Kapitel 15
Florenz, Donnerstagnacht, 14. November Eine Windböe rüttelte am Auto, Theresa saß zitternd auf der Rückbank. Dino lag neben ihr. Sie zog ihn zu sich, er schnaufte leise, wachte aber nicht auf. Hauptsache er lebte! Als der Anrufer sie mit seinen Drohungen gezwungen hatte, ins Auto einzusteigen, dachte sie schon, er wäre tot.
Sie sah im Rückspiegel ein dunkles Paar Augen, das sie beobachtete. Angestrengt dachte sie nach. War sie ihm nicht schon einmal begegnet? War das nicht …? Natürlich! Sie hatte sie ihn flüchtig bei Wenz gesehen, am Tag nach dem Mord in der Menschenmenge, und später wieder im Wiener Auktionshaus!
Deshalb war er ihr bei der Versteigerung bekannt vorgekommen!
Sie wagte nicht zu sprechen. Stumm fuhren sie weiter, bis er in der Nähe der Uffizien parkte. Theresa versuchte die Tür von innen zu öffnen, doch sie war verschlossen. Keine Möglichkeit zur Flucht.
Aber wie könnte sie auch den betäubten Dino mitnehmen?
Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, ließ sie den Griff los.
Der Entführer riss die Tür von außen auf und zischte: »Steig aus und komm mit! Ich trage deinen Sohn und habe dabei immer eine Waffe auf ihn gerichtet. Also denk nicht mal daran zu fliehen.«
Selbst wenn sie gewollt hätte, es wäre unmöglich gewesen. Sie war in Lähmung erstarrt. Nur langsam schaffte sie es, aus dem Wagen zu klettern. Sie gingen zu einem Hintereingang und Theresa überlegte fieberhaft, welcher der Sustermans-Experten hier in den Uffizien arbeitete. Dass er einer der Italiener sein musste, die sie angemailt hatte, war ihr inzwischen klar. Auch wenn er fast akzentfrei deutsch sprach. In ihrem Gehirn begann es zu rattern.
Mit Dino in der einen und der Pistole in der anderen Hand signalisierte er ihr, den Schlüssel aus seiner Tasche zu holen und aufzusperren. Da fünf am Bund befestigt waren, sah sie ihn fragend an.
»Der silberne. Schnell, beeil dich!«
Als sie die Tür hinter sich verschlossen hatte, befahl er ihr, die Schlüssel wieder in seine Hose zu stecken und scheuchte sie durch die langen Gänge. Diesmal hatte sie keinen Blick für die prachtvollen Wandmalereien. Ihr einziger Gedanke war, dass sie sich den Weg einprägen musste – Treppen hoch, Korridore entlang, links, rechts, links. Dann stieß er sie in eines der Zimmer, legte Dino auf ein Sofa und zischte: »Setz dich auf den Sessel!« Mit einem Seil, das er aus seiner Jackentasche zog, fesselte er sie. Ihre Hände waren hinter dem Rückenteil verschränkt und sie konnte nur noch den Kopf bewegen. Aber das Wichtigste war, dass sie gegenüber von Dino saß. Verzweifelt bemerkte sie, dass er noch immer nicht wach war.
»Was wollen Sie von uns?« Ihr gesamter Körper zitterte, sie bekam kaum Luft.
»Keine Angst, wenn du kooperierst, werde ich euch laufen lassen.«
»Natürlich werde ich kooperieren, ich bin doch sofort nach Ihrem Anruf rausgekommen.« Sie deutete mit dem Kinn zu Dino.
»Was haben Sie mit meinem Sohn gemacht?«
»Der schläft ein bisschen. Marzipan mit etwas Valium. Hat ihm gut geschmeckt. Und jetzt rede!«
»Was …« Sie stockte, kämpfte gegen ihre Tränen an. Dann sprach sie leise weiter: »Was wollen Sie wissen? Wer sind Sie überhaupt?«
»Du kennst mich nicht? Obwohl du mir geschrieben hast?« Er sah sie abschätzend an. »Ich bin Dottore Casagrande. Und ich will endlich die Information!«
Schon wieder! Angestrengt versuchte sie, ihr Gehirn auf Touren zu bringen, konnte jedoch nur daran denken, dass sie sich in einem Raum mit einem Mörder befand. Einem, der Menschen ins Gesicht schoss. Schweiß lief Theresa über die Stirn und den Rücken hinunter. Die Information hatte sie doch längst abgehakt! Er besaß das Bild, die Dokumentation, was wollte er noch? Sie musste Zeit gewinnen.
»Aber ich habe keine Informationen. Was kann ich Ihnen sagen, ich weiß nichts!«
Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und spürte, wie ihr Puls zu rasen begann. Oh nein, jetzt nicht! Zu spät – Theresa zitterte, mit jedem Herzschlag hob und senkte sich ihr gesamter Oberkörper. Das Rauschen des Blutes dröhnte in ihren Ohren. Sie musste sich nach vorne lehnen, damit es aufhörte, doch sie war zu straff an den Sessel gefesselt. Sie brauchte einen der Betablocker aus ihrer Geldbörse, aber sie wagte nicht, Casagrande danach zu fragen. Stattdessen schluchzte sie: »Was wollen Sie nur von uns?«
»Ich will wissen, wer der Empfänger ist!«, schrie er, donnerte mit der Faust auf den Tisch, den er zwischen Theresa und Dino gestellt hatte, und sprang auf. Theresa zuckte erschrocken zurück und schlug dabei mit dem Kopf gegen die Stuhllehne. Ihr Herz schlug ihr nun bis zum Hals.
»Ich brauche eine Tablette aus meiner Handtasche, sonst beruhigt sich mein Puls nicht«, flehte sie ihn an.
Er betrachtete kurz ihren zitternden Körper und fragte: »Wo sind sie? Bevor du nicht mehr reden kannst!«
»In der … der Geldbörse«, stammelte sie und dachte, dass sie gleich in Ohnmacht fallen würde.
Casagrande holte den Betablocker und schob ihn ihr in den Mund. Wie bei einem Placeboeffekt fühlte sie sofort eine leichte Entspannung.
Sie musste sich beruhigen – und ihn, dachte Theresa und schloss die Augen. Er hatte ihr gerade geholfen, also war er nicht durch und durch ein schlechter Mensch. Vielleicht konnte sie ihn in ein Gespräch verwickeln.
Sie atmete tief ein und genauso lange wieder aus. Nur wer richtig atmete, konnte auch vernünftig denken . Allmählich begann sich ihr Herzschlag zu normalisieren, das Rauschen in ihren Ohren wurde leiser, die Halsschlagader schwoll nicht mehr an. Trotzdem zitterte sie noch vor Aufregung.
Casagrande stellte sich ganz nahe vor sie hin und beugte sich zu ihrem Ohr. Sein Sakko öffnete sich und Theresa sah den Revolver, der in seinem Hosenbund steckte.
»Noch mal«, sagte er langsam und Theresa spürte Tröpfchen seines Speichels auf ihrer Wange. »Ich will wissen, wer der Empfänger ist.« Er betonte jede Silbe.
»Welcher Empfänger? Wovon sprechen Sie?«, schluchzte sie und ihre Stimme überschlug sich. Sie war ratlos und gleichzeitig panisch, weil sie ständig diese Pistole anstarren musste. Ihr Herz begann wieder zu rebellieren.
»Hör auf zu lügen! Du weißt genau, was ich suche! Ich bin dir gestern durch Florenz gefolgt.«
Gestern? Da war sie den Spuren ihrer Jugend gefolgt! Aber das durfte sie Casagrande nicht sagen, er würde noch mehr ausrasten.
»Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen!«, schluchzte sie.
»Stell dich nicht dumm, ich suche natürlich den Empfänger des Manuskripts!«
Er holte einen Sessel und setzte sich ihr gegenüber hin. Theresa bemerkte, dass sein blauer Anzug zerknittert war und Schmutz seine braunen Schuhe bedeckte. Die Garderobe hatte er auch schon in Wien getragen! Sie schüttelte den Kopf. Woran dachte sie nun wieder? Andererseits halfen ihr diese Banalitäten, den Revolver zu vergessen und sich in den Griff zu bekommen. Sie durfte jetzt nicht ausflippen, das würde Dino und sie das Leben kosten.
Theresa schluckte den letzten Rest Spucke, den sie noch im Mund hatte, und fragte Casagrande so ruhig wie möglich: »Ich weiß nicht, welches Manuskript Sie meinen. Bitte erklären Sie mir, worum es hier geht.«
Sie musste Zeit gewinnen. Aber wofür? Keiner wusste wo sie war. Das Handy, über das sie hätte geortet werden können, hatte er vor dem Palazzo aus dem Autofenster geworfen. Sie war die Einzige, die sich und Dino aus dieser Situation retten konnte. Nur war Dino betäubt und sie gefesselt! Theresa brauchte einen Plan, einen wirklich guten Plan! Er sollte reden, damit sie ihre Fluchtmöglichkeiten überdenken konnte.
»Ich habe Briefe von Galileo Galilei an Bonaventura Igowski gefunden«, sagte ihr Entführer.
Jetzt verstand Theresa. »Oh, mein Gott«, murmelte sie. »Flora hatte recht, ein Geheimbund.«
»Kein Geheimbund! Ich – ich alleine suche dieses Bild, seit ich 17 bin.«
Theresa sah ihn überrascht an. »Wieso?«
Casagrande sah sie lange schweigend an. Schließlich entschloss er sich zu erzählen. »Vor 45 Jahren habe ich Briefe entdeckt. Sehr alte Briefe. In einem Möbelstück vom Sperrmüll, damals konnte ich mir nichts Besseres leisten. Aber das ist eine andere Geschichte.«
Er lachte kurz auf. »13 Briefe, fein säuberlich in einer Ledertasche verpackt, sodass sie die Zeit fast unbeschadet überstanden haben.
Ich ahnte sofort, dass Galilei sie geschrieben hatte. Sie allein wären ein Vermögen wert gewesen. Aber in den Briefen erzählte er von einem Manuskript, das er an der Inquisition vorbeigeschmuggelt hat. Ein Manuskript, das bis heute noch nicht gefunden wurde, hundertmal so wertvoll wie die Briefe und eine absolute Sensation.
Ich wäre auf einen Schlag berühmt gewesen!«
Casagrande verstummte. Er sah sich wieder bei diesem riesigen Gerümpelhaufen stehen, auf der Suche nach etwas Brauchbarem.
Seine Mutter hatte ihn aus dem Haus geworfen, sein Vater saß bereits eine Ewigkeit im Gefängnis. Er kam bei einem Freund unter, der ihm einen kleinen Kellerraum zur Verfügung stellte – ein Loch, aus dem er so bald wie möglich verschwinden wollte. Dann hielt er diese Briefe in den Händen und wusste, sie waren seine einzige Chance, dem ganzen Dreck zu entfliehen. Er verließ seinen vorgezeichneten Weg, der über Drogenhandel, Diebstahl und Körperverletzung direkt in die Nachbarzelle seines Vaters geführt hätte, und konzentrierte sich nur noch darauf, mehr über das Manuskript zu erfahren. Er schuftete nachts in Lagerhallen, um tagsüber zu studieren. Natürlich war es nicht immer ohne die Hilfe seiner alten Freunde und einiger Diebstähle gegangen, aber schließlich hatte er den Ausstieg geschafft und war Dottore Casagrande geworden – der Dottore mit den besten Verbindungen zu Dieben und Hehlern. Er erinnerte sich an das unglaublich erhebende Gefühl, als er sein Abschlussdiplom überreicht bekommen hatte.
Casagrande wandte sich wieder an Theresa und berichtete weiter, wie er kurz nach dem Studium endlich entdeckt hatte, dass der Adressat Bonaventura Igowski sein musste.
Galileo hatte es zuvor zweimal geschafft, Schriften aus Arcetri zu schmuggeln: Einmal sorgte der Anwalt Elia Diodati dafür, dass der ›Dialog‹ in Holland verlegt wurde, später übergab Galileo ein weiteres Werk an den Grafen von Noailles. Dies alles war belegt, aber das dritte Manuskript, von dem er in den Briefen geschrieben hatte, war bis heute nicht aufgetaucht.
Casagrande machte eine kurze Pause, weil Dino murmelte und sich auf der Bank wälzte.
Theresa wusste nicht, ob sie sich wünschen sollte, dass ihr Sohn endlich aufwachte oder weiterschlief. Mit einem schlafenden Kind war es unmöglich, an Flucht zu denken, aber sie wollte auch nicht, dass er seine Mutter gefesselt sehen musste.
»Leider verschwieg Galileo in seinen Briefen, an wen er das Manuskript geschickt hatte«, fuhr Casagrande fort und hatte wieder Theresas volle Aufmerksamkeit. »Er erwähnte jedoch, dass ein versteckter Hinweis mit dem Gemälde, das Sustermans gemalt hatte, an Bonaventura übermittelt wurde. Diese Vorsichtsmaßnahme hatte er getroffen, weil immer wieder Briefe von der Inquisition abgefangen worden waren. Meist schmuggelte seine Putzfrau Maddalena die Briefe aus dem Haus, denn die Herren der Inquisition griffen einer fast 80-Jährigen nicht mehr unter die Röcke.«
Theresas Kopf schmerzte. Die Aufregung, der Betablocker und nun diese Flut an Informationen. Unglaublich, dass sie die ganze Zeit einer Originalhandschrift von Galileo Galilei auf der Spur gewesen waren!
»Als Igowski das Bild erhielt, war er bereits schwer krank. Er konnte das Manuskript nicht mehr abholen und veröffentlichen lassen. Galileos Briefe hatte er aus Angst vor der Inquisition gut versteckt. So wurde das Gemälde, von dessen wirklichem Wert die Kinder nichts wussten, durch die Generationen weitervererbt.«
Bis die letzte Fürstin Igowski ohne Nachkommen gestorben war und Ambrosius es unglückseligerweise gekauft hatte, dachte Theresa. Boris hatte mit seiner Theorie recht gehabt.
Die ›Krönung‹ war seit Jahrhunderten im Familienbesitz gewesen.
Nur bei der Bedeutung des Werkes hatten sie sich getäuscht.
Darüber zu sinnieren, war jetzt jedoch nicht die Zeit. Sie betrachtete Dino. Ihr wollte einfach kein Fluchtplan einfallen.
Casagrande, der die Geschichte vermutlich jahrzehntelang mit sich herumgetragen hatte, war nicht zu stoppen. Er stand auf, ging zum Fenster und betrachtete den Vollmond.
»Du verstehst, dass diese Briefe seither mein Leben bestimmt haben. Ich folgte den Spuren Sustermans’ und den Spuren der Igowskis. In Österreich verlor ich sie, weil ich erst zehn Jahre nach dem Tod der letzten Fürstin nach Pöllau gekommen bin. Dort konnte ich das Bild nicht mehr finden.«
Und er war bei der Suche nicht gerade zimperlich vorgegangen, dachte Theresa. Sie sah wieder das unscharfe Zeitungsfoto der Ilse Dreiseitl vor sich.
»Ich begann, den Kunstmarkt in Österreich zu beobachten, lernte Deutsch, um einen Händler nach dem anderen zu befragen.
Ende der 90er-Jahre gab ich auf. Es war zu frustrierend, immer wieder in eine Sackgasse zu laufen. Und plötzlich …« Er lachte, drehte sich zu Theresa und stellte sich so nah vor sie, sodass sie die hellbraunen Sprenkel in seinen fast schwarzen Augen erkennen konnte. »Plötzlich wird mir mit deiner Mail das Bild auf dem Silbertablett serviert. Ich bin noch am selben Tag nach Wien gefahren.«
Dino schnaufte laut, begann sich zu strecken, schlief aber weiter.
Theresa schloss die Augen und versuchte, endlich an einem Fluchtplan zu arbeiten, doch Casagrande stellte sich hinter sie, nahm die Lehne und kippte den Sessel – eine bedrohliche Geste, die ihr den Atem verschlug.
»Aus den Briefen geht hervor«, zischte er in ihr Ohr, »dass der Empfänger aus der Darstellung ersichtlich wird. Hast du etwas entfernt oder übermalt?«
»Nein, ganz sicher nicht.« Theresa schüttelte den Kopf und versuchte, sich zu ihm umzudrehen. Würde er ihr glauben, dass sie nicht wusste, wer der Empfänger war?
Casagrande wurde ungehalten, ließ den Sessel los, der mit einem lauten Knall vorne aufsetzte, und ging zu Dino. »Jetzt stehe ich kurz vor der Lösung und du willst nicht reden! Ich habe keine Zeit mehr!« Er griff in seinen Hosenbund und holte den Revolver hervor. »Wenn du mir nicht sofort die Wahrheit sagst, erschieße ich ihn!«
Theresa schrie auf, als er die Pistole an Dinos Kopf hielt.
»Nein bitte, ich weiß es nicht! Ich weiß nicht, welche Information Sie von mir wollen. Tun Sie ihm nichts! Vielleicht wurde das, was Sie suchen, von den Restauratoren in den letzten Jahrhunderten wegretuschiert oder übermalt.«
Tränen rannen unkontrolliert über ihr Gesicht, sie zermarterte sich das Hirn, was sie ihm noch sagen könnte. Ihr fiel ein, dass Paul erzählt hatte, bei der ›Mona Lisa‹ seien Augenbrauen und Wimpern verschwunden. Vielleicht waren auch bei Sustermans die Pigmente am Verbleichen der Information schuld. Würden schlechte Farben Dino und sie das Leben kosten?
»Haben Sie es mit einer Spektralkamera versucht, da werden Untermalungen sichtbar«, keuchte sie.
»Dazu hätte ich das Bild nach Paris bringen müssen, das war mir zu gefährlich. Und dann bist du mir ohnehin mit deiner Florenzreise entgegengekommen.«
»Woher wussten Sie davon?« Wieder ging ihr der Gedanke durch den Kopf, dass es notwendig war, Casagrande in ein Gespräch zu verwickeln. Sie musste ihn dazu bringen, die Pistole wegzustecken.
»Stupida!« Abschätzend betrachtete er sie, nahm die Pistole von Dinos Kopf und zielte auf Theresa. »Das hast du alles bei deinen Telefonaten erzählt.« Er schnaubte. »Du kannst dir ja denken, dass ich es war, der dich verwanzt hat. Auch da hast du es mir leicht gemacht – immerhin lag dein Handy tagelang unbeachtet auf dem Rücksitz deines Autos. Es wäre so einfach gewesen, das Bild beim Restaurator zu stehlen! Dass mir dieser Stronzo Schlager dazwischenkam, hat mich eine ganze Woche gekostet! Bis ich endlich seinen Namen herausgefunden hatte! Gut, dass ich viele Hehler in Wien kenne – es war nicht schwer, einen Sustermans zu finden, der auf den Markt sollte. Dieser Idiot hatte den Namen auf der Rückseite entdeckt und sofort Gott und die Welt angerufen.«
Er hatte schneller als die Polizei ermittelt, dachte Theresa. Sie bemerkte, wie Casagrande immer zorniger wurde. Südländisches Temperament oder schon Wahnsinn? Er sah sie lange an, hustete und richtete die Pistole wieder auf Dino. »Also, Amore, rette dein Bambino.«
»Da waren Namen im UV-Licht zu erkennen …«, stammelte Theresa.
»Natürlich, diese Information habe ich in der Dokumentation des Restaurators gefunden. Aber sollen etwa Kepler, Kopernikus oder Brahe die Empfänger sein? Ich bin doch nicht blöd, die waren längst tot, als das Gemälde fertiggestellt wurde! Und das wird dein Bambino auch bald sein, wenn du nicht mit der Sprache herausrückst.«
»Nein, ich meine nicht Kepler oder Brahe als Individuen, sondern als Gemeinschaft, vielleicht ist das Manuskript in einem …«, sie schluchzte, ihr fielen vor lauter Aufregung die Worte nicht mehr ein, »in einem … Helfen Sie mir, wo beobachtet man die Sterne?« In ihrer Verzweiflung ratterten die Regenbogenmaschine und ein Astrolabium durch ihren Kopf, sie konnte nicht mehr klar denken. Astronomen, Sterne, Planeten …
»Planetarium!«, schrie sie. »Vielleicht hat er das Buch an eine Gruppe von Astronomen in Florenz geschickt. Und es ist noch immer dort … Ich weiß es doch nicht.«
»Unsinn! Diese Namen bringen rein gar nichts. Ich habe alles abgewogen! Und es existierte damals in Florenz kein Observatorium. Nein, nein, da muss es noch jemanden geben.«
Theresa suchte verzweifelt nach einer anderen Lösung. Ihr Blut begann wieder durch ihre Adern zu schießen, mühsam presste sie hervor: »Das Bild ist doubliert, vielleicht steht auf der Rückseite der Originalleinwand der Empfänger?«
»Das wäre im UV-Licht erschienen. Ich habe den Keilrahmen untersucht, die Leinwand vom Holz abgenommen, das Innere überprüft – nichts. Und jetzt reicht es langsam! Sprich oder dein Sohn lebt nicht mehr lange!« Casagrande sah den Jungen an und legte den Kopf schief »Dino – so ein schöner italienischer Name und jetzt muss er sterben.«
Er fuhr mit dem Lauf über Dinos Schläfe, als wolle er ihn streicheln, und spannte die Pistole. Das Geräusch des klickenden Hebels entfachte ein Feuerwerk in Theresas Gehirn. Informationen rasten durch die Nervenbahnen, blitzten, knackten, veränderten die Farbe, Bilder erschienen. Alle Recherchen der letzten Tage leuchteten in Sekundenschnelle in ihrem Kopf auf, einige heller, andere dunkler: Sie sah Flora die ›Krönung‹ von der Wand holen, den Zettel auf der Bildrückseite. Internetseiten liefen vor ihrem inneren Auge ab, sie wusste, nur die richtige Antwort würde Dino jetzt noch retten. Auf einmal sah sie ihn vor sich – mit flammenden Buchstaben erstrahlte ein Name. Und er war nicht auf dem Gemälde gestanden!
»Dimucci!«, schrie sie – so laut und ansatzlos, dass Casagrande erschrak.
»Dimucci?«
»Ja!« Sie verschluckte sich fast an ihren Tränen. »Auf dem Bilderrahmen, den der Einbrecher im Atelier zurückgelassen hatte, habe ich eingeritzte Zeichen bemerkt. Anfangs dachte ich, es sei eine römische Jahreszahl, es ist aber bestimmt der Name des Empfängers.«
Er musste es sein! Bitte lass mich recht haben, bitte lass mich Dino gerettet haben! Theresa sah zu ihrem Sohn und hoffte, dass der Wahnsinnige das Valium nicht überdosiert hatte.
Casagrande nahm die Pistole von Dinos Kopf und überlegte kurz. »Der Rahmen … Daran hätte ich auch denken können!
Allerdings gab es keinen Dimucci. Ich kenne die Namen aller Florentiner aus dieser Zeit.« Er starrte Theresa an. »Sonst nichts?«
»Nein, aber ich konnte die Einkerbungen nicht genau untersuchen, weil die Polizei anwesend war. Vielleicht stand dahinter oder davor noch etwas. Es könnte auch ›Dinucci‹ sein. Ob N oder M war nicht zu erkennen …«
Casagrande hob unwirsch den Arm. »Ruhig. Ich muss denken. Di Nucci, Dinucci, Dino Ucci …« Er stockte. » Bal dinucci! Es kann nur Baldinucci sein!« Ein Strahlen ging über sein Gesicht. »Filippo Baldinucci, der Kurator der Uffizien! Dem alten Jesuiten hat Galileo also die Bibel mit dem Manuskript geschickt! Aber wo …«
Theresa konnte nicht anders und fragte: »Ich dachte, Baldinucci war verheiratet und hatte Kinder?«
Casagrande sah sie verwundert an. »Du kennst dich aus?«
»Wir haben in den letzten Tagen viel recherchiert. Aber nur, um zu erfahren, wer das Bild gemalt hat«, antwortete Theresa zitternd.
»Baldinucci wollte ursprünglich Jesuit werden, entschied sich dann jedoch anders. Drei seiner Kinder wurden Geistliche.«
Casagrande stand wieder auf, legte seine Pistole auf den Tisch und sah aus dem Fenster. »Also gut, wenn der gläubige Baldinucci eine Bibel geschenkt bekommt, was macht er damit?«
»Vielleicht …«
»Ruhe! Dich habe ich nicht gefragt, ich denke nur laut.«
Theresa verstummte und versuchte verzweifelt, an ihrem Fluchtplan zu arbeiten, allerdings versagte ihr Hirn noch immer seinen Dienst.
Casagrande verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging durchs Zimmer. »Sie ist wahrscheinlich in der Bibliothek der Uffizien, bei der religiösen Literatur. Nein, bei den Inkunabeln«, stöhnte er. »Aber das habe ich bereits alles untersucht. Jede Bibel in jeder italienischen Bibliothek habe ich durchgesehen, jede Bibel ersteigert, die es am Markt gab. Baldinucci, wohin hast du Gottes und Galileos Wort gegeben?« Er drehte sich zu Theresa. »Stand sonst nichts auf dem Rahmen?«
»Nein, ich konnte nur ›Dinucci‹ erkennen. Ich schwöre.«
»Ohne Bibel brauche ich keinen Schwur.« Er ging weiter im Zimmer auf und ab. Schließlich setzte er sich auf seinen Sessel und blickte stumm ins Leere.
Dino streckte einen Arm von sich und rekelte sich schlaftrunken.
Endlich!
»Ich hab’s!« Casagrande sprang vom Sessel. »Der Nachlass von Filippo Baldinucci wurde auf die Söhne verteilt. Bestimmt erhielt einer der Priester die Bibel. Genau dort muss ich suchen!«
Theresa sah ihn zum ersten Mal lächeln. Sie atmete erleichtert auf.
»Darf ich was sagen? Wenn Baldinucci so gläubig war, hat er die Bibel doch sicherlich gelesen, oder?«
Casagrande erstarrte.
›Halte den Mund, du blöde Kuh!‹, dachte sie sich im selben Moment, aber es war zu spät. Verflucht, wieso konnte sie nie still sein? Wie Flora!
»Dann hat er das Manuskript gefunden. Was macht ein gläubiger Christ damit?«, überlegte Casagrande.
»Der Inquisition übergeben?«, wagte Theresa zu flüstern und versuchte ihre klammen, abgeschnürten Finger zu bewegen. Wenn nicht bald etwas passierte, würden sie absterben, dachte sie.
»Der Inquisition?«, donnerte Casagrande. »Um Galileo und sich selbst den Henkern auszuliefern? Niemals! Eher hätte er alles zerstört.«
Theresa beobachtete, wie er unter der Last dieser Vorstellung förmlich implodierte und sein Körper erbebte.
»Nein, das kann nicht sein. Baldinucci hat es sicher nicht vernichtet.« Theresa überlegte angestrengt, wie sie argumentieren sollte, bevor sie fortfuhr: »Jeder Mensch würde eine Handschrift von Galileo hüten wie einen Schatz.«
Sie versuchte wieder ihre Fesseln zu lockern und stöhnte laut auf, weil sie sich wund gescheuert hatte. In diesem Augenblick öffnete Dino seine Augen und starrte Theresa verwirrt an. Sie signalisierte ihm, so gut sie es ohne Hände konnte, still zu sein. Ein nervendes Kind hätte Casagrande noch mehr in Rage gebracht.
Glücklicherweise nickte ihr Sohn und drehte sich zur Wand.
»Ja, heute würden wir es hüten! Aber vor 350 Jahren? Als der Scheiterhaufen drohte? Wie konnte Galileo das Manuskript nur an Baldinucci schicken, dieser Idiot. Idiota!« Er schlug sich auf die Stirn und seine dunklen Augen funkelten Theresa zornig an.
Wenn er jetzt durchdreht, sind wir tot, schoss es ihr durch den Kopf. Was hatte er noch zu verlieren? Zwei Morde hatte er schon begangen.
Ohne uns würde er vielleicht ungeschoren davonkommen. Sie musste ihn wieder auf eine Fährte bringen, seinen Glauben an das Manuskript stärken.
Theresa begann, um ihr Leben zu reden: »Baldinucci war zwar ein frommer Mann, aber viel mehr war er ein Erneuerer! Er war Kurator der Medici, er hatte Ehrfurcht vor den Künstlern! Er musste auch Ehrfurcht vor Forschern gehabt haben. Galileo war trotz Kirchenbann ein gefeierter, berühmter Mann. Nicht umsonst hing sein Porträt in den Uffizien«, keuchte sie. »Niemals hätte Baldinucci das Werk eines dieser Männer, dieser uomini famosi, zerstört. Er glaubte an die göttliche Inspiration. Keine Erkenntnis der Wissenschaft ist ohne göttliche Inspiration möglich. Er hätte die Bibel nicht zerstört. Niemals! Nein!«
In ihrem Gehirn hämmerte es. Er musste überzeugt werden, musste mit ihr auf die Suche nach diesem Manuskript gehen, damit sie Zeit gewann. Sollte sie Italienisch sprechen? Vielleicht beruhigte ihn das.
Er sah sie durchdringend an. Sie spürte, dass er ihr glaubte, dass er ihr glauben wollte. Seine Gesichtszüge entspannten sich.
Theresa setzte erneut an »Io … io credo …«
Ja, was glaubte sie? Göttliche Inspiration – wo war sie, wenn man sie brauchte! »Io credo che …«, stammelte Theresa und verstummte.
»Si, dimmi! Sag’s mir!«, rief Casagrande so laut, dass Dino zusammenzuckte.
Er rührte sich jedoch nicht und sagte kein Wort. Kluger kleiner Kerl. Theresa zermarterte sich ihr Hirn. Wohin konnte sie Casagrande schicken? Ihr fiel nichts ein. Das bedeutete Dinos und ihren Tod! Sie sah Leon vor einem ausgehobenen großen Grab stehen, aus dem Grab stiegen Planeten, sie begannen um Leons Kopf zu kreisen … Planeten – natürlich, Galileos Grab!
»Credo che troveremo il manoscritto nella Chiesa Santa Croce.«
»In der Kirche? Santa Croce?«, fragte Casagrande überrascht.
Doch ihm schien etwas zu dämmern. Er grinste, sah ihr tief in die Augen und zog sein Lid mit dem Finger nach unten. »Sei furba! Du bist schlau.«
Theresa entspannte sich. Zum Glück war ihr das Grab eingefallen! Galileo war schon ziemlich alt gewesen, als Sustermans das Porträt von ihm gemalt hatte. Der Briefwechsel und der Versand der Bibel an Baldinucci mussten also kurz vor seinem Tod stattgefunden haben. Und was hätte jemand getan, der das geistige Schaffen eines Mannes zwar hoch schätzte, aber nicht Gefahr laufen wollte, in die Fänge der Inquisition zu geraten? Er hätte es zurückgegeben – zurück an Galileo.
»Gut, wir sehen nach.«
Fast euphorisch begann Casagrande, Theresas Fesseln aufzuschneiden. Als sie spürte, wie das Blut wieder in ihre Fingerspitzen strömte, atmete sie auf. War sie jetzt in seinen Augen eine Komplizin, weil sie ihn auf diese Spur gebracht hatte? Umso besser, damit gewann sie Zeit.
Casagrande zog Dino vom Sofa hoch und schob ihn zu Theresa.
»Sag ihm, er soll ruhig sein und uns folgen, dann passiert ihm nichts.«
Theresa ergriff Dino an den Oberarmen, hockte sich zu ihm und versuchte so gelassen wie möglich zu wirken. Ihre Nervosität würde sofort auf ihn überspringen. Doch inzwischen hatte der Betablocker seine Wirkung getan und die Aussicht, hier rauszukommen, beruhigte sie. »Du hast verstanden?«, sagte sie leise und eindringlich. »Wir sind auf Schatzsuche und machen genau das, was der Herr sagt.«
»Okay«, antwortete Dino noch etwas verschlafen und nahm die Hand seiner Mutter. Die Wärme seiner Finger schmerzte sie, verlieh ihr aber auch Kraft. Was sollten sie jetzt tun? Am besten das, was Casagrande verlangte. Der Weg zu Santa Croce war weit, da konnte viel geschehen. Sie musste weiter daran arbeiten, dass er ihr vertraute – und nicht zu früh einen Fluchtversuch starten.
Casagrande schob sie aus dem Raum und deutete ihnen, bis zum Ende des Flurs zu gehen. In diesem Moment hörten sie die Polizeisirenen.
»Ma, che cazzo!« Casagrande stürmte zurück, um aus dem Fenster zu sehen.
Theresa hatte eine Zehntelsekunde Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Sie packte Dino und rannte den Gang entlang. Als sie Casagrande hinter sich schreien hörte, lief sie in das nächste Zimmer und versperrte die Tür. Schnaufend blickte sie sich um – Sackgasse! Sie hastete zum Fenster und öffnete es. Zweiter Stock!
In einiger Entfernung war am Wandvorsprung ein dickes Seil für ein Transparent zum gegenüberliegenden Balkon gespannt. Ein Gedanke blitzte auf.
Casagrande hämmerte von draußen gegen die Tür. Theresa hoffte, dass das Schloss zu massiv war, um es mit einem Schuss zu zerstören. In diesem Moment entdeckte sie einen weiteren kleinen Eingang an der Seite, der sich nicht verschließen ließ. Keuchend schob sie gemeinsam mit Dino einen Tisch und einen kleinen Schrank davor. Wenn er sich in diesen Räumen auskannte, und das nahm sie an, wäre er bald hier. Ihre Barrikade würde Casagrande höchstens fünf Minuten aufhalten. Es half nichts, sie mussten hinaus.
Der starke Wind hatte sich gelegt, sodass das Seil wenigstens nicht schwankte. Der kleine Balkon auf der anderen Seite war aus massivem Stein, hinter seiner Balustrade waren sie vor Schüssen geschützt – wenn sie es bis dorthin schaffen würden.
»Dino, mein Schatz, bist du schon ganz wach?«
Er nickte und lächelte sie an. Ihr Herz krampfte sich zusammen.
Dieses Vertrauen in seinen Augen. Er würde alles tun, was sie sagte. Theresa wusste, dass er diesen Balanceakt unter normalen Umständen schaffen würde. Aber jetzt? Sie hoffte, dass das Valium schon so weit abgebaut war, dass es seiner Konzentration nicht mehr schadete. Aber er schien hellwach zu sein.
»Erinnerst du dich an die Übungen auf der Slackline? Genau das machen wir jetzt! Vorsichtig!«
Wieder nickte er.
Würde sie ihn in den Tod schicken? Doch es gab keinen anderen Ausweg. Sie hatte die Wahl zwischen dem Seil oder einem zerschossenen Kopf.
Sie bemerkte ihre zitternde Hand und stöhnte leise. Dann stieg sie auf den Fenstersims, zog Dino nach und drückte ihn fest an sich.
Sie küsste ihn auf die Wange. »Wir müssen da hinüber. Du kannst das.«
»Ich weiß. Wenn du da bist, habe ich keine Angst. Du hast mir versprochen, dass mir nichts passieren wird«, erwiderte Dino und machte vertrauensvoll den ersten Schritt auf das Seil.
Tränen schossen in Theresas Augen. Was war sie nur für eine Lügnerin! Sie hatte versagt, sie hätte ihn beschützen müssen. Es war ihre Schuld, dass er in dieser Situation steckte! Verstohlen wischte sie sich über die Augen, um ihren Sohn nicht zu verunsichern.
Langsam setzte Dino einen Fuß vor den anderen – tapfer, unerschrocken. Seine unbekümmerte Art, etwas anzugehen, ohne an die möglichen Konsequenzen zu denken, beruhigte sie. Er ging seinen Weg. Wie sie dieses Kind liebte!
Nun stand sie allein auf dem Sims und schaute in die Tiefe. Sie hatte die Uffizien nicht so hoch in Erinnerung. Das Adrenalin pochte in ihren Schläfen. Wie viel Zeit blieb ihr noch? Hörte sie da bereits seine Schritte im Zimmer nebenan?
Sie sah auf die andere Seite. Dino würde es schaffen, er war kurz davor anzukommen. Tief einatmen, ausatmen – sie brauchte inneres und äußeres Gleichgewicht. Jetzt wäre Shavasana optimal.
Aber dafür hatte sie weder Platz noch Zeit. Zudem war die Totenstellung das Letzte, woran sie gerade denken wollte.
Theresa hörte ihn näher kommen und begann zu balancieren.
Hastig blickte sie zu ihrem Sohn – er war drüben angekommen!
Gott sei Dank! … Gott sei Dank? Sie schnaubte verächtlich und musste plötzlich an den Freund ihres Vaters denken, der in Lourdes von einem Kreuz erschlagen worden war. Seine Geschichte ließ sie stark an der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen zweifeln …
Himmel! Wieso hatte sie plötzlich so irre Gedanken? Aber dachte man in höchster Not nicht instinktiv an Gott? Flehte um seine Hilfe?
Wer mochte der Schutzheilige der Seiltänzer sein, der nebenbei auch noch Kugeln abfangen konnte?
Als sich ihre Nackenhärchen aufstellten, wusste sie, dass Casagrande hinter ihr ans Fenster getreten war. Sie spürte, wie er auf sie zielte. Auf der Straße nahm sie Bewegungen wahr, mahnte sich aber, nicht nach unten zu sehen, und ging langsam weiter.
Ein Schuss zerriss die angespannte Stille. Alarmiert blickte Theresa nach vorne zu ihrem Sohn, der sich gerade auf dem kleinen Steinbalkon niederkauerte. Er schien nicht getroffen zu sein.
Wieder spürte sie Tränen aufsteigen. Sie schluckte sie hinunter und machte vorsichtig den nächsten Schritt. War sie getroffen? Doch wo blieb der Schmerz? Unterdrückten die Endorphine jedes Gefühl?
Oder war Casagrande so ein verdammt schlechter Schütze? Warum versuchte er nicht zu fliehen? Himmel Herrgott noch mal! Und wo war der überhaupt, wenn man ihn dringend brauchte?
Sie wackelte unsicher, ruderte mit den Armen und konnte sich im letzten Moment fangen. Der Vollmond schien sie auszulachen, wenigstens beleuchtete er ihren Weg. War das nicht Leon, der da rief?
Ein zweiter Schuss fiel und sie spürte noch immer keinen Schmerz. Die Lichter eines Wagens, der um die Ecke schoss, und neben lauter kleinen Polizeiautos stehen blieb, irritierten sie. Nicht nach unten schauen! Benommen starrte sie stur geradeaus und redete sich ein, nur 15 Zentimeter über dem Boden zu schweben.
Genau wie zu Hause. Alles war gut! Wann kam der nächste Schuss?
Nur noch drei Meter!
Wieder blickte sie zu ihrem Sohn, dessen Haare über der Balustrade hervorlugten. Dahinter öffnete sich die Balkontür und helfende Hände zogen Dino in die Wohnung. Theresa atmete erleichtert aus, die Spannung verließ ihren Körper und im selben Moment fiel sie. War dies der legendäre Augenblick, in dem das Leben an einem vorüberzog? Doch da war nichts – außer Schmerz und Dunkelheit.
Flora sah aus dem Polizeiauto Theresa wie in Zeitlupe fallen. Das durfte nicht wahr ein, das ist alles nur ein böser Traum, bitte lass mich aufwachen, flehte sie. Doch sie war wach, sie hörte Paul neben sich schreien. Flora riss die Tür des langsamer werdenden Wagens auf, ignorierte die italienischen Flüche des Fahrers und hetzte über den Platz. Paul rannte hinter ihr her. Er schrie noch immer, aber sie verstand kein Wort. Sie sah nur Thesi da liegen – Thesi, die sich nicht mehr rührte. Flora fühlte sich wie eine Versagerin. Wieder war sie nicht da gewesen, als Thesi sie gebraucht hatte. Sie war schuld, dass ihre beste Freundin tot war.
Als Theresa zu sich kam, hatte sie Mühe, sich zu orientieren. Wo war sie, was war geschehen? Den italienischen Wortschwall, der von allen Seiten auf sie einbrach, versuchte sie auszublenden. Und endlich hörte sie Leons Stimme, diesmal ganz deutlich.
»Schatz, alles in Ordnung?«
Er lief auf sie zu. Aus der anderen Richtung kamen Paul und Flora, Boris trug Dino im Arm, der stolz grinste. Erleichtert versuchte Theresa sich zu bewegen, doch ihr ganzer Körper schmerzte wie verrückt. Sie fühlte etwas Weiches unter sich und schaute auf den Boden.
Das Luftkissen, das ihren Sturz hätte abfedern sollen, war anscheinend nicht fertig aufgeblasen gewesen. Es hatte zwar den Aufprall gebremst, doch ihre rechte Hand war irgendwie komisch verdreht. Aber sie lebte, und was noch wichtiger war: Dino lebte!
»Ich danke euch. Wie habt ihr so schnell die Polizei und die Rettung organisiert?«, fragte Theresa und versuchte die tausend Nadelstiche in ihrem Körper zu ignorieren.
Verlegen sah Leon sie an. »Und die GIS, die italienische Spezialeinheit für Geiselbefreiungen. Aber das waren Renzo und Francesco.«
»Francesco? Wie kommst du …«
»Sei mir nicht böse, aber ich habe mitbekommen, dass dein Ex sich immer wieder bei dir gemeldet hat. Darum habe ich ihn gegoogelt und alle Infos über ihn gesammelt. Er arbeitet im Innenministerium, und so habe ich ihn nach deiner Entführung um Hilfe gebeten. Für den Fall, dass wir Renzo nicht erreichen würden.« Er stockte kurz. »Nur mit seiner Hilfe konnten wir dich so schnell finden. Da hinten steht er übrigens.«
Sie schaute zu Francesco, der in einem Hauseingang lehnte, eine Zigarette rauchte und mit einem der Beamten sprach. Er war kaum zu erkennen.
»Gut, da soll er auch bleiben! Jetzt hat er seine Schuldigkeit getan und wir sind quitt«, sagte Theresa. Sie wurde von zwei Sanitätern, die Leon zur Seite gedrängt hatten, auf eine Liege gehoben und stöhnte, weil die Schmerzen unerträglich wurden.
»Darf ich mich wenigstens bei ihm bedanken? Schließlich hat er meine beste Freundin gerettet«, fragte Flora und wischte sich eine Träne aus den Augen.
Theresa zuckte mit den Schultern und ächzte. Dann wurde sie in den Rettungswagen geschoben, Leon und Dino folgten ihr. Sie winkten den anderen zu.
»Ein bisschen Eifersucht ist doch gut. Sonst sähe ich wahrscheinlich noch schlimmer aus«, flüsterte Theresa, quetschte Leons Finger mit der unverletzten Hand und fiel wieder in Ohnmacht.