Kapitel 6

Wien, Mittwoch, 6. November

Sie klingelten. Eine elegante, blonde Mittfünfzigerin öffnete die Tür und lächelte sie herzlich an. Marie Hohenau schien gefasster, als Theresa erwartet hatte. Paul umarmte sie lange und innig, ohne ein Wort zu sagen.

Marie bat sie, am Sofa im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Auf einem kleinen Tisch standen eine Kanne Tee und Gebäck bereit.

Stilvoll, in Sterling Silber. Neben dem Tablett saß, stoisch wie eh und je, Renoir.

»Was machst du denn hier?« Paul streichelte über den schlanken Hals des Katers.

»Ein Polizist brachte ihn mit, als er zur ersten Vernehmung kam.

Sie haben ihn im Geschäft gefunden … Oder willst du ihn haben?«

Sie sah Paul fragend an.

»Nein, Tante. Hier ist er besser aufgehoben«, antwortete er.

»Wie geht es aber dir

»Einigermaßen.« Marie seufzte. »Wisst ihr, bei der Scheidung verlor ich Rembert das erste Mal. Ich habe damals wie bei einem Todesfall getrauert. Natürlich ist die Endgültigkeit jetzt um vieles schlimmer, aber einen Teil des Schmerzes über seinen Verlust habe ich bereits verarbeitet.«

Pauls Tante betrachtete ein Foto, das gerahmt auf einer klassizistischen Kommode stand: Rembert und Marie, glücklich an einem langen Sandstrand. Der schmerzvolle Blick strafte sie Lügen.

Es traf sie viel schwerer, als sie zugab.

»Das war vor 25 Jahren in Ostia, in Italien. Rembert arbeitete damals in der Sixtina. Er half, den Fresken neues Leben einzuhauchen. Er war ein großer Künstler, bevor er anfing zu trinken.« Sie seufzte und sah ihre Gäste erschrocken an. »Oh, entschuldigt, wie unaufmerksam, ich habe den Tee vergessen.« Sie wollte aufspringen, doch Paul hielt sie zurück und übernahm das Einschenken.

»Lass nur Tante, ich mache das. Erzähl ruhig weiter. Wieso begann er eigentlich mit der Trinkerei? Er wich meinen Fragen stets aus.«

»Das weiß ich auch nicht. Was genau geht in einer Künstlerseele vor? Ich habe ihn oft nicht verstanden, deswegen mache ich mir heute noch Vorwürfe. Vielleicht hätte ich geduldiger mit ihm sein müssen, vielleicht war ich schuld. Oder war es Veranlagung? Auch sein Vater war Alkoholiker. Es ist schwer zu sagen. Er war hin-und hergerissen zwischen seiner Arbeit als Restaurator und seiner Berufung als Maler.« Sie zeigte auf ein paar große Gemälde, die Theresa schon beim Betreten des Zimmers aufgefallen waren. »Das sind seine Werke. Technisch hervorragend, doch er fand keinen eigenen Stil.«

Flora würde davon begeistert sein, dachte Theresa. Rembert hatte ein Stillleben gemalt, das eine Sammlung verschieden großer Goldkelche inmitten von Trauben, Äpfeln und Walnüssen zeigte.

Aber nicht nur einmal, sondern in fünf Variationen! Da hingen ein Pieter Claesz, ein Rembrandt, ein Rubens, ein van Gogh und ein Picasso. Perfekte Kopien eines Bildes, das es niemals gegeben hatte. Nun verstand sie, weshalb in seinem Geschäft alles bis ins kleinste Detail arrangiert gewesen war.

»Übrigens habe ich ihn am Samstagnachmittag besucht, um eines meiner Gemälde abzuholen, wir sind …« Tante Marie räusperte sich, bevor sie fortfuhr: »Wir waren trotz der Scheidung befreundet. Ich besitze noch einen Schlüssel für seine Werkstatt.

Für Notfälle. Ich habe Ihr Bild im Atelier gesehen.« Marie wandte sich an Theresa. »Es ist wunderschön. Paul sagte, dass es gestohlen wurde. Das tut mir leid.«

»Im Vergleich zu Ihrem Verlust …«, erwiderte Theresa, doch Marie unterbrach sie.

»Ist schon gut. Nein, das Gemälde ist etwas Besonderes.

Deshalb begann Rembert gleich mit der Arbeit. Sonst warteten Kunden oft monatelang. Bei schlechter Qualität musste er sich zusammenreißen, nicht das gesamte Bild neu zu malen.« Sie lächelte bei der Erinnerung daran. »Als ich kam, machte er gerade die Fotos für die Dokumentation …«

Theresa und Paul zuckten zusammen. »Welche Dokumentation?«, fragten sie gleichzeitig.

»Na, die Dokumentation seiner Arbeit. Er fotografierte und beschrieb jeden seiner Schritte, damit nachfolgende Restauratoren in 50, 100 Jahren alles rekonstruieren können. Rembert hatte eigene Checklisten dafür entwickelt, denen er streng folgte. Der Alkohol hat viel zerstört, aber nicht seine Arbeitsmoral und seine Genauigkeit.«

»Wo bewahrte er diese Dokumentationen auf?«, fragte Theresa und versuchte nicht aufgeregt zu klingen.

»Oben in seinem Atelier steht dieser kleine Biedermeierschrank.

In einer der Laden ist ein Geheimfach, dort legte er das Fotomaterial und die Mappe mit seinen Notizen hinein.« Wieder blickte sie traurig zur Aufnahme aus Ostia. »Die Fotos hat er mit einer Digitalkamera geschossen und sie auf seinem Laptop gespeichert. Beides sollte im Schrank sein, sofern es nicht auch gestohlen wurde.«

»Der Dieb hat sich nicht die Zeit genommen, alles zu durchsuchen. Laut Polizei schnappte er das, was in Reichweite war und flüchtete. Allerdings befürchte ich, dass die Beamten die Unterlagen, den Computer und die Kamera entdeckt und mitgenommen haben. Sollten sie jedenfalls«, sagte Paul.

»Außerdem ist die Wohnung versiegelt. Da werden wir an die Infrarotaufnahmen nicht rankommen«, ergänzte Theresa.

»Welche Infrarotaufnahmen?« Tante Marie sah ihre Gäste überrascht an.

Theresa erzählte ihr von Remberts Anruf, von seiner Entdeckung, die er unter dem Infrarotlicht gemacht hatte. Sie ließ die Schultern hängen und nach einem kurzen Zögern fügte sie hinzu, dass sie glaubte, an seinem Tod schuld zu sein.

»Ach, Kindchen, genauso könnte ich es sehen. Wenn ich mich nicht hätte scheiden lassen, wäre er nicht spätabends im Atelier, sondern bei mir gewesen. Nein, schuld ist derjenige, der den Kerzenleuchter gegen ihn erhoben hat, sonst niemand. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Erzählen Sie mir lieber von dem Gemälde und wieso es eine solche Tat auslösen könnte.«

Theresa berichtete von ihren Nachforschungen, der Möglichkeit, dass es sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Sustermans und Rubens handeln könnte und dass wahrscheinlich Galileo Galilei darauf abgebildet war. Sie schloss mit ihren Spekulationen über einen Geheimbund. Marie sah sie ungläubig an und Theresa, der die Irrwitzigkeit des Ganzen wieder bewusst wurde, schüttelte den Kopf, bevor sie weitersprach. »Ich weiß, das klingt total absurd und ist eine lange Geschichte.« Sie wollte gerade die Hintergründe genauer erklären, auch um für sich selbst Klarheit zu schaffen, als sie vom Läuten der Türklingel unterbrochen wurde.

»Der nächste Kondolenzbesuch«, vermutete Paul.

Allerdings standen Kiesling und sein Adlatus Zipser vor der Tür, die Marie noch ein paar Fragen stellen wollten. »Es tut mir leid, wenn ich Sie schon wieder belästige, aber die Routinearbeit muss gemacht werden«, sagte der Chefinspektor und fummelte an seinem Diktiergerät herum.

»Wir stören nicht weiter und verabschieden uns.« Paul küsste seiner Tante die Hand und zwängte sich grußlos an Kiesling vorbei zur Tür hinaus.

»Ach Paul, ihr stört nie und seid jederzeit willkommen«, rief ihm Tante Marie nach. Sie wandte sich an Theresa und ließ bei einer angedeuteten Umarmung unauffällig etwas in ihre Jackentasche gleiten. »Ich weiß nicht, ob man in die Wohnung darf«, flüsterte sie Theresa ins Ohr. »Falls ja, hier ist der Schlüssel.

Vielleicht finden Sie die Dokumentation.«

Die Unterlagen des Restaurators gingen Theresa auf dem Nachhauseweg nicht aus dem Kopf. Sollte sie Kiesling fragen, ob er die Kamera und den Laptop hatte? Nein, besser so wenig wie möglich auffallen. In ein paar Tagen würde sie selbst im Atelier nachsehen.

In diesem Moment rief Flora an, neugierig, wie der Besuch bei Pauls Tante gewesen sei.

»Es war traurig. Marie scheint Rembert noch immer zu lieben.

Er war ein gut aussehender Kerl – früher.«

Theresa erzählte von den grandiosen Bildern, die er gemalt, und den Fotos, die er am Tag seines Todes noch gemacht hatte.

»Wirklich? Das klingt super! Treffen wir uns in seinem Atelier?

Ich habe gerade nichts zu tun, besser gesagt, ich suche Ablenkung.

Kreativitätsloch. Und das Geschäft wollte ich mir sowieso ansehen.«

»Nein, Flora. Dort ist bestimmt noch alles versiegelt. Außerdem ginge es heute nicht mehr, weil ich Dino jetzt vom Kindergarten abholen muss. Komm nachmittags bei uns vorbei. Vielleicht finden wir deine Kreativität wieder – und ich muss ein bisschen angeben.«

»Wieso?«

»Leon hat vor Kurzem eine Slackline gekauft.«

»Eine was?«

»Eine Slackline, das ist ein breites, elastisches Band für Seiltänzer.«

»Was ihm immer einfällt.«

»Als Bergsteiger braucht er in der kalten Jahreszeit einen Trainingsausgleich. Dino ist begeistert von dem Ding. Seit die Slackline im Garten gespannt ist, übt er jeden Tag. Und er kann es!

Entweder haben Kinder noch ein natürliches Gleichgewichtsgefühl, oder er ist ein Wunderkind.«

»Wahrscheinlich beides, Thesi, bei den Eltern«, lachte Flora.

»Jaja, mach dich nur lustig. Zur Strafe musst du es versuchen.

Ich jedenfalls habe schon blaue Flecken am Popo.«

»Und das willst du mir antun? Gut, ich komme trotzdem. Den nächsten Star des österreichischen Nationalzirkus’ muss ich mir auf jeden Fall ansehen. Und ich meine nicht dich damit. Ciao.«

Das Haus der Valiers lag in der Paradisgasse nahe Grin-zing.

Das ›e‹ hatte die Paradisgasse zwar im Laufe der Jahre verloren, aber für Theresa waren die ruhige Straße mit den vielen Bäumen, das alte Häuschen und der kleine Garten trotzdem ihr kleines Himmelreich. Im hintersten Winkel ihres Grundstücks verbarg sich unter zwei hohen Buchen eine baufällige Hütte, die Leons Großvater, dem Erfinder Eugen Valier, früher als Werkstatt gedient hatte. Wenn es warm genug war, nutzte Theresa sie als Kreativzentrum, jetzt im Herbst war sie malerische Dekoration.

Am Türpfosten der Hütte hatte Leon die Slackline befestigt, die quer durch den Garten bis zu einer hohen Birke gespannt war. Als Flora kam, war Theresa gerade wieder mal hinuntergefallen, und Dino versuchte ein Lachen zu unterdrücken.

»Mama, das ist doch nicht so schwer. Schau, ich zeig’s dir noch mal. Einfach einen Fuß vor den anderen«, rief er und sprang vom Band, als er die Freundin seiner Mutter um die Ecke biegen sah.

»Komm, Flora, du kannst das bestimmt.«

»Ja, bitte lös mich ab«, flehte Theresa und klopfte sich das Laub von ihrer Jacke.

»Na gut, ich versuch’s, aber lacht mich nicht aus.«

»Versprochen«, antwortete Dino mit gekreuzten Fingern hinter dem Rücken.

Als im Wohnzimmer das Festnetztelefon läutete, rannte Theresa ins Haus, froh mit dem schmerzhaften Balancieren aufhören zu können.

Gerade noch rechtzeitig, bevor der Anrufbeantworter ansprang, fand sie das Telefon, hob ab und hörte Marie Hohenau schluchzen.

Völlig aufgelöst erzählte sie vom Besuch der Polizisten.

»Das war ein Verhör! Wie eine Verbrecherin kam ich mir vor, er wollte mein Alibi wissen. Natürlich habe ich keines, was macht eine alleinstehende ältere Frau um 23 Uhr? Schlafen, was sonst!«

Theresa erinnerte sich nur allzu gut an ihre eigene Vernehmung, während Pauls Tante fortfuhr: »Was soll ich tun? Mir einen Anwalt nehmen, weil mein Exmann ermordet wurde?«

»Nein, ich bin mir sicher, er verdächtigt Sie nicht, das ist wirklich reine Routine. Bei mir hat er es genauso gemacht und sogar eine DNA-Probe genommen.« Das stimmte zwar nicht, aber sie musste Marie beruhigen, da durfte sie etwas übertreiben.

»Außerdem glaubt Kiesling an einen Raubmörder und hat am Tatort fremde DNA-Spuren gefunden. Keine Angst.«

»Das besänftigt mich, ich habe glatt meine Contenance verloren.« Ah ja, Hohenau’scher Slang.

»Ich verstehe Sie gut, mich hat er auch ins Schwitzen gebracht«, antwortete Theresa. Sie zögerte und wusste nicht, ob es pietätlos wäre zu fragen. Schließlich wagte sie es doch. »Rembert hat mir auf die Mailbox gesprochen und gesagt, er hätte die ›Krönung‹ aus dem Rahmen genommen. Wenn der noch da ist, dürfte ich ihn mitnehmen? Er ist eine Erinnerung an meinen Vater.«

»Natürlich mein Kind, er gehört doch Ihnen. Ich denke, dass es von Rechts wegen, wenn die Wohnung nicht mehr versiegelt ist, in Ordnung geht. Oh Gott, darum werde ich mich wahrscheinlich auch kümmern müssen. Dass die Dinge, sofern sie noch vorhanden sind, wieder an ihre Besitzer zurückgehen. Nehmen Sie den Rahmen mit und melden Sie sich, falls Sie die Dokumentation nicht finden. Auf Wiedersehen.«

»Vielen Dank, auf Wiederhören.« Theresa legte auf und schüttelte grübelnd den Kopf.

»Wer war’s?« Sie zuckte zusammen. Unbemerkt war Flora ins Haus gekommen.

»Marie Hohenau. Sie ist stinkwütend, sie glaubt, sie wird verdächtigt und hat kein Alibi. Dein Robert kann manchmal ein wahres Ekel sein. Ich verstehe nicht, dass er diese arme Frau so behandelt.«

»Erstens ist er nicht mein Robert. Und zweitens müssen Polizisten vielleicht derart tough auftreten.«

»Im Film ja, aber doch nicht im echten Leben!«

Arcetri, April 1635

Carissimo et illustrissimo mio amico!

Teuerster Freund!

Zuallererst muss ich mich für Euer Mitgefühl und Eure tröstenden Worte zum Tode meiner geliebten Tochter bedanken. Es hat mir sehr geholfen zu lesen, dass auch Ihr in Virginia diese Herzensgüte gesehen habt. Ja, sie war ein reiner, edler Mensch.

Entschuldigt meine lange Zeit des Schweigens, aber einerseits peinigt mich der Gliederschmerz, der immer mehr Teile meines Körpers befällt, andererseits wird es immer gefährlicher, die Briefe so zu schreiben und zu verschicken, dass es den Schergen Muzzarellis nicht gleich ins Auge sticht.

Die Veröffentlichung meinesDialogs über die beiden hauptsächlichen Weltsystemein Weyden hat die Kirche sehr erzürnt. Und von der neuen Wachsamkeit meiner Bewacher zeugen verschiedene Vorfälle. Ein an mich adressierter Brief wurde abgefangen und dem Herrn Kardinal Barberini überbracht. Wie mir mitgeteilt wurde, hatte ich das Glück, dass ich lediglich der Empfänger war, nicht der Verfasser. Trotzdem, er war voll des Lobes auf meinen ›Dialog‹.

Natürlich ist dies etwas, das die Kurie noch mehr reizt. Auch der häufige Briefwechsel mit den protestantischen Ländern ist den Zensoren höchst verdächtig. Aber sie können mich nicht dafür belangen, außer die Bewachung durch die Inquisition noch gründlicher durchzuführen, was unseren Plan schwieriger macht.

Ich habe das Gefühl, dass der Zorn meiner mächtigen Verfolger beständig an Erbitterung zunimmt, sowie meine Gesundheit in eben dieser Beständigkeit abnimmt. Doch mein Forscherwille ist ungebrochen, allein das hält mich noch am Leben.

Ich erinnere Euch daran, Eure Gebete bei dem Gott der Barmherzigkeit fortzusetzen, auf dass er den unversöhnlichen Hass aus den Herzen meiner unglückseligen Verfolger auslöschen möge.

Für Eure Gesundheit bete ich und verabschiede mich mit den besten Wünschen,

Euer G.