich nie ein Kind bekommen.«

»Ich habe doch dich, Mary. Das ist genug Glück für einen einzelnen Mann«, sagte er mit stiller Zuneigung.

»Ich danke dir für deine Worte. Aber ich finde trotzdem, dass du einen Erben brauchst.« Sie schwiegen. Das Feuer zischte leise. »Du könntest mit einer anderen Frau ein Kind bekommen. Ich würde es als mein eigenes großziehen. Er wäre ein Walsh, dem du deinen Besitz hinterlassen könntest. Es würde mir nichts ausmachen.« Sie seufzte. »Vielleicht hätten wir das schon vor Jahren tun sollen.«

Er starrte sie an.

»Du bist eine wunderbare Frau«, sagte er, und sie schüttelte abwehrend den Kopf. In seiner Güte missverstand Orlando seine Frau und glaubte, er müsse sie seiner Treue versichern. Er erklärte: »Wenn du glaubst, dass ich jemals eine andere Frau ansehen würde, dann täuschst du dich, Mary. Es gibt auf der ganzen Welt nur eine Frau für mich, und das bist du.«

»Ich spreche ja auch von einem Kind, Orlando.«

»Wir müssen uns dem Willen Gottes beugen, Mary«, erwiderte er. »Wenn wir das nicht tun, dann ist unser Leben bedeutungslos.« Er nahm ihre Hand. Überwältigt von dem Gedanken, dass sie bereit war, um seinetwillen ein solches Opfer darzubringen, küsste er sie voller Liebe.

Am folgenden Sonntag gingen sie gemeinsam zur Messe nach Malahide. Mary schien es, als bete Orlando dieses Mal besonders inbrünstig. Noch am selben Nachmittag spazierte er alleine nach Portmarnock. Mary rührte die Güte ihres Mannes, aber geholfen hatte er ihr leider überhaupt nicht.

 

Anne und O’Byrne waren sehr diskret. Ein mit Brian befreundeter Kaufmann hatte ein Haus, in dem O’Byrne oft übernachtete, wenn er nach Dublin kam. Es lag in der Nähe des westlichen Marktes, was sehr praktisch war, da dort immer viele Leute geschäftig unterwegs waren. Wenn Anne über den Markt lief und ein paar kleine Einkäufe erledigte, konnte sie durch die Türe schlüpfen, ohne Aufsehen zu erregen. Wenn die respektable Frau des Kaufmanns Walter Smith nachmittags für ein paar Stunden verschwand und bei ihrer Rückkehr verkündete, sie sei auf dem Markt gewesen, habe eine arme Frau besucht oder in der Kirche gebetet, wunderte das niemanden.

Von Oktober 1637 bis zum folgenden Frühjahr war O’Byrne in regelmäßigen Abständen in Dublin, meist zwei oder drei Tage lang. Jedes Mal trafen Anne und er sich nachmittags und liebten sich, ohne dass jemand Verdacht schöpfte. Einmal war O’Byrne Orlando auf der Straße begegnet, hatte sich nach seiner Familie erkundigt und dann wahrheitsgemäß gesagt, dass er leider keine Zeit habe, die Smiths zu besuchen. Zweimal traf er Walter, der ihn begrüßte und ihn zu sich nach Hause einlud. Beide Male lehnte er bedauernd ab, fügte aber hinzu: »Ich warte immer noch darauf, dass Sie mir den jungen Maurice schicken. Er kann eine Woche oder ein Jahr bei mir verbringen. Ganz wie Sie wollen.«

Für O’Byrne war die Affäre ein aufregendes Abenteuer. Was ihn besonders freute, war, dass Anne ihre anfängliche Schüchternheit abgelegt hatte und eine leidenschaftliche, aufgeschlossene Geliebte geworden war. Sie erlebte die erste große Leidenschaft ihres Lebens.

Natürlich durften sie sich nur heimlich treffen. Gemeinsame Spaziergänge waren unmöglich, und sie konnten nicht einmal die Nacht miteinander verbringen. Aber Anne machte das nichts aus. »Es gibt nur einen Ort, an dem ich noch mit dir zusammen sein will. Die Berge über Rathconan«, erklärte sie. »Ich wünschte, das wäre möglich.« Die Gelegenheit ergab sich unerwartet im Frühling.

Ende März gab Walter den ausdauernden Bitten von Maurice endlich nach und erlaubte ihm, einen Monat bei O’Byrne zu verbringen. Annes Ehemann war in letzter Zeit sehr mit seiner Arbeit beschäftigt gewesen. Manchmal wirkte er betrübt, aber er versicherte ihr, es gebe keinen Grund zur Sorge. Außerdem hatte er stark zugenommen. Als sie ihn darauf ansprach, erwiderte er mit traurigem Lächeln, dass das in seinem Alter zu erwarten sei. »Bei meinem Vater war es auch so«, sagte er. Anne hielt das zwar nicht für eine ausreichende Begründung, sagte aber nichts. Außerdem hatte er seinen Sohn sehr hart arbeiten lassen, also war sie angenehm überrascht, als er Maurice gehen ließ. Sie überlegte gemeinsam mit O’Byrne, ob sie Maurice vielleicht für ein paar Tage nach Rathconan begleiten sollte. Aber sie entschied sich dagegen, denn jemand könnte Verdacht schöpfen.

»Ich will nicht, dass Lawrence wieder vor meiner Tür steht«, erklärte sie. Also holte O’Byrne nur Maurice ab und ritt allein mit ihm nach Rathconan. »Ich werde zu Hause bleiben, während er bei mir ist«, sagte er ihr.

Aber eine Woche vor Maurices geplanter Rückkehr erschien einer von O’Byrnes Rinderhirten mit der Nachricht bei den Smiths, dass Maurice sich das Bein gebrochen habe und wahrscheinlich noch länger in Rathconan bleiben müsse.

»Ich sollte wohl zu ihm gehen, Walter«, sagte Anne, und ihr Ehemann widersprach ihr nicht. Sie nahm den Pferdeknecht mit und machte sich mit dem Rinderhirten auf den Weg nach Rathconan.

Bei ihrer Ankunft fand sie ihren Sohn in ausgezeichneter Verfassung vor. Er lag auf einer breiten Bank in der Wohnhalle, und sein Bein war geschient.

»Ich bin auf einem Fels in einem Gebirgsbach ausgerutscht. Ein richtiger Tollpatsch«, sagte er ihr. »Aber es geht mir gut.« O’Byrne beharrte dennoch: »Du musst eine Woche lang still liegen bleiben«, befahl er. »Ich will nicht, dass das Bein schief zusammenwächst.«

Das größte Problem daran war, dass O’Byrnes jüngere Kinder einen Narren an Maurice gefressen hatten und ihn einfach nicht in Ruhe ließen.

Unter vier Augen sagte O’Byrne zu Anne: »Ich glaube, das Bein ist gar nicht gebrochen. Wahrscheinlich hat er es sich nur verstaucht.« Er grinste. »Aber ich dachte, du kommst vielleicht, wenn du dir Sorgen machst.«

Anne schickte den Pferdeknecht zurück nach Dublin, um Walter über die Situation in Kenntnis zu setzen. Sie blieb in Rathconan, und fiel schon bald in einen geregelten Tagesablauf. Tagsüber las sie Maurice vor oder vertrieb ihm sonst irgendwie die Langeweile. Abends spielte O’Byrne dann meistens Schach mit ihm. Maurice schlief in der Küche, wo die Köchin auf ihn aufpassen konnte. Seine Mutter bekam das Gästezimmer, in das sich O’Byrne schlich, wenn alle im Haus schliefen. Als Anne einmal besorgt fragte, ob ihr Liebesspiel zu laut gewesen sei, lachte er leise. »Sei unbesorgt. Durch diese Steinmauern dringt kein Geräusch. Man würde draußen nicht einmal das Gebrüll eines Löwen hören.« Tagsüber ging Anne manchmal nach draußen, um sich die Füße zu vertreten, aber da O’Byrne viel zu tun hatte, sah sie ihn kaum. Am vierten Abend sagte er zu Maurice: »Morgen treiben wir die Rinder in die Berge, Mwirish. Schade, dass du nicht mitkommen kannst.«

»Darf ich vielleicht mitkommen?«, fragte Anne. »Ich wollte schon immer einmal dort oben umherstreifen.«

O’Byrne sah Maurice zweifelnd an.

»Einer muss aber dafür sorgen, dass Mwirish auch schön liegen bleibt.«

Maurice lächelte. Es war offensichtlich, dass er O’Byrne inzwischen als eine Art Lieblingsonkel betrachtete.

»Wenn die Köchin Ihre Kinder von mir fernhält, dann brauchen Sie sich um mich keine Sorgen zu machen«, scherzte er.

Es war also abgemacht. Anne würde mit den Rinderhirten den Tag in den Bergen verbringen.

Am nächsten Morgen war das Wetter angenehm warm, denn es war schon beinahe Mai. Die Rinderhirten trieben die Herde durch Rufe und gelegentliche Stockhiebe die Pfade hinauf, und obwohl sie früh aufgebrochen waren, brauchten sie bis zum Mittag, um die Hochweiden zu erreichen. Aber für Anne hatte sich die Mühe gelohnt. Um sie herum erstreckte sich das riesige, hoch gelegene Tafelland. Der Himmel war blau, der Blick über die ferne Küstenebene atemberaubend. Unter ihnen strömten kleine Gebirgsbäche aus den Pässen auf die reich bewaldeten Abhänge zu.

Nach einer kurzen Rast kehrten einige Rinderhirten um, und O’Byrne fragte Anne, ob sie mit ihnen gehen wolle.

»Ich würde gerne noch ein bisschen hier oben bleiben«, antwortete sie.

O’Byrne kümmerte sich eine Weile um die Rinder. Als er sich davon überzeugt hatte, dass alles in Ordnung war, wandte er sich vor den anwesenden Männern an Anne und sagte beiläufig:

»Der Weg nach Glendalough ist sehr schön. Möchten Sie ein Stück spazieren gehen?«

»Lohnt es sich?«, fragte Anne die Männer.

»Auf jeden Fall. Die Aussicht ist wunderbar. Der Spaziergang lohnt sich wirklich«, bestätigten sie. Also sagte O’Byrne den Männern, er sei gleich zurück, und geleitete Anne höflich zu dem Pfad, der nach Süden führte. Er lief schnell, aber Anne hatte keine Mühe, mit ihm mitzuhalten. Als sie außer Sichtweite der Männer waren, verlangsamte er seinen Schritt jedoch und legte ihr den Arm um die Taille. So schlenderten sie weiter.

Sie spazierten durch die weite Landschaft mit den gewundenen Schluchten, und Anne war so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Vor ihr lag die wilde Gebirgslandschaft, die Sonne wärmte ihr Gesicht, Brians Arm fühlte sich um ihre Taille wunderbar an. Sie fühlte sich frei, lebendig und voller Selbstvertrauen und lachte vor lauter Freude laut auf. Kurze Zeit später murmelte sie etwas, ohne es zu merken, und war überrascht, als Brian sie fragte, was sie damit gemeint hatte.

»Du sagtest ›heart over head‹«, erklärte er.

»Wirklich?« Sie lachte wieder. »Ach, das hat mein Bruder Lawrence vor Jahren einmal zu mir gesagt. Aber er hatte Unrecht.« Sie war noch nie so froh gewesen, am Leben zu sein.

Nach ein paar Meilen erreichten sie einen verzauberten Ort. In einer Biegung der Schlucht lag neben einem Gebirgsbach eine natürliche kleine Laube, die durch die umliegenden Felsen und Bäume geschützt und verborgen wurde. Ohne auf O’Byrne zu warten, kletterte Anne hinunter zum Bachufer. Sie zögerte nur einen Moment; dann zog sie die Schuhe aus und stieg barfüßig in den Bach. Das Wasser war kälter, als sie erwartet hatte, und als sie wieder ans Ufer watete, prickelten ihre Füße. Sie lachte und ging ein paar Schritte auf die Felsen zu. Das Gras kitzelte sie zwischen den Zehen. O’Byrne saß auf einem Felsen über ihr und beobachtete sie. Sie drehte sich halb von ihm weg. Die Spange auf ihrer Schulter ließ sich leicht lösen, und einen Moment später lagen ihre Kleider auf dem Boden. Sie war nackt. Sie atmete tief ein und spürte, wie die Brise ihre Brüste liebkoste. Sie schloss die Augen. Die weiche Luft streichelte ihren Rücken, ihre Beine, ihren ganzen Körper. Sie erschauerte wohlig. Dann drehte sie sich zu O’Byrne um, der immer noch ruhig auf seinem Felsen saß und sie mit den Blicken verschlang. Sie lächelte.

»Willst du nicht runterkommen?«, fragte sie.

»Ach, warum eigentlich nicht?«

Sie beobachtete, wie er mühelos nach unten kletterte. Er war kräftig und zugleich geschmeidig wie eine Katze, dachte sie. Dann stand er dicht vor ihr, und sie roch den frischen Schweiß auf seiner Brust.

»Muss ich dich ausziehen?«, fragte sie neckisch.

»Willst du das denn?«

»Ja.«

Sie hatte noch nie einen Mann unter freiem Himmel geliebt. Der harte Boden unter ihr fühlte sich gut an. Die langen Grashalme drückten rau gegen ihren Rücken und hinterließen Abdrücke und grünen Saft auf ihrer Haut. Der Duft des Grases hing in ihren Haaren, und das sanfte Plätschern des Baches war Musik in ihren Ohren. Einmal rollten sie beinahe ins Wasser, und beide brachen spontan in Gelächter aus. Sie hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Sie blieben über eine halbe Stunde dort liegen und liebten sich zärtlich. Als sie danach durch die großartige Wildnis der Wicklow-Berge zurückliefen, fühlte Anne sich, als sei etwas ganz Besonderes mit ihr geschehen. Als habe sich an diesem Tag der Knoten aus Wut und Frustration, der ihr Leben so viele Jahre lang vergiftet hatte, endlich gelöst. Sie war endlich wieder frei.

Zwei Tage später untersuchten sie Maurices Bein sorgfältig und stellten fest, dass der Knöchel zwar verstaucht und ein Muskel gerissen, der Knochen aber nicht gebrochen war. Und so brach Anne nach einer letzten Nacht mit ihrem Geliebten am folgenden Morgen nach Dublin auf.

»Ich komme in drei Wochen wieder nach Dublin«, versprach ihr O’Byrne heimlich.

»Wie soll ich es nur so lange ohne dich aushalten?«, fragte Anne.

Und während des Heimwegs von den Höhen der Wicklow-Berge zur Dubliner Ebene dankte sie dem Schicksal dafür, dass sie Brian O’Byrne gefunden hatte und dass ihr Ehemann nichts von ihrer Affäre ahnte.

***

An einem heißen Julitag des Jahres 1638 kam Walter Smith gerade aus dem Postamt in der Castle Street, wo er einen Brief an einen Londoner Kaufmann aufgegeben hatte, als er Orlando traf. Das Postamt war eine der vielen Neuerungen in Dublin, auf die Wentworth hinwies, um die Vorzüge seiner strengen englischen Regierung aufzuzeigen. Dazu gehörten auch die Laternen, die inzwischen die Straßen des alten Dublin beleuchteten, und seit neuestem ein Theater. Aber mit seinen rüden, ungehobelten Manieren hatte es der Lord Deputy geschafft, beinahe jeden Iren vor den Kopf zu stoßen, und durch seine Versuche, sich altenglischen Grundbesitz in Leinster und Galway unter den Nagel zu reißen, waren ihm nur wenige Freunde unter den altenglischen Katholiken geblieben. Walter Smith war also eher überrascht, als sein Schwager, der sich ihm auf seinem Weg anschloss, fröhlich sagte, die politische Situation gebe allen Anlass zur Freude. »Warum?«, fragte Walter.

»Ich spreche natürlich von Schottland«, sagte Orlando, als sei das selbstverständlich – was Walter nicht nachvollziehen konnte.

Denn für die meisten Engländer war das vergangene Jahr der königlichen Herrschaft eine Katastrophe gewesen.

Es war ganz typisch für Karl L, dass er nicht einmal das Land verstand, aus dem seine Familie stammte. Die Bewohner von Schottland hatten seiner Großmutter Maria Stuart unmissverständlich klargemacht, dass sie eine presbyterianische Kirche wollten. Also war es töricht, anzunehmen, dass die Schotten nun die Art von Hochkirche akzeptieren würden, die England und Irland aufgezwungen worden war. Aber genau das hatte Karl I. versucht. Schon Doktor Pincher war über die papistischen Rituale in Christ Church entsetzt gewesen, aber die Schotten rasten vor Wut, als der König solche Zeremonien in ihrem eigenen Land anordnete. In der Kathedrale von Edinburgh hatte es einen Aufruhr gegeben, und in ganz Schottland formierte sich der Widerstand. Karl I. aber blieb diesen aufrichtigen Protesten gegenüber taub. Er war schließlich der König, also hatte er Recht. Im Frühling des Jahres 1638 hatten sich alle Schotten, vom reichsten Adligen bis zum bescheidensten Arbeiter, zu einem großen protestantischen Nationalbündnis, dem National Covenant, zusammengeschlossen. Schottland war außer Kontrolle geraten, und Karl I. versuchte gerade, eine Armee aufzustellen, mit der er nach Norden gegen die so genannten Covenanters ziehen wollte.

»Verstehst du nicht, dass das gute Nachrichten für uns sind?«, fragte Orlando. Zuerst einmal bedeutete das, dass die englische Regierung sich noch stärker gegen die Puritaner wenden würde. Und das schloss auch die Presbyterianer mit ein, zu denen die Schotten oben in Ulster gehörten, erklärte er. »Der König wird wahrscheinlich bald bereuen, dass es jemals protestantische Plantations in Irland gegeben hat.« Darüber hinaus würde der König für die Unterstützung der englischen Katholiken in Irland dankbarer sein denn je. »Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für die Altengländer, den König so oft es nur geht daran zu erinnern, dass wir seine treu ergebenen Freunde sind.«

»Glaubst du, er wird uns größere Zugeständnisse machen?«

»Du hast mich nicht verstanden, Walter«, fuhr Orlando fort. »Ich glaube viel mehr als das. Wenn es weiterhin solche Probleme mit den Protestanten gibt, dann halte ich es sogar für möglich, dass der König uns Altengländern die Kontrolle über Irland zurückgibt. Den alten Gentry-Familien, denen er vertrauen kann.« Er lächelte. »Wenn wir es geschickt anstellen, übernehmen wir Katholiken bald wieder die Macht in Irland.«

Walter fragte sich, während sie weitergingen, ob sein Schwager da nicht ein bisschen zu optimistisch sei. Jetzt waren sie beim Kirchenbezirk von Christ Church angelangt.

»Komm doch mit zu mir nach Hause«, schlug Walter vor.

»Würde ich gerne. Aber leider bin ich verabredet«, lehnte Orlando ab.

»Dann richte ich deiner Schwester Grüße von dir aus«, sagte Walter.

»Ah. Bitte tu das«, sagte Orlando schnell. Und dann war er auch schon weg. Walter setzte langsam seinen Heimweg fort. Kein Zweifel, während des vergangenen Jahres hatte er stark zugenommen.

Er fand es schade, dass Orlando ihn nicht nach Hause begleitet hatte, denn er schätzte seinen Schwager sehr. Aber es überraschte ihn nicht. Ihm war schon seit langem aufgefallen, dass Orlando es tunlichst vermied, Anne zu begegnen. Wenn er ihn zu sich einlud, dann lehnte er immer unter einem fadenscheinigen Vorwand ab, genau wie heute, und versprach, ihn bald zu besuchen. Wenn er dann erschien, begrüßte er seine Schwester zwar mit einem Kuss, benahm sich ihr gegenüber aber sehr reserviert. Und Walter fiel gelegentlich auf, dass Orlando ihn mitleidig oder besorgt ansah. Wenn sie schweigend nebeneinander standen, spürte er, dass seinem Schwager irgendetwas unangenehm war. Und Lawrence benahm sich ihm gegenüber sogar noch vorsichtiger und diplomatischer, als es sonst die Art des Jesuiten war.

All das war nur zu verständlich. Sie dachten, er sei ahnungslos. Aber er wusste es. Er hatte es beinahe von Anfang an gewusst. Er erinnerte sich noch genau an den Abend – ihm kam es vor, als sei es vor einer Ewigkeit gewesen –, an dem ihm aufgefallen war, dass seine Frau ihn sehr nachdenklich ansah. Das allein war noch nicht beunruhigend gewesen. Aber irgendetwas hatte nicht gestimmt. Ihr Blick war weder unfreundlich noch kritisch, sie schien ihn nur aus einer großen Distanz zu betrachten. Fragte sie sich, wie er in einer bestimmten Situation reagieren mochte? Beurteilte sie einen Aspekt seines Charakters? Sie sah ihn an, als vergliche sie ihn mit einem anderen. Als wäre sie sich über ihre Gefühle für ihn nicht im Klaren. Er konnte es kaum fassen. Aber auch wenn er ihre Gedanken nicht lesen konnte, las er doch in ihrem Blick, dass sie sich von ihm entfernt hatte. Zwischen ihnen lag eine leidenschaftslose Distanz. Er spürte es, sprach es aber nicht an. Was hätte er auch sagen sollen? Aber in den folgenden Tagen und Wochen beobachtete er sie. Und sah es.

Der kritische Blick, mit dem sie vor dem Spiegel ihre Figur begutachtete. Seinetwegen tat sie das bestimmt nicht. Der ungeduldige Ausdruck, der über ihr Gesicht huschte, wenn er etwas sagte. Falls sie diese Ungeduld schon immer verspürt hatte, dann hatte sie es jedenfalls nie zuvor gezeigt. Manchmal wirkte sie abwesend, als sei sie weit weg. Gelegentlich strahlte sie, als sei sie neu erblüht, und irgendwann war ihm auch aufgefallen, wie Lawrence und Orlando sich verhielten. Aber noch immer erschien ihm das Ganze kaum vorstellbar. Bis er seiner Frau eines Tages zum westlichen Markt folgte und sah, dass sie in ein Haus ging und nicht wieder herauskam. Noch am selben Abend hatte er herausgefunden, dass O’Byrne dort wohnte. Also war sie bei ihm gewesen.

Eine Zeit lang weigerte er sich, zu glauben, was er herausgefunden hatte. Seine liebevolle, tugendhafte Ehefrau sollte zu einer solchen Hinterlist fähig sein? Mehrere Tage stand er unter Schock, er war völlig fassungslos. Er musste fürchterlich ausgesehen haben, denn als Anne eines Nachmittags nach Hause kam, sah sie ihn überrascht an und fragte ihn mit einer Mischung aus Besorgnis und Ungeduld: »Ist dir unwohl? Du siehst aus wie ein Gespenst.« Er sagte ihr, er sei nur müde und heuchelte Ärger über einen unwichtigen Zwischenfall bei der Arbeit. Er verbarg seine Gefühle mit großer Sorgfalt. Zu einer Konfrontation war er noch nicht bereit. Stattdessen zwang er sich, die Angelegenheit so nüchtern zu betrachten als möglich.

Hatte sie vor, mit O’Byrne durchzubrennen? Er glaubte es nicht. Dazu verhielt sie sich viel zu diskret. Niemals würde sie mit einer solchen Tat Schande über sich und ihre Familie bringen – besonders nicht über Maurice, der noch zu Hause lebte. Aber er hätte auch nie im Leben vermutet, dass sie zu dem fähig wäre, was sie bereits getan hatte. Würde die Affäre enden, wenn er sie oder ihren Geliebten zur Rede stellte? Wahrscheinlich schon. Was auch immer seine Frau empfinden mochte, O’Byrne war ein jüngerer Mann, der sich bald eine neue Ehefrau nehmen würde. Für O’Byrne war das Ganze bestimmt nur ein Zeitvertreib, den er beenden konnte. Aber was wäre dann? Er müsste mit einer Frau zusammenleben, die ihn für sein Eingreifen nur verabscheuen konnte.

Für Walter war die Lage denkbar kompliziert: Er liebte Anne. Aber er vergaß nie, dass sie eigentlich seinen Bruder geliebt hatte, nicht ihn. All die Jahre hatte er versucht, ihr ein guter Ehemann zu sein und ihre Liebe zu gewinnen, und er hatte geglaubt, es sei ihm gelungen. Sie hatte gesagt, er mache sie glücklich. Aber das entsprach offensichtlich nicht der Wahrheit. Er hatte also doch versagt, und sie hatte ihm nur aus Güte verheimlicht, dass sie ihn nicht so liebte wie er sie. Wie unerfüllt sie doch gewesen sein musste.

Der Fehler lag sicherlich bei ihm. Sie war keine leichtfertige Frau, das stand außer Frage. Sie hatte Moral, sie war ein guter Mensch. Sie war alles, was eine Frau und Mutter sein musste. Er liebte sie leidenschaftlich, aber offenbar liebte sie ihn nicht. Dies schmerzte ihn beinahe unerträglich, aber er durfte mit niemandem darüber sprechen. Aus der Familie seines Vaters hatte er keine Verwandten mehr. Er würde auf keinen Fall seine Kinder ins Vertrauen ziehen und dadurch ihre Mutter in den Schmutz ziehen. Niemals. Annes Familie wusste offensichtlich Bescheid. Wollte er den betrogenen Ehemann geben, der greinend zur Familie der Ehefrau flüchtet? Nein, dafür war er viel zu stolz.

Er musste seine Qual und seine Wut allein ertragen.

Denn er war wütend. Wütend wie ein Mann, dem Hörner aufgesetzt werden. Wütend auf seine Frau und O’Byrne. Sogar auf Lawrence und Orlando, weil er sich von ihnen – in gewisser Hinsicht – hintergangen fühlte. Und diese Wut setzte seiner Liebe Grenzen. Die Affäre war noch geheim. Er war sich zwar sicher, dass Annes Brüder davon wussten, aber sie würden die Schande ihrer Schwester bestimmt nicht an die Öffentlichkeit gelangen lassen. Wusste O’Byrnes Familie etwas? Wahrscheinlich nicht, und er vermutete, dass Diskretion auch in O’Byrnes Interesse lag. Aber falls diese Buhlschaft bekannt wurde, falls ganz Dublin und folglich auch seine Kinder davon erfuhren, würde er Anne davonjagen, so sehr er sie auch liebte.

Gab es vielleicht einen Hoffnungsschimmer, falls die Sache geheim blieb? Würde Anne in ihr altes Leben zurückkehren, wenn die Affäre endete? Und sie musste ja irgendwann enden, oder? Was sollte er in diesem Fall tun? War es vielleicht möglich, dass Anne dann Liebe für ihn empfinden würde, oder ihn wenigstens für sein Verhalten achtete? Denn Achtung verdiente er doch bestimmt. Ein einziges aufrichtiges Wort würde ihm bereits genügen.

Es war eigentlich das Los der Ehefrauen, darauf zu warten, dass untreue Ehemänner reumütig in den Schoß der Familie zurückkehrten, aber er hatte auch schon von Fällen gehört, in denen die Rollen vertauscht waren. Also würde er erst einmal zum Wohle der Familie Ahnungslosigkeit vortäuschen. Auch seine ehelichen Beziehungen zu ihr pflegte er weiter, aber auch in dieser Hinsicht hatten sie sich entfremdet. Wenn er abends sagte, er sei müde und wolle sofort schlafen, schien ihr das jedenfalls nichts auszumachen. Sie lebten ihr übliches, ereignisloses Leben weiter. Manchmal bildete er sich, wenn er neben ihr im Bett lag, ein, er könne den anderen Mann auf ihrer Haut oder in ihrem Haar riechen. Dann schloss er schnell die Augen und versuchte zu schlafen.

Es gab noch einen Umstand, der ihn verletzte. Maurice liebte O’Byrne. Walter verstand natürlich, warum der Junge von dem gut aussehenden Iren, der seine grünen Augen hatte, fasziniert war. Aber, so dachte er bitter, sogar mein Sohn zieht O’Byrne vor. Bestimmt hätte er lieber ihn als Vater. Sogar das hat mir O’Byrne genommen. Als er zuließ, dass der Junge den Iren besuchte, war das ein Zeichen dafür, wie vollständig er resigniert hatte. Auch der Junge will mich verlassen, dachte er. Und wie sollte ich es ihm vorwerfen?

Aber als Anne ihm unter einem fadenscheinigen Vorwand in die Berge folgte, konnte er seine Empörung kaum verbergen. Nur das Wissen, dass er sich durch zu heftige Proteste verraten würde, hielt ihn zurück. Aber das war der schlimmste Schlag für ihn. Er würde um der Familie willen schweigen, aber er war sich nach ihrer Abreise nicht sicher, ob er je wieder mit ihr intim werden konnte.

Trotzdem hatte er sich weiterhin durch seinen Alltag geschleppt. Er war seinen Geschäften nachgegangen und hatte abends in seinem Sessel im Wohnzimmer gesessen. Sein Körper hatte sich eine Schutzschicht zugelegt, um ihn gegen die Pfeile des Schmerzes zu schützen. Seiner Frau gegenüber hatte er sich ruhig und freundlich verhalten. Manchmal hatte er sie beobachtet und sich gefragt, ob sie ahnte, dass er Bescheid wusste. Aber das war das Schlimmste daran. Sie merkte es nicht, weil sie es nicht merken wollte. Sie wollte es nicht merken, weil es ihr egal war. Es war ihr egal, weil sie ihn nicht liebte. In diesem Teufelskreis bewegte sich sein Leben.

Nach dem Gespräch mit Orlando kehrte er in ein ruhiges Haus zurück. Die Dienstboten waren in der Küche beschäftigt, weder Anne noch sein Sohn waren zu Hause. Er überlegte, womit er sich beschäftigen konnte und entschied sich, auf den Dachboden zu steigen und die Dokumente der Gilde durchzusehen, die dort in einer Truhe lagerten. Das hatte er sich schon vor langer Zeit vorgenommen, war aber nie dazu gekommen. Er grunzte schwerfällig, als er die Leiter zum geräumigen Dachboden hinaufstieg. Das Dach war von innen mit Brettern verschalt, daher war es dort oben sogar im Winter recht warm und trocken. Er war stolz darauf, dass die Dokumente in seinem Haus aufbewahrt wurden. Wentworth hatte die Geschäftsbücher der meisten Gilden beschlagnahmt und einer neuen protestantischen Gilde übergeben, die er eingerichtet hatte. Aber Walter hatte es geschafft, diese Dokumente zu verbergen. Die schwere, mit Bronze beschlagene Kassette stand in der Mitte des Raumes, und er schloss die drei Schlösser sorgfältig mit drei unterschiedlichen Schlüsseln auf. Sein Vater hatte diese Papiere aufbewahrt, weil sie das geheimnisvolle Mittelalter symbolisierten, und Walter wollte sie sich unbedingt auch selbst betrachten.

In einem Dachgiebel befand sich eine verschlossene Öffnung. Walter klappte die Läden zurück, und Sonnenlicht strömte in den Raum. Er zerrte die Truhe zu dem großen, hellen Rechteck auf dem Boden, setzte sich daneben auf den Boden und nahm ein Dokument nach dem anderen heraus. Wie er erwartet hatte, enthielten die meisten Papiere Aufzeichnungen über unbedeutende Ereignisse und Auszahlungen sowie Verträge mit Handwerkern über die Instandhaltung der Votivkapelle und der Gräber der Bruderschaft. Nicht besonders interessant.

Als er sich jedoch weiter vorarbeitete, stieß er auf ziemlich alte Dokumente. Er fand sich in der Regierungszeit Elisabeths wieder, dann in der von Mary, der Katholikin und dem Kindkönig Eduard VI. In dessen Regierungszeit waren offenbar ein Kelch, viele Kerzenhalter der Gilde und andere religiöse Objekte an einen sicheren Platz geschafft worden, da man fürchtete, die Protestanten würden versuchen, sie zu rauben. Als er bei der Regierungszeit von Heinrich Viii. angekommen war, stach ihm ein Dokument ins Auge, das sich von den anderen unterschied. Es bestand aus dickem, sorgfältig zusammengefaltetem Papier, das mit einem unberührten Siegel verschlossen war. Er nahm es aus der Truhe und hielt es ins Licht. Der Abdruck im Wachs musste von einem Stempel der Doyles herrühren. Auf der Rückseite las er die folgenden Worte in einer kühnen Handschrift, die ihm irgendwie bekannt vorkam:

 

AUSSAGE VON MASTER MACGOWAN

ÜBER DEN STAB

 

Er fragte sich, was das bedeuten mochte. Welcher Stab? Vermutlich ein Werkzeug, das der Gilde gehörte. MacGowan war bestimmt ein Mitglied der Dubliner Kaufmanns- und Handwerkerfamilie gewesen. Die Informationen, die das Dokument enthielt, waren offenbar wichtig genug gewesen, um sie zu versiegeln. Natürlich war das an sich noch nichts Ungewöhnliches, trotzdem war der Inhalt vielleicht interessant. Er betastete das Siegel. Sollte er es aufbrechen? Eigentlich sprach nichts dagegen. Er war der Hüter der Truhe, und das Dokument war bestimmt schon hundert Jahre alt. Er strich mit dem Finger über das Wachs.

»Walter?«

Er drehte sich um. Es erstaunte ihn, dass er nicht gehört hatte, wie seine Frau die Leiter hinaufgeklettert war, aber da stand sie nun und sah ihn neugierig an.

»Die Tür zum Dachboden war offen«, sagte sie. »Ich habe mich gefragt, warum. Was machst du denn hier?«

»Ich schaue mir nur diese alten Papiere an.« Vor einem Jahr hätte er ihr das Dokument gezeigt, das er entdeckt hatte. Nun ließ er es einfach zurück in die Truhe fallen. »Warum? Hast du mich gesucht?«

»Ja.« Sie zögerte und sah ihn an. Einen Augenblick lang kam es ihm vor, als sehe er den gleichen Ausdruck wie damals auf ihrem Gesicht, als er gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte. Sie versuchte, ihn einzuschätzen. Aber er sah noch etwas anderes. Sie versuchte zwar, es zu verbergen, aber es gelang ihr nicht ganz. Sie hatte Angst.

»Warum hast du mich gesucht?«, fragte er freundlich.

»Lass uns ins Wohnzimmer gehen, dann können wir uns setzen.«

Er bewegte sich nicht.

»Sind es schlechte Neuigkeiten?«

»Nein, das glaube ich nicht.« Sie lächelte, aber in ihren Augen sah er immer noch Angst.

»Sag es mir jetzt.«

»Lass uns nach unten gehen.«

»Nein«, sagte er freundlich, aber fest. »Ich habe hier noch einiges zu erledigen. Sag es mir bitte jetzt.«

Sie zögerte noch kurz.

»Wir werden noch ein Kind bekommen, Walter. Ich bin schwanger.«

***

Walter hatte Lawrence aufgesucht und sich lange und offen mit ihm unterhalten. »Um der Ehre deiner Schwester Willen«, schloss er. »Zum Wohle der Kinder, und auch um meine Würde nicht zu verlieren.« Und mit aufrichtiger Bewunderung stimmte der Jesuit zu, alle seine Bitten zu erfüllen. Danach hatten sowohl Lawrence als auch Orlando die Smiths regelmäßig besucht, und bei so viel Familieneinigkeit kam es niemandem – jedenfalls niemandem aus Dublin – in den Sinn, das Kind im Leib der tugendhaften Anne Smith könnte von einem anderen Mann als ihrem Ehemann gezeugt worden sein.

***

In den ersten Monaten ihrer Schwangerschaft hatte Anne eine seltsame Mischung aus Freude und Einsamkeit gespürt. Sie hatte sich mit einem Spaziergang Mut gemacht und sich auf die Rolle vorbereitet, die sie spielen musste.

»Es muss im April geschehen sein, bevor Maurice sich verletzt hat«, sagte sie auf dem Dachboden.

»Ah.« Walter starrte auf die Truhe vor ihm. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos und verriet weder Freude noch Schmerz. »So muss es wohl sein.«

Er sah sie nicht an. Langsam, beinahe abwesend legte er die Papiere sorgfältig wieder in die Truhe und schloss alle drei Schlösser nacheinander ab. Erst danach stand er auf, und während er sich erhob, sah er ihr in die Augen. Sein Blick war schrecklich. Sie begriff, dass er alles wusste, und sie erzitterte vor seinem Grimm.

»Die Kinder werden sich darüber freuen, dass wir noch ein Kind bekommen«, sagte er leise. Dies war sowohl ein Akt der Gnade als auch ein Befehl, und sie wusste nicht, ob sie erleichtert sein sollte oder ob er ihr gerade ein Messer in die Brust gestoßen hatte. Sie hätte es weiß Gott verdient. Und als er auf sie herabsah, denn er war sehr viel größer als sie, dachte sie: Lieber Gott, er ist schrecklich. Schrecklich und gerecht. Man musste ihn einfach bewundern. Und sie bewunderte ihn. Aber sie fühlte nichts. Sie sah so deutlich wie nie zuvor, was für ein guter und edler Mann er war. Und fühlte nichts für ihn. Sie dachte nur an Brian O’Byrne. Es war sein Kind, davon war sie überzeugt. Während das Baby in ihr heranwuchs, sehnte sie sich nach O’Byrne. Sie stellte sich ihn in seinem Haus und in den Bergen vor. Oh, wie sie sich danach verzehrte, ihn zu sehen, seine Hand auf ihrem Bauch zu spüren. Sie wollte ihm das kleine Leben in ihr nahebringen, ihre Freude darüber mit ihm teilen. Seine Abwesenheit wühlte wie ein dumpfer Schmerz in ihrer Brust. Sie wollte ihm schreiben und entdeckte, dass das mit dem neuen Postamt auch ging. Sie verfasste einen Brief, der wie ein Geschäftsschreiben aussah und schickte ihm in vorsichtigen Worten die Bitte, er möge bald im Haus des Kaufmanns Smith vorsprechen. Und dann wartete sie. Heart over head, wie Lawrence sagen würde. Aber mit einer solch qualvollen Trennung und Unsicherheit hatte sie nicht gerechnet. Und doch würde sie noch einmal genauso handeln, denn die Affäre hatte sie innerlich befreit und ihr die Lebensfreude zurückgegeben. Sie war sich der Ironie wohl bewusst – diese Freude verdankte sie nur der Güte ihres Ehemannes –, aber dagegen konnte sie nichts ausrichten. So war das Leben nun mal. Mehr ließ sich nicht dazu sagen.

Endlich kam er, mit Maurice. Er hatte klug an einem Ort in der Stadt gewartet, an dem ihr Sohn bestimmt vorbeikommen würde. Und mit einem Freudenschrei über das unverhoffte Wiedersehen hatte Maurice ihn sofort zu sich nach Hause eingeladen. Als sie einen Augenblick allein waren, erinnerte sie ihn: »Das Kind ist von dir, das weiß ich genau.« Und Brian hatte gelächelt.

»Ich träume oft davon, mit dir zu fliehen«, gestand sie ihm. »Auf die alte irische Art mit dir in die Berge zu fliehen.«

»Das traue ich dir sogar zu«, lachte er leise. »Wenn du könntest. Du bist sogar noch wilder als ich.«

»Vielleicht mache ich es wirklich«, sagte sie.

Er strich ihr liebevoll über das Haar.

»Hier hast du es besser.«

»Liebst du mich?«, fragte sie und sah ihn zweifelnd an.

»Hast du ein so schlechtes Gedächtnis?« Er streichelte immer noch ihr Haar.

»Ich werde allmählich richtig unförmig.«

»Du bist überwältigend schön«, sagte er mit aufrichtigem Gefühl. »Wunderschön.«

Sie hörten, wie Walter das Haus betrat. O’Byrne küsste sie sanft und verließ das Zimmer. Sie hörte, wie er draußen im Flur Walter gratulierte.

Walter antwortete leise, aber fest: »Sie ist jetzt bei ihrer Familie.« Und sie wusste, dass O’Byrne nicht mehr in dieses Haus kommen würde.

Du bist wunderschön. Diese bedeutungslosen Worte hatten sie in den folgenden Wochen immer wieder erfreut und getröstet.

Als das Baby Ende Januar 1639 geboren wurde, machten alle großes Aufheben um den Kleinen. Die ganze Familie versammelte sich: Die Töchter neckten ihren Vater ein wenig über seine erstaunliche Manneskraft im Alter. Er ertrug es mit aufgesetzter Fröhlichkeit. Maurice sah immer wieder nach, ob das Baby vielleicht seine grünen Augen hatte. »Die Augen von Babys sind meistens eine Zeit lang blau«, erklärte sie ihm. »Man weiß erst später, welche Augenfarbe sie wirklich haben. Aber die Augen des winzigen Jungen wurden nicht grün, sondern blieben blau.«

Erst eine Weile nach der Geburt merkte Anne, dass etwas nicht in Ordnung war.

 

Im Frühjahr 1639 war Lord Deputy Wentworth recht zufrieden mit dem Irland, über das er regierte. Nun gut, er hatte längst nicht alle seine Ziele erreicht. Die Plantations entwickelten sich leider nicht zu den protestantischen Musterkolonien, als die sie geplant worden waren. Diejenige in Galway war noch nicht einmal verwirklicht worden. In den Häusern der meisten Kaufleute oder Handwerker in Dublin hätte er bei einem unangemeldeten Besuch wahrscheinlich Hetzpamphlete gegen sich vorgefunden. Aber Pamphlete waren zurzeit groß in Mode, und ihm war es egal, dass ihn Protestanten und Katholiken gleichermaßen hassten. Er war nicht nach Irland gekommen, um sich beliebt zu machen. Er war hier, um dem König Geld zu beschaffen. Und um Ordnung ins Land zu bringen. »Und zwar gründlich«, wie er gern sagte. Ganz Irland mochte ihn hassen, aber wenigstens hatten die Leute Angst vor ihm, und auf der Insel herrschte Ruhe – was man vom Rest des Königreichs nicht gerade behaupten konnte.

Karls I. Versuche, die Schotten einzuschüchtern, waren kläglich fehlgeschlagen. Die Schotten hatten ihrem Covenant geschworen, dass die papistische Kirche des Königs nördlich der Grenze nicht Fuß fassen würde, und daran hatten sie sich gehalten. Sie gaben keinen Zoll nach. Im Frühling des Jahres 1639 entschied sich Karl I. dafür, den Schotten mit seiner militärischen Macht zu imponieren. Er begann, Truppen auszuheben und suchte nach Gentlemen, die sie anführen wollten. Keine leichte Aufgabe.

***

An einem milden Apriltag bot sich den Dublinern, die am alten Holzquai jene Boote betrachteten, die Passagiere an Land brachten, ein seltsames Schauspiel. Denn genau an dem Ort, an dem er vor vierzig Jahren zum ersten Mal den Fuß auf irischen Boden gesetzt hatte, kletterte überraschend behände der große, hagere Doktor Simeon Pincher von Bord. Er trug sein übliches Schwarz. Aber heute hatte er dazu statt des steifen pu-Titanischen Hutes, den er sonst bevorzugte, einen großen Schlapphut aus Stoff angezogen, den man später als Schottenmütze bezeichnen würde. Und als ihn der Bootsführer, der auf ein Trinkgeld hoffte, fragte, ob es dem ehrenwerten Sir gut gehe, antwortete Pincher fröhlich mit deutlich schottischem Akzent:

»Kann nicht klagen, guter Mann.«

Doktor Pincher war in Schottland gewesen.

Im Trinity College hielten viele Doktor Pincher inzwischen für ein wenig exzentrisch. Aber das war nicht schlimm. Von älteren Professoren erwartete man das geradezu. Der seltsame Hut löste also bei seinen Studenten nur noch entzücktes Grinsen aus. Und Doktor Pincher war es nur recht, dass man ihn nicht mehr als den calvinistischen Aufwiegler sah, der seine Gemeinde vor Jahren in der Christ-Church-Kathedrale elektrisiert hatte. Sollten sie ihn doch für harmlos und ein wenig verrückt halten.

Bevor er in seine Wohnung ging, schickte Pincher einen Diener auf zwei Botengänge. Der erste sollte ihn zu Tidys Frau führen, um eine ihrer Pasteten zu holen. Der zweite Auftrag bestand darin, den jungen Faithful Tidy um Punkt vier Uhr in seine Wohnung zu bestellen. Sobald er zu Hause war, schenkte sich Pincher ein kleines Glas Branntwein ein und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Faithful Tidy erschien pünktlich zur verabredeten Zeit. Bald nach seiner Ankunft in Trinity war ihm klar geworden, dass Pincher ihn als sein persönliches Eigentum betrachtete, weil er ihm einen Studienplatz dort verschafft hatte. Dem jungen Mann, der den gelehrten Doktor hinter seinem Rücken immer noch »Tintenmann« nannte, gefiel es gar nicht, dass Pincher ihn als Laufbursche benutzte, aber sein Vater hatte ihm gut zugeredet.

»Wie oft ruft er dich denn zu sich?«

»Vielleicht einmal die Woche.«

»Das ist doch nicht zu oft. Du schuldest ihm etwas, also mach ein fröhliches Gesicht, wenn er dir einen Auftrag erteilt.« Und mit einem Nicken bekräftigte er: »Er ist vielleicht nicht mehr der Mann, der er in Dublin einst war, aber er wird dir irgendwann von Nutzen sein, wenn du ihm gewissenhaft dienst.«

Seit kurzem hatte Faithful aber neuen Grund zur Klage.

»Er lässt mich Briefe zu einem Haus bei St. Patricks bringen. Ich muss sie dort vor die Tür legen.«

»Was ist denn so schlimm daran?«

»Die Briefe sind immer versiegelt und an einen Master Clarke adressiert.«

»Und warum auch nicht?«

»Ich habe den Mann noch nie gesehen. Ich lege die Briefe nur vor die Tür. Einmal habe ich einen Nachbarn nach Master Clarke gefragt, und er hat gesagt, den kenne er überhaupt nicht. Meiner Meinung nach ist an der Sache irgendetwas faul. Am liebsten würde ich einmal warten, bis die Briefe abgeholt werden. Oder das Siegel aufbrechen und lesen, was drin steht.«

Als er das sagte, regte sich sein Vater jedoch fürchterlich auf.

»Unterstehe dich, Faithful. Das geht dich überhaupt nichts an. Und wenn wirklich etwas daran faul ist, dann ist es besser, du weißt nichts davon.« Er sah seinen Sohn eindringlich an. »Du lieferst einen Brief von Doktor Pincher vom Trinity College ab. Du weißt nichts über den Inhalt oder den Empfänger. Du machst nichts falsch. Verstehst du, was ich meine?«

»Ja, Vater.«

Und einen solchen Brief an den möglicherweise erfundenen Master Clarke legte Pincher auch heute um Punkt vier Uhr nachmittags in Faithfuls Hände und befahl ihm, ihn an den üblichen Ort zu bringen. Faithful machte sich sofort auf den Weg.

Als der junge Mann fort war, stand Pincher auf, streckte seine Glieder, schenkte sich ein Glas Wein ein und schnitt sich ein großes Stück Pastete ab. Er war mit sich und der Welt zufrieden.

Sein Besuch in Schottland war ein großer Erfolg gewesen. Er war nach Edinburgh gereist und hatte dort viele gelehrte Prediger und presbyterianische Gentlemen kennen gelernt. Diese Menschen und der Ort gefielen ihm so gut, dass er reumütig dachte: Ich hätte als junger Mann lieber hierher kommen sollen, statt nach Dublin. Schon bald wurde ihm klar, dass der großartige National Covenant, dem sich die Schotten verschworen hatten, eine mächtige Waffe war. Sollte Karl I. doch mit all seinen Truppen nach Norden marschieren. Die Schotten hatten nicht die geringste Angst vor ihm.

»Gott ist auf unserer Seite«, hatte ein Gentleman gesagt. »Und die Zahlen auch.« Es stellte sich auch heraus, dass diese Grundbesitzer in engem Briefkontakt mit einigen puritanischen Gentlemen in England standen. Dem König würde es schwerfallen, für seinen Feldzug gegen die schottischen Covenanters Unterstützung von seinen englischen Untertanen zu erhalten. Nach seiner Rückkehr war Pincher entschlossener denn je, seinen eigenen, geheimen Krieg weiterzuführen.

Das Dokument, das er gerade Faithful Tidy übergeben hatte, würde eine dritte Partei, deren Name nicht Clarke war, aufsammeln und anonym an einen Drucker übergeben. Schon in den nächsten Tagen würde es unter anderem in Dublin und der Plantation von Ulster erscheinen. Es war ein bösartiges kleines Pamphlet, ein direkter Angriff auf den Lord Deputy höchstpersönlich.

Brachte Pincher sich damit in Gefahr, falls er als Autor entlarvt wurde? Möglich. In England wurden aufwieglerischen Skribenten gelegentlich die Ohren abgeschnitten. Aber Pincher hatte schon so viele Rückschläge in seinem Leben erleiden müssen, dass ihm das eigentlich egal war. Seine Lebensmission war es, die reine Flamme des calvinistischen Glaubens zu schüren, Gottes Wort zu verkünden und das Böse in Form des Katholizismus anzugreifen. Er vermied sorgfältig jede Beleidigung des Königs selbst, aber Wentworth war angreifbar, also griff er ihn auch an.

Sein Besuch in Schottland hatte ihn mit neuem Mut erfüllt. Denn dort sah er eine mögliche Parallele zu Irland. Vielleicht konnten auch die Presbyterianer aus Ulster – die meist ohnehin Schotten waren – ein Bündnis gründen, einen Covenant wie ihre Verwandten an der gegenüberliegenden Küste. Dann würden auch andere, zum Beispiel der mächtige Earl of Cork und die Dubliner Puritaner, Druck auf die Regierung ausüben. Es wäre natürlich noch vorteilhafter, wenn Wentworth abberufen würde. Wie das zu bewerkstelligen sei und wohin es führen würde, ließ sich bis jetzt noch nicht absehen.

Aber die allgemeine Richtung war vorgegeben. Die Männer Gottes marschierten bereits, und der papistische englische König würde früher oder später nachgeben müssen.

Am selben Abend noch schrieb Simeon Pincher einen Brief an einen presbyterianischen Gentleman in Ulster, dessen Namen er in Schottland erfahren hatte. Als er fertig war, lächelte er gehässig. Diesen Brief würde er von Wentworths Postamt losschicken.

***

Zuerst hatte Anne es nicht gemerkt. Vielleicht hätte sie stutzen sollen, als Maurice sagte: »Sein Gesicht sieht irgendwie seltsam aus«, und Walter ihn schnell am Arm nahm und einwarf: »Er ist ja auch ein Neugeborenes.« Es hätte ihr auffallen müssen, aber im ersten Rausch des Glücks sah sie nur, was sie sehen wollte. Die anderen wussten es alle, aber Walter hatte entschieden, dass er selbst es ihr sagen würde, wenn sie bereit dazu war. Und er sagte es ihr sehr sanft, als er den Zeitpunkt für geeignet hielt:

»Anne, das Kind scheint … kränklich zu sein.« Er machte eine Pause. »Versehrt.«

»Versehrt? Meinst du missgebildet? Ist mein Kind missgebildet?«

»Es wird geistesschwach sein.«

Einen Moment lang weigerte sie sich, dies zu glauben, aber dann sah sie ihren Sohn aufmerksam an und begriff, dass Walter die Wahrheit sagte. Das breite Gesicht mit den schrägen Augen, der flache Hinterkopf. Die mongolisch anmutenden Gesichtszüge ließen keinen Zweifel zu. Sie kannte solche Kinder. Früher hatte man sie in manchen Ländern als Brut von Werwölfen gefürchtet und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. In Irland wurden sie meist freundlich behandelt, aber sie wuchsen nur sehr langsam heran, blieben klein und sprachen nur unbeholfen. Oft starben sie noch im Kindesalter. War ihr geliebtes Kind, das sie von O’Byrne in der wilden Schönheit der Wicklow-Berge empfangen hatte, ein Schwachsinniger? Wie war das möglich? Wie konnte so etwas geschehen?

Nachdem Walter geendet hatte, küsste er das Kind und legte es ihr in die Arme.

»Er ist ein Geschöpf Gottes, und wir werden ihn deshalb nicht weniger lieben«, sagte er leise. Das war seine Großzügigkeit, und sie musste ihm einfach dankbar sein. Aber als sie wieder alleine war, drückte sie das Baby fest an sich und weinte eine Zeit lang leise und verzweifelt. Dann überwältigte sie der leidenschaftliche Wunsch, dieses Kind zu beschützen. Das Gefühl, versagt zu haben und das Wissen um die kurze Zeitspanne, die ihrem Sohn auf Erden vergönnt war, verstärkte diesen Wunsch nur noch. Manchmal entwickelten sich solche Kinder beinahe normal. Als Walter wieder zurückkam, blickte sie beinahe trotzig zu ihm auf.

»Er ist nur nicht ganz perfekt«, sagte sie.

Sie begriff, dass Walter insgeheim wahrscheinlich ein wenig erleichtert war. Die Gegenwart eines gesunden, hübschen O’Byrne-Sprosses in seinem Haus, die ihn an seinem Lebensabend verhöhnte, wäre bestimmt keine angenehme Aussicht für ihn gewesen. Vielleicht hatte ihr Ehemann sogar auf eine Totgeburt gehofft. Dieses behinderte Kind würde ihn nicht bedrohen, besonders nicht, wenn er es mit seinem eigenen Sohn, dem gut aussehenden Maurice, verglich. Und obwohl er viel zu anständig war, um es auszusprechen, war sie sicher, dass er den Zustand des Babys als Zeichen dafür wertete, dass Gott ihren Ehebruch missbilligte. Das hätten die meisten Menschen gedacht. Ihr Ehemann war zu gütig, um dies auszusprechen, aber als Lawrence sie eine Woche nach Walters Eröffnung besuchte, erwartete sie von ihm nicht die gleiche Rücksicht. Sie war also sehr überrascht, als der Jesuit das Baby auf den Arm nahm, es ausgiebig betrachtete und dann sagte:

»Viele Ärzte berichten davon, dass meist ältere Frauen solche Kinder bekommen. Man weiß nicht, warum.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Wenn du später einen Platz suchst, an dem man sich liebevoll um ihn kümmern wird, dann kann ich dir weiterhelfen. Ich kenne eine solche Einrichtung.«

»Ich möchte lieber selbst für ihn sorgen.«

»Das musst du mit deinem Ehemann besprechen.« Er sah sie forschend an. »Anne, dein Ehemann ist ein wunderbarer Mensch. Das sage ich dir als einfacher Christ.«

»Ich weiß, Lawrence.«

»Da bin ich froh.« Gnädig ließ er es dabei bewenden.

Der Junge wurde auf den Namen Daniel getauft.

***

Maurice Smith gab seinem Vater nur selten Grund zur Sorge. Aber das hielt Walter Smith nicht davon ab, sich trotzdem Sorgen zu machen.

Walter wusste zwar, dass er in direkter Linie von den irischen O’Byrnes abstammte, dennoch hielt er sich für einen waschechten Engländer. Das irische Blut, das in ihm floss, war seiner Meinung nach wie rotes Haar, grüne Augen oder Wahnsinn etwas, das sich nur sporadisch in einzelnen Familienmitgliedern zeigte. Er verbarg es vor Anne, aber er hatte Angst, dass Maurice den Charakter seines Bruders Patrick geerbt haben könnte: gut aussehend, charmant, aber willensschwach. Als der Junge noch klein war, beobachtete er ihn deshalb genau: Wenn Maurice seiner Meinung nach Lerneifer vermissen ließ oder eine Aufgabe nur zur Hälfte erfüllte, dann sorgte er ruhig aber bestimmt dafür, dass der Junge seinen Pflichten nachkam. Der Junge schien sich gut zu entwickeln. Nur eines machte ihm Sorgen: Floss durch seine Adern nicht doch eine gewisse Wildheit? Vielleicht war es nur die überschäumende Kraft eines jeden jungen Mannes. Vielleicht aber drang auch das irische Erbe in ihm durch. Vielleicht hatte er seine Wildheit auch von den Walshs geerbt. Hatte die jahrhundertelange Nachbarschaft zu den O’Byrnes und den O’Tooles im Grenzgebiet Carrickmines die Familie beeinflusst? Vielleicht. Zwar gehörten sie zu den respektabelsten Altengländern – dieser Meinung war er jedenfalls gewesen, als er Anne geheiratet hatte –, aber seitdem war ihm klar geworden, dass sie wilde, unzuverlässige Züge trugen, die sie hinter ihrer Frömmigkeit verbargen. Hatte sich das nicht erst vor kurzem in Annes Verhalten gezeigt? Schon bevor er von der Affäre erfahren hatte, sah er also Maurices Freundschaft zu O’Byrne nicht gern, denn er hatte Angst, dem Jungen könne das irische Leben zu gut gefallen. Nur das endlose Bitten und Flehen des Jungen und der Umstand, dass er ihm den wahren Grund für seine Einwände nicht mitteilen konnte, hatten Walter schließlich so weit ausgelaugt, dass er insgeheim verzweifelt aufgab und dem Jungen erlaubte, nach Rathconan zu gehen. Und man sah ja, wozu das geführt hatte.

Als Maurice im Frühling des Jahres 1639 ankündigte, er wolle nach Rathconan reiten und O’Byrne besuchen, versuchte sein Vater, es ihm auszureden. Und als das nichts fruchtete, verbot er es ihm. »Aber er ist doch ein Freund der Familie. Onkel Orlandos Freund. Ich habe schließlich in seinem Haus gelebt«, protestierte Maurice. Aber Walter blieb unnachgiebig. Maurice wandte sich Hilfe suchend an seine Mutter. Er spürte, dass sie die Meinung seines Vaters nicht teilte, aber sie sagte nur: »Du musst deinem Vater gehorchen.«

Ende April, ungefähr zu der Zeit, als auch Doktor Pincher von seiner Reise zurückkehrte, verkündete Walter: »Ich muss werde geschäftlich nach Fingal reisen. Ich werde bei Orlando übernachten und am folgenden Abend zurückkehren.«

Anne maß der Sache keine weitere Bedeutung bei, bis sie am Morgen nach der Abreise Walters ihren Sohn dabei überraschte, wie er sich ebenfalls reisefertig machte. Als sie ihn fragte, wohin er wolle und wann er heimkäme, antwortete er, er wolle einen Freund besuchen und kehre am nächsten Tag zurück. Er wich ihrem Blick aus, also fragte sie genauer nach. Wer war dieser Freund? »Sie kennen ihn nicht«, erwiderte er, aber instinktiv wusste sie, dass das eine Lüge war. Sie bohrte weiter und sagte ihm schließlich, dass sie ihn nur gehen lassen würde, wenn er ihr die Wahrheit sagte. Also gab er zu, dass er nach Rathconan wollte. »Ich werde wieder zurück sein, bevor Vater nach Hause kommt«, sagte er. »Er wird es gar nicht merken.«

Anne starrte ihren Sohn an. Sie wusste, dass sie ihm eigentlich verbieten müsste zu gehen. Sie hatte die Pflicht, seinen Vater und ihren Mann zu unterstützen. Aber seit seinem letzten Besuch hatte sie nichts mehr von Brian gehört. Sie sehnte sich nach einer Nachricht, wenigstens einem Lebenszeichen von ihm. Wenn Maurice ihn traf, dann könnte er ihr erzählen, wie es ihm ging und vielleicht sogar eine verschlüsselte Nachricht von ihm überbringen.

»Du solltest deinem Vater gehorchen«, sagte sie schwach.

»Werden Sie mich verraten, falls ich es nicht tue?«

Jetzt machte er sie auch noch zu seiner Komplizin. Aber so würde sie wenigstens etwas von O’Byrne hören. Sie zögerte. Dann zog sie sich feige aus der Affäre. »Du musst deinem Vater gehorchen«, sagte sie. »Und wenn du das nicht tust, dann will ich nichts davon hören. Ich will es gar nicht wissen.« Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und ließ ihn allein. Ein paar Minuten später hörte sie, wie er davonritt.

Walter kehrte bereits an diesem Abend zurück. Seine Geschäfte waren gut gelaufen, und er hatte nicht bei Orlando übernachten müssen. Es dauerte nicht lange, bis er nach seinem Sohn fragte. Anne saß im Wohnzimmer, den kleinen Daniel auf dem Schoß.

»Er ist heute Morgen ausgeritten und hat mir gesagt, er käme erst morgen zurück«, sagte sie wahrheitsgemäß.

»Wo wollte er hin?«

»Er hat es mir nicht gesagt.«

»Und du hast ihn gehen lassen?«

»Ich dachte … es ginge vielleicht um ein Mädchen …«

Walter schwieg. Er wusste genau, was passiert war. Es gab nur einen Ort, den Maurice unbedingt aufsuchen wollte. Also hatte er gewartet, bis er sich hinter dem Rücken seines Vaters davonschleichen konnte. Walter war wütend über die Hinterlist seines Sohnes, aber er war vernünftig genug, einzusehen, dass Jungen solchen Unfug eben machten. Aber seine Frau? Sie wagte es tatsächlich, Unwissenheit zu heucheln? Er starrte sie anklagend an, und sie zuckte zusammen und senkte schuldbewusst den Blick. Er nickte langsam. So war das also: Sie hatte gegen seinen ausdrücklichen Wunsch gehandelt und ihren Sohn zu ihrem Liebhaber geschickt. Tiefe, dumpfe Wut stieg in ihm auf. Er sah das Baby einen schrecklichen Augenblick lang an, dann verließ er ohne ein Wort den Raum.

Als Maurice am nächsten Tag zurückkehrte, empfing ihn sein Vater gefährlich ruhig und fragte nicht einmal, wo er gewesen sei. Aber er teilte ihm mit, dass er nur mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis die Nacht außer Haus verbringen durfte und dass er ihm sein Pferd bis zum folgenden Weihnachtsfest wegnehmen würde. Dann schickte er ihn sofort in die Stadt, um für ihn Botengänge zu erledigen. Später hörte Anne von Maurice, dass O’Byrne so gesund und gut gelaunt war wie immer, und dass er irgendwann auch wieder einmal nach Dublin kommen würde.

»Bald?«

»Er hat keinen Termin genannt. Aber er schickt Ihnen seine besten Grüße.«

In den folgenden Wochen war Walter Smith sehr beschäftigt. Anne hatte den Eindruck, dass er sich irgendwie verändert hatte. Sie war sich nicht sicher, ob er tatsächlich abgenommen hatte, denn sie sah ihn nie mehr nackt. Aber er wirkte bestimmter und härter in seinen Geschäften, als ob er ein für alle Mal entschieden hätte, dass er sie nicht brauchte.

In der Zwischenzeit wartete sie auf eine Nachricht von Brian.

***

Als Wentworths Beamte Doyle baten, an einer wichtigen Kommission teilzunehmen, nahm er an, dass sie sich an seine erfolgreiche Teilnahme an den Londoner Verhandlungen über die Gnadenerweise erinnerten, die vor mehr als einem Dutzend Jahren stattgefunden hatten. »Sie gelten als zuverlässiger Protestant der Kirche von Irland«, sagte ein Beamter zu ihm. »Wahrscheinlich sollte ich das als Kompliment betrachten«, sagte Doyle kurz danach verschmitzt zu seinem Cousin Orlando. Und obwohl es ihm widerstrebte, seine Familie so lange allein zu lassen, fuhr er fort: »Es wäre sehr unklug, abzulehnen.«

So reiste er also eines Morgens im Sommer mit einer großen Gruppe aus der Dubliner Burg nach Norden ab. Er sollte fast einen Monat dort oben bleiben. Die Aufgabe der Kommission war sehr einfach: Sie sollten dafür sorgen, dass Ulster sich weiterhin ruhig verhielt.

Als König Karl mit seiner nicht gerade sehr kampflustigen Armee im späten Frühjahr die schottische Grenze erreicht hatte, trafen sie auf den erbitterten Widerstand der Covenanters. Es war zu einigen Schlachten gekommen, aber Karl I. gewann keinen Boden und rief schließlich einen Waffenstillstand aus. Die Parteien standen sich in einer Pattsituation gegenüber. In der Zwischenzeit schielte der englische Kronrat besorgt nach Ulster und stellte die nahe liegende Frage:

»Werden die Schotten in Ulster ebenfalls für Unruhe sorgen?«

Doyle war fast gegen seinen Willen beeindruckt, als sie nach Norden ritten. Die Abgesandten und ihre Entourage waren bereits eine ansehnliche Gruppe, aber zusätzlich wurden sie noch von berittenen Soldaten, Fußsoldaten und Musketieren begleitet, die beinahe eine kleine Armee bildeten. Und sie waren nicht so ungeschliffen wie das Aufgebot, das der König so erfolglos gegen Schottland eingesetzt hatte, sondern gut ausgebildete Soldaten. Als Doyle seine Bewunderung einem Beamten gegenüber zum Ausdruck brachte, lächelte der Kerl: »Ich glaube, sie werden sogar die Presbyterianer überzeugen«, antwortete er.

Als sie Ulster erreicht hatten, überraschte Doyle das Vorgehen der Kommission. Wentworth wollte den Frieden dadurch sichern, dass er die Schotten von Ulster zwang, einen Treueeid abzulegen. Das war keine neue Idee. Heinrich Viii. hatte dasselbe verlangt, als er mit dem Papst in Rom brach, und einige loyale Katholiken wie Sir Thomas More hatten ihre Ablehnung mit dem Leben bezahlt. Orlando Walsh und die anderen altenglischen Katholiken waren nur deshalb von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, weil sie sich immer noch weigerten, diesen Eid abzulegen. Auch im traditionellen Irland waren Treueeide nichts Außergewöhnliches, allerdings sicherte man sich diese Treue vernünftigerweise zusätzlich durch Geiselnahmen. Der Eid, den die Schotten ablegen sollten, hieß Oath of Abjuration. Sie mussten schwören, den mächtigen Covenant von Schottland abzulehnen und König Karl I. ihre Loyalität zusichern.

Doyle war davon ausgegangen, dass sie nur den wohlhabenden Männern und den Oberhäuptern großer Familien den Eid abnehmen würden. Aber da kannte er Wentworth schlecht:

»Mein Motto lautet Gründlichkeit.« Sie gingen in jedes Haus, auf jedes Feld, in jede Scheune. »Auch der geringste und ärmste unter den Schotten muss den Eid schwören, wenn er das sechzehnte Jahr erreicht hat«, war ihnen befohlen worden. Und diesen Befehl befolgten sie gewissenhaft.

Die meisten Schotten lebten in der östlichen Küstenregion von Ulster, aber die Abgesandten gingen überall hin, wo es Schotten gab. In jedem Gebiet teilten sie sich in kleinere Gruppen auf, die aber alle von Soldaten begleitet wurden, und arbeiteten sich von Haus zu Haus vor. Jeder Schotte, ob er nun in Irland lebte oder nur zu Besuch da war, wurde gezwungen, den Eid abzulegen. Allein Doyle ließ mehrere hundert Menschen auf eine kleine, abgewetzte Bibel schwören. Es gefiel ihnen gar nicht, sie sprachen vom »Schwarzen Eid«. Aber sie hatten keine Wahl. Nach drei Wochen dankte man Doyle und erlaubte ihm, nach Hause zurückzukehren. Aber bevor er das tat, reiste er noch ein paar Tage allein durch die Provinz.

Auf dem Heimweg unterbrach er seine Reise in Fingal, um eine Nacht bei Cousin Orlando zu verbringen.

Er genoss das gesellige Abendessen mit Orlando und seiner Frau Mary, die sich nach dem Essen verabschiedete und die beiden Cousins ihren Gesprächen überließ. Orlando war sehr interessiert an der Arbeit der Kommission, und Doyle freute sich darüber, dass er seine Gedanken mit dem intelligenten katholischen Advokaten teilen konnte. »Tragen sich die Schotten von Ulster mit dem Gedanken, einen Covenant zu bilden oder nach Schottland überzusetzen und sich ihren Verwandten anzuschließen?«, fragte Orlando.

»Das halte ich für unwahrscheinlich«, antwortete Doyle. »Natürlich herrscht reger Verkehr zwischen Ulster und Schottland. Aber die Bedingungen sind auf jeder Seite anders. Die schottischen Presbyterianer in Ulster sind eine Minderheit, die sich ruhig verhalten muss. Aber sie würden den Schotten bestimmt gern helfen und sind entzückt darüber, dass die Kirche des Königs dort eine solche Niederlage erlitten hat.«

»Ich stelle mir gerade ein Land vor, in dem nur Doktor Pinchers leben«, sagte Orlando und lächelte.

»Es waren aufrechte, stolze, fleißige Menschen. Manche hatten sich trotz der Umstände ihren beißenden Humor bewahrt. Um ehrlich zu sein, waren sie mir recht sympathisch, Orlando. Viel sympathischer als Pincher.« Er verstummte nachdenklich. »Und doch sind sie von einer Kraft durchdrungen, die Doktor Pincher fehlt. Und vor dieser Kraft habe ich Angst.«

»Mehr Angst als vor Pincher?«

»Ja. Es fällt mir schwer, das in Worte zu fassen. Pincher glaubt an seine Religion. Mir gefällt sein Glaube zwar nicht, und dich als Katholik muss er geradezu entsetzen, aber ich zweifle nicht an seiner Aufrichtigkeit. Er glaubt leidenschaftlich. Sie sind weniger streng als er, aber sie glauben nicht nur. Sie wissen.« Mit einem gequälten Lächeln zuckte er mit den Schultern. »Und mit einem Mann, der etwas weiß, lässt sich nicht streiten.«

»Aber auch ich als Katholik weiß, dass meine Kirche die wahre Kirche der Christenheit ist, Cousin Doyle.«

»Das ist wahr, aber dennoch gibt es einen Unterschied. Ihr Katholiken könnt euch nicht nur auf die apostolische Sukzession, sondern auch auf eine fünfzehnhundert Jahre alte Tradition berufen. Katholische Heilige haben Zeugnis abgelegt. Katholische Philosophen haben ihren Glauben sorgfältig untersucht, und die Kirche hat sich immer wieder von innen heraus reformiert. Die katholische Kirche ist riesig, uralt und weise, und kann sich dadurch rechtfertigen. Sie nimmt die ganze Menschheit auf, ist in vielerlei Hinsicht flexibel und von Güte und Barmherzigkeit durchdrungen.« Er grinste. »Jedenfalls hoffe ich das.«

»Ich freue mich schon auf den Tag, an dem du in ihren Schoß zurückkehrst«, sagte Orlando trocken.

»Fandest du die Schotten unfreundlich?«

»Nein. Nicht unfreundlicher als andere Menschen, die gerade bedroht werden. Es geht nicht darum, dass sie unfreundlich waren. Sie waren überzeugt. Sie wissen. Besser kann ich es nicht erklären.«

»Wenigstens herrscht da oben Friede, dafür müssen wir dankbar sein.«

Doyle nickte nachdenklich, bevor er fortfuhr. Denn es gab einen bestimmten Grund, aus dem er sich entschlossen hatte, seinen katholischen Cousin zu besuchen.

»Noch etwas, Orlando. Etwas hat mir in Ulster wirklich große Sorgen gemacht. Aber mit den Schotten hatte das nichts zu tun.«

Schon während seiner Arbeit mit der Kommission war es ihm ein- oder zweimal aufgefallen, aber erst die Ausflüge, die er vor seiner Rückkehr allein unternahm, hatten ihn nachdenklich gestimmt. Es war ihm ohne Mühe gelungen, alle wichtigen Männer von Ulster zu treffen, mit denen er sprechen wollte. Die Engländer betrachteten ihn als Vertrauensperson; die Iren wussten von seiner Verbindung zu katholischen Familien. Manche waren höflich und wachsam, andere sprachen offen mit ihm. Die Sache war niemals direkt ausgesprochen worden, aber er hatte einen sehr deutlichen Eindruck mitgenommen. Er fuhr fort:

»Ich mache mir Sorgen darüber, wie sich die Unruhe auf die Iren auswirken wird.« Orlando zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Ich spreche von den königstreuen irischen Grundbesitzern, zu denen auch Sir Phelim O’Neill und Lord Maguire gehören. Von den Erben der alten irischen Prinzen, die nach der Flucht der Grafen mit ansehen mussten, wie die Engländer ihr Land und das Land ihrer Freunde konfiszierten. Trotzdem haben sie sich mit dem neuen Regime mehr oder weniger arrangiert. Sie sitzen im irischen Parlament. Sie haben ihre Würde und ihren alten Status zumindest teilweise behalten. Ich habe mit diesen Männern gesprochen und sie beobachtet, Orlando.«

»Und was hast du herausgefunden?«

»Ich glaube, sie warten ab. Sie sehen, dass Wentworth zwar mächtig, König Karl aber schwach ist. Das haben die Schotten mit ihrem Covenant bewiesen. Außerdem sehen sie, dass die Protestanten inzwischen gegeneinander kämpfen.«

»Und welche Schlussfolgerungen ziehen sie aus ihren Beobachtungen?«

»Meiner Meinung nach zwei: Die erste und harmlosere wäre, dass sie die Schwäche des Königs dazu nutzen werden, bessere Bedingungen für sich auszuhandeln. Sie sind wahrscheinlich erfreut über die presbyterianische Rebellion in Schottland, denn dadurch werden loyale Katholiken für den König immer wichtiger.«

»Und die zweite?«

»Vor der zweiten habe ich viel mehr Angst. Sie fragen sich womöglich, warum sie nicht selbst einen Covenant gründen sollten. Einen katholischen. Vielleicht wäre der König zu schwach, um sie aufzuhalten.«

»Wentworth könnte es aber.«

»Wahrscheinlich. Aber eines Tages …«

»Wird Wentworth nicht mehr hier sein.« Orlando nickte. »Und du fragst dich, ob ich als Katholik vielleicht etwas darüber weiß. Als loyaler Katholik, wohlgemerkt.«

»Du hast es erraten.« Genau das fragte sich Cousin Doyle. Er beobachtete seinen Cousin. Der seufzte.

»Was das Erstere betrifft – den König unter Druck zu setzen, damit er seine loyalen katholischen Untertanen besser würdigt –, so habe ich schon immer gesagt: Es gibt viele irische Gentlemen, die sich um des lieben Friedens willen einer solchen Sache anschließen würden. Aber was Letzteres angeht – und du sprichst da ja von einem Aufstand wie unter Tyrone –, so sage ich dir, dass ich nichts davon gehört habe. Hand aufs Herz. Vielleicht setzen viele Iren ihre Hoffnungen auf die Zukunft in diese Möglichkeit, aber ich wäre entschieden dagegen. Die Altengländer müssen ihrem König treu bleiben. Das ist ihre wichtigste Aufgabe.«

Seine Worte trösteten Doyle ein wenig, und bald danach ging er schlafen. Aber Orlando blieb noch eine Zeit lang wach. Und als er über Doyles Worte nachdachte, reisten seine Gedanken zurück in seine Kindheit, und die Erinnerung an die uralten irischen Stammesführer stieg in ihm auf, deren Namen einen magischen Klang hatten. Ja, sie waren auf den Kontinent geflohen. Aber ihre Magie war nicht mit ihnen verschwunden, denn ihre Erben lebten weiter. Die O’Neills, die O’Mores … die Prinzen von Irland. Und während er versonnen an sie dachte, kam ihm plötzlich ein neuer Gedanke: Ich frage mich, was O’Byrne über die Sache weiß.

***

Im September kam Mary Walsh auf die Idee, Walter Smith und Anne für zwei Tage nach Fingal einzuladen. Den kleinen Daniel brachten sie mit, Maurice aber blieb zu Hause. »Er hat nun mal kein Pferd mehr«, sagte Walter trocken. »Also muss er entweder laufen oder zu Hause bleiben.« Und damit sein Sohn über das Wochenende nicht auf dumme Gedanken kam, überschüttete er ihn mit Arbeitsaufträgen.

Mary hatte schon lange ein solches Treffen arrangieren wollen. Nicht, weil sie den Smiths besonders nahestand, sondern weil sie es unnatürlich fand, dass Orlando und seine Schwester sich entzweit hatten, egal wie schändlich sich Anne benommen hatte. Mary hoffte, dass sie mit dem Besuch auch ihrer Schwägerin helfen konnte.

Die Smiths trafen am Abend ein, und die Familie setzte sich gemeinsam an den Abendbrottisch.

Besonders die zwei Männer schätzten einander offensichtlich sehr. Mary wusste, dass Orlando sich dafür verantwortlich fühlte, dass O’Byrne in Annes Leben getreten war, obwohl sie ihm gesagt hatte: »Gib dir nicht die Schuld an einer Sünde, die sie ganz allein begangen hat.« Er hatte O’Byrne während des letzten Jahres gemieden, obwohl er die Gesellschaft des Iren immer genossen hatte. Aber Mary war sich sicher, dass Walters Zuneigung zu Orlando ungebrochen war, und sie freute sich, als sie die beiden Männer zufrieden und lachend miteinander reden sah. Walter hatte sein Hemd mit Essen bekleckert, und Orlandos Spitzenmanschette war mit einem großen Weinfleck verziert.

Aber Anne bereitete ihr Sorgen. Erleichtert hatte Mary beobachtet, wie herzlich Orlando seine Schwester begrüßt hatte, und jetzt saß Anne neben ihrem Ehemann und lächelte leise. Aber sie schien weit entfernt, als läge eine große Distanz zwischen ihr und den anderen. Vor dem Essen hatte Mary sie ins Wohnzimmer gebeten und zusammen mit Anne mit dem Baby gespielt. Nach einer Weile fragte Anne die Schwägerin, ob sie den kleinen Daniel vielleicht halten wolle? Es fühlte sich wunderbar an, das warme kleine Leben in ihren Armen zu wiegen und zu spüren, wie sich das Baby an sie schmiegte.

Und als sie das breite Gesicht mit den schrägen Augen betrachtete, stieg in ihr eine schmerzvolle, wilde Sehnsucht auf, und sie dachte: Ich wäre schon unendlich froh, wenn ich ein solches Kind hätte, auch wenn es nicht ganz gesund ist.

Als Mary später mit ihrem Ehemann im Bett saß und sie über den Abend sprachen, fragte sie ihn, was er über die Ehe seiner Schwester dachte.

Sie schienen doch ganz gut miteinander zurechtzukommen, erwiderte er.

»Meinst du wirklich? Hast du nicht gesehen, wie weit weg voneinander sie am Tisch saßen?«

»Sie haben aber gelächelt.«

»Sie saßen zu weit entfernt voneinander. Sie haben sich den ganzen Abend nicht ein einziges Mal berührt.«

»Das ist mir nicht aufgefallen.« Orlando seufzte. »Du hast bestimmt Recht. Es ist sicher schwierig, dass das Kind sie jeden Tag an das erinnert, was vorgefallen ist. Meinst du, dass der Zustand des Jungen alles noch verschlimmert? Ein solches Kind wächst nur langsam und braucht sehr viel Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich macht das die Sache nur schlimmer.«

»Anne liebt das Baby über alles.«

»Ich dachte mehr an Walter.« Er warf ihr einen Blick zu. »Glaubst du, es ist möglich, dass die beiden wieder zueinander finden?«

»Ehepaare versöhnen sich oft wieder.«

»Anne müsste allerdings den ersten Schritt tun, schließlich hat sie ihn hintergangen.«

»Da stimme ich dir zu.«

»Willst du mit ihr reden, Mary?«

»Ich kenne sie nicht gut genug. Und außerdem ist sie über ein Dutzend Jahre älter als ich. Du solltest mit ihr reden.«

»Das kann ich nicht«, sagte er und schüttelte abwehrend den Kopf. »Lawrence hat es auch versucht. Und sie hat ihn angelogen.«

»Hättest du das unter den Umständen nicht auch getan?«

Er starrte sie mit ehrlicher Überraschung an.

»Nein. Ich hätte nicht gelogen.«

Sie schwieg einen Augenblick. Dann lehnte sie sich zu Orlando und küsste ihn auf die Stirn.

»Ich werde für sie beten, Orlando.« Gott weiß, wie oft ich für mich selbst bete, dachte sie. Vielleicht werden meine Gebete ja erhört, wenn sie einer anderen gelten.

»Wir müssen alle beten«, seufzte er. »Und wir werden beten, Mary.«

Am nächsten Morgen statteten die Männer dem alten Priester von Malahide einen Besuch ab. Die beiden Frauen blieben zu Hause. Obwohl Anne sich um ihren Sohn kümmern musste, blieb ihr genug Zeit, Mary und den Dienstboten in der Küche zu helfen. Mary sah, wie sehr Anne die Zeit in ihrem alten Elternhaus genoss, und sie freute sich darüber. Auch das Baby wirkte glücklich. Ein- oder zweimal im Verlauf des Vormittags war sie drauf und dran, das Thema Walter anzuschneiden, aber obwohl die zwei Frauen oft allein waren, schien der Zeitpunkt ihr nie passend, und so schwieg sie.

Das Mittagessen war ein großer Erfolg. Die beiden Männer waren glänzender Laune, es hatte ihnen große Freude gemacht, den alten Priester wiederzusehen. Die von den Frauen zubereitete Schweinshaxe wurde allseits gelobt. Während des Essens beobachtete Mary wieder, wie Walter und Anne miteinander umgingen. Sie suchte nach Anzeichen für Intimität, aber obwohl die beiden so höflich und freundlich miteinander umgingen wie immer, spürte sie doch eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen. Sie waren wie zwei Menschen, die auf verschiedenen Seiten einer Kluft nebeneinander hergingen.

Nach dem Essen machte Mary einen Vorschlag:

»Lasst uns doch zum alten Brunnen von Portmarnock spazieren«, sagte sie. Orlando sah sie überrascht an, aber Walter stimmte sofort zu. »Du solltest mitkommen, Anne«, fuhr Mary fort. »Die Köchinnen kümmern sich solange bestimmt gut um Daniel.«

Auf dem Weg nach Portmarnock gingen Mary und Walter zusammen; Orlando und Anne spazierten ein wenig vor ihnen. Sie fragte sich, ob Orlando mit seiner Schwester wohl über Walter sprach, aber sie bezweifelte es. Sie selbst wagte nicht, die Ehe ihres Schwagers direkt anzusprechen, aber sie konnte wenigstens eine Andeutung machen.

»Orlando geht immer zum heiligen Brunnen und betet dort, obwohl er nie davon erzählt.« Sie lächelte Walter traurig an. »Er betet um das Kind, das Gott uns bis jetzt versagt hat.« Sie seufzte. »Glaubst du, dass Gott den Menschen manchmal Unglück schickt, um sie zu prüfen?«

»Wahrscheinlich.«

»Aber wenn wir diese Prüfung bestehen und weiter beten, dann glaube ich, dass unsere Gebete erhört werden. Glaubst du das auch?«

»In diesem Leben? Da bin ich mir nicht sicher.«

»Ich glaube fest daran, Walter. Ganz fest. Wir wissen vielleicht nicht, wie oder wann, aber irgendwie werden unsere Gebete erhört.«

»Dann werde ich für dich beten, Mary«, sagte er mit gütigem Lächeln.

»Und ich werde für dich beten, Walter«, erwiderte sie. »Du hast so viel christliche Vergebung gezeigt. Ich will dafür beten, dass du den Respekt und das Glück bekommst, das du verdienst.« Und sanft berührte sie seinen Arm.

Er antwortete nicht, und sie wagte nicht, deutlicher zu werden. Aber kurz danach hörte sie, wie er vor sich hin murmelte: »Habe ich wirklich vergeben?«

Als sie den Brunnen erreichten, war weit und breit keine Menschenseele zu sehen.

Der Nachmittag war diesig, die Sonne drang hinter hohen Schleierwolken hervor, aber die leichte Brise war recht warm.

»Der Brunnen von St. Marnock«, verkündete Orlando. »Hier betete unser Vater oft.«

»Dieser Ort lädt zum Beten ein«, sagte Walter zustimmend.

Sie umrundeten den Brunnen schweigend und betrachteten ihn. Nachdem Orlando eine Zeit lang auf das Wasser geblickt hatte, kniete er sich schweigend an seinen gewohnten Platz und senkte den Kopf zum Gebet. Anne kniete sich etwas weniger bereitwillig ihm gegenüber, in einer steifen, aufrechten Haltung, in der sie wie eine betende Steinfigur an einer Kirche aussah. Walter zögerte einen Augenblick, dann ging er ein Stück weit hinter seiner Frau in die Knie, als wolle er ihr nicht zu nahe kommen und sie nicht stören. Mary kniete sich ein bisschen weiter weg hin, damit sie alle anderen beobachten konnte. Aber dabei betete sie auch aus tiefstem Herzen, dass Anne Smith und ihr Ehemann sich wieder versöhnen würden. So verharrten sie mehrere Minuten lang, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.

Mary hörte als Erste die Hufschläge. Überrascht sah sie auf, genau wie Anne. Kurz bevor der Reiter sie erreichte, schreckte Walter auf, und schließlich hob auch Orlando, den Rosenkranz in der Hand, widerwillig den Kopf.

Es war Maurice. Sein Gesicht war gerötet, und er wirkte aufgeregt. Er schien kaum zu bemerken, dass er sie im Gebet störte. Offenbar war es ihm auch egal.

»Ich bin vom Haus hergeritten«, schrie er. »Man sagte mir, ich würde Sie alle hier finden.«

»Ich habe dir nicht erlaubt zu reiten«, sagte Walter streng.

»Vergeben Sie mir, Vater«, rief Maurice ihm zu. »Aber das werden Sie, wenn Sie hören, was ich zu berichten habe.« Er blickte triumphierend in die Runde. »Wentworth wurde abberufen.«

Dies hatte den gewünschten Effekt.

»Wentworth wurde abberufen?«, wiederholte Orlando fassungslos. Er sah Walter an. »Das ist wirklich eine wichtige Neuigkeit.«

»Er muss nach England zurückkehren, um dem König aus seinen Schwierigkeiten zu helfen. Offenbar ist er der Einzige, dem König Karl noch vertraut. Er wird unverzüglich abreisen, das habe ich heute Morgen in der Burg gehört. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer in ganz Dublin. Vater, sehen Sie nun, dass ich hierher reiten musste, um Ihnen das zu sagen?«

»Du hast richtig gehandelt«, nickte Walter, und der junge Maurice grinste.

»Ich habe auch noch eine andere Neuigkeit zu berichten. Was glaubt ihr, wen ich zufällig auf der Straße getroffen habe? Brian O’Byrne.«

Mary sah, wie Annes Körper sich verkrampfte. Walters Gesicht war ausdruckslos. Nur Orlando reagierte:

»Und was gibt es Neues, Maurice?«

»Er wird wieder heiraten. Eine Lady aus Ulster, aus der noblen O’Neill-Familie. Eine Verwandte von Sir Phelim O’Neill. Ist das nicht eine gute Nachricht?«, strahlte er sie alle an.

Mary beobachtete Anne und sah, wie diese zusammenzuckte und dann beinahe in die Knie ging, als habe man ihr einen Schlag in den Bauch versetzt. Dann richtete sie sich wieder auf und fasste sich mit einer beinahe majestätischen Ruhe. Wie eine Nonne, die ihr Habit zurechtstreicht. Aber sie blieb stumm, und alles Blut war ihr aus dem Gesicht gewichen. Sie wirkte plötzlich so bleich und eingefallen wie ein Totenschädel. Auch die beiden Männer bemerkten es. Wieder reagierte Orlando am schnellsten.

»Eine Verwandte von Sir Phelim O’Neill?« Einer der wichtigsten Männer von Ulster.

»Das hat er gesagt.«

»Was für eine gute Partie.« Mary begriff, dass ihr Ehemann Maurices Aufmerksamkeit von Anne ablenken wollte, denn er sprach schnell weiter: »Und wer wird Wentworths Platz einnehmen?«

»Darüber habe ich nichts erfahren«, sagte Maurice. »Mutter, ist Ihnen nicht wohl? Sie sehen schrecklich blass aus.«

»Der Spaziergang hat deine Mutter erschöpft«, antwortete Walter fest. »Aber da du ein Pferd mitgebracht hast, kann deine Mutter nach Hause reiten und du läufst mit deinem Onkel und deiner Tante.«

Maurice stieg sofort ab und gab seinem Vater die Zügel.

»Lauf mit uns, Maurice«, sagte Mary. »Wir haben dich schon viel zu lange nicht mehr gesehen.« Sie und Orlando hakten den jungen Mann unter und begannen sofort den Heimweg über den kleinen Pfad. Walter und Anne blieben allein zurück.

Anne hatte sich sehr langsam erhoben. Sie wich dem Blick ihres Mannes aus und starrte an ihm vorbei.

»Ich möchte gerne zum Strand reiten«, sagte sie. »Du solltest mit den anderen gehen, ich hole euch sicher bald ein.«

»Ich warte lieber hier auf dich.«

»Vielleicht brauche ich ein wenig länger.«

»Ich werde dennoch auf dich warten.«

***

Anne ritt langsam durch die Dünen auf den offenen Sandstrand. Sie war allein dort. Langsam lenkte sie ihr Pferd nach Süden, in Richtung Ben of Howth. Draußen im Wasser glänzte die kleine Insel mit der zerklüfteten Klippe im blassen Sonnenlicht. Sie wirkte wie ein Schiff, das im Begriff war abzulegen. Anne betrachtete die Insel und dachte: Ich werde allein alt werden und sterben.

Sie ritt weiter nach Süden. Ein Brachvogel segelte über das Flachwasser, und sie hörte die Möwen schreien. Die See war ruhig, aber winzige Wellen plätscherten am Ufer. Sie sah, dass die Flut sich zurückzog. Er hat mich für immer verlassen, dachte sie. Mich und unser Kind. Er hat mich ohne ein Wort des Abschieds verlassen.

Der Schmerz war so heftig, dass sie nicht weiterreiten konnte. Sie musste absteigen und sank im Sand auf die Knie. Und dort blieb sie und hörte den Wellen zu, die mit eintönigem, immer gleichem Plätschern ins Meer zurückflossen. Ins Meer, das sich langsam zurückzog und sie verließ, genau wie das Leben selbst.

Was hatte Lawrence damals gesagt?

Heart over head,

Better dead.

Hatte er doch Recht gehabt? Ja, dachte sie, er hatte Recht. Sie sackte zusammen. Vor Schmerzen fast blind starrte sie auf die zurückweichende See und hörte die Wellen sagen: Better dead, better dead. Lieber tot. Lieber tot. Lieber tot.

***

So verharrte sie lange Zeit. Dann erhob sie sich langsam und ritt zurück zum Brunnen, wo Walter auf sie wartete.