Kapitel 10

Wien, Sonntag, 10. November

Ein Klingeln riss sie aus dem Schlaf. Erschrocken blickte Theresa auf ihren Wecker. Es war erst 7 Uhr. Wer war gestorben? Keine andere Information konnte so dringend sein, dass sie am Sonntag derart früh überbracht werden musste.

»Floras Vater!« Bestürzt fuhr sie hoch und versuchte das Läuten zu lokalisieren. Draußen tobte ein Gewitter und ein Donner übertönte das nächste Läuten. Als sie das Handy endlich unter dem Bett fand, krachte es erneut ohrenbetäubend, sodass sie nicht sofort verstand, wer dran war.

»Hallo?«, schrie sie ins Telefon und rüttelte Leon, der noch friedlich neben ihr lag.

»Frau Valier? Kiesling hier. Ich dachte, ich versuche es mal.«

Beamte! Sie drehte sich zu Leon und rollte mit den Augen. Er schaute sie verwundert an und malte ein Fragezeichen in die Luft.

Theresa schaltete die Freisprechfunktion an.

»Herr Chefinspektor, schön, dass Sie anrufen. Noch dazu so zeitig. Gibt es etwas Neues?«

»Ich weiß, wie spät es ist, aber ich bin gerade an einem Tatort, der Sie interessieren wird.«

»Haben Sie mein Bild gefunden?« Aufgeregt sprang sie auf.

»Mehr oder weniger«, erwiderte Kiesling. »Die DNA-Analyse ergab, dass es sich bei dem Mörder von Wenz um Kilian Schlager handelt, einen alten Stammkunden von uns. Als wir heute mit der Cobra bei ihm angerückt sind, haben wir die Kollegen vom Einbruch angetroffen. Ein Nachbar hatte verdächtige Geräusche gehört. Den Schlager fanden wir leider nur mehr tot. Neben einem Haufen gestohlener Silberleuchter, die aus dem Atelier vom Wenz stammen.«

»Und die ›Krönung‹?«, murmelte Theresa. Den Toten hatte sie sofort in ihrem Unterbewusstsein vergraben. Ermordeter Mörder.

Das hatte nichts mehr mit ihr zu tun.

»Bedaure, es war wieder ein Raubmord. Ihr Bild ist nicht da.

Scheint aber das Einzige zu sein, was gestohlen wurde. Der Täter hätte sich reichlich bedienen können. Uhren, Schmuck, Münzen – das ist alles noch hier.«

»Wenn nur mein Gemälde fehlt, heißt das … diesmal war die ›Krönung‹ das Motiv?«

»Genau das vermute ich. Daher möchte ich zu Ihnen kommen.

Wir sollten uns nochmals unterhalten. Außerdem wollte ich mir den Zettel und den Stein holen, um beides auf Fingerabdrücke untersuchen zu lassen.«

»Ähm … ja gerne«, stotterte sie. »Sie können jederzeit bei uns vorbeischauen, jetzt sind wir schon wach und ein Frühstück werden Sie nicht ausschlagen, oder?«

»Da sage ich nicht Nein. Auf Wiederhören.«

Theresa saß mit dem Handy in der Hand starr auf dem Bett.

»Hast du das gehört? Langsam bin ich froh, dass wir das Bild nicht mehr haben. Es scheint jedem, der es besitzt, Unglück zu bringen.«

»Ach Unsinn, es hing über 40 Jahre in eurem Haus. Ist euch je etwas passiert?«

»Nein, aber Ambrosius und seiner Familie! Ich will nicht weiter in diesen Sumpf hinuntergezogen werden: Morde, Wanzen, Einbrüche. Die Angst, die ich um Dino ausgestanden habe – das kann ich nicht noch mal durchmachen.

Immer, wenn ich denke, es ist endlich vorbei, passiert noch etwas Schrecklicheres.«

»Ich verstehe dich, mein Schatz.« Leon strich eine Strähne ihrer widerspenstigen Haare aus Theresas Gesicht.

»Was sollen wir jetzt tun?« Sie stand auf und ging im Zimmer auf und ab.

»Zuerst duschen, damit wir Kiesling nicht im Pyjama empfangen, dann Frühstück herrichten und unsere Liste der Verdächtigen an Kiesling übergeben«, antwortete Leon und überlegte kurz. »Außerdem hat dein Verfolger jetzt das Gemälde und diese ominöse Information, die er unbedingt von dir wollte.«

Leons Worte beruhigten Theresa nicht hundertprozentig, andererseits konnte sie jetzt noch keinen klaren Gedanken fassen.

Vielleicht half ihr der erste Kaffee.

»Ich brauche Koffein. Komm mit.« Theresa schlurfte in die Küche. Bedeuteten die Vorfälle, dass zwei Gruppen hinter dem Bild her waren? Steckte doch ein Geheimbund dahinter? Sie schüttelte den Kopf. Nein, das waren ja die Pöllauer Sänger gewesen. War wirklich alles vorbei? Waren sie nun in Sicherheit?

Die Maschine mahlte scheppernd die Bohnen, dann lief der Kaffee in ihre Tasse. Wäre es nicht schön, wenn es mit den Gedanken genauso wäre – zuerst eine Zeit lang rattern, um ein fertiges, verständliches und noch dazu anregendes Produkt ausspucken? Sie starrte auf das zugenagelte Fenster.

»Da wirst du nichts sehen. Geh duschen, ich bereite alles vor, bevor Dino und Kiesling aufkreuzen.«

Als der Tisch gedeckt war, kam der erste Frühstücksgast. Dino rieb sich die Augen und war ungehalten, weil sein Sonntagmorgenritual ausgefallen war. »Mami, Papi, wo seid ihr? Kommt sofort kuscheln!«

»Schätzchen, heute geht es leider nicht, die Polizei wird gleich da sein, weil unser …«

»Bringen sie endlich Pistolen mit?«, unterbrach Dino freudestrahlend. Nach dem Einbruch war er von den Ermittlern etwas enttäuscht gewesen.

Theresa und Leon sahen sich schulterzuckend an. »Keine Ahnung, aber du kannst den Inspektor fragen.«

Wie aufs Stichwort klingelte es. Theresa eilte zur Haustür, um Kiesling hereinzulassen.

»Treten Sie ein, den Weg kennen Sie ja. Passen Sie auf, ich bin nicht dazu gekommen, das Chaos zu beseitigen«, sagte Theresa.

Leon flüsterte, dass es Kiesling noch hören konnte: »Seit circa zehn Jahren nicht.« Er grinste seine Frau breit an.

Theresa stieß ihn in die Seite. »Ruhe, oder willst du noch eines?«

»Oh, Sie waren das?«, fragte Kiesling und deutete auf Leons blaues Auge.

»Kleiner Unfall«, murmelte Theresa und schob Dino in Richtung Inspektor. »Meinen Sohn haben Sie ja schon vorgestern gesehen. Dino, das ist der nette Polizist, der uns das Bild wiederbeschafft.«

Kiesling nickte Dino freundlich zu.

»Haben Sie eine Pistole? Haben Sie den Einbrecher gefunden?«

»Nein, mein kleiner Freund, zu Frage eins, ich habe keine Schusswaffe dabei, und zu Frage zwei: Wir stecken mitten in den Ermittlungen.«

Sie setzten sich gemeinsam zu Tisch und Kiesling holte einen Stapel Fotografien aus seiner Tasche. »Das hier hat die Spurensicherung auf der Kamera von Wenz entdeckt.«

Dino streckte als erster seine Finger danach aus. Da alle gleichzeitig »Nein!« schrien, stopfte er sich den Rest seines Croissants in den Mund und verzog sich schmollend ins Kinderzimmer.

»Also, was sagen Sie zu den Aufnahmen? Ich kann nichts damit anfangen.« Kiesling gab einen Teil der Fotos an Leon weiter, der die Augen zusammenkniff. »Hm, hier scheinen ein paar Untermalungen zu sein. Da, bei der Figur mit dem blauen Mantel, die Buchstaben K, E, P, L …«

»Kepler«, schrie Theresa, sprang auf und riss Leon das Foto aus der Hand. »Lass sehen. Dann stimmt die Theorie von Boris, dass alle wichtigen historischen Astronomen versammelt sind. Ich sehe es auch nicht deutlich. Kannst du weiterlesen?«

Leon holte seine Lupe und entzifferte ›Koperni‹, ›Brahe‹ und ›Galilei‹.

»Und was bedeutet das?«, fragte Kiesling.

»Genau wissen wir es nicht. Ein Freund glaubt, dass es eine Allegorie der Astronomie ist. Dass das Bild eine Krönung der Wissenschaft darstellt – was hiermit bewiesen wäre. Was das allerdings mit den Morden zu tun haben soll? Ich habe keine Ahnung«, antwortete Theresa. Nun hatte sich ihre Vermutung als richtig herausgestellt, doch diese Erkenntnis brachte sie keinen Schritt weiter.

»Könnten Sie uns jetzt, da Dino weg ist, mehr über den Mörder von Wenz erzählen?«, fragte Leon.

»Er hieß Kilian Schlager und hatte etliche Vorstrafen: Körperverletzung, Einbruch, Diebstahl, unerlaubtes Glückspiel.

Letzteres wird auch die Verbindung zu Wenz gewesen sein.

Wahrscheinlich wollte er Schulden eintreiben und Wenz hatte nicht genug Geld im Haus. Es kam vermutlich zum Streit und Schlager schlug mit dem Erstbesten zu, was er in die Finger bekam.«

Ob Schlager wegen seines Namens ein Verbrecher geworden war?, überlegte Theresa, konzentrierte sich aber gleich wieder auf Kieslings Bericht. Die DNA hatten sie auf den Krallen des Katers gefunden. Theresa nickte, deshalb hatte Kiesling ihre Unterarme sehen wollen, er war auf der Suche nach Kratzspuren gewesen.

Wahrscheinlich hatte Renoir Schlager angegriffen. Also doch ein Wachhund! Er hatte sein Herrchen zwar nicht retten können, jedoch die entscheidende Spur zu seinem Mörder gelegt.

»Wissen Sie schon etwas über die Wanze, könnte die zu Thesis Verfolger führen?«, fragte Leon.

»Das Gerät ist ein Massenprodukt aus China. Kann man überall im Internet bestellen, bringt uns demnach nicht weiter. Jedenfalls nicht zum zweiten Mörder.«

»Vielleicht wurde Schlager von einem Komplizen ermordet.«

Theresa dachte wieder an die Hundeflöhe. Wer sich in solchen Kreisen schlafen legt, steht nicht mehr auf.

»Nein, ein gewöhnlicher Ganove hätte mehr gestohlen. Ich bin mir sicher, dass Schlagers Mörder und Ihr Verfolger ein und dieselbe Person sind.« Kiesling biss in eines der Croissants, die Leon gerade auf den Tisch gestellt hatte und fuhr mit vollem Mund fort: »Der Fall wird immer komplizierter.«

»Wahrscheinlich ist das Bild der Schlüssel. Über die ›Krönung‹

finden wir den Mörder«, überlegte Theresa. Aber das hatte sie schon einmal gedacht und es war ein Irrtum gewesen. Den Mörder von Rembert Wenz hätten sie eher anhand von Pokerkarten gefunden.

Sie stand auf und suchte unter einem Stapel von Zeitungen nach der zerknitterten Liste der Verdächtigen. »Am Freitag nach dem Einbruch habe ich Ihnen bereits Einiges erzählt. Ich vergaß, Ihnen diese Notizen zu geben. Wir haben aufgeschrieben, wer als Täter infrage kommt und wieso.«

Kiesling griff nach dem Zettel, strich ihn glatt und überflog die Namen. »Oh, der Peck, den kenn ich, netter Kerl. Kein Problem den zu befragen … Die Wiener Auktionshausleute, auch kein Problem … Hm, viele Italiener, ich werde wohl Commissario Cattani anrufen.«

Theresa sah ihn groß an. »Corrado Cattani, ›Allein gegen die Mafia‹?«

»Ein Spitzname. Eigentlich heißt er Renzo Rubini und ist unser Verbindungsmann in Florenz. Weil er Michele Placido so ähnlich sieht, nennen wir ihn Cattani. Außerdem schmeichelt es ihm. Das bringt bessere und schnellere Ergebnisse.« Kiesling machte Anstalten aufzustehen. »Gut, ich werde gleich mit der Arbeit beginnen.«

»Was glauben Sie? Wie passt alles zusammen?«, fragte Leon.

»Ich vermute, der Täter ist durch die Suche Ihrer Frau auf das Bild aufmerksam geworden. Allerdings wurde es ihm immer vor der Nase weggeschnappt. Könnte sein, dass er schon vor rund zwei Wochen hier im Haus war, zu Beginn Ihrer Nachforschungen, doch da hatten Sie es bereits zu Wenz gebracht. Dieser Einbruch könnte unbemerkt geschehen sein, er suchte ja nur ein Gemälde an der Wand.«

Theresa fiel die Kinnlade hinunter.

»Das ist aber unwahrscheinlich«, sprach Kiesling weiter.

»Außerdem wäre es aufgefallen.«

Nicht unbedingt, dachte Theresa, so genau nahm sie es nicht mit dem Zusperren nicht. Wenn sie es eilig hatte, ließ sie die Haustür lediglich ins Schloss fallen. Selbst Dino könnte sie dann mit einem Drahtstück öffnen. Und an die alten Fensterrahmen wollte sie gar nicht denken …

»Oder er hat Sie gleich zu Beginn verwanzt, um zu erfahren, wo das Bild ist.« Kiesling nahm sich das letzte Croissant.

»Die sind übrigens ausgezeichnet, so gute habe ich zuletzt in Italien bei Corrado, äh Renzo, gegessen. Wo war ich stehen geblieben?

Ach ja, über die Telefongespräche kommt er zu Wenz, aber zu spät, weil Schlager vor ihm da war. Dann erfährt er, wiederum durch Sie, von der Dokumentation und bricht erneut ins Atelier ein.«

Theresa lächelte schuldbewusst und zuckte mit den Schultern.

Wozu waren Handys denn da?

Kiesling fuhr fort: »Bei Wenz findet er nichts und hofft, dass er bei Ihnen mehr Glück hat. Doch hier entdeckt er wieder keine Spur, wird nervös und wirft den Stein durch Ihr Küchenfenster. In der Hoffnung, dass Sie ihm sofort alles über das Bild sagen.«

»Und genau das hätte ich getan«, gab Theresa zu. »Aber ich wusste nicht, welche Informationen er wollte.«

»Ich würde Ihnen deswegen auch niemals einen Vorwurf machen«, sagte Kiesling sanft. Theresa musste an das Foto mit den zwei Kindern auf seinem Schreibtisch denken.

»Dann macht er Schlager ausfindig. Wie, ist mir ein Rätsel. Auf jeden Fall ist er vor uns dort und holt sich das Gemälde«, schloss Kiesling seine Ausführung.

»Aber nun hat der Spuk ein Ende. Der Mörder hat, was er will, und lässt uns in Ruhe«, brachte es Leon auf den Punkt. »Dass Sie ihn finden, darauf können wir uns doch verlassen?«

Kiesling nickte. »Ich bin mir sicher.«

Theresa atmete erleichtert durch. Alles war gut!

Der Chefinspektor stand auf und verabschiedete sich. Als er seinen Mantel überwarf, rief Leon: »Halt, Sie haben uns noch gar nicht gesagt, wie Schlager ermordet wurde.«

»Er wurde erschossen. Die Kugel traf ihn mitten ins Gesicht.

Wir konnten ihn nur anhand eines Tattoos am Oberarm identifizieren.«

Alles war gut? Theresa begann zu zittern. Ständig diese Berg-und Talfahrt der Gefühle! Glücklicherweise besaß der Mörder jetzt das Gemälde und würde nie mehr ihren Weg kreuzen. Nie mehr!

Genauso wenig wie die Illuminaten, die ›Fratelli delle Stelle‹ oder wie sie sonst alle hießen.

An der Tür drückte Kiesling Theresa die Hand. »Liebe Grüße von den Kollegen der Zivilstreife. In Zukunft ein bisschen langsamer, gell?« Dann blickte er Leon mitleidig ins lädierte Gesicht und verließ das Haus.

»Du bist wieder in Wien?« Boris klang erfreut.

»Ja. Komm vorbei und hör dir die Neuigkeiten an«, erwiderte Theresa mit schlechtem Gewissen, weil sie sich nicht gleich bei ihm gemeldet hatte. »Du kannst auch deinen Boliden wieder mitnehmen. Vielen Dank übrigens für das absolut unauffälligste Fluchtauto, das ich jemals hatte. Was hast du dir dabei gedacht?«

»Dass du jeden Verfolger abhängen und eine Menge Spaß haben wirst. Außerdem hatte ich keine Zeit, um zu einem Autoverleih zu fahren. Ich hab mir in der Zwischenzeit einen Aston Martin gegönnt. Der Mietvertrag läuft noch sechs Tage, weil ich nicht wusste, wie lange du weg sein würdest. Falls ihr Lust habt, könnt ihr den Porsche weiterbenutzen.«

Das durfte Leon nicht erfahren. Er würde, ohne eine Zehntelsekunde liegen zu lassen, für eine Woche verschwunden sein. Sie überging das Thema und fragte ansatzlos: »Hast du was von Flora gehört?«

»Ja, gestern. Ihr Vater liegt noch im künstlichen Tiefschlaf. Die Ärzte wissen noch nicht, ob er Gehirnverletzungen davongetragen hat.«

»Ich versuche sie gleich anzurufen. Nachher können wir ausführlich darüber reden.«

Gerade als sie Floras Nummer wählen wollte, klingelte das Telefon erneut.

»Zurück vom Törggelen grüße ich dich, ma chère. Außerdem möchte ich wissen, wie es euch geht«, sagte Paul gut gelaunt.

»Setz dich ins Auto und komm her. Dann erhältst du ein Update, nur …«, Theresa warf einen Blick auf den Esstisch. »Die Croissants sind aus. Hat Kiesling alle gefuttert. Aber es gibt Kaffee und viele Neuigkeiten.«

»Der Inspecteur war bei euch? Ich fliege, ähm, eile.«

Bald waren sie vollzählig, dachte Theresa, außer Flora. Wieder griff sie zum Handy, als es an der Tür Sturm läutete, begleitet von einem lauten Donnerschlag.

Leon öffnete und Flora stürmte grußlos in die Küche. Dort holte sie eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank, sah sich suchend um und stutzte beim Anblick des vernagelten Fensters: »Wow, gibt es eine Taifun-Warnung? So schlimm wird das Wetter doch gar nicht.

Ach egal, hast du ein Glas für mich?«

»Es … es ist noch nicht mal 9 Uhr«, sage Theresa vorsichtig.

»Na und? Dieser elende Schmierenkomödiant!«, schimpfte Flora und schenkte Theresas leeren Kaffeebecher voll. Dann nahm sie einen großen Schluck. »Ist seit heute Früh wach und stellt sich weiter todkrank, nur um zu hören, was wir über ihn reden. Ich hasse ihn! Wieso falle ich immer wieder auf ihn rein? Wie alle seine Frauen!« Sie roch an der Tasse und verzog angewidert das Gesicht. »Und ich lasse dich allein, in deiner schwierigsten Stunde.

Es tut mir leid. Männer, die sind wirklich das …« Sie unterbrach ihren Redeschwall, setzte sich und betrachtete noch mal das zugenagelte Küchenfenster. »Die Handwerker würde ich verklagen.

Wie sieht das denn aus?« Floras Blick wanderte zu Leon, der stumm in die Küche gekommen war. Sie deutete auf sein blaues Auge. »Ehekrach?«

»Nein, Wiedersehensfreude«, antwortete er. »Tut nicht mehr weh.«

»Meine Aggressionen habe ich vorher an den Fenstern ausgelassen«, sagte Theresa. »Nachdem ich die Morddrohung gegen Dino gefunden hatte.« Langsam konnte sie die Sache in Worte fassen.

Flora sprang vom Sessel. »Was? Und ich war nicht da, um dir beizustehen. Entschuldige. Lass dich drücken!«

»Du konntest doch nicht ahnen, was passiert. An deiner Stelle wären wir alle ins Krankenhaus gefahren.« Sie holte ihrer Freundin ein frisches Glas. »Und ehrlich gesagt, bin ich froh, dass du stinkwütend bist und nicht trauern musst.«

Bevor Flora etwas erwidern konnte, läutete die Türklingel.

»Sehr gut, jetzt muss ich die Geschichte nur einmal erzählen.«

»Mon dieu!«, resümierte Paul. »Da war ein Mörder hinter dir her, der möglicherweise zweimal bei dir eingebrochen, Dino bedroht und dich verwanzt hat. Und ich fahre stupid nach Südtirol, um Kastanien zu essen!«

»Was soll ich erst sagen? Ich bin nach Hamburg geflogen.«

Schuldbewusst senkte Leon den Kopf.

»Und ich saß am Sterbebett des größten Tragöden unseres Landes«, sagte Flora.

»Einer ist glücklicherweise immer da, der hilft. Macht euch keine Vorwürfe. Es ist vorbei.« Theresa schaute in die Runde.

Keiner sprach ein Wort.

Schließlich stand Boris auf, holte seine Laptoptasche und zog ein paar Ausdrucke heraus, die er über den Tisch schob. »Hier, Zeitungsberichte aus den 80er-Jahren: ein Artikel über den Mord an Ilse Dreiseitl und verdächtig viele Nachrichten über Einbrüche bei Antiquitätenhändlern rund um Pöllau, hauptsächlich in Graz.

Über zwei, drei Monate hinweg brach jemand in zwölf Geschäfte ein, wobei in den seltensten Fällen etwas gestohlen wurde. Die Polizei ging von Vandalismus beziehungsweise von Mutproben Halbstarker aus. Nachdem die Vorfälle ein Ende genommen hatten, verliefen die Ermittlungen im Sand.«

Nichts gestohlen – wie bei Ilse Dreiseitl. Theresa wiegte den Kopf hin und her. Und wie bei ihr, bei Schlager sowie beim zweiten Einbruch im Atelier. Es war immer nur um die ›Krönung‹

gegangen. Was war ihr Geheimnis? Weshalb wurde sie seit über 30

Jahren gesucht? Weshalb wurde dafür gemordet?

Leon sprach aus, was Theresa dachte: »Wieso will jemand dieses Gemälde um jeden Preis? Dass ein paar Astronomen darauf dargestellt sind, kann nicht der Grund sein. Ist es vielleicht doch ein echter Rubens?«

Boris zuckte mit den Schultern. »Hätten da nicht die Kunsthistoriker, die Theresa angeschrieben hat, einen Verdacht geäußert? Die müssten das erkennen.«

»Experten sind auch fehlbar«, antwortete Theresa. »Aber ich will mir darüber nicht mehr den Kopf zerbrechen.« Sie stand auf und ging in die Küche. »Irgendwer Hunger? Ich mache ein paar Brote. Sonst endet unser Frühschoppen in einem Besäufnis.«

»Wir müssen auf jeden Fall Kiesling von den Einbrüchen unterrichten«, sagte Leon. »Vielleicht gibt es von den alten Ermittlungen noch Akten. Wurden damals schon Fingerabdrücke gesichert? DNA-Spuren?«

»Hören wir mit der Mördersuche auf«, rief Theresa aus der Küche.

»Ich will lediglich Kiesling informieren. Er muss den Rest erledigen«, erwiderte Leon lautstark.

»Wollt ihr nicht das Rätsel um das Bild lösen?«, fragte Boris vorsichtig.

Theresa knallte die Kühlschranktür zu. »Nein, lasst mich damit bloß in Ruhe!«

»Schatz, es ist vorbei! Dir und Dino kann nichts mehr passieren – außer du fährst zu schnell Auto. Apropos, haben wir euch schon erzählt, wie Kiesling Thesi vor der Zivilstreife gerettet hat?«

Arcetri, Oktober 1636

Carissimo et illustrissimo mio amico!

Teuerster Freund!

Wie erfreut war ich nach dem Erhalt Eures Briefes. Natürlich hat mich die Nachricht, dass es Euch gesundheitlich schlecht ging, betrüblich gestimmt, aber dass Ihr mir nicht gram seid, wie ich ursprünglich vermutet hatte, hat mein Herz erleichtert. Ich hätte den Verlust Eurer Freundschaft nicht verkraftet.

Heute habe ich eine wunderbare Nachricht, die ich Euch als Erstem mitteilen muss. Da ich immer gebrechlicher werde, meine Korrespondenz abnimmt und so die Zensoren wenig zu tun haben, und ich um nichts mehr ersuche, scheint die Kirche anzunehmen, ich hätte klein beigegeben, und gewährte meinem einstigen Schüler, dem Grafen von Noailles, mich zu besuchen. Er hatte sicher Dutzende Male bei Audienzen des Papstes für mich vorgesprochen und sich für mich eingesetzt. Nun – nach vier Jahren erhielt er die Erlaubnis zu einem Treffen. Am sechzehnten dieses Oktobers fanden wir uns beide etwas außerhalb von Arcetri ein. Und bei dieser Gelegenheit gelang es mir, dem Grafen heimlich ein Manuskript der ›Discorsi‹ zu übergeben, damit mein Werk nicht mit mir begraben, sondern verlegt werde, um es vielen Fachkennern zugänglich zu machen.

Ich fasse mich heute kurz, denn nach diesem erfolgreichen Treffen bin ich so positiv gestimmt, dass ich sofort weiterarbeiten muss.

Ach, und unser Bild wird wunderschön, ich fühle mich sehr gut getroffen.

Ich bete für Eure Gesundheit und dafür, dass es uns vielleicht doch noch einmal gelingt, uns von Angesicht zu Angesicht zu sehen.

Euer G.