Kapitel 13
Florenz, Mittwoch, 13. November Nichts! Wieder nichts! Ärgerlich warf er das Gemälde zur Seite und starrte auf den Tisch, wo ein Brief seines Arztes lag. Nur noch drei Monate. Er hatte sich mehr Aufschub erhofft, nun drängte die Zeit. Er musste es finden. Jetzt. Gleich.
Er zündete sich eine Zigarette an und setzte sich. Den Tod fürchtete er nicht mehr, dass er sterben musste, wusste er schon lange und hatte sich damit abgefunden. Sollte es wider Erwarten einen Gott geben, würde er ihn sicherlich nicht zu Gesicht bekommen und ob man in der Hölle schmorte oder in einem Sarg verrottete, machte in seinen Augen wenig Unterschied.
Die Entdeckung würde ihn jedoch unsterblich machen. Er würde aufsteigen in die Riege eines Heinrich Schliemanns oder Howard Carters. Er durfte lediglich nicht vorher …
Heiße Glut fiel auf seinen Ärmel und brannte ein Loch in den Jackenstoff. Fluchend schüttelte er seine Hand. Wie sollte er weiter vorgehen? Erst musste er warten, bis sie da wäre. Dann würde er sich die Information von ihr holen – und er wusste auch schon wie.
Sein Plan gab ihm neuen Mut. Siegessicher hob er das Bild auf und sah Galileo an. Er würde sein Rätsel lösen!
Dino starrte angestrengt aus dem Flugzeugfenster. Theresa strich ihm eine Haarsträhne hinter sein Ohr und streichelte seine Wange.
»Gefällt es dir?«
»Ja, aber ich kann Opa nirgends sehen. Er ist doch im Himmel, oder?«
Sie seufzte. Wie erklärte man einen Fünfjährigen, was nach dem Tod passiert, wenn man es selbst nicht wusste? Theresa hatte ihm die Version erzählt, die sie in ihrer Kindheit gehört hatte. Und jetzt saß Dino hier, drückte seine Nase am Fenster platt und suchte seinen Großvater in den Wolken.
Sie gab ihm zur Ablenkung den I-Pod, auf dem ein paar Märchen gespeichert waren, und fragte die anderen: »Was würdet ihr euren Kindern erzählen? Was passiert nach dem Tod?«
»Hm, difficile. Als Erstes fällt jedem der Himmel ein – so haben wir es im Religionsunterricht gelernt. Ist nicht schlecht, weil es die Angst nimmt. Uns und den Kindern«, antwortete Paul, der sich nach drei Gläsern Whisky am Flughafen gerade ein viertes einschenken ließ. »Und bitte, müssen wir jetzt unbedingt über den Tod reden?«
»Ich wusste ja gar nicht, dass du solche Flugangst hast«, sagte Theresa mitfühlend. »Und wir reden eigentlich nicht über den Tod, sondern über Religion.«
»Wie auch immer …« Paul setzt sich einen Kopfhörer auf und klinkte sich aus.
»Geht es nicht in jedem Glauben darum, die Angst vor dem Tod zu nehmen?«, überlegte Boris.
»Na ja, in meinen Augen versuchen Kirchen vorrangig, ihre Schäfchen unter Kontrolle zu haben und sie nach ihrem Willen zu manipulieren«, knurrte Flora, die eine strikte Gegnerin jeglicher Religion war, weil sie, wie Theresa wusste, den überzogenen Katholizismus ihrer Mutter für die gescheiterte Ehe ihrer Eltern verantwortlich machte.
»Manipulation mag stimmen, aber …« Theresa zögerte. Das Argument, dass Religion auch ein Gemeinschaftsgefühl und Sicherheit vermittelte, verbiss sie sich, weil in Floras Familie genau das Gegenteil passiert war.
Welche Religion sollte sie Dino näherbringen? Wie sollte sie ihm Ethik erklären? Sie beneidete Menschen, die es schafften, in Gebeten und im Gedanken an Gott Geborgenheit zu finden. Sie war vor Jahren aus der Kirche ausgetreten, weil ihre Zweifel zu stark gewesen waren. Dino sollte später selbst entscheiden, was er glauben wollte. Nur – war sie eine schlechte Mutter, weil sie ihm jetzt den Eintritt in eine Religions-und Glaubensgemeinschaft verwehrte?
»Ach, Paul hat recht, reden wir über etwas anderes«, riss Flora sie aus den Gedanken. Sie bestellte noch ein Glas Champagner und nahm Paul den Kopfhörer ab. »Neues Thema.
Was ist euer größter Wunsch und wie können wir gemeinsam daran arbeiten, ihn zu verwirklichen?« Mit einem Seitenblick auf Boris fuhr sie fort: »Ohne dass man dafür tief in die Tasche greifen muss.«
»Das ist gemein, niemals darf ich …«
»Mais oui, natürlich darfst du! Du darfst mir den nächsten Drink spendieren«, lallte Paul und hob sein leeres Glas in die Höhe. »Das ist mein größter Wunsch zurzeit.« Er deutete nach vorne. »Habt ihr den Kapitän gesehen? Der hat die Kontrolle über mein Leben und ist noch keine 25.«
Leon rechnete nach. »Schule, Ausbildung, die Anfangszeit als Co-Pilot – ja, da könnte man in dem Alter schon fliegen.«
»Mon dieu! Ein junger Bub! Mit 25 war ich noch in meiner Sturm-und-Drang-Zeit … und …« Paul überlegte.
»Niemals nüchtern? Bist du jetzt auch nicht«, sagte Flora und klopfte ihm auf die Schulter. »Keine Angst, falls die Zwei im Cockpit betrunken sind, gibt es noch immer den Autopiloten.« Sie tätschelte weiter.
»Flora!« Theresa sah sie vorwurfsvoll. »Bitte, mach keine Witze!
Wir müssen ihm gut zureden. Und versuchen, ihn zu beruhigen.«
So hatte sie ihren überkorrekten Freund noch nie erlebt.
»Schau Paul, was gäbe es Schöneres, als mit mir gemeinsam zu sterben?«, lachte Flora und nahm einen Schluck von seinem Whisky.
Na ja, sie versuchte es wenigstens, dachte Theresa, und kuschelte sich an Dino.
In der Ankunftshalle wurden sie von einer kleinen, quirligen Italienerin begrüßt.
»Das ist Adriana Noni«, stellte Boris die Frau vor. »Sie ist meine Assistentin bei allen Angelegenheiten in Italien.« Er gab ihr die Hand und hielt sie etwas länger als notwendig. Theresa registrierte es sofort, zwinkerte Flora zu und beschloss wachsam zu sein.
»Ich habe sie gebeten, uns heute abzuholen, damit Dino sie kennenlernt. Morgen Abend, wenn wir auf der Gala sind, wird sie auf ihn aufpassen.«
Adriana überreichte Dino ein großes Känguru, dessen Beutel mit Süßigkeiten gefüllt war. »Ciao bello. Weißt du was? Wir werden einen Italienischkurs machen. Das hier sind ›dolci‹. Und nun gehen wir zur ›macchina‹,« sagte sie in nahezu akzentfreiem Deutsch.
Sie nahm Dino an der Hand und die anderen folgten ihnen zum Ausgang, wo ein geräumiger Van stand.
Als sie sich von Adriana verabschiedet und ihre Plätze eingenommen hatten, programmierte Boris das Navigationsgerät und fuhr los. »Ich habe ein besonderes Hotel ausgesucht. Wenn wir schon in einer Stadt mit Geschichte sind, und uns diese Geschichte in letzter Zeit so beschäftigt hat, sollten wir auch in einem richtigen Palazzo wohnen. Ich hab das Hotel Lorenzo de’ Medici ausgewählt.«
»Toller Name, ich bin gespannt.« Flora holte ihre Kamera aus der Tasche und begann aus dem fahrenden Auto zu fotografieren.
»Ich wette, da finde ich einiges, was ich für meine Ausstellung verwenden kann.«
»Und ob, für dich ist das Hotel besonders interessant! Es hat im 19. Jahrhundert den Fratelli Alinari gehört.«
»Wirklich? Hoffentlich hängen noch ein paar Bilder dort«, rief Flora begeistert.
»Da muss ich gleich wieder an eure Verschwörungstheorien denken. Wer waren die Fratelli Alinari?«, fragte Leon neugierig und versuchte Paul wegzudrücken. Dessen Kopf lag schwer auf seiner Schulter, während er selig vor sich hin schlummerte.
»Die Brüder sind so etwas wie die Begründer der modernen Fotografie«, antwortete Flora und machte eine Aufnahme vom schlafenden Paul. »Oh, damit werde ich ihn wunderbar erpressen können.«
Sie beugte sich vor und drückte Boris einen Kuss auf die Wange.
»Danke, dass du dieses Hotel ausgewählt hast, du denkst wirklich immer an andere. Dafür werden wir morgen Abend nur für dich da sein.«
»Das ist lieb von dir. Das Lorenzo de’ Medici hat aber noch einen anderen Vorteil: Es ist nicht weit vom Palazzo Pitti entfernt, wo die Gala stattfindet. Ich …«
Boris wurde durch das Klingeln von Theresas Handy unterbrochen. Sie nahm ab und lauschte ihrem Gesprächspartner.
Sie schaute ungläubig in die Runde und sagte nach kurzer Zeit: »Es tut mir leid, ich bin eben Florenz gelandet und muss Ihnen sagen, dass das Bild gestohlen wurde.
Ja, leider … Aber danke für den Anruf. Auf Wiederhören.«
»Wer war das?«, fragte Boris.
Paul, der vom Klingeln geweckt worden war, blinzelte mit einem Auge.
»Ihr werdet es nicht glauben. Einer der Sustermans-Experten, die ich wegen der ›Krönung‹ angeschrieben habe. Domenico Casagrande. Er ist auf dem Weg nach Wien und wollte morgen das Gemälde ansehen.«
»Tja, zu spät. Aber woher hat er deine neue Nummer?«, fragte Flora.
»Keine Ahnung.«
»Wenn ich das aufklären dürfte«, mischte sich Leon ein. »Als Thesis persönlicher Handy-Verantwortlicher habe ich eine Nachricht auf die Mailbox der alten Nummer gesprochen. So bleibst du erreichbar, Schatz.«
»Irgendwie verfolgt mich das Bild. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich das will«, sagte Theresa.
»Nein, es verfolgt dich nicht. Das war lediglich eine Art Nachbeben. Die Menschen, die du kontaktiert hast, wissen eben nicht, was passiert ist«, versuchte Leon sie zu beruhigen.
»Jetzt sind wir in Giustos Wahlheimat und hätten noch so viel über ihn herausfinden können«, seufzte Flora. »Wir könnten uns morgen die ganzen Medici-Porträts ansehen.«
»Nein, die sind erstens, wie du selbst gesagt hast, nicht hübsch, und zweitens möchte ich die ganze Sustermans-Geschichte ausblenden. Ich habe das Bild nicht mehr und werde es auch nicht wieder bekommen. Außerdem gehört dieser wunderbare Kurzurlaub Boris. Ich würde viel lieber morgen die Villa ansehen, die er gekauft hat.« Theresa sah ihr Telefon an und überlegte, wieso sie es überhaupt eingepackt hatte. Alle Menschen, die ihr wichtig waren, saßen hier im Auto oder waren am anderen Ende der Welt und sowieso nicht erreichbar.
»Gut, dann fahren wir nach dem Frühstück zur Villa und später ziehen wir von einem Café zum anderen und vertreiben uns die Zeit mit philosophischen Gesprächen über Glück, Geld und Religion.« Boris drehte sich kurz zu Theresa um. »Aber nicht über Beziehungen, gut?«
»Wenn du beim Autofahren endlich wieder nach vorne sehen würdest, verspreche ich dir alles.«
»Das ist ein Wort! Darauf trinken wir noch einen«, sagte Paul, begann ›Buona Domenica‹ von Antonello Venditti zu summen und wollte aufstehen. »Oh, hier schaukelt’s aber.«
Flora drückte ihn sanft in den Autositz zurück.
Arcetri, Mai 1639
Carissimo et illustrissimo mio amico!
Teuerster Freund!
Vielen Dank für Eure schnelle Antwort. Ja, wir werden eine Lösung für die Übermittlung finden. Ich habe mit Monsù Giusto in den letzten Wochen, in den Augenblicken, wo wir unbeobachtet waren, viel darüber geredet. Heute kommt er wieder den unwegsamen Pfad von Florenz herauf, um an dem Gemälde weiterzuarbeiten.
Ach Florenz! Wie vermisse ich diese wunderbare Stadt. Die Verbannung in mein kleines Landhaus, das nur eine Meile von Florenz entfernt liegt, mit der strengen Auflage, nicht nach der Stadt zu gehen, ist schwer zu ertragen.
Der Klerus hat noch immer Angst, ich würde sofort wieder lehren und über den Gang der Sonne referieren, sobald ich einen Schritt in die Stadt machte. Dabei würde ich nur durch die belebten Straßen schlendern, alte Freunde begrüßen, die wunderbaren Kirchen, allen voran Santa Croce besuchen oder auf der Piazza Signoria im Materialienladen des Benedetto Castelli ein paar neue Arzneien kaufen, denn einen Arzt wollen sie noch immer nicht zu mir lassen.
Vor Kurzem hat mich der Großherzog der Toskana wieder hier in der Verbannung besucht. Bedeutet meine Verurteilung doch eine blamable Demütigung für ihn, weil sie seine Ohnmacht der Kirche gegenüber offenbart. Ja, der Klerus hat ihn auf seinen Platz verwiesen und demonstriert, wer der Hüter der einzigen Wahrheit ist. Doch der Großherzog setzt Zeichen, die zeigen sollen, dass er nicht gewillt ist, sich ganz zu unterwerfen. Er versicherte mir, dass mein Gemälde in seiner Sammlung berühmter Männer in den Uffizien nicht weggeschafft werden wird.
Wenigstens mein Abbild sieht noch die Schönheit von Florenz und der Florentinerinnen. Denn hier, wann sehe ich hier das weibliche Geschlecht noch? Niemals. Meine gute Maddalena, mit ihren fast achtzig Jahren, sieht schon fast aus wie ein Manne.
Wenn sie alle paar Wochen kommt, um mir das Haus zu säubern, habe ich nicht das Gefühl, eine Frau wäre zu Gast. Aber da sie für uns beide unendlich wichtig ist, werde ich kein böses Wort über sie verlieren.
Seid achtsam mit Eurer Gesundheit, ich bete wie immer für Euer Wohlergehen, denn wir alten Männer haben noch viel vor!
In inniger Verbundenheit und Dankbarkeit, Euer G.