Kapitel 7

Wien, Donnerstag, 7. November

Angespannt saß sie im Auto. Sollte sie wirklich alleine hingehen?

Sie hatte gerade ihrem Chefredakteur die Illustrationen für das neue ›Stylish‹ abgeliefert und umkreiste das Atelier des Restaurators. Langsam steuerte sie den Sharan durch die Taborstraße und überlegte, ob sie die Dokumentation nicht besser morgen holen sollte, wenn Flora Zeit hatte. Andererseits war sie jetzt schon da.

Im Vorüberfahren betrachtete sie die Schaufenster. Einst die wichtigste Einkaufsmeile des 2. Bezirks, war die Taborstraße jetzt eine Aneinanderreihung von Ramschläden. Viele kleine Geschäfte standen leer und verkamen zusehends. Das Bild einer Geisterstadt entstand in ihrem Kopf: Wind, der zerknitterte Zeitungen und zerbrochene Äste über die Straße weht, ein Fahndungsplakat an der Tür eines Saloons. Dazu die klagende Mundharmonika von Sergio Leone, ›Spiel mir das Lied vom Tod‹. Sehr passend.

Musste sie wirklich ins Atelier? Durfte sie überhaupt? Theresa verhandelte mit sich selbst. Wenn die Werkstatt noch versiegelt war, würde sie wieder gehen. Wenn sie freigegeben war, konnte sie doch schnell ihren Rahmen holen, bevor der auch noch verschwand.

Theresa bog in die nächste Seitengasse, nahm den ersten freien Parkplatz, stieg aus und marschierte schnell zum 
Antiquitätengeschäft, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Sie hatte den Schlüssel und die Erlaubnis der Witwe. Ein Kinderspiel also.

Als Theresa den Eingang erreichte, sah sie, dass sie den Schlüssel gar nicht mehr benötigte. Das Siegel war zerrissen und die Tür nur angelehnt. Was um Himmels willen konnte das bedeuten? War eingebrochen worden und der Eindringling möglicherweise noch da?

Die Mundharmonika jaulte plötzlich wieder in ihrem Kopf.

Dann setzten die Trommeln ein, die Geigen, die Glocke. Ach nein, die läutete in der Kirche nebenan. 9 Uhr. Theresa schüttelte den Kopf und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Das einzig Richtige wäre, Kiesling anzurufen. Sie wühlte in ihrer Tasche.

Natürlich hatte sie kein Handy dabei. Das lag im Auto.

Der klassische Zwiespalt zwischen ›wollen‹ und ›sollen‹.

Theresa überlegte kurz, fühlte ihren Puls und atmete tief ein. Die Neugier siegte. Langsam schob sie die Tür mit der Schulter auf und rief vorsichtig: »Hallo?«

Wenn sie im Fernsehen einen Krimi anschaute, fragte sie sich bei solchen Situationen immer, wieso diese Idioten hineingingen!

Die sollten gefälligst auf die Polizei warten! Aber das hier war etwas anderes, beruhigte sich Theresa, kein Einbrecher würde um diese Uhrzeit hier sein.

Während sie die Tür so weit aufdrückte, dass sie durchschlüpfen konnte, sprach sie sich weiter Mut zu. Außer ihrem leisen Schnaufen war kein Laut zu hören. Ihr Blick glitt über die Tische, Vitrinen und Bilder. Ein Rascheln in der hinteren Ecke des Raums ließ sie erschrocken zusammenzucken. Theresa drückte sich an die Wand und wagte kaum zu atmen. Etwas Schwarzes, Pelziges huschte über ihre Füße. Eine Ratte! Ihr Herz schlug bis zum Hals.

Jetzt bitte keinen Anfall! Seit ihrer Kindheit litt sie unter Herzrasen, das zu den unmöglichsten Zeiten auftrat und sich schwer kontrollieren ließ. Theresa hielt die Luft kurz an und blies sie langsam wieder aus. Ihr Puls beruhigte sich. Wenn sie das Leon erzählte, würde er ausflippen. Besser sie erwähnte es nicht.

Angestrengt horchte Theresa, doch alles blieb still. Wer hatte das Polizeisiegel zerrissen? Wollte ein Trittbrettfahrer noch den Rest abstauben?

Sie blickte sich um, aber es schien nichts zu fehlen, das Geschäft sah genauso aus wie bei ihrem ersten Besuch. Was sollte sie jetzt tun? Nach der Dokumentation suchen und den Rahmen holen, zurück zum Auto und von dort den Chefinspektor anrufen. Genau!

Die Sachen einzusammeln würde fünf Minuten dauern und so lange konnte Kiesling warten. Sie hatte nach wie vor die Erlaubnis der Witwe, das Atelier zu betreten und …

»Was machen Sie da?«, ertönte plötzlich eine schrille Stimme hinter ihr. Theresa drehte sich ertappt um. Mit einem Besen bewaffnet stand die Hausmeisterin drohend im Türrahmen.

»Sie können do net des Siegel aufbrechen! Ich ruf jetzt die Polizei und Sie bleibm schön stehn!« Aufgeplustert wie ein Huhn rannte sie gackernd hinaus.

Wie peinlich! Jetzt würde Kiesling kommen und sie wieder verdächtigen! Durfte sie sich jetzt eigentlich bewegen oder erlegte die alte Henne sie dann mit der Schrotflinte wie einen räudigen Hund? Doch bis die wieder zurück war, konnte sie schnell ins Atelier huschen, die Dokumentation suchen und in ihrer Tasche verstecken.

Theresa schlich in den hinteren Teil des Raumes zur Treppe und sah zu Boden. Hier ist er also gelegen. Sie zögerte kurz und stieg mit einem großen Schritt über die Markierung. Vorsichtig ging sie die engen Stufen nach oben, öffnete die Tür zum Atelier und schaute ins Zimmer.

Da hing ihr Rahmen und strahlte sie golden an! Erst beim zweiten Blick entdeckte sie die Spuren eines Kampfes: einen umgeworfenen Sessel, Pinsel und Farbtuben, die verstreut auf dem Boden lagen. Der Schauplatz eines Mordes. Kälte kroch ihr den Rücken hoch und stellte die feinen Nackenhärchen auf. Was wollte sie verdammt noch mal hier? Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, alle Systeme waren auf Flucht eingestellt.

Auch die Polizeisirenen signalisierten, dass es Zeit war, von hier abzuhauen.

Langsam stieg sie die Treppe hinunter und betete inständig, dass die Beamten keine übereifrigen Rambo-Typen mit Schussreflex waren. Gerade, als sie wieder im Verkaufsraum angekommen war, wurde die angelehnte Türe aufgetreten.

»Keine Bewegung und Hände hoch!« Zwei Streifenpolizisten stürmten mit gezückten Waffen das Geschäft.

Na, wusste sie es doch. Die Arme über dem Kopf verschränkt, trat sie aus dem Schatten und entdeckte Kiesling, der hinter den beiden ins Zimmer trat.

»Frau Valier? Was zum Teufel …«

»Grüß Gott, ich freue mich, Sie zu sehen.« Der klägliche Versuch eines Lächelns scheiterte, sie legte den Kopf schief und gab dem Rudelführer den Hals zum Biss frei.

»Was machen Sie hier?«, knurrte Kiesling.

»Ich, ich wollte mir …« Theresa überlegte fieberhaft, doch außer der Wahrheit fiel ihr nichts ein. »Informationen über mein gestohlenes Bild besorgen.«

»Und brechen einfach ein? Das Geschäft ist von der Spurensicherung noch nicht freigegeben!« Kiesling Gesicht rötete sich.

»Ich hab das Siegel nicht zerrissen …«

»Na, sicher hot sie!«, ertönte eine Stimme von hinten.

Kiesling drehte sich genervt um. »Ruhe, Frau Rumpolter, ich leite die Vernehmung. Gut, dass Sie uns benachrichtigt haben. Ich komme später zu Ihnen. Auf Wiederschauen.«

Die geschasste Hausmeisterin zog leise grummelnd von dannen und der Chefinspektor wandte sich wieder an Theresa. »Also? Was wollten Sie sagen?«

»Ich habe das Siegel wirklich nicht aufgebrochen. Gut, ich bin vielleicht unbefugt eingetreten, aber ich wollte Sie ohnehin in zehn, nein fünf Minuten anrufen.«

»Und wieso erst in fünf Minuten, und was wollten Sie hier?«

Seufzend erzählte Theresa von Wenz’ Anruf am Samstagabend und seiner Nachricht.

»Wann hat er sich bei Ihnen gemeldet?«, unterbrach Kiesling mit strengem Blick ihren Bericht.

Ach richtig, sie hatte vergessen, den Anruf zu melden. Das alles warf kein gutes Licht auf sie. »Um 22 Uhr«, antwortete Theresa schuldbewusst. »Wollen Sie meine Mailbox abhören?«

»Natürlich! Vielleicht war der Täter schon da und man hört etwas im Hintergrund. Wieso in Gottes Namen haben Sie uns nicht sofort darüber in Kenntnis gesetzt?« Das Gesicht des Chefinspektors verfärbte sich bedenklich rot.

»Ich dachte, Sie haben die Liste seiner Telefonate sowieso und dann habe ich es vergessen. Ich bin zurzeit etwas überfordert, weil …«

»Jaja, das sind wir alle, aber wenn wichtige Fakten nicht weitergegeben werden, wird der Stress nicht weniger.«

Kiesling drehte sich zu Zipser, der mit dem Handy am Ohr das Geschäft betreten hatte. »Wer bearbeitet die verdammte Telefonliste von Wenz? Überprüf das und tritt ihm in den Arsch!«

Zipser schaute überrascht, doch sein Chef hatte sich bereits wieder an Theresa gewandt. »Also, Ihr Mobiltelefon brauche ich kurz. Und welche Informationen wollten Sie besorgen?«

»Über das Bild.«

»Das weiß ich schon«, sagte er langsam, jede Silbe lang gezogen.

»Zeigen Sie sie mir! Wo sind sie?«

»Ich hoffe im Kasten, oben im Atelier«, antwortete Theresa leise.

»Kommen Sie mit!«

Kiesling ging voran. Wieder machte sie sich auf den Weg durch das Geschäft, stieg über die imaginäre Leiche und erklomm die enge Treppe nach oben. Der Chefinspektor blieb in der Mitte des Ateliers stehen und signalisierte Theresa mit einem Kopfnicken, ihm zu zeigen, wo sich die Informationen befanden.

Theresa ging zum Biedermeierschrank. »Da gibt es ein Geheimfach, in dem Wenz die Dokumentationen über seine Restaurationen aufbewahrt hat.«

Kiesling öffnete alle Laden und fand bei einer den doppelten Boden. Das Fach darunter war leer. Er sah Theresa eindringlich an.

In seinem Gesicht war zu lesen, dass er sie für eine ausgemachte Lügnerin hielt. »Nun?«

Theresa begann zu schwitzen, gleichzeitig war ihr kalt. Aber Pauls Tante hatte gesagt, dass die Unterlagen hier wären! Theresa startete einen kläglichen Rehabilitierungsversuch. »Vielleicht in einer der anderen …?«

»Alle leer! Das sehen Sie doch!«

»Vielleicht hat die Spurensicherung die Dokumente mitgenommen?«

»Nein, das hätte ich in den Akten gelesen.«

Er pfauchte Zipser an, der gerade den Kopf durch die Tür steckte: »Ruf den Huber an! Er soll genauer arbeiten. Das Fach war wirklich nicht schwer zu finden.«

»Aber wenn nichts drinnen war? Dann hat er es einfach nicht erwähnt. Wieso auch?«, versuchte Zipser seinen Chef zu beschwichtigen.

»Klär das mit ihm. Ich hoffe, dass nur sein Bericht schlampig war«, befahl Kiesling.

Zipser ging in den hinteren Teil des Ateliers, um zu telefonieren.

Theresa konzentrierte sich währenddessen auf ihren Rahmen, der so nah war und gleichzeitig so unerreichbar. Den mieselsüchtigen Chefinspektor brauchte sie gar nicht zu fragen, ob sie ihn mitnehmen dürfte. Ohne schriftlichen Nachweis, dass er ihr gehörte, würde Kiesling ihr vermutlich nicht mal den Staub zugestehen, der darauf lag.

»Nein Chef, er hat kein Geheimfach entdeckt«, meldete Zipser kleinlaut aus einer Ecke des Zimmers.

Kiesling stöhnte. »Na super! Jetzt wissen wir nicht, ob vor Frau Valiers unbefugtem Eindringen etwas in der Lade war oder nicht.«

Er stürmte zu Zipser, riss ihm das Telefon aus der Hand und schrie ein paar Beleidigungen hinein. Theresa schluckte. Danach kam wohl sie dran. Sie fühlte sich unbehaglich, wie damals in der Schule, als sie zur Direktorin musste, weil sie das Klo in Brand gesteckt hatte. Unabsichtlich natürlich.

Während Kiesling und Zipser Hubers Arbeitsmoral diskutierten, wanderte ihr Blick wieder sehnsuchtsvoll zum Rahmen. Er war auch ohne Bild wunderschön. Die Schnitzereien, die Vergoldungen, alles intakt, keine Fehlstellen. Nur innen, wo der Keilrahmen aufgelegen hatte, schien er etwas zerkratzt zu sein. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Kopf nach vorne, um ihn besser zu betrachten. Sie glaubte, in den Kratzspuren etwas entziffern zu können. Eine römische Jahreszahl? D, I, M – oder war das ein N? – U, C, C, I … 501 Nein, das M muss vor das D und U gab es doch …

»Frau Valier!«, donnerte es von hinten, sodass sie ertappt zusammenzuckte und fast das Gleichgewicht verlor. Theresa rollte mit den Augen.

Kiesling schaute sie säuerlich an. »Was mache ich mit Ihnen? Es gibt keinen Beweis, dass jemand anderes vor Ihnen hier eingedrungen ist. Es fehlt, soweit ich feststellen kann, nichts. Der Tatort ist unverändert, ob es Dokumentationen gab oder nicht, kann niemand sagen. Folglich muss ich davon ausgehen, dass Sie das Siegel zerrissen haben, um …« Er sah ihr eindringlich in die Augen, als könnte er dort ihr Schuldbekenntnis finden. »Um etwas zu vertuschen? Ein Beweisstück zu unterschlagen, das wir übersehen haben?« Kiesling blinzelte einen Moment böse zu Zipser, bevor er fortfuhr: »Die Spurensicherung scheint offensichtlich nicht sonderlich gut zu arbeiten. Also nochmals von vorne. Wieso haben Sie sich Zutritt verschafft?«

Theresa wähnte sich im falschen Film. Und daran war nur ihre blöde Neugier schuld! »Bitte rufen Sie Marie Hohenau an. Sie wird Ihnen bestätigen, dass sie mir gestern von den Unterlagen erzählt und mir außerdem den Schlüssel für das Geschäft gegeben hat.«

»Und?« Kiesling klopfte mit seinem Stift auf den Tisch, was Theresa völlig aus dem Konzept brachte.

»Ich hätte die Tür nicht aufbrechen müssen! Schon deshalb bin ich die Falsche.«

»Wer sagt, dass die Tür aufgebrochen war?«

»War sie nicht?«

»Sagen Sie’s mir.«

»Wieso sollte ich hier einbrechen, was hätte ich hier tun sollen?«, fragte sie, langsam der Verzweiflung nahe.

»Das will ich von Ihnen wissen«, antwortete Kiesling.

»Glauben Sie wirklich«, bemerkte Theresa spitz, »ich bringe Wenz das Bild, besuche ihn wenige Tages später, um ihn zu töten – aus welchem Grund auch immer –, raube zum Schein mein eigenes Bild, komme dann drauf, dass ich etwas verloren habe, besorge mir von Marie Hohenau den Schlüssel und versuche heute Beweisstücke verschwinden zu lassen?«

»Besser hätte ich es nicht zusammenfassen können«, gab Kiesling trocken zurück.

Theresa starrte ihn sprachlos an. Wollte er sie fertigmachen, weil sie unerlaubt ins Geschäft eingedrungen war?

»Vielleicht hat er Sie mit dem Telefonat in sein Atelier gelockt, ist dort zudringlich geworden und Sie haben in Notwehr den Leuchter genommen und …«

»Das ist nicht Ihr Ernst, Herr Kommissar!«, fiel Theresa Kiesling ins Wort. Wenz ein Vergewaltiger? Hatte er vollkommen den Verstand verloren? Trotz ihres Ärgers musste sie lachen.

»Erik Ode war der Kommissar, ich bin Chefinspektor. Und ja, das ist mein voller Ernst. Sie wissen nicht, womit ich es tagtäglich zu tun habe. Da muss man alles in Erwägung ziehen.«

»Aber doch nicht etwas derartig Absurdes! Schauen Sie mich an.

Ich bin eine verheiratete Frau, bekomme die ersten grauen Haare und die Fältchen …«

»He, Chef! Die Tür wurde wahrscheinlich mit einem Dietrich aufgesperrt«, unterbrach Zipser, der die Treppe heraufgekeucht war.

»Sehen Sie, den besitze ich schon mal nicht.« Triumphierend verbuchte Theresa einen Pluspunkt für sich.

»Ruhe!«, pfauchte sie Kiesling an.

»Hallo?« Ein Kopf voller roter und gelber Lockenwickler tauchte hinter Zipser auf. »Gut, dass Sie da sind. Ich wollte Sie sowieso anrufen. Heute in der Früh um fünf, als ich mit meinen Waldi Gassi gegangen bin, wissen Sie, er hat eine schwache Blase, da ist mir aufgefallen, dass die Tür hier zum Geschäft ein bissl offen war.«

»Wer sind Sie und wieso kommen Sie erst jetzt damit? Es ist 10.30 Uhr, wann hätten Sie gedacht, dass es an der Zeit wäre, uns zu informieren?«, zischte Kiesling, der sich nur mehr schwer beherrschen konnte. »Sind denn heute alle durchgedreht? Dieses lässige ›Ich weiß was und irgendwann werde ich es vielleicht der Polizei sagen‹ geht mir auf den Nerv!«

»Na, ein Danke hätte auch gereicht, junger Mann«, monierte sich die alte Dame. Theresa freute sich insgeheim, dass jemand dem Chefinspektor sagte, wie unangemessen sein Verhalten war.

»Ich muss Ihnen meine Beobachtungen ja gar nicht mitteilen. Wiederschauen!«

»Na, dann bleiben Sie halt da und erzählen uns alles.« Kiesling versuchte sie anzulächeln und fügte noch ein gepresstes »Bitte!« hinzu.

»Das war’s eh schon. Ich bin mit dem Waldi um 5 Uhr Gassi gegangen und hab die offene Tür gesehen. Punkt. Aus. Und jetzt geh ich, ich muss den Waldi füttern. Außerdem, wenn dieser böse Kater auftaucht …« Vor sich hinmurmelnd begann die alte Dame, mühsam die Stufen hinunterzusteigen.

»Warten Sie!« Zipser sprang ihr hinterher. »Ich müsste Ihre Personalien aufnehmen. Bitte.«

Kiesling atmete tief ein, hielt die Luft an und sagte nach wenigen Sekunden zu Theresa: »Na schön, das hat Sie erst mal freigespielt, außer Sie lungern seit heute Früh hier herum.«

»Bitte, Herr Chefinspektor, für diese Zeit habe ich ein Alibi. Ich war zu Hause bei meinen Mann und meinem Sohn.«

Er überlegte lange und seufzte schließlich. »Gut, Sie können fahren, aber ich brauche Ihr Mobiltelefon wegen des Anrufs.«

»Kann mein Mann vorher alle Nummern vom Chip auf ein anderes Handy überspielen? Ich habe sonst keine Daten. Ich bringe es morgen aufs Präsidium.«

»Sofort!«, presste Kiesling zwischen seinen geschlossenen Zähnen hervor.

Hatte dieser Typ keine Mutter, die ihm ›Bitte‹ und ›Danke‹ beigebracht hat? Vielleicht sollte er Yoga-Bauchatmung versuchen, ihr hatte das immer gutgetan.

»Aber …«

»Frau Valier, treiben Sie es nicht zu weit! Sie können das Telefon gleich wieder mitnehmen, ich muss kurz Daten von Ihrer USIM-Karte notieren, den Rest mache ich mir mit Ihrem Provider aus.« Sein Stift trommelte nun im Stakkato auf dem Tisch.

Durfte er sich einfach an ihren Telefonanbieter wenden?

Brauchte er dazu keinen richterlichen Beschluss? Doch das sollte nicht ihre Sorge sein, sie hatte nichts zu verbergen. Nichts Anstößiges oder Unsittliches auf der Mailbox. Floras Ansagen löschte sie immer gleich.

»Ich habe nicht ewig Zeit!«, schnauzte Kiesling und hielt die Hand auf.

Wie ihre Freundin diesen Typen einmal nett finden konnte!

»Ich muss es erst aus dem Auto holen. Einen Moment, bitte.«

Ohne den Chefinspektor anzuschauen, eilte sie die Treppen hinunter.

Vor dem Geschäft lungerte immer noch die Zivilstreife in spe herum – Frau Rumpolter. Die Lockenwickler-Dame stand neben ihr und zeigte auf Theresa. »Nein, die war’s nicht, ich hab doch schon um 5 in der Früh den Einbruch bemerkt. Vier Stunden vor Ihnen, übrigens. Wissen’s, der Waldi …«, hörte Theresa im Vorbeigehen und war dem Dackel für seine schwache Blase unglaublich dankbar.

Fünf Minuten später drückte sie Kiesling wortlos das Telefon in die Hand. Der öffnete es, holte die Speicherkarte heraus, schrieb sich die Nummer auf und wollte ihr gerade den Apparat zurückgeben, als er stockte. Stirnrunzelnd betrachtete er das Innenleben des Geräts nochmals genauer, dann schien er sich sicher.

»Da ist eine Wanze.«

»Die bevölkern gerade wieder den Kindergarten, aber wie kommen sie in mein Handy?« Theresa stöhnte. Doch schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie eben etwas verwechselt hatte.

Geschockt sah sie Kiesling an.

Sofort nach ihrer Heimkehr rief sie Flora an und erzählte ihr von dem Fund.

»Ich glaub’s nicht!«, sagte ihre Freundin.

»Doch, ehrlich.«

»Das war rhetorisch, Thesi. Natürlich glaube ich dir. Ich mache sofort einen Rundruf. Krisensitzung heute Abend bei dir. Werden wir übrigens gerade jetzt auch abgehört?«

»Nein, Kiesling hat Handy samt Kleingetier mitgenommen.«

»Wie telefonierst du jetzt?«

»Dinosauriermäßig übers Festnetz. Wir sehen uns.«

Theresa ging in den Garten und versuchte, auf der Slackline ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Ein Fuß vor den anderen.

Doch ihre Gedanken kreisten nur um die Wanze. Wer bespitzelt mich? Und wieso?

Abwurf. Noch mal. Theresa versuchte sich zu konzentrieren.

Werde eins mit der Aufgabe. Linker Fuß, rechter Fuß … Natürlich wegen des Bildes! Der Geheimbund. Aber die hatten es doch schon … kontrolliert atmen. Was wollen die von mir? Wer sind die überhaupt? Abwurf.

»Blödes Ding! Taugt überhaupt nichts!«, schrie Theresa. Soll doch Dino damit spielen. Sie ging ins Haus und begann zu zeichnen. Aus ihrem Stift floss ein bedrohliches Gewitter, mittendrin die Regenbogenmaschine. Blitz, Donner, Absturz. Im letzten Moment fuhren Rettungsfallschirme aus. Als Illustratorin konnte sie leicht ein Happy End zaubern. Und im wirklichen Leben?

Theresa dachte angestrengt nach. Wann hatte sie sich mit den Hunden schlafen gelegt und war mit der Wanze aufgewacht? Sie wollte nicht, dass jemand in ihre Welt eindrang! Kein Beobachter, Stalker oder wer auch immer. War ihre Paranoia also doch berechtigt gewesen? Apropos – gab es im Haus Wanzen oder Kameras? Waren die hier gewesen? Panisch stand sie auf und begann, nach verräterischen Spuren Ausschau zu halten.

»Mama, was machst du da?«, fragte Dino und blickte erstaunt von seiner Formel-1-Rennstrecke auf, an der er selbstvergessen gezeichnet hatte.

»Nichts, mein Schatz. Ich suche nur etwas.«

»Kann ich dir helfen?«

»Ich weiß nicht genau, wonach ich suche, aber danke, das Angebot ist lieb von dir. Ich habe eine bessere Idee, gehen wir zum Spielplatz?«

Da würde ein Fremder sofort auffallen. Da war sie in Sicherheit – nur vor wem?

»Also, wer hört Thesi ab?«, fragte Flora. »Du, Leon?«

»Bist du wahnsinnig?«, antwortete er entrüstet. »Ich bin zwar ein bisschen eifersüchtig, aber zu solchen Mitteln würde ich nie greifen. Wobei mich die Technologie durchaus interessiert.«

Theresa, die durch die offene Küchentür alles gehört hatte, kam mit einem Tablett voller Tramezzini ins Wohnzimmer. »Mehr gibt es heute nicht. Krisenfutter. Leon, bitte keine technischen Ausführungen. Und an alle anderen: Leon würde das niemals tun!

Da steckt das Bild dahinter.«

»Ich sag’s ja. Die Illuminaten«, murmelte Flora, bevor sie sich ein Schinken-Tramezzino nahm.

»Flora, bitte!«, seufzte Paul.

»Ich muss sie schon wieder verteidigen, ich habe nämlich eine neue Theorie, die uns vielleicht weiterhilft«, ergriff Boris das Wort.

Er stand auf und holte, wie vor zwei Tagen, einen Papierstapel.

»Habt ihr euch nicht Gedanken darüber gemacht, was Galileo auf dem Gemälde zu suchen hat? Meine Überlegung ist, dass die ›Krönung‹ so etwas wie die ›Schule von Athen‹ sein könnte.«

»Das Fresko von Raffael im Vatikan?«, fragte Flora und strich sich einen Weißbrotkrümel von der Lippe.

»Genau«, Boris deutete auf die erste Abbildung in seinen Unterlagen. »Ich habe, ähm, wieder ein paar Dinge vorbereitet.

Hier ist sie, die ›Schule von Athen‹. Und da sind die Lehrer: Platon, Aristoteles, Pythagoras, Diogenes, Sokrates. Sie stehen für die herausragende Philosophie des anti-ken Griechenlands.«

Er gab jedem eine Mappe und erklärte, dass er bei Theresas Bild eine ähnliche Bedeutung vermutete. »Weshalb sollte Galileo – vorausgesetzt, er ist es wirklich – bei einer Krönung anwesend sein?

Bestimmt nur, wenn jemand auf den Thron gehoben wird, der ihm wichtig ist. Beziehungsweise etwas. Und das Wichtigste in Galileos Leben war die Wissenschaft. Man könnte das Gemälde folglich als Allegorie verstehen. Die ›Krönung‹ als Gleichnis dafür, dass die Wissenschaft der neue Herrscher der damaligen Welt werden würde.«

»Wow! Was man in so eine Darstellung alles hineininter-pretieren kann. Das klingt total illuminatisch!«, sagte Flora.

»Genau. Und der Auftraggeber eines Bildes, das den Triumph des Wissens über den Glauben zeigt, könnte Bonaventura Igowski gewesen sein. Ihr erinnert euch an meine Genealogie? Eine Familie von Gelehrten und Künstlern«, fuhr Boris fort. Alle nickten beeindruckt.

»Und wer sind die anderen Männer deiner Meinung nach?«, fragte Theresa.

»Wenn ich künstlerische Freiheit ins Spiel bringe, dann sehe ich neben Galileo Kepler, Kopernikus, Brahe und Viviani«, antwortete Boris.

Das Gemurmel der Freunde wurde lauter. Leon, der aus dem Kinderzimmer gekommen war, nahm sich schnell einen Ausdruck, während Boris begann, jede einzelne Figur zu erklären.

»Der hier mit dem blauen Mantel, der der Wissenschaft die Krone aufsetzt, ist Kepler. Der Kniende, der die Kette umlegt, hat das gleiche Walrossbärtchen wie Tycho Brahe. Und da ist noch der Mann ganz rechts mit dem roten Umhang, der dem neuen Herrscher ein Zepter in die Hand drückt. Er ist wie Kopernikus bartlos und hat eine ähnliche Nase. Galileo mit der roten Mütze wurde ja bereits von Thesi identifiziert. Neben ihm steht ein hübscher Jüngling, der sein Assistent Vincenzo Viviani sein könnte.

Er war 17 Jahre alt, als er für Galileo zu arbeiten begann. Das würde also passen.«

Die anderen waren sprachlos und steckten die Köpfe über den Kopien zusammen. Auch Theresa musste diese Informationen erst einmal verdauen. Sie nahm einen Ausdruck und betrachtete ihn.

Die vier alten Gelehrten, der junge Viviani und der König als Personifizierung der Wissenschaft – nur diese sechs Figuren waren sorgfältig ausgearbeitet, die anderen wirkten wie flüchtig skizziert.

Vier bedeutende Astronomen, die ihre Wissenschaft krönten, mit der Jugend als Nachfolger an der Seite. Diese Zuordnung konnte stimmen!

»Eine schöne Interpretation. Aber wer sind die zwei Priester und wieso sind die Männer im Hintergrund bewaffnet?«, fragte Flora.

»Vielleicht weil die neuen Erkenntnisse gegenüber der reaktionären Kirche mit Waffengewalt durchgesetzt werden müssen?«, überlegte Paul.

»Oder sie sind Mitglieder eines Geheimbunds, der einen Aufstand plant«, warf Flora ein. »Eine Wissenschaftsreformation oder Revolution. Der Orden der Igowskis zieht mit wehenden Fahnen in den Kampf für die Aufklärung. Wissen an die Macht!«

Theresa erinnerte sich an das Begräbnis. Die wehenden Mäntel.

Die Kreuzritter am Igowski-Grab. Sie hatte sich damals also nichts eingebildet. Und war vielleicht ihr Vater, der Universalinteressierte, der Flugzeugbauer, der Antiquitätensammler, ein Mitglied dieses Geheimbunds gewesen und der letzte Hüter der ›Krönung‹? Nein, das konnte nicht sein, er hatte mit Ambrosius getauscht. Oder war das alles eine Vertuschungsaktion gewesen?

»Die Kette, die der Wissenschaft umgehängt wird, könnte eine Art Goldenes Vlies sein«, hörte Theresa Paul sagen, der auf die Fotokopie deutete. »Statt des Widders wäre ein kleines Fernrohr als Symbol für die Wissenschaft denkbar.« Alle starrten gebannt auf die Kette, doch der Computerausdruck war zu grobkörnig, um den Anhänger genau zu erkennen.

»Die beiden Priester sind wirklich ein Problem«, sagte Boris.

»Was die hier zu suchen haben, weiß ich nicht.«

»Vielleicht dienten die nur der Tarnung«, schlug Flora vor.

»Falls Sustermans und Galileo von den Kirchen-Heinis beobachtet wurden.«

»Onkel Oskar hat angedeutet, dass das Gemälde eigentlich alles darstellen könnte. Aber auf die Idee mit der Wissenschaftsallegorie ist er nicht gekommen«, meinte Theresa. Sie hielt eine der Vergrößerungen in der Hand und kniff die Augen zusammen.

»Wir brauchen bessere Ausdrucke, vielleicht können wir irgendwo Planeten oder andere versteckte Hinweise entdecken«, bemerkte Leon. Er hatte seine Brille abgenommen und putzte sie mit der Serviette.

Theresa trank einen Schluck Wein. Sie konnte sich über die Entschlüsselung der Darstellung nicht richtig freuen. »Wir haben das Rätsel um die Ikonografie geklärt, aber alles andere?

Denjenigen, der mich verwanzt hat, und den Mörder von Wenz finden wir damit nicht. Und dass das Gemälde und somit ich an seinem Tod schuld sind, ist offensichtlich.«

Flora nahm Theresa in den Arm und drückte sie an sich. »Hör auf damit. Die Zeit der Flagellanten ist lange vorbei.«

»Aber der Mord, danach der Einbruch, bei dem die Dokumentation gestohlen wurde und die Wanze in meinem Handy!

Das kann kein Zufall mehr sein. Und wenn es diese Allegorie zeigt, bin ich sogar bereit, an deinen Geheimbund zu glauben. An einen, der versucht, dieses Bild zu fin-den. Koste es, was es wolle.«

Theresa verstummte. Ihr wurde kalt, sie sah Beängstigendes auf sich zukommen.

»Wir müssen methodisch vorgehen«, sagte Boris bestimmt und schlug vor, eine Liste aller Verdächtigen aufzustellen, die Interesse an der ›Krönung‹ haben konnten, zusammen mit einer Liste derer, die wussten, dass sie bei Wenz gewesen war.

Theresa stand auf, durchsuchte ein paar Schubladen und kam schließlich mit Block und Stift bewaffnet zurück. »Fangen wir an«, sagte sie. »Von dem Gemälde wussten erstens der Primar Peck und seine Sekretärin.«

»Wer bitte ist dieser Peck?«, fragte Boris. »Was ist mir da entgangen?«

»Das Land Steiermark hat das Schloss der Fürstin Igowski gekauft und eine Rehaklinik für Suchtkranke dort untergebracht.

Ich habe an den Leiter geschrieben und wollte wissen, ob es eventuell in einem versteckten Turmkämmerchen noch vergessene Unterlagen der Fürstin gibt …« Theresa hielt inne, weil sich eine Fliege surrend auf ihrem Tramezzino niederließ. Sie scheuchte das Insekt angeekelt weg.

»Und?« Flora stupste sie an.

Theresa räusperte sich und erzählte weiter, dass nach einer Woche ein netter Brief der Sekretärin des Primars gekommen war.

Mit einem Prospekt über die verschiedensten Möglichkeiten, sich im Schloss zu erholen, und der Mitteilung, alles sei topmodernisiert und absolut nichts erinnere mehr an die 70er-Jahre. Mit freundlichen Grüßen und viel Erfolg bei der weiteren Suche.

»Die wollten dich gleich als Kunden gewinnen, was? Wenn sie so nett Werbung für ihr Alko-Schlössl machen«, stellte Flora fest und schenkte ihrer Freundin Wein nach.

Boris notierte währenddessen ›Peck und Sekretärin‹ auf seiner Liste. Theresa nahm einen Schluck Chianti. »Außerdem wären da noch alle italienischen Sustermans-Experten, die ich angemailt habe. Scuro, del Rosso, Casagrande und Bevilaqua. Die Vornamen müsste ich raussuchen. Dann die Leute vom Wien…«

»Nicht so schnell, nicht so schnell! Ich bin das Schreiben mit der Hand nicht mehr gewohnt, 
sonst tippe ich.

Also, Sustermans…ex…per…ten. Gut, weiter.« Auffordernd blickte Boris Theresa an.

»Also, Doktor Brenner vom Wiener Auktionshaus, und natürlich alle, denen er davon erzählt hat, Wenz nicht zu vergessen und die, mit denen er wiederum über Gemälde gesprochen hat.« Sie dachte über Remberts schlechten Ruf nach.

»Es fehlen noch die Personen, die etwas von mir erfahren haben«, warf Flora schuldbewusst ein.

»Wie viele sind das circa? 200 oder gar 300?«, fragte Paul spöttisch.

»Da ich aus offensichtlichen Gründen mehr Freunde habe als du, würde ich sagen, das kommt hin. Deine Eroberungen verstünden sowieso nichts davon«, blaffte Flora zurück.

»Könnt ihr bitte ein Mal Ruhe geben?«, fuhr Boris die beiden an und überflog seine Aufzeichnungen. »Hm … das sind viele, Thesi.

Da hättest du gleich ein Inserat aufgeben können.«

»Ich wusste nicht, dass ein Mord geschehen wird. Ich wollte mehr über die ›Krönung‹ rausfinden und habe weit gestreut«, verteidigte sie sich und biss beleidigt in ein Thunfisch-Tramezzino.

»Das war kein Vorwurf, lediglich eine Feststellung. Machen wir weiter! Wer wusste, dass das Bild bei Rembert war?« Boris klopfte mit dem Stift auf den Tisch. Es klang wie bei Kiesling.

Theresa merkte, wie sie sich verkrampfte und antwortete schnell: »Außer euch niemand, nur der Wanzenverstecker. Ich glaube, ich habe es mit Flora am Telefon besprochen.«

»Habt ihr über alles geplaudert? Bedeutet das, der Mörder wusste stets Bescheid? Über den Ermittlungsfortgang, über unsere Forschungen?«, stöhnte Boris.

»Nur weil du nie etwas erzählst, heißt das nicht, dass alle anderen auch mit Infos geizen müssen! Wenn ich gewusst hätte, dass ich abgehört werde, hätte ich selbstverständlich nichts gesagt.

Doch wer rechnet damit? Ich bin nicht beim Geheimdienst, nicht politisch tätig oder blöd-prominent! Und ich rede eben gern mit Flora: über Dino, über euch oder die Nachforschungen. Es war recht viel los in letzter Zeit!«, pfauchte Theresa und warf ihr Brot, das sie unschlüssig in der Hand gehalten hatte, zurück auf den Teller.

»Das schreit nach einer Flasche Wein!«, versuchte Leon die Wogen zu glätten.

»Kein Alkohol, wir brauchen einen klaren Kopf. Wir müssen die Liste genau durchgehen und herausfinden, wer ein Motiv haben könnte«, antwortete Boris verbissen.

»Gut, aber wie?« Theresa sah ihre Freunde fragend an. »Ich habe alle nur per Mail kontaktiert.«

»Hat dir Leon niemals von den Gefahren des Internets erzählt?

Wer weiß, mit welch fragwürdigen Subjekten du da in Kontakt getreten bist«, sagte Paul unbedacht.

»Du auch noch? Was ist los? Habt ihr euch alle gegen mich verschworen?« Theresa sprang auf und flüchtete mit Tränen in den Augen in die Küche.

Flora blickte vorwurfsvoll in die Runde und folgte ihr. »Komm zurück, sie meinen es nicht böse. Die können ihre Besorgnis nicht anders ausdrücken. Männer eben!«

Widerwillig ließ sich Theresa zurück an den Tisch führen.

Schniefend flüsterte sie: »Natürlich habe ich recherchiert und mich über die Personen erkundigt, die ich angeschrieben habe. Den Primar Peck, zum Beispiel, den kennt jeder! Außer Boris vielleicht.

Immer wenn man für Fernsehsendungen einen Experten zum Thema Sucht braucht, wird er geholt.«

»Ach, stimmt!«, bemerkte Paul. »Daher kam mir der Name bekannt vor. Ich glaube sogar, dass Rembert ihn einmal erwähnt hat.«

»Da wäre also eine Verbindung«, rief Leon aus der Küche. Trotz Boris’ Veto dekantierte er eine Flasche Wein.

»Peck stiehlt ein Bild und begeht dafür einen Mord? Nein, als Primar verdient er sicherlich gut genug.« Paul wischte sich die Finger an einer weißen Serviette ab.

»Stimmt. 150.000 Euro, so viel wie der Sustermans im Wiener Auktionshaus eingebracht hat, wären für ihn ein Tropfen auf dem heißen Stein.« Ausnahmsweise teilte Flora Pauls Meinung.

»Es wurde schon für weniger gemordet«, entgegnete Theresa trotzig.

»Wenn wir niemanden ausschließen können, finden wir nie eine Lösung!« Boris ließ den Stift auf den Tisch fallen und stand auf.

»Ich muss mir ein bisschen die Füße vertreten, ich kann nicht klar denken.« Mit verkniffenem Gesichtsausdruck umrundete er zweimal den Tisch und setzte sich wieder.

»Boris, wir werden den Mörder und Spion heute durch reines Kombinieren sowieso nicht enttarnen. Wenn du allerdings unbedingt willst, streichen wir Peck als Verdächtigen«, gab sie entnervt nach.

»Leute, stellt euch folgendes Szenario vor!«, rief Flora, und Theresa erwartete die nächste Verschwörungsgeschichte. »Seine Sekretärin hat gelogen und es gibt noch Aufzeichnungen der Fürstin. Sie und ihr Geliebter Peck haben den Beweis entdeckt, dass das Bild ein echter Rubens ist! Das war ja Thesis erste Theorie.

Ich erinnere nur an seinen 70 Millionen Euro schweren ›Bethlehemitischen Kindermord‹.«

»70 Millionen sind ein Argument, Flora. Boris, bitte schreib Peck wieder auf die Liste. Nur wie sollen wir herausfinden, ob es wirklich noch Dokumente gibt? Wir können nicht, wie …« Leon machte eine Pause und sah Theresa lange an. »Wie meine liebe Frau es tut, irgendwo einbrechen, um Unterlagen zu suchen.«

Theresa hatte bereits den ganzen Abend darauf gewartet, dass Leon ihren unüberlegten Besuch in Atelier kommentieren würde.

Heute hatten es wirklich alle auf sie abgesehen! Sie verbiss sich eine Antwort, schluckte ihren Ärger hinunter und sah ihren Mann mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

Leon ignorierte den Gewitterblick und fuhr ruhig fort: »Wir sollten Kiesling verständigen und ihm …«

»Nein! So wie der mich behandelt hat, will ich nie wieder mit ihm zu tun haben. Außerdem würde er uns für verrückt halten!«

Theresa begoss mit einem großen Schluck Wein ihren Protest, während Flora ihre Gedanken weiterspann.

»Wir könnten uns in die Klinik einweisen lassen. Das wäre bestimmt lustig: nachts im Schloss schnüffeln und tagsüber in den schönen oststeirischen Hügeln spazieren gehen, beim Mostheurigen einkehren …«

Ein gellender Schrei aus Dinos Zimmer unterbrach all ihre Überlegungen. Theresas warf ihren Stuhl nach hinten und stürmte hinaus, dicht gefolgt von Leon.

»Mama, da war ein … Monster am Fenster!«, stammelte Dino, als seine Eltern an seinem Bett angekommen waren.

Seine Augen waren vom Schlaf noch verquollen. Theresa nahm ihren Sohn in den Arm und wiegte ihn zur Beruhigung sanft hin und her.

»Es war ganz schwarz und hatte Hörner! Und es hatte nur ein riesengroßes Gl uuu tschauge.«

Leon drehte sich zu Paul, der hinter ihnen in den Raum getreten war, und flüsterte: »Er meint Glupschauge.«

»Mäuschen, da hast du geträumt, es gibt keine Monster.«

Theresa drückte Dino fester an sich.

»Nein! Es war da, mit schwarzem Haar und Hörnern so groß, wohin versteck ich mich bloß?«, widersprach Dino und verzog das Gesicht. Theresa signalisierte den zwei Männern zu gehen, legte Dino wieder ins Bett und kuschelte sich dann zu ihm.

Nachdem Dino eingeschlafen war, ging sie zurück ins Wohnzimmer, wo ihre Freunde in der Zwischenzeit das Geschirr abgeräumt und auf dem Tisch Platz für Laptops und Notizzettel gemacht hatten.

»Wo sind wir stehen geblieben?«, fragte Theresa.

»Bei Peck, der die ›Krönung‹ möglicherweise als einen Rubens enttarnt hat. Falls er das Bild hat, wie sollte er es verkaufen? Ist das nicht bei heißer Ware ziemlich schwierig?«, bemerkte Boris.

»Sie muss nicht offiziell auf den Markt kommen. Es gibt Sammler, die gestohlene Kunstwerke in ihren Kellern ausstellen und sie ausschließlich Freunden zeigen. Mit einem Dokument, das das Gemälde als echten Rubens auswiese – das hätte schon was.

Ein cooles Understatement«, sagte Paul. Als er die erstaunten Blicke der anderen sah, räusperte er sich und fügte nach kurzer Pause hinzu: »Wenn es legal wäre.«

»Dann sind es auf keinen Fall die Russen gewesen, die wir bei der Auktion gesehen haben. Die kennen kein Understatement, nur Over-Protzment«, lachte Flora.

»Dafür braucht man als Hehler jedoch Verbindungen. Auf gut Glück ein Bild zu stehlen und dafür einen Mord in Kauf zu nehmen …« Boris schüttelte den Kopf.

»Außerdem war das Verbrechen ungeplant. Es geschah ohne Vorsatz, 70 Millionen abzustauben«, ergänzte Paul.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Flora.

»Ich schließe es aus den Indizien, Watson. Der Mörder improvisierte mit dem Mordwerkzeug: ein Kerzenleuchter, der zufällig in der Nähe stand. Der Täter führte keine Waffe bei sich und hatte folglich nichts geplant. Alles geschah im Affekt.«

»Soll ich den Peck jetzt als verdächtig markieren?« Boris sah sich ungeduldig um.

In der Zwischenzeit hatte Theresa aus seiner Liste einen Papierflieger gebastelt, den sie schnell wieder auseinanderfaltete, glatt strich und ihm zurückgab. »Ja, besser einer zu viel als zu wenig«, sagte sie beschwichtigend.

»Gut, wen noch? Und etwas mehr Seriosität bitte, liebste Theresa.« Paul zwinkerte ihr versöhnlich zu und beugte sich über das Blatt, um die Namen entziffern zu können. »Als nächstes lese ich ›Sustermans-Experten‹. Einer davon könnte das Gemälde sofort als echt identifiziert haben. 150.000 Euro sind für einen Kunsthistoriker wiederum viel Geld.«

»Wie wäre das zeitlich abgelaufen? Er hätte sich nach Thesis Mail ins Auto setzen und nach Wien rasen müssen, um das Bild zu stehlen. Um im Anschluss mit heißer Ware abzuhauen. Darüber hinaus passt die Wanze nicht zu dieser Theorie«, überlegte Boris.

»Genau! Kommen wir überhaupt wieder zurück zur ersten Frage.

Wieso war dieses Ding in Thesis Handy? Wer hat es wann und wo installiert?«, warf Flora in die Runde. »Das sollten wir zuerst klären.«

Auf eine kurze Denkpause folgten von allen Seiten wilde Spekulationen.

»Jemand wollte über die Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten werden. Jemand, der großes Interesse an dem Bild hat.

Weil es wertvoll ist.«

»Weil es Nazi-Raubgut ist.«

»Weil die Kirche es in die Hände bekommen will.«

»Wieso?«

»Weiß nicht, ist mir gerade eingefallen.«

»Dann können wir gleich die Mafia ins Spiel bringen.«

Theresa stand auf und hob die Hand. »Nein Kinder, so geht es nicht. Je mehr Mutmaßungen wir anstellen, umso verworrener wird der Fall.«

»Und was, wenn sie schon installiert war?«, fragte Leon kleinlaut. Alle starrten ihn an.

»Du hast Theresa doch abgehört?« Flora klang empört.

»Ich habe das Handy einem Freund abgekauft. Es war gerade einmal drei Tage in seinem Besitz, er wollte etwas testen. Ich dachte, es ginge um Synchronisationskompatibilität mit dem Computernetzwerk seiner Firma, aber vielleicht hat er …«

»Hast du ihn noch nicht angerufen und gefragt?« unterbrach Theresa.

»Natürlich, aber er ist gerade auf Urlaub und ich konnte ihn nicht erreichen.« Leon räusperte sich. »Eigentlich untypisch für ihn, sein Mobiltelefon abzuschalten, allerdings könnte seine Frau darauf bestanden haben. Jedenfalls wäre ihm zuzutrauen, mit Minispionen zu experimentieren. Er ist genauso ein Tüftler wie ich, vielleicht hat er die Wanze einfach vergessen.«

Theresa entspannte sich ein bisschen. »In dem Fall müssten wir uns nur noch um den Raubmord kümmern. Wie weit waren wir mit den Verdächtigen auf der Liste?«

»Bei den Sustermans-Experten«, sagte Flora. »Vielleicht hat einer Galileo und die anderen Gelehrten erkannt, weil er selbst Mitglied dieser geheimen Astronomenbruderschaft ist. Diese Vereinigung hatte das Gemälde bei Sustermans in Auftrag gegeben, irgendwie ging es verloren und nun sucht sie schon Jahrhunderte danach.« Flora nickte zufrieden über ihre Theorie. »Nennen wir sie ›Fratelli delle Stelle‹. Sternenbrüder, die hinter dem Bild her sind, um ein großes Geheimnis zu bewahren.«

»Das erinnert mich an die Suche nach dem Heiligen Gral in ›Indiana Jones und der letzte Kreuzzug‹. Übrigens, waren es letztes Mal nicht die Fratelli Razionali, die Bruderschaft der Igowskis oder die Illuminaten, die eine Wissenschaftsrevolution planten?«, fragte Paul süffisant.

»Ist doch egal, wichtig sind ›Bruderschaft‹ und ›Verschwörung‹.« Floras Wangen glühten.

Theresa kratzte sich an der Stirn. »Ich weiß nicht …«

Boris schob seinen Zettel, der inzwischen mit Kreisen, Pfeilen und Fragezeichen bemalt war, in die Mitte des Tisches. »Ich bin frustriert. Da passt nichts zusammen, damit lässt sich nichts erklären. Als Techniker bin ich es gewohnt, mit Formeln zu arbeiten, aber hier? Seid ihr irgendwie schlauer als vorher?« Er machte eine kurze Pause. Als keiner reagierte, fuhr er fort. »Wenn, wie Flora vermutet, der Geheimbund der Igowskis hinter dem Bild her war, wieso haben es die Mitglieder nach dem Tod der Fürstin nicht sofort in ihren Besitz gebracht? Und wenn es eine Affekttat eines Saufkumpans von Wenz war, wieso hatte Theresa eine Wanze im Telefon? Wenn das Gemälde keine versteckte Bedeutung hatte, wieso wurde dann zum zweiten Mal im Atelier eingebrochen und die Dokumentation gestohlen? Was hat Wenz überhaupt gefunden? Das müssten wir erst mal wissen! Ansonsten bin ich ratlos.«

Die anderen nickten nachdenklich. Plötzlich fielen Theresa die Gestalten vom Pöllauer Friedhof wieder ein. »Zu Allerheiligen sind mir am Grab der Fürstin einige Männer aufgefallen, die alle den gleichen Mantel anhatten. Vielleicht gibt es wirklich einen Geheimbund … Und ich habe schon länger das Gefühl, dass ich verfolgt werde. Nichts Konkretes, aber ständig schwirren komische Typen um mich herum, ich sehe Schatten und …«

»Wer ist nun hinter dir her: die Igowski-Bruderschaft vom Friedhof oder die komischen Schattentypen? Du musst dich schon für einen Verfolger entscheiden, beides geht nicht«, sagte Leon.

Theresas Mundwinkel gingen nach unten und sie rief herausfordernd: »Vielleicht sind mehrere Personen hinter dem Bild her! Und du hättest mal sehen sollen, wie mich die vier mit den Kreuzritterkutten angestarrt haben!«

»Thesi, bitte! Männer glotzen eben, wenn sie eine schöne Frau sehen. Das liegt in ihrer Natur, sie können nicht anders. Und ich wette, wir werden eine völlig unspektakuläre Erklärung für alle Ungereimtheiten finden. Warten wir den Rückruf meines Freundes ab.« Leon sah auf die Uhr. »Ihr Lieben, ich gehe jetzt ins Bett. Ich fliege morgen Früh um fünf wegen einer Netzwerkimplementierung nach Hamburg.«

»Musst du wirklich weg?«, fragte Theresa. Sie saß im Bett und zog ihre Decke bis zum Kinn.

»Schatz, ich bin doch Sonntag wieder da. Das Projekt ist lange geplant, da muss ich dabei sein.«

»Aber hier ist so viel los, ich fühle mich nicht sicher.« Sie atmete tief durch. »Irgendjemand hat mein Handy gestohlen und verwanzt. Und wegen meiner ›Krönung‹ wurde ein Mensch ermordet.«

»Thesi, ich bin mir sicher, dass die Wanze schon vorher im Telefon war. Außerdem hat mich Paul überzeugt, dass die Tat im Affekt geschehen ist. Dein Bild kann also nichts damit zu tun haben. Und sei ehrlich, diese leichte Paranoia hast du doch schon länger.«

»Willst du damit sagen, ich bin hysterisch?«

Seine Gabe, ruhig zu analysieren und erst zu handeln, wenn es notwendig war, schätzte Theresa sonst an Leon, aber in diesem Moment war sein Verhalten ein rotes Tuch für sie. Diese Lethargie!

Diese Apathie! Konnte er wirklich tatenlos zusehen, wie sie in einem Strudel unerklärlicher Vorfälle versank?

»Ich sagte nicht, dass du hysterisch bist. Ich wollte dich beruhigen, erklären, dass alles ein Zufall ist, und …«

»Ich will mich nicht beruhigen! Ich will, dass du da bleibst!«

Theresa sprang aus dem Bett.

»Das geht nicht. Es tut mir leid.« Leon versuchte, sie an sich zu ziehen, doch sie ging ein Stück zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wenn Dino heute wirklich jemanden am Fenster gesehen hat?«

»Ein Monster? Bitte bleib realistisch. Und erinnere dich, er hat in Reimen gesprochen: ›groß‹ und ›bloß‹. Er hat aus einem seiner Bücher zitiert.«

»Wie soll er sich sonst ausdrücken? Er benutzt eben die Worte, die er aus den Geschichten kennt. Deshalb lesen wir ihm ja vor!

Willst du ihn auch als paranoid hinstellen?«

»Nein, seine Vorstellungen ordne ich kindlicher Fantasie zu.«

Leon setzte sich aufs Bett und schnaufte.

»Bitte bleib hier. Denk einmal – nur einmal – zuerst an Dino und an mich.«

»Schatz, ich denke immer zuerst an euch, aber der Termin steht seit zwei Monaten.«

»Nein, immer ist der Job wichtiger. Alles, alles ist immer viel wichtiger!« Theresas Stimme wurde schriller.

Leon, den selten etwas aus der Reserve locken konnte, antwortete verärgert: »Und was soll ich deiner Ansicht nach tun?

Das Projekt absagen? Anrufen und ihnen mitteilen: ›Entschuldigt, wir können den Anschluss an das Mutternetzwerk nicht vornehmen, weil meine Frau glaubt, dass die Illuminaten hinter ihr her sind?‹«

»Du bist unfair! Ich spinne nicht!« Theresa ballte ihre Hände zu Fäusten und hätte am liebsten aufgestampft. Wenigstens hatte er nicht gesagt, er müsse fliegen, weil nur er das Geld verdiente. Da wäre sie vollends ausgeflippt.

»Außerdem muss einer das Geld …« Leon duckte sich, als die Nachttischlampe über ihn hinwegschoss.

»Ich schlafe im Wohnzimmer. Weck mich nicht auf, wenn du fährst.« Bepackt mit Decke und Dinos Plüschbiber marschierte Theresa hinaus.