Kapitel 26
Sie führten das Mädchen in die Küche und Clare machte sich daran, Tee zu kochen. Die Queen holte eine Vase und stellte die Blumen darin auf das Fensterbrett.
Das Mädchen strampelte ihre Stiefel ab und kämpfte sich aus dem grünen Overall heraus. Darunter trug sie ein sehr enges T-Shirt welches Rücken und Bauch über der ausgefransten Jeans frei ließ. Ein Glitzersteinchen funkelte in ihrem Bauchnabel und als sie sich setzte rutschte ihr Hemd so hoch, dass man ein aufwendiges Tattoo auf ihrer Nierenpartie erkennen konnte. Eine weitere Tätowierung, diesmal eine Rose, prangte auf ihrer Schulter, von der das T-Shirt rutschte. Sie sah insgesamt viel zu mager aus, geradezu krank.
Sie öffnete die Küchentür, nahm den Overall mit spitzen Fingern und warf ihn angewidert auf den Fußboden des Flures. Dann knallte sie die Tür wieder zu.
Die Queen und Clare hatten alles staunend verfolgt.
Clare fragte: „Wäre es nicht eine gute Idee, den Overall anständig aufzuhängen? Da ist ein Haken direkt neben der Tür.“
Mit grimmiger Miene antwortete das Mädchen: „ Ich werde das Teil doch eh nich' mehr brauchen. Und ist mir auch scheissegal. Die werden mich jetzt sowieso feuern, nach dem da“, sie zeigte mit dem Daumen in die Richtung der Straße, „Werd' froh sein, es los zu sein, das blöde Ding! Hab's von Anfang an gehasst. Ihr habt keine Ahnung, wie heiß und stickig es darin wird – es ist die Hölle.“
Nach einer wütenden Stille erzählte sie weiter: „Der ganze Job war die reine Hölle. Ich fand FLOWER POWER in den Gelben Seiten. Als ich anrief und um Arbeit bat, waren sie zuckersüß und sagten: 'Klar, komm nur! Kannst morgen gleich anfangen.' Diese miesen Kerle! Ich wollte in einem Laden arbeiten. Ich liebe nämlich Blumen“, sie tippte zur Verdeutlichung mit dem Zeigefinger auf das Tattoo auf ihrer Schulter, „ich wollte bestimmt nich' auf der ollen Höllenmaschine durch die ganze Stadt jagen und mein Leben in dem bekloppten Outfit riskieren. Geschichten könnte ich euch erzählen! Erst letzte Woche wurde ich fast zwischen zwei Lastwagen zermatscht, nahe der Oxford Street. Einer der Kerle brüllte mich noch an der Ampel an, ich sei selber Schuld, wenn ich in Tarnkleidung rumsausen würde. Ich hätte ihn erwürgen können, das Arschloch! Und in der Woche davor, bin ich auf einer Ölpfütze ausgerutscht und hab mir dabei fast das Genick gebrochen. Als ich zur Zentrale zurückkam, sagte man mir nur, wenn ich nicht besser auf ihr beschissenes Motorrad achten würde, würden sie mich feuern. Und das kommt jetzt wohl auf mich zu.“
Sie starrte in ihre Teetasse. Clare sah, dass diese leer war und füllte sie nochmal auf.
„Danke“, sagte das Mädchen, „ihr Leute seid echt nett zu mir, wenn man bedenkt, dass ich euer Vehikel verbeult habe. Übrigens, ich heiße Samantha. Aber ihr könnt ruhig Sam sagen. Alle tun's.“
„Hallo, Sam. Ich bin Clare, die Ladenbesitzerin und das ist Lizzy. Sie wohnt hier und hilft mir bei der Arbeit.“
Sam nickte. „Ach ja. Die, für die die Blumen sind“, dann zog sie die Stirn in Falten, „Wie kann jemand nur so doof sein und Blumen an einen Blumenladen schicken? Kapier ich nich'.“
Die Queen schmunzelte. „Es ist vielleicht schwer zu glauben, aber sogar alte Damen wie ich haben noch den gelegentlichen Verehrer.“
Clare fiel die Karte wieder ein. „Komm schon, Lizzy. Jetzt guck doch endlich mal nach, von wem die Blumen überhaupt sind!“
Die Queen öffnete den Umschlag sorgfältig mit einem Messer und entfaltete eine hübsche grüne Karte. Darauf stand:
Ich weiß zwar, dass ich hiermit Eulen nach Athen schicke, aber ich muss Dir einfach einmal sagen, wie sehr ich Dich vermisse. Pass gut auf Dich auf und genieße Deinen Urlaub mehr, als ich meinen ohne Dich erlebe. P.
Die Queen lächelte glücklich. „Das ist aber nett!“
Clare warf einen schnellen Blick auf die Karte, während sie Lizzy frischen Tee eingoss. Sie sah nur die Worte „Eulen“, „Athen“ und das „P“ am Ende. Sie war überzeugt, dass die Blumen von Paul Du Bois waren. Sie sah daraufhin sehr zufrieden aus, was der Queen nicht entging.
Sie schüttelte den Kopf. „Es ist nicht wie du denkst, Clare.“
Aber Clare war sich sicher. Trotzdem wunderte sie sich schon ein wenig über das glückliche Lächeln, das über Lizzys Gesicht gehuscht war. Hatte Paul ihr Herz tatsächlich so schnell erobert? Sie hoffte, bald mehr zu erfahren.
Dann fiel ihr das Mädchen wieder ein, das still dasaß, die Hände um den Becher gekrümmt, und ihr heißes Getränk schlürfte.
Sie sagte zu ihm: „Nun da das Schicksal dich ja geradezu wörtlich vor unsere Füße geworfen hat, was fangen wir nur mit dir an?“
Sam sah von ihrer Tasse auf und fixierte Clare mit ihren blauen Augen. „Du hast doch einen Blumenladen, nich'? Warum kann ich nicht einfach bei euch bleiben? Ich freue mich schon auf die blöden Gesichter bei FLOWER POWER, wenn ich dort reinmarschiere und denen ihre blöden Klamotten vor die Füße knalle. Soll sich doch jemand anders für sie totfahren lassen, oder?“
Die Queen und Clare wechselten einen ratlosen Blick. Zwar rührte es Clare, wie Sam offensichtlich darauf vertraute, Clare würde ihre Retterin sein, aber sie war viel zu realistisch, um diesen Erwartungen nachgeben zu wollen.
Sie war überzeugt, dass Sam mit ihren gruseligen Piercings und ihrer Punk-Frisur die Kunden vertreiben würde. Ihre Gossensprache war schrecklich. Clare konnte sich gut denken, warum Sams Arbeitgeber sie in dieses Outfit gesteckt und sie als Kurier losgeschickt hatte.
Andererseits fühlte sie so etwas wie starke Sympathie für das einfache Mädchen, von dem sie sicher war, dass unter der rauen Schale auch Gutes verborgen lag. Sie war von ihrem Beruf selbst so begeistert, dass sie gerührt war, wie sehr Sam sich den gleichen Beruf ersehnte. Wie hätte sie sich wohl selber an ihrer Stelle gefühlt, wenn jemand ihr die Möglichkeit dazu verweigert hätte und sie stattdessen auf ein Motorrad gesetzt hätte? Solche Leute müsste man bestrafen!
Die Sache war sowieso klar. Sie hatte ja nicht einmal die finanziellen Mittel, um einen weiteren Angestellten zu bezahlen.
Die Queen machte sich inzwischen ihre eigenen Gedanken. Sie musste daran denken, dass ihre Zeit bei Clare befristet war, und dass sie nach „Urlaubsende“ wieder zum Hof zurückkehren musste. Das machte ihr Sorgen. Irgendwie war es unfair Clare gegenüber, die sich von Tag zu Tag mehr auf ihre Mithilfe verließ, nicht ahnend, dass „ihre“ Lizzy sie unweigerlich nach dem Ablauf eines Monats wieder verlassen würde.
Sie mochte Sams Sprache und ihren Stil kein bisschen und sie konnte sich denken, dass sie Clare Probleme machen würden. Andererseits dachte sie gerne an das Gute in jedem Menschen. Wie Clare, sah auch sie hinter Sams Tuffness einen Funken dessen, wie sie sein könnte, wenn man ihr nur die Chance dazu gab.
Clare räusperte sich und sagte Sam: „Ich fürchte du kennst meine Situation nicht genug. FLOWER POWER ist sicher ein sehr reicher Arbeitgeber. Schau – ich könnte mir nicht einmal in meinen Träumen so ein Motorrad leisten, wie sie dir zur Verfügung stellen. Wie cool wäre das denn?“, sie machte eine Pause und sah sehnsüchtig aus. „Sieh dir bloß meinen kleinen Laden und meinen klapprigen alten Lieferwagen an. Und der ist dank deiner Bemühungen jetzt sogar noch klappriger. Meine finanzielle Situation ist desolat. Zum Glück gelingt es mir gerade so eben, in den schwarzen Zahlen zu bleiben“, hier vermied sie es, die Queen anzusehen, „aber vielleicht nicht mehr lange. Wer weiß?“, sie lächelte mit Galgenhumor, „vielleicht fahre ich auch bald auf so einem Ding in so einem Overall.“
Die Queen schüttelte sich bei der Vorstellung. Insgeheim schwor sie sich, dass sie das mit allen Mitteln verhindern würde, selbst wenn sie dafür ihre wahre Identität preisgeben müsste.
Sam sah ganz zerknickt aus. „ Tja, wär ja ooch zu schön gewesen“, sagte sie und zuckte mit ihren hageren Schultern.
Eine ungemütliche Stille folgte.
Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf.
„Hey!“, sagte sie, „wer sagt denn, dass du mir etwas bezahlen musst? Ich bin es gewohnt, überall zu schlafen. Hast du nicht vielleicht eine alte Matratze oder so was? Ich könnte darauf irgendwo schlafen – vielleicht hier in der Küche? Ich brauch' keenen Luxus – ehrlich nich'. Und ich ess ooch nich' viel.“
Wie man deutlich sehen kann, dachte die Queen.
Clare stöhnte. Was nun? Was sollte sie bloß mit diesem Wesen anfangen?
Sam war unbeirrbar. „Ich sach dir was: Lass mich mit euch für – sagen wir mal – eine Woche als Test bleiben. Wenn du am Ende der Woche sagst: 'das war's Sam', bin ich weg wie nix! Ich schwör's.“
Die beiden Frauen waren immer mehr beeindruckt von Sams Sturheit, aber da war noch das Problem ihres Aussehens.
Clare schluckte.
„Da wäre eine Bedingung – oder zwei“, sagte sie, um sich abzusichern.
Ein zaghaftes Grinsen breitete sich über Sams Gesicht aus.
„Ja?“
„Du müsstest deine Piercings definitiv reduzieren. Meine Kunden sind es nicht gewohnt, von einem lebenden Nadelkissen bedient zu werden. Ich habe nichts gegen die Ohren, aber die in der Augenbraue, der Lippe und der Nase müssen verschwinden.“
Sam protestierte: „Aber das sind doch gerade die richtig coolen!“
„Das ist mir egal. Ich mag sie nicht. Die lila Haare lass ich durchgehen – so etwas wird ja immer mehr akzeptiert...“
„ ...was es je gerade so langweilig macht.“
„Egal. Das Andere ist deine Sprache. Ich erwarte nicht von dir, dass du Queen's English sprichst, obwohl du dir da eine Menge von Lizzy abhören kannst, aber ich verbitte mir alles Gefluche. Du kannst nicht die Leute damit schocken, dass du mit ihnen in der abstoßenden Weise redest, wie mit dem armen Motorrad.“
Sam nickte ihr Einverständnis.
„Ja. Du hast wohl recht. Ich werde brav sein“, sie beeilte sich zu fragen, „also bedeutet das: 'Ja'? Darf ich bleiben? Darf ich?“
Clare dachte: Hilfe!, doch antwortete sie mit einem strengen Blick: „Nur eine Woche lang. Wenn du dich an meine Bedingungen hältst, sehen wir dann weiter. Falls die Geschäfte besser werden, bezahle ich dir dann ein Gehalt, aber nicht viel, also mach dir keine großen Hoffnungen. Ich habe noch ein winziges Kämmerchen oben. Da ist gerade nur Platz für ein Bett und einen Stuhl. Du kannst dort schlafen, aber kündige bloß nicht deine jetzige Wohnung. Vielleicht musst du da wieder zurück.“
Sam seufzte tief. „Oh. Ich bin so verdammt glücklich!“ Dann schlug sie ihre Hand vor den Mund und entschuldigte sich schnell. „Sorry – ich meinte so riesig glücklich.Ich wohne bei Squatters, also wird mich keiner vermissen.“
...also wird mich keiner vermissen.
Clare musste denken, wie traurig das doch klang.
„Okay“, sagte sie, „jetzt hol deinen Overall und gehe zu FLOWER POWER und sag ihnen, dass du eine Woche Urlaub brauchst. Sag wegen des Schocks. Dein Chef soll mich kontaktieren wegen des Schadens an meinem Lieferwagen. Seine Versicherung wird das ja wohl tragen. Dann kommst du morgen hier her und wir können mal sehen, wie wir miteinander auskommen.“