Kapitel 8

Wien, Freitag, 8. November

Missmutig wischte sie das Herz aus Frühstücksflocken vom Tisch, als sie am nächsten Morgen verschlafen in die Küche geschlurft kam. »Ja, du mich auch. So einfach geht das nicht, mein lieber Leon«, grummelte Theresa und überlegte, was sie tun sollte. Sie wollte auf keinen Fall alleine bleiben und beschloss, Flora zu bitten, in den nächsten Tagen bei ihr zu schlafen .

Nachdem sie sich für mittags verabredet hatten, machte sich Theresa mit Dino auf den Weg in den Kindergarten. Danach erledigte sie lang aufgeschobene Einkäufe. Kühlschrank und Vorratskammer leerten sich allmählich und die gesamte Garderobe ihres Sohns war wieder einmal zu klein geworden.

Erschöpft kam Theresa kurz nach zwölf mit Dino im Schlepptau wieder nach Hause. Die Post zwischen den Zähnen und die Hände voll mit unzähligen Einkaufstaschen, steckte sie den Schlüssel ins Schloss. Dabei riss eine der Papiertüten. Joghurt, zerbrochene Eier und Haferflocken vermischten sich vor dem Eingang zu einer zähflüssigen Masse. Leise fluchend stieg Theresa darüber und öffnete die Haustür. Sie spuckte die Briefe auf den Tisch in der Garderobe und stutzte.

Irgendwie sah es chaotischer aus als sonst. Sie brauchte eine Zehntelsekunde, um zu begreifen, was passiert war. Nicht sie war, wie sonst, der Verursacher dieses Durcheinanders, hier musste ein Einbrecher am Werk gewesen sein!

Langsam ging sie weiter, Dino folgte ihr, ohne ein Wort zu sagen. Eine Spur der Verwüstung zog sich vom Flur über das Wohnzimmer und die Küche bis ins Schlafzimmer. Jemand hatte wie ein Wildschwein auf Trüffelsuche das Erdgeschoss regelrecht umgepflügt. Die restlichen Einkaufstaschen glitten Theresa aus den Händen. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie hob wie in Trance einige Bücher auf, versuchte das offensichtlich Geschehene wieder ungeschehen zu machen. Erst als Dino aufgeregt hin-und herräumte, wachte sie aus ihrer Dämmerzustand auf. Nichts angreifen! Sie musste die Polizei anrufen und diesmal sofort!

Ihr Puls begann zu rasen. Nun war es so weit – ein Anfall! In Theresas Körper pumpte es heftig, bei jedem Herzschlag hoben sich Bauchdecke und Brustkorb, die Halsschlagader schwoll an, als würde sie jeden Moment explodieren. Sie kannte diese Reaktion, wenn auch nicht in diesem Ausmaß. Ein Nerv in ihrem Herzen war fehlgeleitet, nichts Lebensbedrohliches, wenn er jedoch 
verrücktspielte, wurde sie panisch. Oder bedingte die Panik die Anfälle? Hastig nahm sie einen der Betablocker, die sie immer in ihrer Geldbörse griffbereit aufbewahrte, und würgte ihn ohne Wasser hinunter.

Als sie sich etwas beruhigt hatte, benachrichtigte sie die Polizei.

Dann setzte sie sich in die Mitte des Wohnzimmers, drückte Dino fest an sich und wartete.

Es war endgültig Zeit auszusteigen. Aber wie? Diese Geschichte brachte sie und ihre Familie in Gefahr, das war es nicht wert.

Wieso nur war jemand hinter ihr her? Und wer waren die? Wie weit waren sie schon in ihr Leben eingedrungen? Wie weit würden sie noch gehen? Dabei hatte sie bloß ein Gemälde von der Wand genommen, verdammt noch mal!

Ihre Angst begann in Ärger umzuschlagen. Der ganze Groll, der sich seit dem Streit mit Leon angesammelt hatte, entwickelte sich zu reinster, energiegeladener Wut. Niemand würde sie und ihre Familie angreifen, niemand! Weder die Illuminaten noch die ›Fratelli delle Stelle‹ oder sonst wer! Und hatten sie nicht, was sie wollten? Wenz war tot, die ›Krönung‹ gestohlen, was suchten sie bei ihr?

Theresa streichelte Dino, der eingerollt auf ihrem Schoß lag und ein Bilderbuch mit schwarzen, zotteligen Mons-tern durchblätterte.

Als es an der Tür klingelte, atmete sie erleichtert auf. Flora.

Endlich!

Vor der Haustür standen neben Flora, die ihr stumm zunickte, Robert Kiesling und Geza Zipser. Zwei weitere Männer dahinter wiesen sich als Beamte des Einbruchdezernats aus.

»Wir haben gehört, dass Sie ungebetenen Besuch hat-ten. Wir wollten Sie ohnehin wegen des Mordes nochmals befragen.«

Theresa brachte keine Begrüßung über die Lippen. Sie dachte nur, dass Kiesling auch kein erwünschter Besuch war, und winkte die Polizisten hinein. Der Chefinspektor pfiff durch die Zähne, als er die Verwüstung sah.

»Es tut mir ja so leid, komm her«, sagte Flora. Sie nahm Theresa in den Arm, die sich zusammenreißen musste, um nicht wieder loszuheulen. »Was haben wir da nur losgetreten?«

Während sich die anderen Beamten im Wohnzimmer umsahen, begleitete Kiesling die Frauen und Dino in die Küche. Flora setzte Teewasser auf. Langsam bekam sich Theresa wieder unter Kontrolle. Sie informierte den Chefinspektor darüber, wie lange sie unterwegs gewesen war, und dass sie das Chaos in dem jetzigen Zustand vorgefunden hatte.

Plötzlich funkelte Theresa den Chefinspektor böse an: »Was, wenn die Eindringlinge noch da gewesen wären? Würden Sie jetzt weiße Kreidekreise um unsere Körper ziehen und denken: Blöd, eine Verdächtige weniger? Sie sollten endlich die richtigen Verbrecher suchen und nicht …« Sie sprang abrupt auf. »Ich muss raus hier. Ich bringe Dino weg. Und Sie!«, fuhr Theresa den Chefinspektor noch mal an. »Sie glauben doch sowieso wieder, ich hätte das alles inszeniert, um das Diebesgut verschwinden zu lassen, oder? Ich bin ja immer schuld!« Ihre Stimme überschlug sich.

»Bitte beruhigen Sie sich, Frau Valier«, brummte Kiesling unangenehm berührt. »Wir sind dem Mörder auf der Spur. Heute bekommen wir endlich die DNA-Analyse. Wenn er in der Datenbank gespeichert ist, haben wir ihn. Allerdings wundert mich wirklich, was er hier wollte.«

»Vielleicht war es nicht derselbe Täter, sondern eine der Einbrecherbanden, derer ihr nicht Herr werdet«, antwortete Flora spitz.

Theresa schniefte und holte ihr neues Handy aus der Tasche.

Seit der Wanzengeschichte trug sie es stets bei sich. Leon war natürlich nicht zu erreichen. Warum auch, es waren ja nur seine Frau und sein Kind, die in höchster Gefahr schwebten! Sie überlegte, das Telefon aus dem Fenster zu pfeffern.

Flora nahm währenddessen Dino an der Hand und führte ihn aus der Küche. Kiesling, der von Theresa ignoriert wurde, stand unschlüssig herum, goss schließlich das heiße Wasser aus dem dampfenden Kessel in die Teetassen und stellte sie auf den Tisch.

Theresa versuchte nochmals vergeblich, Leon zu erreichen. In ihr begann es zu brodeln, diese unbeschreibliche Wut kroch wieder in ihr hoch! Einerseits auf Leon, der sie gerade im Stich ließ, und andererseits auf den unbekannten Eindringling, der sich anmaßte, in ihr Leben zu treten und es auf den Kopf zu stellen. Der sich erdreistete, sie aus ihrem inneren Gleichgewicht zu bringen!

»Ich habe Dino zu Karoline nebenan gebracht.« Flora stand im Türrahmen und wandte sich Kiesling zu. Sie unterhielten sich leise, Flora kicherte und errötete leicht.

Konnte sie sich nicht ein Mal beherrschen?, dachte Theresa und sah die beiden böse an, während sie geräuschvoll in der Teetasse rührte. Ihre Augenbrauen zogen sich zu einem Gewitter bringenden V zusammen.

Der Chefinspektor drehte sich zu Theresa und begann vorsichtig mit der Befragung.

»Wann …«

»Was wann? Wollen Sie schon wieder ein Alibi?«, pfauchte sie.

Reiß dich zusammen, sagte eine innere Stimme, er ist nicht Leon und er ist nicht der Einbrecher, er will dir nur helfen … Er ist ein Trottel, der dich verdächtigt und wie eine Idiotin behandelt hat, meldete sich daraufhin eine andere.

»Nein, bitte beruhigen Sie sich, atmen Sie …«

»Sagen Sie mir nicht, wie ich atmen soll, das kann ich allein, ich bin keine Blondine!«

Theresa blickte zu Zipser, der gerade zur Tür hereinkam. Er strich sich verunsichert durch seine Stoppelfrisur und verschwand sofort wieder.

Flora beobachtete ihre Freundin. Egal, was Kiesling zu Theresa sagen würde, sie würde ihn anschreien. Wenn sie so aufgebracht war, konnte sie sich nicht zügeln. Flora wusste, dass Theresa mindestens eine halbe Stunde brauchte, um sich zu beruhigen. Sie schob Kiesling ins Wohnzimmer, holte aus dem Arzneikasten im Bad Baldriantabletten und legte sie vor Theresa auf den Tisch.

»Ich hab schon einen Betablocker genommen.«

»Egal, Baldrian ist pflanzlich, das kann nicht schaden«, beharrte Flora und drückte ihre Freundin, die aufgestanden war, zurück in den Sessel. Sie hielt Theresas zitternde Hand und sah zu, wie sie die Tabletten widerwillig schluckte. Theresas Körper bebte bei jedem Atemzug und ihr wachsweißes Gesicht zuckte. Flora fühlte sich schuldig, weil es ihre Idee gewesen war, das Bild abzuhängen.

Andererseits war das notwendig gewesen, um gute Fotos davon zu machen.

Sie nahm den Teebeutel aus Theresas Tasse, gab drei Zuckerstücke hinein und rührte. Dass der Mörder so nahe an ihre Freundin herankommen würde, hätte sie nie gedacht. Es hatte alles als lustiges Spiel begonnen, wann war es ins Lebensgefährliche gekippt? Sie durfte sie jetzt nicht mehr aus den Augen lassen.

Wenn schon Leon nicht da war! Einer musste ja auf die beiden aufpassen.

Die Tür öffnete sich und Zipsers Kopf lugte herein. »Frau Lombardi, könnten Sie kurz kommen?«

Flora blickte zu Theresa, die wortlos nickte.

Arcetri, Juli 1635

Carissimo et illustrissimo mio amico!

Teuerster Freund!

Die Trauer um meine geliebte Tochter liegt noch immer wie ein schwarzer Schleier über meiner Seele. Ich selbst bin oft von tiefster Melancholie befallen und fühle mich von meiner Tochter gerufen.

Auf meine Bitte, um der Gesundheit willen nach Florenz übersiedeln zu dürfen, antwortet mir der Inquisitor von Florenz Muzzarelli brüsk, ich solle künftig davon absehen, um die Erlaubnis meiner Rückkehr nachsuchen zu lassen, sonst werde man mich nach Rom zurückbringen, und zwar in den Kerker des Heiligen Offiziums. Aus dieser Antwort, scheint mir, kann man den Schluss ziehen, dass aller Wahrscheinlichkeit nach mein gegenwärtiger Kerker nur gegen jenen sehr engen, lang währenden vertauscht werden wird, der uns allen bevorsteht.

Diese Verbannung hier zermürbt mich zusehends. Ich habe schon an Flucht gedacht, nur ich alter Greis von über siebzig Jahren, wie soll ich der Kurie entkommen? Folglich bleibe ich hier, und versuche noch so viel zu schaffen, wie es meine schwachen Augen zulassen. Nur, ich muss vorsichtig zu Werke gehen, denn ich habe das Gefühl, als durchwühlte jemand all meine geheimen Verstecke und suchte nach den neuesten Schriften. Oder sind das schon die Wahnvorstellungen, die alte Menschen des Öfteren befallen?

Gehabt Euch wohl und denkt daran, dass ich an unserer Sache arbeite.

Euer G.

Theresa starrte in die Luft. Langsam, ganz langsam begann ihr Puls ruhiger zu werden. Sie mahnte sich zur Gelassenheit.

»Es gibt für alles eine unspektakuläre Lösung«, hörte sie Leon sagen und wollte ihm so gern glauben. Sie zählte ihren Herzschlag, lehnte sich zurück und nahm noch einen Schluck Tee. Om mani padme hum, alles wird gut.

Plötzlich zerriss ein Knall die Stille. Sie hörte Glas split-tern, ein Sirren neben ihrem Ohr und Scherben, die am Fliesenboden zerschellten. Theresa erstarrte eine Sekunde, dann raste ihr Herz schneller als zuvor. In Zeitlupe sah sie einen großen Stein unter den Küchenkasten kullern.

Flora riss die Tür auf und stürmte in die Küche. »Was ist los? Ist dir etwas passiert?«

»Nein, alles in Ordnung«, stammelte Theresa geschockt. Der Tee in ihrer Hand schwappte über, sie hatte das Zucken ihres Armes nicht unter Kontrolle. »Alles in bester Ordnung.«

Gleich würde sie einen hysterischen Anfall bekommen, einen richtigen hysterischen Anfall! Einatmen, ausatmen. »Ich muss mich hinlegen, es geht mir gleich besser. Raus aus der Küche!«

Theresa fegte die Scherben unter den Kasten und legte sich auf den Boden. Shavasana, die Totenstellung, brachte die absolute Entspannung. Wie lange hatte sie schon kein Yoga mehr gemacht … Sie starrte an die Decke. Der nächste Stein würde direkt auf ihrem Kopf landen.

Wer war das gewesen? Hatte sie einen Nachbarn vergrault? Sie war immer freundlich zu allen, bis auf … Nein, die war über 80 …

Also doch die Illuminaten oder eine andere Geheimgesellschaft?

Nur würden die vor der Tür stehen und Steine werfen, während das Haus voller Polizisten war?

Theresa hörte das Knarren der Eingangstür, Schritte, die auf dem Kiesweg knirschten, und ein paar Minuten später Zipsers Stimme durch die zerbrochene Fensterscheibe. »Nichts, kein Mensch zu sehen. Muss ein Kind gewesen sein, das sich einen Scherz erlaubt hat. Kommt wieder rein Jungs, die Spurensicherung drinnen ist wichtiger.«

Der Einbruch war allerdings kein Scherz. Sie hatte noch gar nicht nachgesehen, was gestohlen worden war. Ihr Schmuck, die Münzsammlung, die Sparbücher, die Kelche von Papa … Nicht noch ein Erinnerungsstück!

Theresa beschloss nachzusehen, aber sie konnte nicht aufstehen.

Die Beine versagten, waren im Shavasana und wollten es offensichtlich auch bleiben. Wenigstens fünf Minuten.

Auf einmal schwebte Kieslings Kopf über ihr. »Geht es wieder, Frau Valier? Soll ich Ihnen aufhelfen? Nur wenn Sie wollen, natürlich.«

Na, kann er doch freundlich sein, der Herr!

»Nein danke, ich schaffe das alleine.«

So elegant wie möglich erhob sich Theresa, zwang ihren Körper zu gehorchen, strich ihren Pullover, an dem einige kleine Glassplitter hingen, glatt und setzte sich kerzengerade an den Küchentisch. »Gut, wir können reden. Ich bin entspannt.«

Die zusammengekniffenen Lippen, die zitternden Hände widersprachen dem ganz offensichtlich, aber Kiesling würde sowieso keine ehrliche Antwort von ihr erwarten.

»Wir haben die meisten Spuren gesichert. Laut Flora fehlt nichts.

Es wurde nur ein unbeschreibliches Chaos angerichtet, als hätte der Täter etwas Bestimmtes gesucht.«

»Die Kronjuwelen wahrscheinlich.«

Es fing schon wieder an, sie hatte sich nicht im Griff! Beherrsch dich, Theresa!, rief sie sich zur Räson. Sie atmete tief durch und sagte langsam: »Entschuldigung, beginnen wir von vorne. Sie sagten, dass nichts gestohlen wurde. Schön.«

»Genau. Aber die Laden wurden durchwühlt, die Ordner herausgerissen und durchgeblättert. Was könnten die gesucht haben?« Kiesling sah sie mitfühlend an und zum ersten Mal spürte sie so etwas wie Sympathie für ihn.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Theresa.

»Vielleicht die Dokumentation«, warf Flora ein, die in die Küche gekommen war. »Übrigens, als ich Dino vorhin zu Karoline gebracht habe, meinte sie, dass sie ihn am späten Nachmittag zum Laternenumzug in den Kindergarten mitnimmt.«

Der Heilige Martin! Dino freute sich seit Tagen darauf und Theresa hätte es fast verschwitzt. Danke, liebe Nachbarin, jetzt konnte sie bis zum Laternenfest in Ruhe das Durcheinander beseitigen.

»Von einer Dokumentation habe ich doch schon einmal gehört«, drang Kieslings Stimme zu ihr durch.

Alle unfreundlichen Gefühle, die der Chefinspektor in ihr wachgerufen hatte, waren mit einem Schlag wieder da. »Ja, bei Wenz! Wenn Sie mir zugehört und mich nicht wie ein unfolgsames Schulmädchen abgekanzelt hätten, wüssten Sie, dass der Einbruch im Atelier nur deswegen stattgefunden haben muss. Vielleicht glauben Sie es jetzt und verdächtigen mich nicht mehr«, knurrte Theresa.

»Tut mir leid, aber ich muss zuerst das Naheliegendste annehmen, und das stimmt in 95 Prozent aller Fälle«, sagte Kiesling.

»Sehe ich wie eine Einbrecherin und Mörderin aus? Machen wir hier weiter, ich muss aufräumen und in den Kindergarten.«

»Vorher möchte ich alles über die Dokumentation wissen.

Würden Sie sich bitte noch die Zeit nehmen?«

Theresa und Flora erzählten abwechselnd von den Ereignissen der vergangenen Tage, über ihre Recherchen, Theresas Auftrag an Wenz und die Vermutung, was auf dem Bild dargestellt sein könnte.

Kiesling machte Notizen, stöhnte über der Flut der Informationen und schrieb alles mit, nicht ohne seine Hand hin und wieder auszuschütteln. Theresa überlegte, wohin sein wunderbares Diktiergerät verschwunden war.

»Hätten Sie mir das nicht vorher erzählen können?«

»Und welchen Teil im Speziellen?« Theresa sah ihn eindringlich an. »Es sind doch einige wirre Theorien dabei, Sie hätten mich wahrscheinlich einliefern lassen. Und bei unserem letzten Treffen im Atelier wollte ich ja darüber sprechen, aber wie gesagt, Sie haben mich wie eine durchgeknallte Mörderin behandelt.«

»Es war eben verdächtig, Sie an einem Tatort vorzufinden. Und das zum zweiten Mal«, verteidigte sich Kiesling.

Theresa nickte. Ein Nicken, das genau das Gegenteil einer Zustimmung bedeutete. »Was gedenken Sie nun zu tun?«

»Zuerst schauen wir, ob die Spurensicherung hier etwas entdeckt. Meistens machen Täter Fehler. So wie ich das sehe, ist der Mörder hinter dem Bild und dieser Dokumentation her.

Vielleicht hat er im Atelier nicht das gefunden, was er gesucht hat.« Kiesling stand auf und rief nach draußen: »Geh Geza, ruf den Huber an. Der hat die Kamera des Opfers bestimmt noch nicht untersucht. Ich möchte die letzten Fotos sehen, die drauf sind. Er soll mir alle simsen.«

Der Chefinspektor wandte sich wieder an Theresa. »Da er in der Werkstatt erfolglos war, dachte der Täter wahrscheinlich, die Unterlagen seien bei Ihnen. Auf dem Speicherchip der Kamera werden wir bald sehen, worauf Wenz gestoßen ist. Wir haben bis jetzt erst seinen PC samt E-Mail-Verkehr überprüft.« Kiesling ging zum kaputten Fenster und sah hinaus. »Das hier ist mir aber unerklärlich.«

»Wie Sie es darstellen, hat das Ganze Hand und Fuß. Der Täter hat mich abgehört, weil er wissen wollte, wo die ›Krönung‹ ist. So erfuhr er von Wenz und stahl ihm das Bild. Vermutlich hat er am Gemälde nicht das Erhoffte entdeckt.

Dann hörte er von der Dokumentation im Geheimfach. Allerdings fand er im Atelier nichts, weil Wenz alles digital gespeichert hatte.

Und zwar auf dem Kamerachip oder dem Computer – beides befindet sich jetzt im Präsidium.«

»Ist das verwirrend … Wieso bricht er bei dir ein?« fragte Flora.

»Anscheinend hat er mich nicht nur abgehört, sondern auch beschattet! Ja, ja, ich und Verfolgungswahn!« Theresa schnaubte, als sie an Leon dachte. »Er muss beobachtet haben, dass ich nach dem Einbruch im Atelier war. Er hat bestimmt gedacht, ich hätte etwas gefunden, was er übersehen hatte.«

»Als Nächstes stiehlt er sicher die Digitalkamera und den Computer aus der Asservatenkammer«, sagte Flora und wandte sich an Kiesling. »Da würde es mich nicht wundern, wenn morgen ein Panzer anrollt und durch die Mauer eures …«

»Einzig der Steinwurf passt nicht hinein«, unterbrach Theresa die Ausführungen ihrer Freundin, die sie stark an einen James-Bond-Film erinnerten, den sie vor Kurzem gesehen hatte.

»Außer der Täter ist ein Choleriker und hat sich geärgert, dass er wieder nicht erfolgreich war.« Doch eigentlich glaubte Theresa selbst nicht an ihren Erklärungsversuch.

»Es waren wahrscheinlich Kinder«, versuchte Kiesling zu beruhigen. »Mörder und Einbrecher sind schnell über alle Berge, wenn die Polizei anrückt.«

Das Piepsen von Kieslings Handy signalisierte ihnen, dass Huber seinen Auftrag ausgeführt hatte. Der Chefinspektor betrachtete die Bilder auf seinem Display und seufzte. »Zu klein, um etwas zu erkennen, das muss ich mir im Büro genauer ansehen.«

»Chef, wir sind fertig. Wir haben ein paar Fingerabdrücke gefunden, allerdings brauchen wir noch Vergleichsabdrücke von den Herrn Valier senior und Valier junior.« Zipser hatte leise den Raum betreten. Er sah Theresa vorsichtig an, als erwartete er, jeden Moment von ihr angeschnauzt zu werden. Da nichts geschah, fuhr er fort: »Wir haben herausgefunden, wie der Einbrecher hereingekommen ist. Er hat eines der alten Fenster, hinten bei der Gartenseite, aufgedrückt und ist über das Kinderzimmer eingestiegen.«

»Dino sieht Monster, zitiert Kinderbücher! Ist paranoid wie seine Mutter!« – Leon, du kannst dich auf etwas gefasst machen, wenn du zurückkommst, fuhr es Theresa durch den Kopf. Sie biss sich auf die Unterlippe. Diese verdammten zugigen Fenster würde sie ebenfalls demnächst austauschen lassen.

»Und wir haben das Wurfgeschoss gefunden«, schloss Zipser seinen Bericht. Er hob einen Plastikbeutel hoch, in dem ein faustgroßer Stein lag.

»Gut, ich habe so weit alles, was ich brauche. Die Wanze wird noch untersucht, beim letzten Anruf von Wenz konnten wir keine Nebengeräusche finden, die uns weitergebracht hätten, und die DNA-Auswertung bekommen wir, wie gesagt, heute. Ich rühre mich, wenn es Neuigkeiten gibt. Brauchen Sie noch Hilfe wegen des kaputten Fensters? Ich kenne eine Glaserei in der Nähe.«

Schau, schau, er konnte ja sogar nett und zuvorkommend sein.

Theresa versuchte ein Lächeln, das ihr allerdings nicht gelingen wollte. »Nein danke, ich muss jetzt zum Laternenumzug meines Sohnes. Ich weiß nicht, wann der aus ist. Ich klebe das Loch mit Karton zu. Flora bleibt sowieso über Nacht hier und morgen lasse ich es richten.«

»Gut, dann gehen wir jetzt. Auf Wiedersehen, Frau Valier. Ciao Flora.«

Nachdem der Polizeitross abgezogen war, blieben die Freundinnen am Küchentisch sitzen und sahen sich lange an.

Flora brach schließlich die Stille. »Unser Bild, was? Schöne Scheiße.«

Theresa musste unwillkürlich lachen, treffender hätte sie es nicht ausdrücken können. »Was machen wir nun?«

In diesem Moment läutete Floras Handy. »Entschuldige ganz kurz, ich erwarte einen geschäftlichen Anruf.«

»Genehmigt.«

Flora hob ab, sprach jedoch kein Wort. Sie wurde von Minute zu Minute bleicher.

Als sie aufgelegt hatte, sagte sie mit brüchiger Stimme: »Mein Vater. Er hatte einen Autounfall. Er liegt im AKH auf der Intensivstation. Sie wissen nicht, ob er …«

Theresa nahm sie in den Arm. »Du musst zu ihm. Ich rufe dir ein Taxi. Komm, nimm die hier.« Sie drückte Flora die letzten drei Baldriantabletten und ein Glas Wasser in die Hand.

Gemeinsam gingen sie hinaus und warteten stumm vor der Eingangstür, bis Flora abgeholt wurde.

»Ruf mich an, wenn es ihm besser geht. Versprochen?«

»Versprochen.«

Arme Flora. Theresa ging zurück ins Haus, nachdem das Taxi abgefahren war. Sie konnte sich vorstellen, wie sich ihre Freundin jetzt fühlte. Die Gedanken daran ließen sie ihre eigenen Probleme mit etwas Distanz betrachten.

Pragmatisch, wie sie ab und zu sein konnte, überlegte Theresa, was sie mit den Fenstern machen sollte. Sie sah sich zunächst den Schaden in Dinos Zimmer an. Der Einbrecher hatte nur den Zapfen der unteren Verankerung zerbrochen. Wenn sie das Fenster mit einer Querlatte verriegeln konnte, wäre es einigermaßen gesichert, bis morgen ein Tischler kommen würde.

Zurück in der Küche dachte Theresa beim Anblick der zerbrochenen Scheibe, dass diese Reparaturen aufwendiger werden würden. Sie holte Schaufel und Besen, um erst mal die Scherben zusammenzukehren. Zwischen den Glasstücken, die sie unter der Kredenz hervorholte, entdeckte sie einen Stein, der genauso groß war wie der in Zipsers Plastiktüte.

Scheint beim Aufprall wohl auseinandergebrochen zu sein, überlegte sie und hob ihn hoch. Jetzt erst bemerkte Theresa den Zettel, der auf den Stein geklebt war. Sie riss ihn hastig herunter und nestelte das Papier zitternd auseinander.

›ICH WILL DIE INFORMATIONEN ODER DEIN SOHN IST TOT. TREFFPUNKT 18 UHR 
STEPHANSDOM. INSTRUKTIONEN FOLGEN.‹

Darunter stand eine Telefonnummer.

Erst nachdem sie die Nachricht zum zweiten Mal gelesen hatte, begriff sie den Inhalt. Die Erkenntnis kam einer Explosion in ihrem Kopf gleich. Das Blut in ihren Schläfen begann heftig zu pulsieren.

Sie war also noch nicht aus der Gefahrenzone, wie ihr Kiesling weiszumachen versuchte! Im Gegenteil, sie stand mitten in der Schusslinie. Und Dino neben ihr!

Ein Beben ging durch ihren Körper, dann erstarrte sie für einen kurzen Moment. Schließlich rannte sie los, hetzte durch die Vorgärten und hämmerte an Karolines Tür. Durch den Postschlitz hörte sie ihren Sohn mit seinem Freund Georg, dem Nachbarsjungen, lachen. Er war noch da!

»Danke fürs Aufpassen«, keuchte Theresa atemlos, als Karoline öffnete, und rief ins Haus hinein: »Komm, mein Schatz, wir machen uns fertig für den Kindergarten.«

Gut gelaunt hüpfte Dino auf sie zu. Theresa drückte ihren Sohn fest an sich und musste die Tränen zurückhalten. Ihm würde nichts passieren, dafür würde sie sorgen. Ihm nicht!

Mit Dino an der Hand lief sie nach Hause. Sie schloss die Tür zweimal hinter sich ab und versuchte Kiesling zu erreichen.

Natürlich, die Mailbox, Scheißhandys! Immer zur Stelle sein müssen, nur nicht, wenn es wirklich wichtig war! Theresa räusperte sich und hinterließ nach dem Signalton eine Nachricht.

Wer konnte ihr jetzt noch helfen? Leon saß in Hamburg bei einem Termin und war nicht erreichbar, Flora hatte andere Probleme, Paul und seine neueste Eroberung turtelten beim Törggelen in Südtirol. Blieb Boris. Doch zuerst brauchte sie einen Plan. Hier bleiben konnte sie auf keinen Fall, zum Stephansdom gehen auch nicht. Was hätte sie dem Verfolger auch übergeben können? Nichts! Sie wusste doch nicht, was er wollte! Sie musste weg, weit weg. Nur wohin? Wenn er sie verfolgte, würde sie jeden Helfer in Gefahr bringen. Zu ihrer Mutter konnte sie nicht, die saß wahrscheinlich gerade im Flugzeug nach Chicago. Theresas graue Zellen ratterten auf Hochtouren. Mit wem hatte sie schon länger keinen Kontakt mehr gehabt, mit wem wurde sie nicht sofort in Verbindung gebracht? Natürlich! Rena! Sie würde zu ihr in die Südsteiermark fahren. Keine Spur führte dorthin.

Sie wollte schon ins Schlafzimmer rennen und ihre Sachen zusammensuchen, als sie innehielt. Beschattete er sie jetzt?

Vorsichtig sah sie aus dem kaputten Fenster. Da war niemand.

Theresa überlegte, dass sie die zerbrochene Scheibe irgendwie abdichten sollte. Da die Rahmen sowieso erneuert werden mussten, beschloss sie, erst mal alles zuzunageln. Im Keller lagen noch ein paar Latten von Dinos Baumhaus. Die waren perfekt.

»Komm Dino, hilf mir ein bisschen hämmern. Das wird uns beiden guttun. Wir bauen ein paar Fensterläden.«

»Super, dann schauen auch keine Monster mehr rein!«

»Das ist meine Absicht«, flüsterte Theresa.

Nachdem sie gemeinsam die Bretter geholt hatten, nagelten sie sie kreuz und quer auf den Holzrahmen. In der Küche wurde es immer dunkler, bald war kein Glas mehr zu sehen. Leon würde einen Anfall bekommen, wenn er das sah. Sollte er doch! Wenn er da gewesen wäre, hätte er die Reparatur übernehmen und ihnen beistehen können. Nun war sie allein und auf sich gestellt.

Theresa hämmerte sich ihren Frust, ihre Angst und ihre Anspannung von der Seele. Nach einer dreiviertel Stunde sah die Küche hurrikansicher aus und Theresa hatte einen Entschluss gefasst. Sie rief Boris an.

»Hallo Thesi, schön von dir …«

»Boris, ich brauche dringend deine Hilfe.«

»Oh, du klingst nicht gut.«

»Ich erkläre dir alles später. Bitte besorge mir ein Mietauto.

Parke es am Hintereingang des Kindergartens. Sofort. Schlüssel, wie in alten Zeiten. Dann ruf Flora an, die braucht dich jetzt! Fahr nachher zu ihr ins AKH. Danke. Ich melde mich, sobald wir in Sicherheit sind.«

»In Sicherheit? Was ist los? Und wieso ist Flora im Krankenhaus?«, fragte Boris alarmiert.

»Erklärt sie dir später, bitte mach jetzt, worum ich dich gebeten habe.«

»Klar. Aber melde dich, ja?«

»Versprochen, danke noch mal.«

Theresa strich Dino, der neben ihr erwartungsvoll seine Laterne schwenkte, über die Haare und überlegte, ob sie Leon auf die Mailbox sprechen sollte. Sie rechnete überhaupt nicht mehr damit, ihn persönlich ans Telefon zu bekommen. Sie beschloss, ihn nicht zu verständigen. Sollte er sich doch mal Sorgen machen, wenn sie nicht zu erreichen war …

In ihr stieg wieder Ärger hoch. Trotzdem – durfte sie ihm das antun, ihn bewusst im Unklaren lassen? Wenn er heimkam und das Chaos hier sah? Eine Nachricht sollte sie ihm hierlassen, nur welche? Es musste etwas Verschlüsseltes sein, damit der Verfolger nicht sofort wieder ihre Spur aufnehmen konnte, falls er noch mal einbrach.

Theresa schrieb auf einen großen Zettel »Besprechung im ARena Verlag – nicht vergessen«, hängte ihn auf den Kühlschrank und hoffte, dass Leon begriff. Dann fuhr sie mit ihrem Sohn zum Laternenumzug.

Im Kindergarten lief alles nach Plan: Dinos Freund freute sich über den vorgeschlagenen Jackentausch und auch Karoline zögerte nicht, Theresa den Mantel und die Mütze zu borgen. So verkleidet huschten Theresa und Dino nach dem Laternenumzug unerkannt über den Spiel-und Sportplatz. Am Hinterausgang des Areals stand bereits der Wagen bereit.

Theresa zuckte. Typisch Boris! Ein Fluchtauto sollte unauffällig sein, aber was da stand, war alles andere als unauffällig! Sie stöhnte angesichts seines weißen Porsche Cayman, der in der Dämmerung glitzerte. Hoffentlich konnte sie das Ding überhaupt starten.

Sie ging um den Wagen herum. Der Schlüssel musste wie früher auf dem rechten Hinterreifen liegen, als sie sich für einige Zeit ein Auto zu dritt geteilt hatten. Theresa bückte sich und griff unter den Kotflügel. Schön, dass Wien so sicher war! Sie schüttelte resignierend den Kopf. Wenn das wirklich der Fall wäre, müsste sie jetzt nicht flüchten. Andererseits war das allein ihre Schuld, nicht die der Stadt. Hätte sie nicht begonnen, Nachforschungen anzustellen, ihr Leben würde nicht in diesem Chaos versinken.

Chaotisch war es zwar immer gewesen, aber ihr tägliches Durcheinander hatte eine andere Qualität gehabt. Irgendwie positiver.

Theresa schnallte Dino im Kindersitz, den Boris vorne montiert hatte, an. Dann setzte sie sich hinters Lenkrad, atmete tief durch und drückte auf den Startknopf. Als der Motor leise schnurrte, fuhr sie ganz langsam los, um ein Gefühl für das Auto zu bekommen, dabei kontrollierte sie ständig im Rückspiegel, ob ihr verdächtige Fahrzeuge folgten. Dino hatte in der Zwischenzeit einen transportablen DVD-Player mit dem Zeichentrickfilm ›Aristocats‹

entdeckt. Theresa musste an Renoir denken. Der Arme hatte den Mord sicherlich beobachtet und wusste genau, was geschehen war.

Leider konnte er es niemandem sagen.

Sie grübelte, wer hinter ihr her sein könnte. Wirklich ein Geheimbund wie Floras ›Fratelli delle Stelle‹? Hatte nicht jemand vor Kurzem zu ihr gesagt, sie solle sich vor den Italienern hüten, weil sie seine Frau ermordet hätten? Richtig – Dreiseitl! Und war nicht er ursprünglich der Besitzer der ›Krönung‹ gewesen? Sie musste herausfinden, was damals passiert war. Oder Boris darauf ansetzen!

Die Landschaft rauschte an ihr vorbei, während die Gedanken unablässig in ihrem Kopf kreisten. Plötzlich überholte sie ein Wagen, fuhr auf ihre Spur und bremste. Auf einer Anzeige blinkte ›Bitte folgen‹.

Zivilstreife! Wieso hatte sie in letzter Zeit dauernd mit der Polizei zu tun? Sie wurde langsamer und blieb am Pannenstreifen stehen. Mürrisch beobachtete sie im Rückspiegel die zwei Beamten, die auf sie zukamen.

»Grüß Gott, sind wir ein bisserl zu schnell gefahren?«, fragte einer der beiden und blickte zu ihr durchs Fenster.

Sie etwa auch, Herr Inspektor? … Reiß dich zusammen Theresa, keine blöde Bemerkung!

Theresa stieg aus und stellte sich neben den Porsche, sodass ihr Gesicht für vorbeifahrende Autos nicht zu erkennen war.

»Entschuldigung, ich habe den Wagen gerade erst bekommen und die Geschwindigkeit nicht bemerkt. Bei meinem alten klappert ab 130 alles, da werde ich dann langsamer. Aber der Porsche hier ist so wunderbar leise.«

»Schön für Sie. Trotzdem, Sie sind fast 180 gefahren, das ist zu schnell.«

Theresa war sprachlos. Da hatte sich ihre Nervosität wohl direkt aufs Gaspedal übertragen. Sie verzog den Mund und überlegte, ob sie jetzt den Führerschein los war. Das fehlte ihr gerade noch!

»No, das schaut nicht gut aus«, sage der zweite, kleinere Polizist.

Er zückte seinen Block, als ihn das Klingeln von Theresas Handy unterbrach.

»Darf ich kurz rangehen?«, fragte sie und setzte ein falsches Lächeln auf. Sie sah am Display Kieslings Namen und nahm ab.

»Hallo, Herr Chefinspektor.«

»Entschuldigen Sie, ich habe Ihre Nachricht erst jetzt abgehört, weil es einen … Krks … Mord gab. Verdammt … Krks, Krks …

los in letzter Zeit. Wo sind … Krks … jetzt?«

»Auf der Flucht«, sagte Theresa lauter als notwendig. Die Polizisten zuckten zusammen. Sie konnte in ihren Gesichtern lesen, was die beiden gerade dachten: »Was, die Tussi war auf der Flucht?

Porsche gestohlen? Das wird eine ergiebige Amtshandlung werden!«

»Deshalb brauchen Sie keine Bewachung zur Verfügung zu stellen«, fuhr Theresa fort, um die Spannung der Beamten noch zu steigern. »Können Sie mit der Telefonnummer des Steinwerfers etwas anfangen?«

»Das … Krks … Prepaidcard … Krks … schwer etwas aus-zuforschen«, hörte sie Kiesling bruchstückhaft. »Wohin … Krks …

haben …?«

Theresa ahnte, was er fragen wollte und antwortete: »Ich tauche für zwei, drei Tage unter und komme wieder, sobald mein Mann aus Hamburg zurück ist.«

»Dann melden Sie … Krks … bei mir. Übrigens, wir haben den Namen des Mörders … Krks … Katze … Krks …« Theresa war erleichtert. Wenn die Polizei wusste, wer der Täter war, konnte es nicht mehr lange dauern, ihn aufzuspüren.

»Ich brauche Ihre Hilfe«, unterbrach Theresa Kiesling. Sie musste die Zivilstreife unbedingt loswerden und ihren Führerschein behalten. »Bin wohl ein bisschen zu schnell gefahren. Darf ich an Ihre Kollegen weiterreichen?«

Sie gab das Telefon dem Kleinen mit dem Kugelschreiber.

»Jo, servus … Na … Die Dame im Porsche …«

Der Polizist nickte, Theresa merkte, dass er Schwierigkeiten hatte, zu Wort zu kommen.

»Aber mit 180? Ist schon a bissl … Aha … Verstehe …

Okay … Gut … Danke … Servus.«

Theresas Grinsen wurde breiter. Es war doch schön, ›Freunde‹

bei der Polizei zu haben.

Der Beamte gab ihr das Telefon zurück. »Gut, Sie dürfen weiterfahren. Aber bitte, nicht mehr so schnell. Auf Wiedersehen.«

Der andere sah ihn perplex an. »Und der Führerschein?«

»Darf sie behalten, komm, die wird von einem Mörder verfolgt …«, brummte der Polizist, während er zurück zu seinem Dienstauto ging. Ein heftiger Windstoß blies ihm die Mütze vom Kopf und zwei schwarze Haarsträhnen kamen zum Vorschein, die wie kleine Hörner in die Höhe standen.

»Das Monster, Mama! Genau so hat es ausgesehen«, rief Dino aus dem Auto. Theresa deutete ihm, still zu sein. Eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung fehlte ihr gerade noch.

Der Beamte hob seine Kappe auf, klopfte den Staub weg und drehte sich, den Kommentar von Dino geflissentlich überhörend, noch einmal zu Theresa. »Sollen wir Sie eskortieren?«

»Nein, vielen Dank. Chefinspektor Kiesling hat den Mörder so gut wie verhaftet.«

Theresa winkte zum Abschied, stieg ins Auto und fuhr langsam los. Sie war deutlich entspannter als zuvor.

»Fliehen wir eigentlich vor dem Monster, Mama?«

»Nein, wie kommst du darauf?«

»Nur so.«

Theresa legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel und beruhigte ihn. »Wir besuchen Rena, weil Papa nicht da ist und Flora keine Zeit hat. Außerdem gibt es keine Monster. Nur Menschen, die ein bisschen danach aussehen. Wie der Polizist eben.« Sie machte eine Pause und fügte im Stillen hinzu: ›Und sich so verhalten.‹ Zu Dino gewandt sagte sie: »Wenn ich bei dir bin, brauchst du vor nichts und niemandem Angst haben. Versprochen.«

Die Spitze des Stephansdoms steckte im Nebel. Suchend sah er sich um. Sie war nicht da. Verärgert kickte er eine leere Dose weg.

Verdammt, spielte sie mit ihm? Er war sich sicher gewesen, dass sie kommen würde, dass sie alles für ihren Sohn getan hätte. Sie wusste etwas, bestimmt sogar, sonst wäre sie nicht noch mal bei Wenz gewesen. Diese idiotische Dokumentation im Geheimfach hatte überhaupt nichts gebracht. Er musste endlich das Bild finden, sicher war der Schlüssel dort versteckt. Was würde sie wohl als nächstes tun? Auch das Gemälde suchen und es vielleicht vor ihm entdecken?

Er musste sofort aufbrechen und etwas dagegen unternehmen.

Theresa und Dino standen vor Renas Haus. Ihre Freundin war vor zwei Jahren in die Südsteiermark gezogen. Zuletzt hatten sie sich vor sieben Monaten hier getroffen. Trotz der Dunkelheit sah Theresa, dass sich alles verändert hatte. Der gepflegte Garten war üppig angewachsen, die Rosenstauden waren voller Hagebutten.

Sie verglich es neidvoll mit ihrem verwilderten Urwald hinterm Haus.

Als sie auf den Klingelknopf drückte, hoffte sie inständig, dass Rena zu Hause war. Sie hatte sie vor ihrer Abfahrt telefonisch nicht erreichen können. Und im Dorfgasthaus wollte sie ungern warten.

Vor allem, weil sie mit einem Porsche vorfahren müsste. Was würden die dort starren und glotzen. Dafür hatte sie heute keine Nerven mehr. Dino fing gerade an zu quengeln, als sich die Tür öffnete.

»Thesi! Ich kann es nicht glauben, was für eine Überraschung.«

Erfreut umarmte Rena erst Theresa, dann Dino.

»Eine schöne hoffe ich«, antwortete Theresa verlegen.

»Natürlich, kommt rein. Kaspar wird erst strahlen, er ist im Keller. Du kannst gleich zu ihm sausen«, sagte Rena lachend und schob Dino ins Haus. Eine Sekunde später war er verschwunden.

»Komm mit in die Küche, ich stelle Teewasser auf. Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs? Toll, dich zu sehen.

Obwohl ich sagen muss, du siehst nicht gut aus.«

»Mir geht es auch nicht sonderlich.«

Theresa setzte sich an den Küchentisch und erzählte ihre Geschichte. Nachdem sie fertig war, fragte Rena sichtlich mitgenommen: »Reicht Tee oder sollen wir noch etwas anderes trinken?«

»Bitte nur Tee – zur Beruhigung. Darf ich kurz Boris anrufen?«

»Klar«, antwortete Rena und durchsuchte ihre Vorräte.

Boris hob beim ersten Läuten ab. »Kannst du mir jetzt endlich sagen, was los ist?«

»Bei uns wurde eingebrochen und ich musste flüchten. Würdest du mir noch mal helfen? Ich glaube, ich bin da auf eine Spur gestoßen, die vielleicht mit all diesen furchtbaren Ereignissen zusammenhängt.« Theresa bat ihn, die Todesanzeige von Dreiseitls Frau zu suchen. Sie machte eine kurze Pause und dachte nach.

1986 hatte sie mit der Schule begonnen, Ambrosius war damals bereits verwirrt gewesen. Das bedeutete, Frau Dreiseitl musste auf jeden Fall vorher gestorben sein. Als sie Boris sagte, er könne seine Recherche auf die Zeit zwischen 1970 und 1986 eingrenzen, stöhnte er. »Gut, ich werde die Nacht durcharbeiten.«

»Es ist nicht so dringend. Kiesling hat mich informiert, dass sie die DNA von Remberts Mörder haben, also werden sie ihn hoffentlich bald schnappen. Aber danke und bis bald.«

Theresa legte das Handy weg und ging zu Rena, die gerade den Tee aufgoss. »Ich will dir nicht weiter vorjammern, erzähl mir vom idyllischen Landleben. Ich brauche positiven Input.«

»Gerne«, antwortete ihre Freundin und räumte das Geschirr auf den Tisch. »Nur ist es mit der Idylle so eine Sache, ich hatte vergessen, wie es hier wirklich ist. Nach 15 Jahren in Wien dachte ich, alles sei schöner, grüner, gesünder und friedlicher. Aber ich hätte mich an meine Kindheit im Dorf zurückerinnern sollen, um zu wissen, dass der Mikrokosmos genauso grauslich, grau, ungesund und zänkisch ist.«

»Hm, das klingt nicht aufmunternd«, erwiderte Theresa bedrückt und nahm sich einen Apfel aus dem Weidenkorb neben dem Küchentisch.

»Ich glaube momentan, dass der Umzug der größte Fehler war, den ich seit Langem gemacht habe.«

»Wieso?« Theresa sah aus dem Fenster. Hier war es doch so wunderbar ruhig, seit ihrer Ankunft war noch kein einziges Auto die Straße entlanggefahren. Jeder Verfolger würde hier auffallen, wie ein … Ja, wie ein weißer Porsche Cayman mit schwarzen Felgen und roten Bremsschreiben.

Erst jetzt kam sie dazu, das Wunderding, das sie unter einer Laterne geparkt hatte, genauer zu begutachten. Boris hatte wirklich ein schnittiges Gefährt.

Rena unterbrach ihre Betrachtungen. »Ich wusste zum Beispiel nicht, dass es die Aufklärung noch nicht bis aufs Land geschafft hat.«

»Was meinst du damit, Sexualkunde oder Epoche der geistigen Entwicklung?«, fragte Theresa schmunzelnd.

»Die Epoche natürlich. Ich habe Kaspar zum großen Ärger des hiesigen Direktors in eine Waldorfschule im Nachbarort gegeben.

Seither mobbt er uns, wo er nur kann. Und so einer erzieht unsere Kinder! Ja, ja, Pfarrer und Schulleiter sind die einzigen Instanzen am Land. Jeder, der anders ist oder progressiv denkt, wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Bildlich gesprochen, natürlich.«

Bei diesen Worten klingelte etwas in Theresa Hirn. Irgendetwas, das sie vergessen hatte, aber Rena sprach weiter und der Gedanke verflüchtigte sich.

»So, ich hole mir jetzt doch ein Glas Wein, bist du sicher, dass du keinen willst?«

»Na, wenn du mich so überredest, gerne.«

Theresa stand auf und schaute ihrer Freundin über die Schulter.

Die öffnete einen Küchenkasten, der randvoll mit Einmachgläsern war.

»Was ist das, bitte?« Theresa blieb der Mund offen stehen.

Rena lachte. »Der gute Teil des Landlebens. Ich habe heuer meine erste Ernte eingefahren. Falls du etwas willst, bitte bedien dich. Es ist schon komisch, wie man sich ändert. Vor ein paar Jahren wäre uns Gemüse nur als Olive für den Martini ins Haus gekommen, oder?«, sagte Rena. »Ich habe leider keinen hier, aber der Lambrusco tut’s auch.«

Bei einigen Gläsern Wein plauderten die beiden über alte Zeiten und vergaßen darüber die düstere Gegenwart. Kurz nach Mitternacht ging Theresa zu Dino, den sie irgendwann zwischen der zweiten und dritten Flasche im Gästezimmer zu Bett gebracht hatte, und setzte sich neben ihn. Sie betrachtete ihn lange.

Schlafende Kinder, Allegorien des Friedens. Ach, alles war so trügerisch.

In ihrem Kopf hämmerte es. Die Gedanken an den Mörder, die sie versucht hatte wegzutrinken, holten sie wieder ein. Wann nur hatte sie sich mit den Hunden ins Bett gelegt? Wissentlich hatte sie nichts Böses gemacht. Sie wollte lediglich klären, wer dieses Bild gemalt hatte. War sie gierig gewesen und erhielt dafür die Rechnung? Doch sie hätte das Erinnerungsstück an ihren Vater niemals verkauft, sie war nur neu gierig gewesen. War das, was gerade geschah, die Vergeltung, weil sie mehr wissen wollte?

Erlebte sie gerade ihre eigene Version der Vertreibung aus dem Paradies, weil sie in den Apfel der Erkenntnis gebissen hatte?

Musste man sich immer selbst für Dinge bestrafen, die nicht strafbar waren? Wieso diese Selbstgeißelungen, dieses mentale Fla-gellantentum? Erziehung? Kindheit? Würde sie Dino auch verkorksen?

Theresa streichelte ihrem Sohn noch einmal sacht über die Haare und legte sich dann neben ihn.

Arcetri, Mai 1636

Carissimo et illustrissimo mio amico!

Teuerster Freund!

Selbst wenn ich Euch keinerlei Besonderheit zu vermelden habe, so schreibe ich Euch dennoch. Da ich von Euch seit mehr als fünf Monaten keine Nachricht erhalten habe, hege ich große Angst, Euch erzürnt zu haben, weil ich mit dem Manuskript nicht weiterkomme. Aber ich werde so streng überwacht, dass es mir ein Unmögliches ist, unbeobachtet zu schreiben.

Auch kommen mir ständig diese verworrenen Gedanken in den Sinn. Ich will meinem Gott nicht widersprechen, doch was kann ich tun, wenn es die Natur selbst macht? Wenn ich beobachte, dass vieles nicht so ist, wie es in der Bibel steht? Es beunruhigt mein Herz und entfremdet meinen Geist. Kann Gott es wollen, dass ich seine wunderbare Schöpfung falsch beschreibe?

Ein falsches Zeugnis abzulegen, das können nur die Philosophen der Kirche wollen. Die Geistlichen der Inquisition machen es sich leicht, sie verschließen einfach die Augen vor der Wahrheit. Wie gut ist mir in Erinnerung, dass sie sich mit der Hartnäckigkeit einer Schlange geweigert haben, durch mein Fernrohr zu blicken.

Sie wollten die Planeten, die Monde nicht sehen. Sogar auf den Universitäten haben sie sich dem Fernrohr verweigert. Erhabener Geist und unabhängige Denkweise, von wegen! Ist das Neue immer der Feind des Alten?

Und ging es bei meinem Prozess überhaupt um die Erkenntnisfrage, welche Stellung die Erde im Weltall einnimmt, oder ging es um den Anspruch der Kirche, alleiniger Bestimmer über Wahrheit und Irrtum zu sein? Das Ganze war doch eine durchschaubare Farce.

Althergebrachtes zu hinterfragen, Strukturen verändern zu wollen, ist wie den Herrschenden das Fundament zu entreißen.

Einerseits will ich Gott nicht hinterfragen, aber wie kann ich anders? Wie werden wir weiterhin leben, wenn ein paar wenige glauben, den Anspruch auf die alleinige Wahrheit zu haben und die, die anders denken, als Ketzer verstoßen?

Diese Gedanken ziehen unablässig durch meinen Kopf, scheinen mich verrückt zu machen und einzig mein Sohn Vincenzino und Giusto, der wohlwollenderweise die Erlaubnis bekam, zu mir zu kommen, weil er mein Porträt malt, schaffen es noch, meine trüben Gedanken zu verscheuchen. Giusto, der mir vom edlen Herzog der Toskana geschickt wurde, ist ein wunderbarer Gast; er arbeitet und unterhält zugleich. Doch ständig stehen da zwei Herrn der Kurie im Hintergrund, die alles beobachten, wenn er da ist. Die beiden werden wohl selbst in meiner Todesstunde an meiner Seite sein. Wie Fährmänner zur Hölle.

Und ob Ihr es glaubt oder nicht, verwendet Giusto ein Harz des Juniperus, um seinen Firnis zu mixen. Er hat mir einen Teil davon hiergelassen, damit ich meine Einreibungen nach Eurem Rezept machen kann. Wenn solche Zufälle geschehen, glaube ich wieder, Gott hat ihn mir gesandt. Mit Giusto zu diskutieren, erinnert mich an die alten Zeiten mit Euch.

Oh, wie Ihr mir fehlt, lieber Freund. Und unsere Gespräche.

Der Gedanke daran hält mich jung und ich fühle mich um vieles besser.

Bitte schreibt bald, ich bete für Euch und Eure Gesundheit Untertänigst und immer Euer Diener, G.