Kapitel 14

Florenz, Donnerstag, 14. November Die wärmenden Sonnenstrahlen streichelten Theresas Gesicht, als sie den Vorhang zurückzog und das Fenster öffnete. Endlich entspannen, endlich den ganzen Wahnsinn der letzten Tage und den tristen November in Österreich vergessen. Ihr Blick wanderte über den prachtvollen Gar-ten des Hotels. Hanfpalmen, Yuccas, blühende Strelitzien so weit das Auge reichte. Der Spätherbst tauchte die Laubbäume in die schönsten Rottöne.

Theresa atmete tief durch und der Duft von Zitronenblüten stieg in ihre Nase. Endlich wieder Florenz. Wie lange war ihr erster Besuch her! Sie war gerade 18 geworden und alleine verreist, ohne Eltern oder Freunde. Eine Reise, die ihr die Augen für die Schönheit der Kunst geöffnet hatte. All die Gemälde, Skulpturen und Bauwerke, die sie in der Renaissancevorlesung auf der Uni durchgenommen hatten, waren in Florenz lebendig geworden. Sie lächelte, als sie an das überschwängliche Tagebuch dachte, das sie damals geschrieben hatte. Es strotzte nur so von Übertreibungen, Verklärungen und Peinlichkeiten – sie war so jung gewesen. Ob sie den Weg, den sie vor so langer Zeit durch die Stadt gegangen war, wiederfinden würde?

Sie drehte sich um, als sie ein Geräusch hörte. Im Bett rekelte sich Leon, kurz darauf schlug auch Dino seine Augen auf. Theresas Mundwinkel gingen unwillkürlich nach oben. Guten Morgen, mein Leben!

»Wer fährt mit mir zur Villa?«, fragte Boris, nachdem die letzten Croissants verzehrt und die leeren Kaffeetassen abserviert worden waren.

Natürlich wollten alle sein neuestes Projekt sehen, und kurz darauf lenkte er den Van durch die engen Gässchen von Florenz, bis sie etwas außerhalb des Stadtkerns in eine große Allee bogen, an deren Ende ein mächtiges schmiedeeisernes Tor stand. Als Boris auf eine Fernbedienung drückte, öffnete es sich leise surrend. Sie fuhren weiter, vorbei an zwei Springbrunnen und vielen Sandsteinfiguren, die mit kleinen Moospolstern bewachsen waren und grünlich schimmerten.

Adriana erwartete sie bereits vor der Eingangstür und winkte.

Als der Wagen zum Stehen kam, zwängte sich Dino an Leon vorbei, hüpfte als Erster hinaus, schnappte sich Adriana und ging mit ihr zu den Skulpturen, um sich alle erklären zu lassen. Die Putten, bestückt mit Weingläsern, Musikinstrumenten oder Pfeil und Bogen, hatten seine Größe. Er kletterte auf den Figuren herum, während die Freunde zum Eingang marschierten.

Aufgrund von Boris’ Beschreibungen hatte Theresa ein renovierungsbedürftiges Landhaus erwartet, die Villa entpuppte sich jedoch als Renaissancepalazzo, der früher als Internat genutzt worden war und seit fünf Jahren leer stand. Einige Fensterscheiben waren zerbrochen, der Putz blätterte ab und der Garten war verwildert, aber mit etwas Hilfe war diese Villa in ein paar Wochen auf Hochglanz poliert und einsatzbereit. Auch innen war das Gebäude gut erhalten.

Boris erklärte, was er plante. »Ich möchte es zum einen als Waisenhaus und zum anderen als Ferienheim für die SOS-Kinderdörfer der ganzen Welt nutzen. So gibt es einen Kul-turaustausch zwischen den Kleinen. Das genaue Konzept arbeitet Adriana aus. Wo ist sie eigentlich?«

Theresa schaute aus dem Fenster und beobachtete, wie Adriana einen pudelnassen Dino aus einem der Springbrunnen zog. »Ich glaube, wir müssen zurück ins Hotel.« Sie merkte, mit welch schelmischem Blick Dino zu ihr hinaufschaute, und wusste, dass Absicht hinter dem Ausrutscher steckte. Aus Versehen würde ihm so etwas nicht passieren, dazu konnte er zu gut balancieren.

Nach dem Kleiderwechsel und einem zweiten Frühstück versuchten die anderen, Theresa zu überreden, doch mit ihnen in die Uffizien zu kommen. Sie dachte an ihren ersten Besuch in Florenz, an ihren ersten Besuch in diesem einzigartigen Museum, sah Leons bittenden Blick und gab sich schließlich geschlagen.

Die Warteschlange am Eingang war überschaubar, nach nur zehn Minuten Wartezeit konnten sie eintreten. Theresa blätterte ihren Führer durch.

»Wohin willst du?«, fragte Leon.

»Dreimal darfst du raten, ich suche Galileo Galilei. Wenn wir nun schon mal da sind.«

Während sie durch die Gänge und Säle schlenderten, erzählte Theresa ihren Freunden über die zwei Porträts des Astronomen, die Sustermans gemalt hatte. Eines hing im Palazzo Pitti und war von den Medici in Auftrag gegeben worden. Das andere hatte der Anwalt Elia Diodati im Jahr 1636 geordert. Er war ein großer Bewunderer Galileos gewesen, zwischen den beiden Männern hatte ein reger Briefwechsel geherrscht. Dieses zweite Gemälde war im August 1637 von Sustermans fertiggestellt und zu Diodati nach Frankreich geschickt worden.

»Das ist merkwürdig«, unterbrach Flora. »Wer ordert das Porträt eines Wissenschaftlers? Das wäre ja so, als ob ich mir ein Foto von Stephen Hawking ins Wohnzimmer hängen würde. Gut, ich pflege keine Korrespondenz mit ihm, aber trotzdem. Ich sage nur Geheimgesellschaft

»Ach Flora, es muss nicht immer ein Geheimbund sein.

Vielleicht war es der Astronomen-Gesangsverein«, witzelte Paul.

Theresa Augenbrauen zuckten kurz, bevor sie unbeirrt fortfuhr: »Laut einem Brief von Galileos Assistenten Vincenzo Viviani schenkte Diodati es 30 Jahre später den Medici. Der Großherzog erkannte sofort, dass das Gemälde von Monsù Giusto gemalt worden war, da er es mit dem anderen Werk von Sustermans im Palazzo Pitti verglich. Auf einer Inventurliste der Medici von 1663

wurden zwei Porträts von Galileo Galilei aufgeführt – eines mit einem vergoldeten Rahmen und eines ohne. Das mit dem Rahmen wurde 1677 an die Uffizien weitergegeben.«

»Schaut mal hier«, rief Paul und deutete auf ein Gemälde.

Es zeigte den Astronomen im Alter von ungefähr sechzig oder siebzig Jahren mit einem Fernrohr in der Hand. In großen goldenen Lettern stand sein Name über seinem Kopf.

»Das sieht anders aus als die von Sustermans«, sagte Boris. »Er hat nie den Namen so demonstrativ aufgepinselt.«

»Ja, das ist, um euch gänzlich zu verwirren, ein drittes Bild von Galileo. Filippo Baldinucci, der übrigens der erste Kurator der Uffizien war, erwähnte es irgendwo. Es ist Teil der ›Gioviana Serie‹. Die Reihe ist nach dem italienischen Historiker Paolo Giovio benannt, der um 1530 begann, Kupferstichporträts berühmter Männer zu sammeln und damit eine Frühform des Museums realisiert hatte …«

Flora gähnte hinter vorgehaltener Hand und Dino trollte sich zu einer Bank in einigen Meter Entfernung. Theresa verstummte.

Nach einem kurzen Zögern sagte sie: »Ich will euch aber nicht langweilen.«

»Nein, erzähl weiter. Es ist bewundernswert, wie viel du dir gemerkt hast. Wann hast du das alles recherchiert?«, fragte Paul interessiert.

»Nachdem ich erkannt hatte, dass Galileo auf meinem Bild dargestellt ist. Das hat mich ziemlich fasziniert.«

»Er wurde von der Inquisition verurteilt und trotzdem hing sein Porträt hier – bei Herrschern, Päpsten und Künstlern?«, wunderte sich Boris. »Nahmen die Medici den Bann der Kirche nicht ernst?

Oder hatte Galileo eine Sonderstellung, die ihn quasi unangreifbar machte?«

»Ich habe entdeckt, wo der Galileo von Sustermans hängt! Saal 41, bei meinem Freund Rubens«, unterbrach Leon und zeigte in seinem Führer auf das Foto. »Wollen wir uns den ansehen?«

»Ja, aber schnell, ich will ein Eis. Mir ist fad, ich hab schon alles Spannende gesehen«, brummte Dino, der von seinem Sitzplatz aus die Wand-und Deckenfresken betrachtet hatte. Teufelchen mit Pfeil und Bogen, Fantasietiere und musizierende Engelchen – Theresa war bei ihrem ersten Besuch auch davon gebannt gewesen.

Sie verstand Dino, das war eine märchenhafte Welt, die nicht so öde war wie die Porträts alter Männer.

»Gut, mein Schatz, nur das eine Bild noch, dann gibt es ein großes ›gelato‹«, sagte sie und Dino lächelte glückselig.

Nach dem Mittagessen rekelten sie sich faul in den weichen Polstersesseln einer gemütlichen Trattoria nahe dem Palazzo Strozzi. Dino schleckte sein Eis und Theresa beobachtete ihn, damit er nicht kleckerte.

»Es ist schön, bedient zu werden und nicht selber kochen zu müssen«, sagte Paul und biss in das letzte Grissino.

»Was heißt das? Du musst doch nicht jedes Mal bei unseren Treffen kochen«, entgegnete Flora.

»Wenn du an der Reihe bist, wäre es allerdings besser, wenn ich es täte.«

»Von mir aus gerne, liebster Paul. Du darfst ab sofort immer meine Hauptspeisen übernehmen«, antwortete Flora. »Unter der Bedingung, dass alles so gut schmeckt wie diese göttlichen Calamari hier.«

»Ich will aber Spaghetti, nicht mehr diese Gummidinger«, rief Dino dazwischen.

Theresa folgte der Unterhaltung halbherzig. Sie legte die klebrige Serviette weg, beobachtete die flanierenden Italiener, sah das Schaufenster einer kleinen Galerie gegenüber und bekam plötzlich Lust, diese kleine Gasse beim Dom zu suchen, die sie vor vielen Jahren entlanggeschlendert war. Vorbei an Dutzenden winzigen Antiquitätengeschäften, in denen ein Restaurator neben dem anderen gearbeitet hatte. Aus den Fenstern und Türen war ein wunderbarer Geruch nach altem Holz geströmt, und Fragmente beschädigter Heiligenfiguren waren in den kleinen Räumen wie auf Seziertischen der Geschichte aufgereiht gelegen. Damit könnte sie auch Wenz die letzte Ehre erweisen. Wann war eigentlich sein Begräbnis? War er noch in der Gerichtsmedizin? Sie musste sich nach ihrer Rückkehr gleich bei Marie erkundigen.

»Wisst ihr was? Ich mache einen Spaziergang.«

Unvermittelt sprang Theresa auf. Alle starrten sie an, doch bevor sie etwas sagen konnten, hatte sie ihre Tasche umgehängt und verabschiedete sich: »Seid mir nicht böse, ich brauch das jetzt. Ich muss ein bisschen meine Jugend suchen. Wir treffen uns in zwei Stunden im Hotel, dann ist noch genug Zeit, uns fürs Dinner chic zu machen, oder?«

Sehr gut, endlich tat sich was. Sie ging alleine los? Noch besser. Er brauchte ihr lediglich unauffällig zu folgen. Sie musste etwas wissen, wieso sollte sie sonst mit ihren Freunden nach Florenz geflogen sein!

Wo und wie sie wohl auf das Geheimnis gestoßen war? Er hatte mit niemandem über die Briefe gesprochen, wie könnte sie also davon erfahren haben? Vielleicht hatte ihr Vater den Namen entdeckt und sie hatte schließlich die richtigen Schlüsse gezogen.

Er würde es bald wissen, wenn sie ihn ans Ziel geführt hatte.

Theresa bahnte sich den Weg zur Kathedrale Santa Maria del Fiore, wo sie die bronzene Paradiesestür von Lorenzo Ghiberti am Baptisterium bewunderte, ließ sich mit dem Menschenstrom weitertreiben, über die Ponte Vecchio, bis sie vor dem Palazzo Pitti stand. Ihre Gasse fand sie jedoch nicht. Und langsam wurde sie der Touristenmassen überdrüssig.

Auf der Suche nach Abgeschiedenheit entdeckte sie am Ende der Boboli Gärten einen Weg, der zum Forte di Belvedere führen mussten. Hier war sie doch schon einmal gewesen! Lächelnd folgte sie der menschenleeren Gasse, die steil bergauf verlief. Auf einer Anhöhe erblickte sie die vertrauten Ruinen und Rasenflächen, die ein paar Italiener nutzten, um die letzten Sonnenstrahlen vor einem langen Winter einzufangen. Theresa lehnte sich an die Mauer, die das Belvedere umgab, spürte die Kälte der Steine und den leichten Wind, der die Wärme vertrieb. Florenz lag zu ihren Füßen. Die majestätische Domkuppel Brunelleschis erhob sich aus dem Häusermeer, flankiert vom Campanile. Westlich erhob sich die Kirche San Lorenzo, östlich die Basilika Santa Croce, und mittendrin glitzerte das grüne Band des Arnos. Genau hier war sie vor 15 Jahren auch gestanden. Wie schnell die Zeit verging!

Seufzend trat sie den Rückweg an, um wieder ins Jetzt zurückzukehren. Nachdem sie einige Zeit dahingeschlendert war, bemerkte sie, dass sie die falsche Richtung eingeschlagen hatte, denn sie fand sich auf einem anderen Hügel der Stadt wieder.

Irrwege konnten auch ans Ziel führen, selbst wenn man das Ziel vorher nicht kannte, dachte sie, als sie vor der verträumtesten romanischen Kirche stand, die sie jemals gesehen hatte. Lautlos betrat sie die Basilika San Miniato al Monte. Im Presbyterium, dem hinteren Altarraum, versammelten sich gerade ein Dutzend Mönche. Nach einer Minute leisen Raschelns begannen sie zu singen, und Theresa fühlte sich sogleich in ein anderes Jahrhundert versetzt. Glockenhelle Töne durchdrangen das Kirchenschiff.

Theresa stellte sich vor, dass sie wie Federn in die Höhe zu Ihm schwebten. Verzaubert setzte sie sich in eine der Holzbänke und lauschte – fern von Zeit und Raum und doch im Hier und Jetzt. Sie schaffte es, alle Gedanken auszublenden – Yoga in seiner höchsten Form. Plötzlich einsetzende Stille riss sie aus ihrer Versunkenheit.

Die Chorprobe war zu Ende und die Mönche verließen die Kirche.

Auch sie musste sich nun sputen.

Nach einem halbstündigen Marsch erreichte sie das brodelnde Zentrum von Florenz und stand vor der Basilika Santa Croce. Da sie schon mehr als zwei Stunden unterwegs war, wollte sie eigentlich zügig weitergehen, doch irgendetwas hielt sie zurück.

Sie folgte ihrer inneren Stimme und betrat die Kirche. Langsam schlenderte sie durch das Gotteshaus und stand mit einem Mal vor Galileos Grabmal. Er hatte sie also hereingezogen!

»Ich hatte ein Bild, für das du Modell gesessen bist«, flüsterte sie ins Dunkel. Der Gedanke, dasselbe Gemälde in Händen gehalten zu haben wie vor Jahrhunderten Galileo Galilei, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Wieder fühlte sie sich an die Ereignisse der letzten Tage erinnert. Sie seufzte und war froh, dass sie Geschichte waren.

»Jetzt muss ich wirklich zurück, Dino wartet bestimmt schon«, sagte sie leise zu sich selbst und eilte aus der Kirche. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich auf den Weg zum Hotel machte.

Will sie mich verspotten? Hetzt mich durch ganz Florenz, um was zu tun – Sightseeing? Ich habe für diese Spielchen wirklich keine Zeit mehr, sie zerrinnt mir zwischen den Fingern! Aber heute Nacht wirst du alles erzählen, so viel ist sicher.

»Wann kommt Boris an die Reihe?« Theresa zappelte nervös mit den Beinen unter dem festlich gedeckten Tisch.

»In circa 15 Minuten«, antwortete Leon und legte seine Hand auf ihren Arm.

»Kein Grund zur Aufregung und eigentlich sollte ich nervös sein, oder?«, fragte Boris.

»Stimmt, trotzdem. Eine Viertelstunde? Dann habe ich noch Zeit, schnell … ähm, mein Make-up aufzufrischen. Kommst du mit Flora?« Theresa suchte ihre Tasche, die zu Boden gefallen war.

»Nein, ich möchte mir den nächsten Preisträger ansehen, das ist der Dalai Lama«, erwiderte Flora und deutete auf das Programmheft.

»Gut, ich muss aber. Bin gleich wieder da.«

Auf dem Weg nach draußen genoss Theresa noch mal den Anblick des Festsaals – elegante italienische Renaissance-architektur, sanft beleuchtet mit Hunderten von Kerzen, die in schimmernden, silbernen Leuchtern steckten. Dazu passte der üppige Blumenschmuck. Kunstvolle Gestecke aus weißen und rosa Lilien, die einen betörenden Duft verströmten. Wie ein Märchen aus ›Tausendundeiner Nacht‹, dachte Theresa und war Boris unendlich dankbar, dass er sie hierher eingeladen hatte.

Kurz bevor sie bei den Toiletten ankam, vibrierte ihr Handy. Ob das Adriana war? Dino sollte doch längst schlafen.

Sie hob ab und lauschte. Was sie hörte, brachte ihren Puls zum Rasen. Sie begann zu laufen. Als sie mit dem Telefon am Ohr vor die Tür des Palazzo Pitti trat, wehte ihr ein Windstoß die Haare ins Gesicht. Sie wischte sie nervös weg, sah sich um, hastete den schrägen Vorplatz hinunter und stieg in das wartende Auto.

Der Dalai Lama verließ das Podium und Boris sah sich ungeduldig um. »Ich bin jetzt dran. Wo Theresa nur bleibt?«

Sein Name wurde aufgerufen, er erhob sich und ging langsam zur Bühne.

Leons Blicke wanderten durch den Saal auf der Suche nach seiner Frau. Sie war nirgendwo zu sehen. »Flora, würdest du bitte schnell in den Waschräumen nachschauen?«

»Entschuldige«, antwortete sie mit einem Seitenblick auf Boris.

»Ich kann jetzt unmöglich weggehen. Nicht, wenn er den Preis bekommt.«

Leon verstand ihre Reaktion, Theresa würde Boris’

Auszeichnung auch nicht versäumen wollen, niemals. Eine unerklärliche Unruhe ergriff ihn. »Dann geh ich selbst.«

So unauffällig wie möglich schlich er sich durch die Tischreihen.

Vor dem Saal begann er zu rennen und hetzte zur Damentoilette. Er klopfte und riss gleichzeitig die Tür auf. Ein paar Frauen kreischten ihn auf Italienisch an.

»Scusi, ich suche meine Frau. Ist da jemand in den Kabinen, könnten Sie nachsehen?«

Alles leer. Panisch jagte Leon durch den Palazzo. Die Sorge um Theresa schnürte ihm den Hals zu. Er öffnete die große Eingangstür, der Wind riss sie ihm aus der Hand und knallte sie gegen die Mauer. Suchend sah er sich um – nichts! … Halt, da unten auf der Straße lag ein Handy!

Er rannte hin und hob es auf. Es war Theresas! Doch sonst gab es keine Spur von ihr. Versteinert blieb er stehen, bis Flora hinter ihm auftauchte.

»Wo ist Thesi? Was ist los?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Leon leise und zeigte auf Theresas Mobiltelefon. Das Display war zerbrochen und der Akku fehlte.

Jemand musste es mit aller Wucht auf den Boden geschmettert haben. »Das lag hier. Es ist noch nicht vorbei …« Seine Stimme erstarb.

»Wir müssen sofort Kiesling anrufen!«, schrie Flora.

»Der ist in Wien! Was soll er tun?«

»Er wird Commissario Cattani informieren.« Flora begann zu fluchen, während sie hektisch Kieslings Nummer in ihrem Handy suchte.

Leon erwachte aus seiner Trance, holte sein Telefon aus der Tasche und wählte. Als sich endlich jemand am anderen Ende der Leitung meldete, erklärte er auf Englisch, dass er Theresas Mann sei und dringend Hilfe brauchte. Die italienische Polizei musste verständigt werden und zwar so, dass sie es ernst nahm, es ginge um Leben und Tod.

In diesem Moment kamen Paul und Boris aus dem Gebäude gelaufen. »He, das ist aber nicht nett, ihr lasst uns allein, nur um zu telefonieren …«

Leon steckte sein Telefon ein und schrie die beiden an: »Theresa ist verschwunden, hier sind die Überreste ihres Handys!« Ihn beschlich ein furchtbarer Gedanke. »Ich muss sofort zu Dino!«

»Ich komme mit dir«, rief Boris.

Leon wandte sich an Flora und Paul. »Ihr wartet hier auf die Polizei!«

Er wollte gerade losstürmen, als ihm Boris das kaputte Telefon aus der Hand riss und es Paul überreichte.

»Thesis Handy. Gib es der Polizei. Irgendjemand muss sie angerufen haben.«

Boris und Leon stürzten davon. Paul blieb hilflos zurück und blickte fragend zu Flora, die noch immer telefonierte. Nach zwei Minuten ließ sie das Telefon sinken und sagte: »Robert leitet alles in die Wege und nimmt das nächste Flugzeug nach Florenz. Er informiert Rubini, der sollte in den nächsten Minuten hier auftauchen. Wir können jetzt nichts tun, außer warten.«

Flora drehte sich zu einem vorbeigehenden Passanten, hielt ihn auf und fragte: »Scusi, hätten Sie eine Zigarette für mich?«

»Bitte für mich auch eine!« Paul sank auf den Bordstein, klopfte sich auf die Stirn und murmelte: »Jemand muss sie angerufen haben. Alors, kleine graue Zellen. Da war doch etwas, was ich gestern gehört habe …«

Flora setzte sich neben ihn und gab ihm seine Zigarette. Er steckte sie geistesabwesend hinters Ohr, starrte auf das Handy und wiederholte: »Jemand muss sie angerufen haben.«

Flora sprang auf. »Ja, genau! Gestern im Auto, als wir angekommen sind! Das war er!« Sie schüttelte Paul und schrie ihn an: »Theresa hat seinen Namen gesagt, denk nach.« Sie sprang auf und begann sich im Kreis zu drehen. »Verdammt, verdammt, wieso fällt mir das jetzt nicht ein? Sonst merke ich mir jeden Scheiß!«

»Ich überlege schon die ganze Zeit, wer es war, aber wenn du dich wie ein Derwisch aufführst, kann ich mich nicht konzentrieren.

Setz dich und halt den Mund!«

Flora gehorchte und lehnte sich an seine Schulter.

»Schöner Sonntag … Buona Domenica«, murmelte Paul und rief dann plötzlich: »Domenico! Der Mann hieß Domenico! Aber der Nachname fällt mir nicht mehr ein.«

»Du bist der größte Schatz, den es gibt!« Flora küsste ihn, drückte gleichzeitig auf Wiederwahl und rief ins Telefon: »Es ist der Sustermans-Experte, dessen Vorname Domenico ist, er muss auf der Liste stehen. Beeilt euch!«

Sie lehnte sich wieder an Paul und fragte: »Hast du Feuer?«

»Ich bin Nichtraucher, das weißt du doch.«

Arcetri, Januar 1640

Carissimo et illustrissimo mio amico!

Teuerster Freund!

Mein treuer Vincenzo schreibt diesen Brief geheim für mich und wird, da die gute Maddalena vorigen Monat für immer zum Herrn gegangen ist, auch für den unbemerkten Versand sorgen, so kann ich Euch nun den Ablauf erklären.

Vincenzo hat meine neuen Schriften in eine Bibel eingebunden.

Ich weiß, es ist Blasphemie, die Bibel als Transportmittel zu benutzen, aber hat mich nicht die Kurie dazu genötigt? Würde sie die Wissenschaft nicht verfolgen, ich hätte Gottes Wort niemals entweiht. Als denn, die Bibel ging gestern mit einem Boten an den Adressaten. Da ich den Empfänger nicht in allerhöchste Gefahr bringen will, werde ich ihn hier nicht nennen. Wobei der Empfänger nicht ahnt, was er erhält. Die Bibel wird ihm von mir als Geschenk übermittelt und wenn er sich nicht das gesamte Alte und Neue Testament innerhalb zweier Tage durchliest, wird er nie erfahren, was in dieser Bibel transportiert wurde.

Heute wird die wunderbare Allegorie von Monsù Giusto an Euch geschickt werden und mit dem Bild auch der Hinweis, wo die Bibel zu finden ist. Wie die Heilige Schrift in Euren Besitz kommt, damit Ihr das Manuskript entnehmen könnt, überlasse ich Eurer Gabe, Freunde um einen Gefallen zu bitten. Versucht, Euch die Bibel auszuleihen, wenn er Euch eine andere als die von mir geben will, sagt, Ihr hättet gerne die meine, weil Ihr so lange mit mir befreundet seid, mich aber so lange nicht mehr gesehen hättet, und Euch mit diesem Buch in der Hand für kurze Zeit mir ganz nahe fühlen könntet.

Was Ihr dann mit dem Manuskript machen werdet, entscheidet Ihr, ob die Veröffentlichung in einem freisinnigeren Land möglich ist, und wie Ihr es aus Italien schmuggelt. Aber seid vorsichtig, die Inquisition beobachtet Euch sicher auch, denn ein Freund von Galilei ist ein Feind der Kirche.

Mein größter Wunsch ist, dass nach meinem Tode nichts der Kurie in die Hände fällt, was der Welt zugedacht war. Langsam fühle ich mich immer schwächer. Ich glaube, dies war das letzte Manuskript, das ich aus der Verbannung schmuggeln konnte.

Auch Euer Gesundheitszustand beunruhigt mich zutiefst, ich bitte Euch, seht zu, dass Ihr genesen möget. Ich weiß nun gar nicht, ob ich Euch den Plan noch zumuten kann. Doch ist es eine Aufgabe, die Euch zwingt am Leben zu bleiben. Bevor sie nicht erledigt ist, dürft Ihr nicht gehen, versprecht es mir!

Ich schicke Euch meine besten Wünsche, umarme und küsse Euch!

Euer G.