Kapitel 5
Wien, Dienstag, 5. November
Leon und Dino waren aus dem Haus, die größte Unordnung schien beseitigt und Theresa saß, an ihrem Bleistift kauend, im Wohnzimmer. Sie starrte aus dem Fenster. Eigentlich sollte sie an den Zeichnungen weiterarbeiten. Aber die beiden Bücher über Sustermans lagen wie ein stummer Vorwurf neben ihr.
Vielleicht halfen ein paar Nachforschungen, das Gemälde wiederzufinden und damit den Mord aufzuklären. Wieder beschlich sie dieses komische Gefühl, dass die ›Krönung‹ etwas Besonderes war und eine wichtige Rolle spielte. Nur wie sollte sie weiter vorgehen? Wenn sie nur wüsste, was Wenz kurz vor seinem Tod entdeckt hatte!
Theresa nahm die Bücher in die Hand, legte sie jedoch gleich wieder weg. Sie wollte zuerst ihre Mails ansehen, vielleicht hatte sich inzwischen einer der Experten gerührt. Sie fuhr ihren Laptop hoch, der seit dem Mord auf der Wohnzimmerkommode verstaubte.
Bei ihren ersten Recherchen im Internet, kurz nach der Entdeckung des Zettels, war sie auf ein paar italienische Kunsthistoriker gestoßen, die sich mit Sustermans beschäftigten: die Autoren der beiden Sustermans-Bücher und ihre Mitarbeiter. Jedem von ihnen hatte sie Fotos geschickt und sie um Hilfe gebeten. Auch an das Wiener Auktionshaus hatte sie, gleich nach Floras Anruf, geschrieben. Wenn die gerade einen Sustermans versteigerten, konnten sie vielleicht etwa zu Theresas Gemälde sagen.
Eine ganze Liste von Mails baute sich auf dem Monitor auf.
Gleich die ersten drei kamen aus Italien. Theresa öffnete die Nachricht, die ganz oben stand. Sie war von Luca Bevilaqua. Er hatte eine Sustermans-Ausstellung in Florenz organisiert und einen Katalog dazu gestaltet. Mit den schlechten Schwarz-Weiß-Abbildungen, wie sie sich erinnerte. Leider war seine Mail lediglich eine Abwesenheitsnotiz – wie auch die nächste von Giancarlo Scuro, dem Autor des anderen Buches über Sustermans und die Medici.
Theresa war enttäuscht. Doch eigentlich konnten noch gar keine Antworten gekommen sein, sie hatte erst vor etwas mehr als einer Woche angefragt. Und welcher Kunsthistoriker saß schon den ganzen Tag vor dem Computer, um auf Mitteilungen wildfremder Personen zu warten?
Ohne viel Hoffnung öffnete sie die dritte Nachricht, die von einem Experten für Medici-Porträts stammte. Überrascht erblickte sie ihren Namen und las aufgeregt weiter.
Sehr geehrte Frau Valier!
Mit Interesse habe ich Ihr Schreiben gelesen und die Attachements studiert. Wenn Sie die Möglichkeit haben, mit dem Bild nach Italien zu kommen, könnte ich das Gemälde genauer begutachten und wäre gerne bereit, Ihnen eine Expertise zu schreiben. Nur anhand der Fotos kann ich leider keine genauen Angaben machen.
Die Kosten für die Expertise würden sich auf circa 2.000 Euro belaufen.
In Erwartung Ihrer geschätzten Antwort verbleibe ich mit freundlichen Grüßen
Dott. Sandro del Rosso
»Da kommen Sie leider etwas zu spät, verehrter Dottore«, murmelte Theresa, während sie eine Antwort verfasste. Sie bedankte sich und schrieb, dass sie in nächster Zeit nicht plane, nach Italien zu fahren und das Bild daher für eine Untersuchung nicht zur Verfügung stünde. Dass es gestohlen war, musste sie ihm nicht auf die Nase binden.
Die nächste Mail kam ebenfalls aus Italien. Sie las den Absender und wurde wütend. Francesco! Schon wieder! Wann kapierte er es endlich? Ihre Beziehung war vor Jahren, nein Jahrzehnten, im Streit auseinander gegangen. Theresa hatte ihn längst vergessen, Francesco meldete sich jedoch alle paar Jahre wieder. Anfangs per Brief an ihre alte Wohnadresse, nun via Internet. Wie er es geschafft hatte, ihren neuen Namen und ihre E-Mail-Adresse herauszubekommen, war ihr schleierhaft. Was wollte er noch von ihr? Absolution? Nein, den Gefallen würde sie ihm nicht tun – so wie er sie behandelt hatte. Sie löschte die Nachricht schnell, auch damit Leon sie nicht sah. Als sie die Entfernen-Taste betätigte, war ihre italienische Affäre bereits wieder vergessen.
Theresas Laune besserte sich schlagartig, als sie die nächste Nachricht in der Liste erblickte. Eine Antwort vom Wiener Auktionshaus, endlich würde sie wissen, wie viel ihr Bild wert war.
Auch 120.000 Euro oder gar mehr? Der Inhalt ließ sie stirnrunzelnd innehalten.
Sehr geehrte Frau Valier!
Vielen Dank für Ihre Anfrage zu einem Gemälde mit der Darstellung einer Inthronisation. Unser Experte Dr. Karl Brenner hat sich die Fotos angesehen und würde die Krönungsszene als deutsch-niederländisch beurteilen. Als Schätzwert für eine Auktion könnte er sich 6.000 bis 9.000 Euro vorstellen.
Mit freundlichen Grüßen
Sandra Kummer
So wenig? Und wieso ist die Dame nicht auf die Vignette eingegangen? Theresa sah sich ihr Anschreiben noch mal an, um zu prüfen, ob sie wirklich alle Informationen und Fotos mitgeschickt hatte. Doch sie hatte sich nicht geirrt, es stand alles darin: ›Sustermans und Rubens‹. Zwar hatte sie mit der Absicht, das Bild versteigern zu wollen, ein bisschen geschwindelt, aber trotzdem war sie über diese kurze, lapidare Antwort verärgert.
Theresa bezweifelte, dass sich dieser Doktor Brenner ihre Fotos überhaupt angesehen hatte. Die müssten doch daran interessiert sein, wertvolle Gemälde für eine Auktion zu bekommen.
Außerdem wurde gerade ein Sustermans
versteigert, das würde eigentlich perfekt passen. Hielten diese
Auktionshäusler sie etwa für eine Trittbrettfahrerin? Für eine Betrügerin? Eine
Zettelfälscherin? Frechheit! Die machten mit ihr
sicherlich kein Geschäft mehr!
Sie ging in die Küche, um sich etwas Süßes zur Aufheiterung zu holen. Während die Kaffeemaschine ratterte, aß sie das letzte Frühstückscroissant und durchsuchte im Anschluss, nicht ohne einen Anflug von schlechtem Gewissen, Dinos Schokoladenvorrat.
Mit ein paar Mozartkugeln gestärkt, setzte sie sich wieder vor den Computer und überlegte, wessen Antwort noch fehlte.
Domenico Casagrande, Co-Autor des Ausstellungskatalogs und Spezialist für allegorische Darstellungen, hatte noch nicht zurückgeschrieben. Und Leons Onkel Oskar, der aber, so wie sie ihn kannte, sicher schon forschend über seinen Büchern saß.
Plötzlich blinkte eine neue Nachricht in ihrem Outlook auf. Als ob sie über telepathische Fähigkeiten verfügte, dachte Theresa und musste grinsen.
Liebe Theresa! Lieber Leon!
So hab ich, ach, das Alte Testament erneut studieret, vergess’ne Mythen mir zu Gemüt geführet. Da steh ich nun, ich alter Tor und bin so klug als wie zuvor.
Das Bild könnte, inspiriert vom Alten Testament, vom Künstler verfremdet, vom Zeitkolorit belastet, von der Fantasie veredelt und schließlich von der Erwartungshaltung des Auftraggebers bestimmt, alle Königskrönungen von Saul über David bis Salomon darstellen.
Die Maler kümmerten sich eh und je kaum um die ohnehin dünnen geschichtlichen Befunde. Eine historisch-kritische Untersuchung der Bibel findet erst gut 100 Jahre später statt, die Künstler konnten also in der Geschichte ungestraft herumwildern und nach zeitgenössisch gefärbter ›Action‹ gieren.
Krönungen gab es bei den Juden eigentlich nicht. Die Könige wurden gesalbt, meist unter vier Augen: der Prophet mit dem Horn voller Öl und der Kandidat. Auf dem Gemälde sehe ich aber kein Horn, nicht einen Propheten, sondern zwei, dazu noch bartlose Priester, die eine unklare Zeremonie vornehmen. Künstler!
Jedoch ist die Freiheit in gewissem Sinn gerechtfertigt, weil wir von den erwähnten Salbungen, Krönungen, Königsernennungen durchaus divergierende Berichte haben.
Es könnte das Gebet Salomons anlässlich der Eröffnung des von ihm erbauten Tempels sein. Dafür sprechen der Altar, das gebeugte königliche Knie, das schwelende Rauchopfer, der Prachtbau im Hintergrund, das anwesende Volk, sogar die Tauben. Sie waren als einziges fliegendes Federvieh nicht unheilig und als Opfertiere zugelassen.
Meine Interpretation der königlichen Insignien ist folgende: Sie werden gehalten, um einerseits den König zu identifizieren, der sie aber nicht selbst trägt, um seine Demut vor Gott deutlich zu machen. Vielleicht ist es eine christianisierte oder auch judaisierte Begebenheit aus der griechischen Mythologie oder die Mythologisierung einer historischen Figur. Es könnte wirklich alles sein!
Um euch vollends zu verwirren: Vielleicht handelt es sich auch nur um einen oststeirischen Adeligen, der sich seiner mährischen Angebeteten als Salomon präsentieren wollte.
Viel Spaß weiterhin bei der Schatzsuche, Euer Oskar
Theresa seufzte. Das hatte ihr nicht wirklich
weitergeholfen. Wenn sie dem allem nachging, bedeutete es viel
Arbeit. Sie nahm das Buch von Giancarlo Scuro über Sustermans und
die Medici zur Hand und betrachtete das Verzeichnis der
Sekundärliteratur. Ein fünf Seiten langer Anhang zeugte von monatelanger
Recherchearbeit, hauptsächlich in Florentinischen
Bibliotheken.
Unzählige Schriftstücke aus dem 17. Jahrhundert waren aufgelistet: Sterbebücher, Inventarlisten, Eingangs-und Ausgangsbücher, Rechnungsbücher. Kunstgeschichte konnte eine trockene, staubige Angelegenheit sein.
Theresa holte sich ein Glas Wasser und überflog das Kapitel ›Verschollene Werke‹. Soweit sie sah, berief sich Scuro bei deren Beschreibung hauptsächlich auf die Aufzeichnungen von einem gewissen Filippo Baldinucci. Der Name kam ihr bekannt vor, sie hatte ihn in den letzten Tagen schon einmal gelesen. Wo war das gewesen?
Sie öffnete eine Worddatei, die sie angelegt hatte, um die ersten Rechercheergebnisse zu dokumentieren. Baldinucci hatte über den Bilderkauf von Sustermans und Rubens berichtet. Durch ihn war sie überhaupt auf eine Verbindung zwischen den beiden Malern gestoßen. Aber wieso hatte er darüber geschrieben? Wer war Baldinucci? Und wo steckte dieses Rubens-Gemälde heute?
Theresa begann im Internet zu recherchieren. Nach nur zehn Minuten wusste sie mehr. Rubens’ Werk hing heute im Palazzo Pitti und Baldinucci war der erste Kurator der Uffizien gewesen. Er hatte den Grundstein für die heutigen Medici-Sammlungen gelegt.
Außerdem hatte er kunstgeschichtliche Abhandlungen verfasst und Stilanalysen durchgeführt. Für die damalige Zeit schien er ein außerordentlich fortschrittlicher Denker gewesen zu sein. Allein bei der Theorie über die Schöpfung großer Kunst war er konservativ geblieben, denn diese hatte er Gott zugeschrieben, der ein paar Auserwählten seinen zündenden Funken schickte.
Die göttliche Inspiration – so konnte man es auch nennen, dachte Theresa. Gott, der sich aus seiner Herde ein paar Schäfchen herauspickt, ihnen Kreativität einhaucht und sie dann damit alleine lässt. Wie viele waren an ihrer Gabe zerbrochen, weil sie die Kunst nicht mit dem Leben in Einklang bringen konnten.
»Ich krieg diesen Spagat auch nicht hin. Mir kommt immer so viel Leben dazwischen, dass ich für die Kunst keine Zeit habe.
Oder ich schaffe es, mir so viel Leben dazwischenkommen zu lassen«, murmelte Theresa leise. Wieder hatte sie es geschafft, einen Vormittag zu vertrödeln, ohne an ihren Illustrationen zu arbeiten. Und jetzt musste sie Dino abholen und zum Babysitter bringen. Die Auktion stand auf dem Programm.
Mit einem bedenklich wackelnden Bücherstapel schlängelte sich Flora zum letzten freien Kopierer in der Nationalbibliothek.
Während sie den staubigen Band des Thieme-Becker aufschlug, durchblätterte und schließlich auf die Glasplatte legte, überlegte sie, ob sie jemals darin vorkommen würde, im berühmtesten aller Künstlerlexika. Doch war das überhaupt erstrebenswert? Alle Verzeichneten waren sowieso tot.
Der Kopierer ratterte, machte einen leisen Knacks und streikte.
Papierstau! Sie sah sich suchend um. Sofort stand ihr ein junger Student zur Seite, der verschämt grinsend den Apparat öffnete und die zerknüllten Blätter entfernte. Flora lächelte ihn hinreißend an, obwohl ihr Robert als Retter lieber gewesen wäre. Wieso kreisten ihre Gedanken ständig um ihn? Sie verscheuchte sein Bild, erinnerte sich an Theresas Erwähnung des Familienfotos auf Kieslings Tisch und konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe, mehr Informationen über Sustermans’ Leben zu finden.
Mit den Kopien und einem Becher Kaffee aus dem Automaten setzte sich Flora auf einen der bequemen Fauteuils im Foyer.
Sustermans war der Starporträtist seiner Zeit gewesen, viele europäische Herrscher wollten nur von ihm gemalt werden.
Deshalb wurde er von den Medici sozusagen ›verliehen‹ und arbeitete an zahlreichen anderen Höfen, von der Emilia-Romagna und der Lombardei bis Innsbruck und Wien. Wie passend, dachte Flora, auf diese Weise ließ sich erklären, wie das Bild nach Österreich gekommen war. Doch offensichtlich waren drei von Sustermans’ Brüdern ebenfalls Maler gewesen und hatten in Wien gearbeitet. Das war wiederum nicht so gut, schoss es Flora durch den Kopf, denn es erschwerte die eindeutige Zuschreibung des Gemäldes. Sie machte sich eine Notiz am Rand der Kopie.
Dann fand Flora eine Aufstellung von Sustermans’ Werken und wann sie wo verkauft worden waren. Sie holte den Laptop aus ihrer Umhängetasche und nach ein paar Klicks entdeckte sie einen Bericht über eine Auktion, die 1916 im New York ›Plaza‹
stattgefunden hatte. Das Porträt eines französischen Edelmannes von Justus Sustermans war damals für 950 Dollar verkauft worden.
Ein van Dyck hatte mit 1.025 und ein Botticelli mit 1.550 Dollar nicht bedeutend mehr eingebracht. Wieso geriet ein Maler, der vor 100 Jahren noch in der Liga von van Dyck und Botticelli gespielt hatte, in Vergessenheit?
Kopfschüttelnd packte sie alle Kopien ein und machte sich auf den Weg, um Theresa zu treffen.
Er sah auf die Uhr und beschleunigte seine Schritte. Die Kontaktleute würden nicht warten, und es gab Andeutungen, dass sie wussten, wo das Bild war. Er bog um die Ecke der Dorotheergasse, schreckte zurück und blieb stehen, um nicht gesehen zu werden. Was wollte sie hier? Wusste sie doch etwas?
Aber wieso sollte sie ihr eigenes Gemälde stehlen? Er musste sie weiter im Auge behalten.
Flora winkte aufgeregt, als Theresa auf sie zueilte. »Komm, wir sind spät dran, sonst gibt es keine Sitzplätze mehr.«
»Entschuldigen Sie bitte.« Zwei Männer drängten sich an ihnen vorbei und öffneten das wuchtige Tor des Wiener Auktionshauses.
Das Palais war um die Jahrhundertwende erbaut worden, der Reichtum des aufstrebenden Bürgertums spiegelte sich im Entree mit seinen mächtigen Marmorsäulen und den vier breiten Steintreppen wider. Im zweiten Stock befanden sich die Auktionssäle. Wie in Wien üblich, musste man auf dem Weg dorthin ein Hochparterre und ein Mezzanin überwinden, und während die Freundinnen die Stufen hinaufkeuchten, erzählte Flora die Neuigkeiten aus der Nationalbibliothek.
»Er hat in Wien gearbeitet! Perfekt!« Theresa strahlte.
»Vielleicht hat sich doch ein steirischer Burgvogt als König malen lassen, um seine Freunde zu beeindrucken. Rolex und Porsche gab es ja noch nicht, um anzugeben. Schade ist nur, dass er fast vergessen wurde. Wieso bleiben einige Maler in Erinnerung und andere nicht?«
»Vielleicht weil er keine hübschen Auftraggeber hatte? Die Medici waren jedenfalls keine Schönheiten. Hätte er die ›Mona Lisa‹ gemalt, würde ihn jeder kennen«, erwiderte Flora und drückte Theresa einen Papierstapel in die Hand. »Apropos Schönheit, schau dir die letzte Seite an. Ein Porträt von Sustermans, das Antonis van Dyck gemalt hat. Dieser Giusto – ein Schnucki!«
Theresa betrachtete die Radierung. Sie zeigte einen
schwarzgelockten, jungen Mann, der sie mit
dunklen Augen verträumt anblickte. Ein neckisches Bärtchen ließ ihn
wie einen spanischen Edelmann wirken.
»Er war dreimal verheiratet!«
Klar, dass Flora so etwas herausfinden würde, dachte Theresa und musste lächeln, als sie die Tür zum Auktionssaal öffnete.
Die Versteigerung der Werke Alter Meister war ein Höhepunkt im Auktionskalender, zu dem viele ausländische Kunsthändler, vor allem Italiener, angereist waren. Theresa musterte die Anwesenden.
Sie hatten so gar nichts von den Trödlern, die sie sonst auf dem Flohmarkt traf.
Flora hatte in der Zwischenzeit zwei freie Plätze ergattert und begann, sich mit dem jungen Mann links neben ihr zu unterhalten.
Während des Gesprächs spielte sie mit einer ihrer langen, rotblonden Haarsträhnen. Ein Tick, den sie hatte, seit Theresa zurückdenken konnte.
Theresa sah sich weiter im Raum um. Ein älterer Herr kam ihr bekannt vor und sie überlegte kurz, ob sie ihn grüßen sollte. Da sie jedoch die unangenehme Angewohnheit hatte, Menschen miteinander zu verwechseln, verwarf sie den Gedanken. Erst vor Kurzem hatte sie in der Kärntnerstraße einen Mann mit einem Redeschwall überschüttet, von dem sie glaubte, es sei ein lange verschollener Studienkollege. Bis sie bemerkte, dass sie ihn aus den Hauptabendnachrichten kannte, vergingen doch geschlagene drei Minuten. Seit dieser Episode grüßte sie deutlich verhaltener.
Und eine Brille hatte sie sich noch immer nicht besorgt!
Das Klopfen des Hammers riss sie aus ihren Gedanken.
»Und verkauft für 100.000 Euro an den Herrn in der letzten Reihe.«
Theresa drehte sich unauffällig um. Wer konnte sich ein Bild für diesen Preis leisten? Sah nach einem Russen aus, er erinnerte sie ein bisschen an Putin. Die Oligarchen hatten vor einiger Zeit den 1.
Bezirk in Wien entdeckt und kauften sich dort die schönsten Immobilien.
Die Wohnungen mussten selbstverständlich standesgemäß eingerichtet werden, da waren 100.000 Euro wahrscheinlich ein Klacks.
Theresa schielte vorsichtig zu ihrem unbekannten Bekannten, doch der hatte anscheinend die Auktion verlassen. Er war wohl nur an diesem Werk interessiert gewesen. Sie griff, da Flora noch immer mit Haarezwirbeln beschäftigt war, nach dem Katalog und suchte nach dem Sustermans-Gemälde. Theresa rechnete sich aus, dass es in 20 Minuten dran sein würde und ließ die Versteigerungen der anderen Alten Meister an sich vorüberziehen, erstaunt darüber, wie viel Geld trotz Wirtschaftskrise und Gejammer von allen Seiten vorhanden war.
Schließlich hörte sie den Auktionator rufen: »Jetzt kommen wir zu Lot 35. Justus Sustermans Umkreis. Porträt der Vittoria della Rovere. Ausrufpreis 120.000 Euro.«
Er blickte in den Saal und eine stark blondierte Dame links vorne nickte. »Erstes Gebot 120.000 Euro, höre ich 125.000?«
Eine weitere Nummernkarte ging in die Höhe und drei Bieter lizitierten, bis sie 145.000 Euro erreicht hatten. Nun wurde die Versteigerung zäher, der Auktionator musste nachhaken.
Schließlich sauste der Hammer bei 150.000 Euro auf den Schlagbock. Flora pfiff leise, Theresa kratze sich an der Wange.
»Jetzt würde es mir an deiner Stelle sehr leid tun, dass das Bild weg ist«, flüsterte Flora.
»Wer weiß, ob wir jemals den Nachweis erbracht hätten, dass es ein echter Sustermans ist«, erwiderte Theresa.
»Das hier wurde nur als ›Sustermans Umkreis‹ verkauft.«
»Aber es war doppelt so groß.«
»Trotzdem …«
»Bitte Flora, ich weiß!«, zischte Theresa. »Es hilft nichts, dem Gemälde nachzuweinen. Warten wir, ob es wieder auftaucht. In der Zwischenzeit können wir weiterforschen und vielleicht Remberts Mörder finden.«
Ungeduldig stand sie auf, als wollte sie flüchten. Dass Flora nur am Wert interessiert zu sein schien, verärgerte sie. Und plötzlich flammte neben ihrer Trauer eine undefinierbare Angst auf. Der Gedanke, dass sie mit dem Bild eine unsichtbare Verbindung zu einem Verbrecher hatte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
»Ich bin so wahnsinnig neugierig, was Wenz entdeckt hat«, plapperte Flora unbekümmert weiter und nickte ihrem Sitznachbarn lächelnd zu, als sie sich vom Stuhl erhob.
»Das werden wir leider nicht mehr erfahren«, erwiderte Theresa knapp.
»Gehen wir noch auf einen Kaffee?«
»Nein, ich muss Dino holen. Wir sehen uns am Abend. Wer war übrigens der junge Mann?«
»Ach niemand, er hat mir ein paar interessante Sachen über Antiquitäten erklärt und ein paar Einkaufstipps gegeben.«
»Ja, natürlich.« Theresa nickte wissend.
Das Signal ihres E-Mail-Posteingangs ließ Theresa, die gerade den Tisch für das Treffen deckte, innehalten. Die Antwort von Domenico Casagrande, dem Spezialisten für Ikonografie! Leider war es wieder nur ein Offert. Ähnlich wie Dottore del Rosso bot er an, eine Expertise zu schreiben, wobei er sogar nach Wien gekommen wäre.
Theresa formulierte eine kurze Absage und wollte gerade Scuros Buch schließen, das noch geöffnet neben ihrem Laptop lag, als ihr ein Porträt ins Auge stach. Der Mann mit dem langen, weißen Bart kam ihr bekannt vor. Sie las den Begleittext: ›Der Wissenschaftler Galileo Galilei‹.
Sie stutzte. Der hatte doch … Der sah genau … Der ähnelte einem Mann auf ihrem Bild! Sie sprang auf, um die ›Krönung‹ zu untersuchen. Oh, sie hing ja nicht mehr hier … Und auch nicht mehr bei Wenz.
Theresa schüttelte über sich selbst den Kopf, setzte sich wieder und nahm einen großen Schluck Wasser. Die digitalen Fotos! Sie öffnete die Dateien auf ihrem Computer. Tatsächlich – neben ihrem König stand Galileo Galilei!
Pünktlich um 19 Uhr erschienen alle zum dienstäglichen Jour fixe.
Paul und Boris mit Einkaufstaschen in den Händen, Flora mit einem großen Paket im Arm.
Boris hievte alles auf den Küchentisch. »Lauter köstliche Kleinigkeiten, die wunderbar zu einem guten Glas Chianti passen.
Wir müssen nur anrichten: Cipolle in Honig, marinierte Zucchini, gegrillte Paprika, gefüllte Champignons, eingelegte Artischocken, Mortadella, Unmengen frisches Ciabatta und als Nachspeise Croissants.«
»Mir rinnt schon beim Aufzählen das Wasser im Mund zusammen. Einfach fantastico.« Paul schnappte sich ein Stück Salami.
»Davon bin ich überzeugt, Pawlow. Aber was meint ihr dazu?«
Flora packte den Karton aus und stellte schwungvoll einen neunarmigen Kerzenleuchter aus Silber neben die Köstlichkeiten.
»Etwas zu essen wäre mir lieber gewesen«, meinte Paul.
Theresa schmunzelte, während sie das Tablett mit den gefüllten Weingläsern und einem Teller voller Croissants ins Wohnzimmer trug. Die zwei würden sich nie ändern. Wie die Kinder. Sollten sie doch streiten, Hauptsache sie waren alle beisammen.
Sie bat ihre Freunde, die Antipasti auf dem Tisch zu verteilen.
Floras Leuchter stellte sie in die Mitte. »Er sieht wirklich sensationell aus.«
»Nicht wahr? Ich habe ihn heute Nachmittag bei einem kleinen Antiquitätenhändler im 1. Bezirk gekauft. Nicht gerade billig, aber wenn ich es mit den Ölschinken aus der Auktion vergleiche, war er eine echte Mezzie. Außerdem hat mir der Verkäufer einen guten Preis gemacht.« Sie wurde etwas rot und lenkte schnell ab: »Was steht heute auf dem Plan?«
Theresa wollte mit ihrer Neuigkeit über Galileo beginnen, wurde aber von Boris unterbrochen. »Würdet ihr mich bitte zuerst auf den neuesten Stand bringen? Gibt es Neuigkeiten wegen Remberts Ermordung?«
Erschrocken legte Theresa den Finger auf den Mund und sah zu Dino. Sie versuchte, alle schrecklichen Geschichten von ihrem Sohn fern zu halten. Selbst Grimms Märchen, die ihr auf einmal unglaublich grausam vorkamen, entschärfte sie während des abendlichen Vorlesens. »Können wir das später besprechen?«
Doch Dino war bereits hellhörig geworden. »Wer wurde ermordet?«
Boris blickte Theresa entschuldigend an und zuckte mit den Achseln.
»Niemand, mein Schatz, es war ein Unfall«, log Theresa.
»Wenn du dein Brot gegessen hast, geht es ab ins Bett«, half Leon mit einem Seitenblick auf Theresa. Sie lächelte ihm dankbar zu.
Dino, den die Angelegenheit schon nicht mehr zu interessieren schien, krabbelte auf den Schoß seines Vaters und salutierte: »Aye, aye, Papa!«
Nachdem die beiden den Raum verlassen hatten, wandte sich Boris schuldbewusst an Theresa. »Entschuldige, manchmal denke ich nicht mit.«
»Ist okay, ewig werde ich die Welt nicht von ihm fernhalten können.« Theresa drehte sich zu Paul. »Jetzt kannst du die Geschichte erzählen.«
Paul fasste die Geschehnisse kurz zusammen, erzählte von seiner Vernehmung, die keine neuen Informationen gebracht hatte, und fragte Theresa, ob sie in der Zwischenzeit etwas von Kiesling gehört hatte.
»Nein, eigentlich wollte ich ihm wegen Remberts Anruf Bescheid geben, aber ich hab’s völlig vergessen.« Theresa überlegte, ob der Chefinspektor nicht sowieso eine Verbin-dungsliste von allen Telefonaten des Opfers hatte.
Paul ging ins Nebenzimmer, um sich die Mailbox-Nachricht seines Onkels anzuhören. Nach zwei Minuten kam er bleich und mit hängenden Schultern zurück.
»Was könnte er damit gemeint haben, etwas Interessantes gefunden zu haben?«, fragte ihn Flora.
»Schwer zu sagen. Vielleicht eine Untermalung. Bei der ›Mona Lisa‹ wurden zum Beispiel bei neueren Untersuchungen mit einer Spezialkamera Wimpern und Augenbrauen entdeckt«, antwortete Paul, nachdem er sich mit einem Schluck Chianti gestärkt hatte.
»Ist mir nicht aufgefallen, dass die gefehlt haben sollen«, brummte Boris und brach sich ein Stück Ciabatta ab, das er in die Schale mit Olivenöl tauchte.
»So siehst du dir schöne Frauen an? Kein Wunder, dass …«
»Flora, ich finde die ›Mona Lisa‹ eben nicht atemberaubend, nur weil sie berühmt ist!«, maulte Boris und kaute mürrisch an seinem Brotstück.
Frauen waren der wunde Punkt in seinem Leben, wusste Theresa und wunderte sich, dass Flora immer wieder versuchte nachzuhaken.
Leon kam in diesem Moment zurück und wechselte dezent das Thema. »Was habe ich da durch unsere dünnen Wände gehört?
Über diese Fototechnik würde ich gerne alles erfahren.«
Paul erklärte, dass eine geniale Spektralkamera mit einer Auflösung von 240 Millionen Pixeln entwickelt worden sei. Mit ihr konnte man drei Tiefenebenen der Malschicht aufnehmen, in 13
verschiedenen Wellenlängenbereichen, vom UV-bis hin zum Infrarotlicht.
Flora und Theresa gähnten gleichzeitig.
»Mais oui, den Wink habe ich verstanden. Nur noch kurz – bei den Scans der ›Mona Lisa‹ entdeckte man, abgesehen von den Wimpern, ein noch breiteres Lächeln und eine Decke auf ihren Knien.«
»Wie ist es möglich, dass sich Teile eines Bildes verändern?
Wie kann Ölfarbe verblassen oder sogar verschwinden?« Theresa hatte interessiert aufgehorcht.
»Die Maler mischten früher ihre Farben selbst und expe-rimentierten viel. Vor allem da Vinci schien ein Liebhaber neuer Zusammensetzungen zu sein. Die Restauratoren, die sich mit dem ›Letzten Abendmahl‹ abmühen, können ein Lied davon singen.« Paul schaute zu Flora, die gerade verträumt ihren Kerzenleuchter musterte. »Und vielleicht hat er bei der ›Mona Lisa‹ auch geschludert. Oder eine besonders schöne Erde verwendet, ein flüchtiges Pigment, das unter Lichteinfluss verblasst.«
»Könnte das bei der ›Krönung‹ auch geschehen sein?«, überlegte Theresa laut.
Flora schenkte sich etwas Chianti nach und stellte fest: »Wir kommen immer wieder auf das Gemälde zurück. Wie wollen wir weiter vorgehen? Sollen wir wegen des Malers weiter recherchieren oder wegen des Mordes?«
»Hm, was könnten wir über einen Raubüberfall schon herausfinden?«, wand Boris ein. »Gab es da nicht eine georgische Bande, die erst kürzlich in Wien eine Stradivari gestohlen hat und gar nicht wusste, wie wertvoll diese Geige war? Zufall sozusagen?«
»Vielleicht sollten wir anders beginnen. Werden nicht über 80
Prozent aller Verbrechen im Familien-oder Bekanntenkreis verübt?«, fragte Leon.
Paul sah ihn empört an. »Verdächtigst du etwa Tante Marie?
Niemals!«
»Entschuldige, aber ist eine Affekthandlung uns nicht allen zuzutrauen? Oder Notwehr, wenn wir zum Beispiel einen geliebten Menschen verteidigen müssten?«, erwiderte Boris. Leon und Theresa nickten gleichzeitig.
»Bestimmt war es jemand aus Remberts
zwielichtigem Bekanntenkreis«, knurrte Paul. »Seine Leidenschaft für
Glücksspiel hat ihm des Öfteren gröbere
Kalamitäten beschert.«
»Und wer sich mit Hunden schlafen legt, wacht mit Flöhen auf«, sagte Flora nachdenklich.
Theresa sah sie erstaunt an. »Das habe ich vor Kurzem schon mal gehört, an dem Tag, als Wenz ermordet wurde.«
Boris blickte in die Runde. »Was sollen wir tun? Seine Spielerfreunde ausfindig machen, uns inkognito in verbotene Pokerrunden einschleusen? Klingt zwar aufregend, ist mir aber zu riskant. Dann legen wir uns ebenfalls mit Hunden schlafen und nein, ich will keine kleinen Insekten in meinem Bett.«
Theresa erzählte vom Lausalarm in Dinos Kindergarten und Flora kratzte sich geistesabwesend. Wie immer, wenn die Freunde beisammensaßen, gingen die Gespräche drunter und drüber, sie kamen vom Hundertsten ins Tausendste und die Gedanken waren schwerer einzufangen als ein Haufen Flöhe.
»Stopp! Wir verrennen uns! Zurück zum Bild. Das Einzige, was wir wirklich tun können, ist bei Sustermans weiterzuforschen.
Dabei bringen wir uns nicht in Gefahr, was kann in einer Bibliothek schon passieren? Obwohl – ich glaube, dass das Gemälde auch mit dem Mord zu tun hat«, sagte Theresa.
»Wie meinst du das?«, fragte Boris.
»Es ist einfach ein Gefühl. Nenn es weibliche Intuition.« Sie zuckte mit den Achseln.
»D’accord. Hatten wir nicht vorigen Dienstag die Aufgaben verteilt? Mein Part, die Untersuchung der Vignette auf Echtheit und Alter, fiel ja leider ins Wasser. Doch was gibt es bei euch Neues?« Paul spießte eine ölgetränkte Artischocke auf seine Gabel und biss genussvoll hinein.
Er lehnte sich zurück und überlegte. Was wussten die noch? Gut, dass alle derart geschwätzig waren. Besonders der Rotschopf und die kleine Schwarzhaarige konnten den Mund nicht halten …
Vielleicht hatte ja einer der Männer das Bild gestohlen, um sich …
Nein, unwahrscheinlich. Dazu sind sie alle zu lieb, selbst dieser französische Schnösel.
Er wischte die Notizen, die über den Tisch verstreut lagen, barsch zu Boden. Wahrscheinlich wussten sie gar nichts! Aber wieso interessierten sie sich derart leidenschaftlich für das Bild?
Wo es doch gestohlen worden war! Ihm gestohlen worden war!
Wieder durchfuhr ihn dieser brennende Schmerz, die quälende Frage, wer sonst noch von dem Geheimnis des Gemäldes wusste.
»Ich bin heute übrigens auf ein sensationelles Detail gestoßen«, sagte Theresa. »Sustermans ist viel bekannter, als wir bisher dachten. Jeder von uns hat schon einmal eines seiner Porträts gesehen. Und sogar in der Hand gehabt!«
Sie holte den Ausdruck eines Geldscheins vom Sideboard und hob ihn hoch. »Um mit Paul zu sprechen: Voilà! Galileo Galilei auf dem 2.000-Lire-Schein! Gemalt von Sustermans während Galileis Exil in Arcetri.«
Paul pfiff durch die Zähne, Boris machte sich auf der Papierserviette Notizen und murmelte: »Die langen Stunden, die sie miteinander verbracht haben. Bei diesen Gesprächen wäre ich gerne dabei gewesen. Wahrscheinlich wurden sie Freunde. Welche Verbindungen da geschlossen wurden …« Er verstummte und sah nachdenklich in die Luft.
»Du hast gesagt, Galileo sei schon verbannt gewesen, als er von Sustermans gemalt wurde? Vielleicht war der Maler ein verdeckter Kurier oder ein Geheimbundmitglied. Kann es für einen Mann befriedigend sein, 60 Jahre lang Medici-Gesichter zu malen? Die sich noch dazu alle ähnlich sahen?«, überlegte Flora.
»Chérie, du bist jetzt beim ›Da Vinci Code‹, oder?« Paul sah sie amüsiert an.
»Apropos Ähnlichkeit«, unterbrach Theresa. Sie holte ihren Laptop und öffnete die Digitalfotos der Porträts von Sustermans und der ›Krönung‹. »Seht euch mein Bild an! Steht hinter dem König nicht Galileo Galilei?«
Die Freunde vertieften sich in die Züge des bärtigen Mannes mit der roten Mütze und verglichen sie mit dem Porträt auf dem 2.000-Lire-Schein. Stille breitete sich aus. Nur Dinos leises, friedvolles Atmen war durch die offene Kinderzimmertür zu hören.
»Die Frage ist, ob Sustermans einen gängigen Figuren-beziehungsweise Gesichtertypus aus seinem Skizzenbuch verwendet hat oder ob das wirklich Galileo ist.« Paul stockte kurz.
»Das würde dem Gemälde eine ganz neue Bedeutung geben.«
»Haben wir denn eine alte?«, stichelte Flora.
»Bei Galileo zieht sofort Historie an mir vorüber: Wis-senschaftsgeschichte, Kirchengeschichte … Brainstorming, Leute, was wissen wir über ihn?«, rief Boris.
»Brecht: Das Leben des Galilei«, erwiderte Flora und biss in einen kleinen gefüllten Champignon, dass der Saft nach allen Seiten spritzte.
Paul sah sie milde lächelnd an. »Sehr hilfreich, aber du bist nicht in der richtigen Zeit.«
»Was soll ich tun, das ist das Erste, das einer Schauspie-lertochter dazu einfällt.«
»Und sie bewegt sich doch!«, unterbrach Boris ungeduldig das Geplänkel.
»Très amusante, das kommt den meisten anderen in den Sinn«, sagte Paul. »Soll er jedoch überhaupt nicht gesagt haben. Ich erzähle euch kurz, was er wirklich gemacht hat: Galileo wies anhand der von ihm entdeckten Jupiter-monde nach, dass Planeten umkreist werden können und sich selbst um andere Körper drehen.
Diese Erkenntnis übertrug er auf Erde und Sonne, was ihm einige Schwierigkeiten mit der Kurie einbrachte. Denn plötzlich war unser Planet nicht mehr das Zentrum des Universums, wie die Kirche standhaft behauptet hatte! Galileo wurde daraufhin von der Inquisition verhaftet. Nach drei Wochen im Kerker war es ihm zu dumm. Um seine Ruhe zu haben, widerrief er seine Ansicht und wurde nur verbannt statt verbrannt. Im Exil schrieb er weiter an seinen wissenschaftlichen Werken. Erst 1992 erkannte die katholische Kirche an, dass die Erde nicht der Mittelpunkt allen Seins ist, und revidierte ihre Meinung zu Galileo Galilei. Manche brauchen eben länger.«
»Du Ketzer! Darauf trinke ich!« Flora lachte. »Sustermans hat folglich Galileo in der Verbannung gemalt, während der seine Schriften verfasst hat. Ich komme wieder zu meiner Theorie des Geheimbundes zurück. Wenn …«
»Bitte …«, unterbrach Theresa ihre Freundin.
»Wenn Galileo zu den Illuminaten gehörte, dann Sustermans bestimmt auch.« Flora ließ sich nicht irritieren.
»Den Orden gab es zu dieser Zeit noch nicht. Er wurde erst im Jahr 1776 gegründet«, korrigierte Paul.
»Egal, es müssen ja nicht die Illuminaten sein, nennen wir sie die ›Fratelli Razionali‹ oder die ›Gesellschaft der Galileiisten‹«, beharrte Flora beleidigt.
»Ich will zwar keinen Geheimbundtheorie aufstellen, dennoch ist mir bei meinen Recherchen zu den Igowskis etwas aufgefallen«, sagte Boris vorsichtig und holte einen Stapel Unterlagen, den er im Vorraum abgelegt hatte.
»Seht ihr, seht ihr?«, rief Flora triumphierend und deutete auf Boris. »Sprich, mein Freund!«
Boris erzählte, dass er sich in die verschiedensten Melderegister gehackt und in Europa keinen einzigen Igowski gefunden hatte.
Einzig ein Quantenphysiker mit polnischem Ursprung in Amerika war aufgetaucht. Als er bereits aufgeben wollte, hatte er in einem Online-Archiv einen Stammbaum der Fürstenfamilie entdeckt, der bis ins 16. Jahrhundert zurückreichte.
Boris verteilte die Ausdrucke, auf deren Deckblatt die ›Krönung‹ prangte. »Ihr findet eine Kopie von ihm auf Seite zwei.«
»Wenn du etwas machst, dann aber gründlich, oder?«, bemerkte Flora anerkennend und sah die Blätter durch.
»Rätsellösen ist mein Leben«, antwortete Boris und erklärte: »Die Genealogie beginnt mit Martin um 1550, gefolgt von ein paar für uns unwichtigen Familienmitgliedern. Um 1620, bei Bonaventura, wird es wieder interessant …« Boris machte eine Pause. »Fällt euch nichts auf? Bonaventura! Wir haben auf einmal einen italienischen Vornamen bei den polnischen Igowskis – und zwar genau zu der Zeit, als Justus Sustermans in Florenz malte.
Giusto und Bonaventura – ein Niederländer und ein Pole treffen sich in Italien.« Boris strahlte über das ganze Gesicht.
»Das klingt gut«, sagte Theresa. »Wenz hat eine eigenartige Mischung von niederländischen und italienischen Elementen auf dem Bild erwähnt.«
»Exactement, hier müssen wir weitersuchen«, pflichtete Paul bei.
Boris fuhr fort, dass es unter den Igowskis viele Wissenschaftler und Künstler gegeben hatte, wie den Komponisten Alexandre Igowski, der ein guter Freund Frédéric Chopins gewesen war, oder Jacques Igowski, der in die Familie Victor Hugos eingeheiratet hatte. Darüber hinaus hatte Boris in der Familie einige Gelehrte und ein paar Politiker entdeckt. Er schmunzelte: »Es gibt wohl in jeder Familie schwarze Schafe. Wie auch immer, die Igowskis schienen viel Wissen und Geist von Generation zu Generation vererbt zu haben. Vielleicht auch ein Gemälde, das Galileo Galilei zeigt und vom Geheimbund der Igowskis bewacht wurde.«
Flora sagte aufgeregt: »Und vielleicht versuchten die Igowskis damals, den verfolgten Galileo zu beschützen. Gab es nicht zu jeder Zeit mysteriöse Vereinigungen, angefangen mit den Templerorden, die etwas bewahren wollten?« Sie beugte sich herausfordernd zu Paul vor. »Oder existierten die Templer da auch noch nicht?«
»Du lässt nicht locker, was? Die gab es schon; ob sie wirklich den heiligen Gral zu hüten hatten, wage ich jedoch zu bezweifeln«, erwiderte Paul. Bedrückt fügte er hinzu: »Darüber hätte Rembert viel gewusst, die Templer und der Gral waren sein Spezialgebiet.«
»Vielleicht wollte er Theresa deshalb sprechen«, meldete sich Leon zu Wort, der die Unterhaltung bis dahin stumm und nachdenklich verfolgt hatte.
»Morgen mache ich einen Kondolenzbesuch bei Tante Marie«, überlegte Paul. »Ich werde sie fragen, ob er mit ihr über euer Bild gesprochen hat«
»Wieso sollte er das tun, sie waren doch geschieden?«, fragte Flora. »Ich würde meinem Ex nicht einmal mehr die Uhrzeit sagen.«
Theresa sah, wie sich die Gesichtszüge ihrer Freundin verspannten – wie immer, wenn sie von Walter sprach.
»Rembert und Marie waren sich noch sehr zugetan«, antwortete Paul. »Ich bin mir sicher, dass unsere Familie tatkräftige Unterstützung zur Zerrüttung der beiden geleistet hat. Nicht standesgemäß. Ihr wisst schon. Marie bereut heute, dass sie sich beeinflussen ließ.« Er nahm eine Scheibe Salami, die er geistesabwesend um ein Grissino wickelte.
»Kann ich mitkommen? Ich würde sie gerne kennenlernen«, fragte Theresa und drückte Paul eine Serviette in die Hand, wie sie es sonst bei ihrem Sohn tat, wenn er mit dem Essen spielte.
»Gerne!« Dankbar legte Paul die fettige Hand auf Theresas Schulter. Sie zog die Augenbrauen hoch, schielte auf den Fleck auf ihrer Bluse, sagte jedoch kein Wort. Ob nun Dino oder Paul ihr Gewand versauten, war letztendlich egal.
»Was ist mit meinen Rubens-Recherchen?«, fragte Leon, als Theresa begann abzuräumen. »Heute habe ich zwischen zwei Serverabstürzen ein Gemälde von ihm gefunden, das unserer ›Krönung‹ ziemlich ähnlich ist.« Er holte sich den Laptop seiner Frau. »Hier, ›Decius Mus befragt die Haruspizien‹. Ich finde, dieser römische Feldherr sieht wie der Bruder unseres Königs aus, oder? Außerdem sind ebenfalls Priester in Togen, bewaffnete Männer und fliegende Tauben zu sehen.«
»Wahrscheinlich hat Sustermans das Werk gekannt«, sagte Paul nachdenklich. »Und betrachtet man die vielen Übereinstimmungen bei der Kleidung, könnte Thesis Bild durchaus eine römische Kaiserkrönung darstellen.«
»Aber was hat Galileo bei der Krönung eines römischen Kaisers zu suchen?«, überlegte Theresa.
»Und welche ist es? Die von Julius Cäsar?«, fragte Flora.
»In dem Fall würde ihm das Gemälde äußerst schmeicheln, denn er wurde kurz vor seiner Krönung erdolcht, soweit ich mich erinnere«, warf Paul trocken ein.
»Klar, du warst ja dabei, nicht wahr mein Sohn Brutus?«, konterte Flora.
»Oh, du Vestalin mit der bösen Zunge …«
»Ruhe ihr beiden, ich muss nachdenken«, fiel Theresa ihrem Freund ins Wort. Sie hielt sich die Hand an die Stirn. »Wir müssen herausfinden, ob Rubens zu der Zeit in Italien war, als Sustermans Galileo gemalt hat. Das wäre die Sensation – wenn alle drei in Arcetri zusammengesessen wären und dieses …«, sie sah auf den leeren Fleck an der Wand, »mein gestohlenes Bild dort entstanden wäre. Ein Werk für den Geheimbund der Igowskis – bei dem vielleicht auch Rubens Mitglied war.«
Nach ein paar Sekunden angespannter Stille sagte Boris: »Italien ist das Stichwort.«
Theresa sah, dass er ein wenig errötete. Sie alle hatten seine Auszeichnung vergessen, wie peinlich!
»Wenn ihr nächste Woche mitkommt, können wir das gleich vor Ort recherchieren. Habt ihre eure Termine gecheckt?«
»Wir drei haben Zeit«, antwortete Theresa schnell. Auch Paul und Flora versicherten, dass sie mitfahren würden. Leon öffnete noch eine Flasche Chianti. »Aber jetzt stoßen wir auf deinen Erfolg an.«
»Ach, lasst das …« Boris sah zu Boden. »Ich freue mich natürlich über den Preis, doch …«
»Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, du hast hart dafür gearbeitet«, unterbrach ihn Leon.
»Ich hatte die richtige Idee – zum richtigen Zeitpunkt«, schränkte Boris ein. »Da war viel Glück dabei.«
Flora betrachtete ihn, erinnerte sich an die letzten Jahre und dachte, na ja, so viel Glück auch wieder nicht. Er war jahrelang vor seinem Computer gesessen, hatte über technischen Problemen gebrütet, hatte geforscht und gelernt.
»Die meisten Menschen schuften ihr Leben lang und verdienen, wenn überhaupt, einen Bruchteil. Das ist unfair«, fuhr Boris fort.
»Was ist schon fair? Schau deine Kindheit an! War das fair?«, fragte Flora.
Boris’ Mutter und Zwillingsschwester waren bei einem Autounfall gestorben. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt und so war er mit sechs Jahren in ein SOS-Kinderdorf gekommen. Er sprach nie über diese Zeit, den Unfall oder seine Familie.
Flora stand auf und half Theresa, den Tisch abzuräumen. »Ich verstehe noch immer nicht, wieso du dein ganzes Geld in diesen Hilfsfonds gesteckt hast, Boris.«
»Weil es mich umgehauen hat. 10 Millionen Euro sind unvorstellbar viel und es wurde täglich mehr. Stell dir Dagobert Duck in seinem Tresor vor und eine Flutwelle von Talern kommt auf ihn zu. Ein Geld-Tsunami.« Boris machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. »Jeder wünscht es sich, doch wenn es dann so weit ist, flippst du aus, bestellst dir einen Porsche, einen Ferrari …«
»Mit dem ich nicht einmal gefahren bin«, heulte Leon auf, verstummte jedoch sofort, als Theresa den Kopf schüttelte.
Flora musste insgeheim lachen. Die nonverbale Kommunikation der beiden funktionierte perfekt.
Boris trank einen Schluck Wein und fuhr fort: »Ich hatte keine Familie, euch durfte ich nur Kleinigkeiten schenken. Und die Frauen, die ich damals kennenlernte, schienen doch eher am Geld interessiert als an mir … Irgendwann habe ich gemerkt, dass es mich nicht glücklich macht, allein im Porsche über Maui zu brausen. Also habe ich mir überlegt, wem ich mit dem Geld helfen könnte.«
So viel Privates hatte er schon lange nicht mehr preisgegeben, dachte Flora.
Boris erzählte weiter, dass sein Fonds seit Kurzem das AIDS-Projekt einer Freundin in Südafrika unterstütze und dass er dafür den Humanitätsaward bekommen habe.
»Eine Freundin?« Flora wurde hellhörig. Sofort biss sie sich auf die Zunge, sie konnte einfach nicht still sein.
»Nur eine gute Freundin, wie ihr!« Boris winkte ab. »Ich bin nicht für Beziehungen geschaffen, das wisst ihr. Könnten wir das Thema wechseln?«
»Richtig«, bestärkte ihn Paul, »Männer reden nicht über Gefühle.«
»Wenn ihr es tätet, wäre das Leben für uns einfacher«, seufzte Theresa, sammelte die benutzten Servietten ein und schaute zu Leon.
»Was willst du damit andeuten? Ich bin nicht das Thema, es geht um Boris und Paul«, murrte Leon und blickte zu Paul.
»Also …«
»Moi? Was soll ich erzählen? Ich bin in einer Beziehung.« Er zuckte mit den Schultern.
»Wieso bringst du sie nicht mal mit?« fragte Flora. »Oder kannst du sie nicht mitbringen, weil sie so lang…«
» …beinig ist? Eifersüchtig?« Paul grinste sie an.
»Nein, ich meinte lang weilig. Derartig langweilig, dass sie dir peinlich ist.« Sie sah in die Runde und stichelte weiter: »Wenn Paul sie nicht vorstellen will, kann es nichts Ernstes sein, wie immer.«
Flora hasste Pauls Beuteschema: zu blond, zu dünn, zu oberflächlich. Anderseits missbilligte sie, dass er seine Freundinnen halbjährlich wechselte. So behandelte man Frauen nicht! Obwohl es wahrscheinlich besser war, schon nach ein paar Monaten einen Schlussstrich zu ziehen, wenn die Beziehung nicht funktionierte. Nicht erst nach 15 Jahren – wie Walter. Er hatte sie verlassen, weil sie endlich heiraten wollte. Zwölf Wochen nach ihrer Trennung hatte er eine andere geschwängert und zum Altar geführt. 15 verlorene Jahre.
Als könnte er Floras Gedanken lesen, sagte Paul: »Ma chère, muss man gleich ewig zusammenbleiben? Theresa hatte Glück mit Leon, du hattest kein Glück mit deinem Ex. Ich bin noch auf der Suche und damit Ende. Reden wir über Italien!«
Arcetri, April 1634
Carissimo et illustrissimo mio amico!
Teuerster Freund!
Meine geliebte Tochter Virginia ist zum Herrn gegangen. Wie es mir das Herz zerreißt! Nach einer nur wenige Tage währenden Krankheit ist sie im Alter von 33 Jahren verstorben. Wir alten Männer lamentieren über unsere beginnenden Gebrechen, unfähig, das nahende Ende zu akzeptieren, und dann stirbt ein junger Mensch ganz unerwartet. Gott hatte sie doch schon zu sich ins Kloster gerufen, wieso ruft er sie nun ganz zu sich?
Sie war die Einzige, die ich von meinem Exil aus besuchen durfte, und auch dies wurde mir von Gott nur ein paar Monate gewährt. Wenn es nicht die Kirche ist, die mich bricht, so dann wohl er.
Oder bin ich an ihrem Tode schuld? Ihre Sorge um mein Schicksal, als ich in Rom in den Kerker geworfen ward, der so schlimm nicht war, saß tief. Der lange Prozess, den sie als höchst gefährlich für mich glaubte, das alles hat sie verzehrt. Es hat eine tiefe, ihre Gesundheit angreifende Melancholie zurückgelassen.
Vielleicht hat die Ungerechtigkeit, die mir von der Kirche widerfuhr, sie an ihrem Glauben zweifeln lassen? Hat es dieser Zwiespalt der Krankheit leicht gemacht, sich in ihrem geschwächten Körper einzunisten und den letzten Lebensfunken abzutöten?
Ach, hätte ich Euch früher erreicht, Ihr wärt mit einer Arznei bereitgestanden, die sie wieder ins Leben zurückgerufen hätte. Der Medicus des Klosters ist nur ein Meister im Aderlass. Haben wir beide in Pisa, als wir noch gemeinsam Medizin studierten, auch den Aderlass als allheilendes Mittel gelehrt bekommen? Ich kann mich nicht erinnern. Ach, das ist nun schon über fünfzig Jahre her.
Mein Freund, wie viel ist in dieser Zeit passiert. Und das Schlimmste erst vor Kurzem, denn der Verlust meiner Tochter ließ mich im tiefsten Kummer zurück, weil ich mich für ihr Sterben verantwortlich fühle.
Ich hoffe, in der Zwischenzeit steht es um Eure Gesundheit besser!
Innigst verbunden und ergeben,
Euer Freund G.