Kapitel 10
Als die Queen am nächsten Morgen erwachte, hatte sie keine Ahnung, wo sie eigentlich war. Das Fenster stand im falschen Winkel zum Bett. Die Tür ebenfalls. Außerdem war sie es gewohnt, hinter schweren Vorhängen zu schlafen. Sie kniff ihre Augen gegen das grelle Sonnenlicht zu. Wo blieb ihr Morgentee? Sie griff nach der Klingelschnur und fasste ins Leere.
Ein tiefes ständiges Brummen vor ihrem Fenster ging ihr auf die Nerven. Es klang so, als ob die Dudelsackpfeifer von Balmoral sie wecken wollten, aber irgendwie fehlten die hohen näselnden Töne. Verwirrt, streckte sie sich und gähnte, bevor sie sich aufraffte, um aus dem Fenster zu schauen und zu sehen was los war.
Ein Lieferwagen stand mit laufendem Motor auf der Straße. Sie sah, wie ein sportlich gebauter junger Mann vom Fahrersitz heruntersprang. Er eilte zur Ladeklappe und fing an, Plastikkübel mit Blumen auszuladen.
Die Ladentür klappte und die Queen hörte Clare rufen: „Morgen, Derek!“
„Morgen, Clare! Wie läuft's so?“
Clare trug die Eimer in den Laden und sagte dabei leicht ruppig: „Könnte besser sein. Außerdem bist du auch keine große Hilfe. Die rosa Rosen, die du gestern geliefert hattest, ließen bereits die Köpfe hängen, bevor ich sie verkaufen konnte. So ein Verlust!“
„Ach, tatsächlich?
Komisch, sie sahen am Markt richtig gut aus. Ich muss mal ein Wort
mit diesem Tom Sparks wechseln - der hat sie mir
angedreht.“
Ja. Solltest du. Ich kann mir keine unzufriedenen Kunden leisten.
Es ist alles schon so schwer genug.“
Beim Ausladen streifte Derek wie aus Versehen Clare. Er fasste sie am Ärmel und sah sie besorgt an.
„Als ich fragte 'wie geht’s?' meinte ich eigentlich dich, und nicht deinen verdammten Laden!“
Clare senkte ihren Blick. „Ach so. Tja, ich vermisse Tante Emily schon sehr...danke der Nachfrage. Du bist schon in Ordnung, Derek. Tut mir Leid, dass ich wegen der Rosen so unfreundlich war. - Ach, übrigens. Ich habe jetzt eine neue Hilfe; Lizzy. Sicher lernst du sie bald kennen. Sie scheint ganz nett zu sein.“
Dereks Miene erhellte sich. „Ja? Das ist aber fein.“ Er sah sie zärtlich an. „Ich habe mir nämlich Sorgen gemacht, weißt du.“
Clare erwiderte kühl: „Hör mal, du kesser Bursche. Ich habe dir gesagt, dass das völlig überflüssig ist. Jetzt dampf ab! Becky in der Oxford Street wartet schon auf ihre Blumen. Bestimmt fragt sie sich ungeduldig wo du bleibst. Du musst dich sputen.“
Sie legte ihre Hände auf seinen muskulösen Rücken und schob ihn zu seinem Lieferwagen hin.
Derek seufzte tief und theatralisch: „Oh, Clare!“ Dann sprang er auf den Fahrersitz. Während er los fuhr, rief er durchs offene Fenster, „Wir sehen uns morgen!“
Die Queen wandte sich wieder ihrem Zimmer zu und begann, sich anzuziehen. Aha. Offensichtlich hatte Clare einen Verehrer. Das überraschte sie gar nicht. Abgesehen von den kleinen Sommersprossen auf ihrer Nase, war sie wirklich sehr hübsch. Schlank, gute Figur. Wunderschöne rote Locken...Sie wunderte sich, dass so ein nettes Mädchen solo war.
Dann konzentrierte sie sich auf das Ankleiden. Wie Clare es ihr geraten hatte, wählte sie ein Kleid aus dem Schrank. Sie fand auch einen Stapel grüner Schürzen, von der sie eine mit einem Ruck ausschüttelte und über ihr Kleid band. Sie wunderte sich über sich selber, denn sie platzte förmlich vor Energie.
Heute würde sie sich nicht damit zufrieden geben, nur zu zuschauen. Heute wollte sie sich so richtig nützlich machen.
„Ich habe mitgekriegt, wie du mit diesem jungen Mann geplaudert hast“, sagte die Queen zu Clare, als sie sich beim Frühstück zu ihr und Joey an den Tisch gesellte.
„Oh. Haben wir dich geweckt? Das tut mir Leid. Ich sag Derek immer, er soll den Motor nicht laufen lassen. Wahrscheinlich nervt er die ganze Nachbarschaft damit, aber er behauptet, er würde ihn so schlecht wieder in Gang kriegen. Das wäre dann echt ein Problem. Dann würde er hier noch länger herum lungern!“ Clare verdrehte die Augen.
„Aber er scheint sehr nett zu sein. Und offensichtlich mag er dich.“
„Mag sein“, sagte Clare kurz, „aber ich suche zur Zeit kein romantisches Abenteuer, besten Dank. Ich habe mich gerade erst von der Trennung von Doug erholt.“
Sie stürzte ihren Kaffee hinunter und half Joey in seinen Mantel. „Komm schon, kleiner Mann, wir müssen los.“ Sie schnappte sich den Autoschlüssel und sie eilten davon.
Die Queen blickte auf ihre Uhr. Kaum war das Auto weg, als ein leises Klopfen an der Seitentür zu hören war. Das war ihr Privatsekretär, Edward. Er betrat die Küche und schien sie sofort durch seine Präsenz auszufüllen. Da er ein so großer stattlicher Mann war, schien alles andere um ihn herum kleiner zu sein, so dass die Küche scheinbar zur Größe einer Hobbit-Behausung schrumpfte. Er zog einen Stapel Papiere aus seiner Aktentasche und legte sie vor die Queen. Dabei verbeugte er sich würdig, genauso, als ob sie sich im Buckingham Palast befänden. Von all den Sekretären, die die Queen jemals gehabt hatte, war dieser definitiv der attraktivste. Und sie verstand sich sehr gut mit ihm, so dass sie sich angewöhnt hatte, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen. Sie nahm sich die Dokumente vor und überflog sie mit einem geübten Blick. Hie und da unterschrieb sie eins davon, zwischen den Krümeln und dem Milchkarton auf dem Frühstückstisch.
Während er in höflichem Abstand wartete, beäugte Edward die Küche mit unverhohlener Neugierde.
Die Queen sah auf und erwischte ihn dabei. „Ich weiß was du denkst, Edward. Dies ist alles sehr anders, als was ich sonst so gewöhnt bin. Aber es geht mir gut und ich finde das hier sehr befriedigend. Ich bin mir sicher, dass ich hier sehr interessante und lohnende Ferien verbringen werde.“
Edward hob eine Augenbraue. „Ihre Majestät missverstehen mich, wenn ich es sagen darf. Tatsächlich dachte ich mir gerade, was für ein gemütliches Zuhause dies hier zu sein scheint.“
Ein Foto von Clare und Joey, das zwischen Joeys Krakeleien an der Kühlschranktür hing, fing seine Aufmerksamkeit. Er rückte näher und sah es sich genauer an. „Was für ein hübsches Paar.“
„Ja. Und die eine Hälfte davon ist in nur zwei Minuten wieder hier, also gehen Sie jetzt bitte.“
„Welche Hälfte, Ma'am?“ Etwas funkelte in Edwards Augen.
„Mein lieber Edward, ich muss Sie warnen. Sie müssen für die Beiden absolut unsichtbar bleiben. Ich könnte Ihnen niemals vergeben, wenn Sie mich verraten würden. Also gehen Sie nun – sofort!“ Sie scheuchte den großen Mann heraus, als wäre er ein ungezogener Corgi.
Edward wusste, wann es seiner Chefin ernst war, und zog es vor, davon zu eilen. Als er seinen Aston Martin zurück zum Büro lenkte, musste er sich selber eingestehen, dass er die Queen in ihrer jetzigen Situation fast ein bisschen beneidete.
Zwar hatte er schon als junger Mann eine Bombenkarriere gemacht, und war wegen seiner gehobenen Stellung allgemein angesehen. Aber sein Beruf ließ ihm kaum die Zeit für so etwas wie ein Privatleben. Er hatte ein elegantes Loft in den Docklands mit schicken Designermöbeln. Man hatte von da einen atemberaubenden Blick über die Themse. Aber es war kein richtiges Zuhause – nicht wie das, was er gerade gesehen hatte. Als er zu seiner Arbeit davonsauste, verspürte ein undefinierbares Gefühl von Sehnsucht.