Robert Abernathy
Die rechtmäßigen Erben

 

 

Mit größter Vorsicht und Wachsamkeit kroch Bogomazov auf dem Bauch den flachen Hügel hinauf. Über seinem Kopf schwankte das hohe Steppengras, das kovyl’, in dem frostigen Wind hin und her. Er zitterte.

Wieder trug der Wind ihm den Geruch von Holzrauch entgegen, und seine Nasenflügel bebten wie die eines jagenden Tieres. In einem plötzlichen Anfall von Leichtsinn richtete er sich zu voller Größe auf und blickte angestrengt über die Grasfläche, die sich zum Fluß hin senkte.

Dahinter, gleich am Flußufer zwischen dürren Bäumen, lagen ein paar rohe, neu errichtete Hütten, die mit Stroh bedeckt waren. Bogomazovs hungrige Augen erspähten die Umzäunung, in der ein paar Stück Vieh weideten, Geflügel und braune Schollen gepflügter Erde. Der Wanderer leckte sich die Lippen, und wie von selbst öffneten seine Finger den Halfter an der Hüfte und lockerte den Revolver. Aber er bezwang sein Verlangen, ließ sich wieder ins Gras sinken und studierte die Umgebung, suchte nach menschlichen Gestalten, Anzeichen für Wachen. Er konnte nichts entdecken; trotzdem bewegte er sich noch nicht. Nur diese Vorsicht hatte ihn so lange am Leben erhalten. Er war tausend Meilen durch das Chaos gewandert, das einst Rußland gewesen war.

Zwei Gestalten traten aus einer der Hütten und gingen zu den Hühnerstallen. Nach kurzer Zeit kehrten sie zurück. Bogomazov atmete erleichtert auf; er war jetzt so gut wie sicher, daß ihn niemand gesehen hatte. Aber trotz seines knurrenden Magens umschlich er erst einmal das Dorf.

Er war ein seltsamer Mensch – dieser Nikolai Nikolajevitsch Bogomazov, einstmals Oberst der Roten Armee und Held der sowjetischen Nation; jetzt ausgemergelt und halbnackt, das Gesicht hinter einem etwas dürren, struppigen Bart verborgen, das Haar über der Stirn ganz kurz gestutzt, um zu verhindern, daß es in die Augen fiel. Seine Schuhe waren schon vor längerer Zeit auseinandergefallen, und die Lappen, die er statt dessen um die Füße geschlungen hatte, waren auch schon durchgewetzt, so daß er eigentlich barfuß ging; er wußte nicht, wie man Schuhe aus Borke bastelte. Seine Armeehosen hingen in Fetzen an seinen knochigen Schenkeln. Das zerrissene Khakihemd war amerikanischer Fabrikation, eine Trophäe der großen Offensive vor zwei Jahren, die die russischen Armeen durch halb Europa und über den Nahen Osten nach Afrika gebracht hatte … Das waren die großen Tage gewesen: vor der Erkenntnis, daß es nie genügen würde; nach der Zerstörung der großen Städte und Industrien – um ganz sicherzugehen –, aber vor dem Bombardement …

Bogomazov schlängelte sich weiter; das Wasser lief ihm im Mund zusammen, wenn er an die Hühner dachte.

Er war seinem Ziel nun schon nahe genug, um zufriedenes Gackern zu hören, als hinter ihm eine Stimme rief: »Oho!«

Der Jäger rollte sich zur Seite und riß die Waffe hoch; dann sah er, daß der Mann, der gerufen hatte, ein paar Meter von ihm entfernt war und nervös auf die Schuppen zuging; und was noch wichtiger war: er hatte keine Waffen. Es war ein untersetzter, schäbig gekleideter Mann mit einem Vollbart. Bogomazov brachte seinen Revolver in Anschlag und rief ein scharfes »Halt!«

Der andere erstarrte und blickte finster auf die bewaffnete Schreckgestalt. In einiger Entfernung schlug eine Tür zu. Fußtritte kamen näher. Bogomazov beobachtete, wie sich ein halbes Dutzend Männer und Jungen neben diesen Mann stellten. Zwei von ihnen trugen Gewehre, aber er hatte keine Angst. Er kannte diese Situation. Dies hier waren einfache Bauern.

»Was für ein Ort ist das?« fragte er scharf.

»Novoselje«, antwortete einer zögernd. »Die neue Siedlung.«

»Das kann ich sehen. Wer ist hier der verantwortliche Mann?«

»Einen Augenblick«, brummte der bärtige Mann, der ihn als erster entdeckt hatte. »Wie wär’s, wenn du uns erst einmal sagtest, wer du bist und was du willst?« Unbehaglich trat er von einem Bein aufs andere, aber es gelang ihm, den anderen herauszufordern.

»Mein Name tut nichts zur Sache«, sagte Bogomazov langsam. »Was zählt, ist, daß ich Kommunist bin.« Er spürte die Abwehr, den verstohlenen Blick, der sich in die Augen der Männer schlich. Es gelang ihm, ruhig zu bleiben, aber seine Hand schloß sich fester um den Revolver. Das war ein Spiel mit dem Tod. Er wußte, daß Kommunisten erschlagen, hinterrücks ermordet und gelyncht worden waren – und zwar von denen, die ihren Befehlen gehorchen sollten. Bogomazov war zu schlau gewesen, um sich fangen zu lassen. Vor drei Monaten, als der totale Zusammenbruch der zivilen Behörden auch das Militär ergriff, hatte er erkannt, daß im Norden, wo er sich damals gerade aufhielt, der kalte Winter das, was die Bombardements begonnen hatten, zu Ende führen würde. Tausend Meilen Marsch in südlicher Richtung lagen hinter ihm – tausend Meilen jenes Landes, in das nun bald die Schneestürme von Asien hereinfegen würden, um die geschwärzten Überreste des alten und neuen Rußlands zu bedecken, in dem die Moskva aus der ungeheuren Senke, die nun die Gegend von Moskau umfaßte, einen neuen Sumpf entstehen lassen würde, in dem es kaum noch einen toten Baum gab. In dieser gewaltigen Ebene, die einst von dem großen Novgorod und dem noch größeren Leningrad beherrscht war, stand kein Stein mehr auf dem andern.

»Was willst du von uns … Genosse?« fragte der Mann mit dem Bart vorsichtig.

Bogomazov stieß einen unhörbaren Seufzer der Erleichterung aus. Barsch sagte er: »Gibt es hier Kommunisten?«

»Nein, Genosse.«

»Wer ist dann hier verantwortlich für euch?«

Unsicher blickten sie einander an. Der Sprecher schluckte und stammelte: »Der … der Amerikaner ist unser verantwortlicher Mann.«

 

Bogomazovs Haltung war wohlüberlegt. Er runzelte die Stirn und blickte den Sprecher scharf an: »Du sagtest – amerikanets?«

»Da, tovarishch.«

Bogomazov holte tief Luft und trat einen Schritt auf sie zu. »In Ordnung. Bringt mich zu diesem Amerikaner … sofort!«

Die Bauern zögerten einen Moment, gehorchten dann aber. Als Bogomazov zwischen ihnen die unebene Dorfstraße entlangging, war er sich der beiden bewaffneten Männer rechts und links von ihm sehr wohl bewußt – wie eine Ehrengarde oder eine Gefangeneneskorte. Bogomazov ließ seine Revolvertasche offen. Aus den Hütten lugten ein paar Frauen und Kinder heraus. Ein Flüstern setzte sich fort: »Kommunist prishól …«

Vor einer Hütte, die wie die anderen aus zusammengeschlagenen Brettern bestand, hielten sie an. Von innen drang ein rhythmisches, metallenes Hämmern, und als Bogomazov durch die offene Tür trat, schlug ihm ein heißer Luftzug entgegen. Eine steinerne Schmiede glühte hell, und ein Mann mit nacktem, von Schweiß überströmtem Oberkörper drehte sich zu ihm um, den Hammer erhoben.

Als der Schmied sich streckte und seine Stirn abwischte, sah Bogomazov, daß er wahrhaftig ein Amerikaner, zumindest aber ein Westlicher war; er hatte die typischen – und gehaßten – Züge: das lange schmale Gesicht, die hervorstechende Nase, die wie der Schnabel eines Raubvogels aussah, die schlaksigen Glieder. Das russische Wort amerikanets bedeutet nicht nur »Amerikaner« sondern auch »Mann, der die Dinge schafft, Eroberer«; und Bogomazov hatte geglaubt, daß die Bauern diese Bezeichnung einem Anführer aus ihrer Mitte gegeben hätten – aber, nein: der Mann vor ihm war wirklich ein Feind.

Mit einer schnellen Bewegung zog Bogomazov den Revolver und legte an. »Im Namen der Sowjet-Regierung – du bist verhaftet!« sagte er. Der andere starrte mit einem Grinsen auf die zerschlissene, drohende Gestalt, als wüßte er nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Der Hammer fiel zu Boden, wo er sich noch ein paarmal polternd überschlug.

Bogomazov spürte die bewaffneten Männer im Türeingang; er drehte sich nicht um. »Hände hoch«, befahl er. »Stell dich da drüben hin.«

Der Mann gehorchte langsam; anscheinend verstand er russisch.

»Und jetzt«, fuhr der Kommunist fort, »erkläre! Was für eine Art Infiltration hast du hier vorgenommen?«

Der Amerikaner blinzelte ihn an; er hatte noch immer diesen fragenden Gesichtsausdruck. Dann sagte er ruhig, mit fließenden Worten, aber starkem Akzent: »In diesem Augenblick, als ich so unhöflich unterbrochen wurde, versuchte ich einen Teil eines Gewehrbeschlags in eine Pflugschar umzuschmieden. Wir säen den Weizen im Herbst mit den altmodischen Holzpflügen; ein Eisenpflug wird die Frühjahrssaat erheblich erleichtern und lohnender machen, und vielleicht gelingt es uns sogar, in diesem Herbst mehr Land zu bestellen.«

»Hör auf, mir auszuweichen … Warte!« Bogomazov fühlte, daß der richtige Moment gekommen war: Er winkte den Männern im Eingang. »Ihr könnt gehen. Ich werde euch rufen, wenn ihr gebraucht werdet.«

Sie scharrten unschlüssig mit den Füßen, fingerten an ihren Waffen herum und trollten sich langsam davon.

Der Amerikaner lächelte. »Du weißt, wie man diese Leute behandeln muß, was? … Aber mir wäre es lieb, wenn du den Revolver nicht andauernd auf mich richten würdest. Du erschießt mich ja doch nicht, ehe du mich fertig ausgefragt hast, und auch dann würde ich es dir nicht raten. Ich bin kein sehr guter Schmied, das gebe ich gern zu, aber ich bin hier die einzige Person, die was von der Landwirtschaft versteht … außer du bist zufällig ein verirrter agronom.«

Der Russe ließ die Waffe sinken und strich mit der freien Hand über ihren Lauf. Sein Gesicht war ausdruckslos. »Weiter«, forderte er. »Ich fange an zu verstehen. Du bist ein Spezialist, der sein Wissen dazu benutzt hat, sich eine Führerstellung zu erringen.«

Der andere seufzte. »So kann man es vielleicht nennen, aber richtiger wäre, daß ich in diese Stellung hineingezogen wurde. Der ursprüngliche Kern dieser Gemeinschaft bestand aus zwei leichten Maschinengewehren – die jedoch nutzlos geworden waren, als die ganze Munition bei den Streitigkeiten mit den razboiniki aufgebraucht war. Diese Gruppe irrte damals umher; ich riet ihnen, nach Süden zu ziehen, weil sie in diesem Winter verhungert wären. Was mich angeht, ich habe für das Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten gearbeitet; was ich über Traktoren weiß, hilft mir im Augenblick recht wenig, aber ein paar meiner Kenntnisse sind auch jetzt noch anwendbar. Mir wurde bald klar – nachdem ich mich nach einer Bruchlandung nahe Tula aus dem Staub gemacht hatte –, daß meine Chancen für ein Überleben allein als Ausländer sehr gering waren. Ich heiße übrigens Leroy Smith – Smith bedeutet kuznets, aber ich hätte nie gedacht, daß ich meinem Namen jemals so viel Ehre antun würde«, fügte er mit einem Blick auf die glühende Schmiede hinzu.

»Weiter, Smeet«, forderte Bogomazov, der noch immer mit dem Revolver spielte. »Was hast du weiter getan?«

Der Amerikaner sah ihn erstaunt an. »Nun … diese Leute hier sind kein sehr ausgewählter Haufen. Fast die Hälfte von ihnen waren Fabrikarbeiter – Proletarier –, die von der Pike auf lernen mußten. Der Rest bestand aus einfachen Kollektivbauern – die es gerade noch zuwege bringen, die Befehle des Vorarbeiters zu befolgen. Und hier komme ich ins Spiel.« Er blickte den Russen forschend an. »Und du, als ein einsamer Überlebender, müßtest eigentlich Talente haben, die Novoselje gebrauchen kann. Wir sollten imstande sein, ein Geschäft miteinander zu machen.«

»Ich«, sagte Bogomazov mit harter Stimme, »bin Kommunist.«

Smiths Augen zogen sich zu engen Schlitzen zusammen. »Oho«, murmelte er. »Das hätte ich wissen müssen – die Art, wie er hier hereingepoltert kam, die Art –«

»Es wird kein Geschäft geben. Als ein Spezialist bist du nützlich. Du wirst fortfahren, dich nützlich zu machen. Du wirst immer daran denken, daß du dem sowjetischen Staat dienst; jede Regelwidrigkeit, jede Sabotage, jede zerstörerische Aktivität werde ich bestrafen.« Er hob den Revolver.

Der Amerikaner starrte ihn verdrossen an. »Bist du dir denn nicht darüber im klaren, daß der Sowjet-Staat, die kommunistische Partei, der Krieg – daß all das vorbei und abgetan ist – kapût? Genauso wie Amerika, schätze ich – das letzte, was ich hörte, war, daß unser Industriegebiet ein großes radioaktives Feuer ist, und Washington wurde von der Chesapeake Bay verschluckt. Wir sind hier eine Handvoll Überlebender, die versuchen, sich über Wasser zu halten.«

»Der Krieg ist nicht vorüber. Glaubst du etwa, ihr könntet einen Krieg anfangen und dann, wenn ihr ihn satt habt, behaupten, man wäre quitt?«

»Wir haben ihn nicht angefangen.« Bogomazovs Augen glitzerten wie das Metall der Waffe in seiner Hand. »Ihr Kapitalisten habt einen fundamentalen Fehler durch eure vulgäre Profitgier gemacht. Ihr habt geglaubt, ihr könntet den Kommunismus zerstören, indem ihr seine Hauptstadt, das Kapital, seine Industrie und die militärische Macht auslöscht. Ihr wußtet nicht, daß unser Kapital in uns selber lag, in uns Kommunisten. Deshalb werden wir auch die Erde erben, jetzt, da euer Krieg die alte Welt zertrümmert hat!«

Smith beobachtete ihn mit einer Art Faszination, doch dann lächelte er. »Bevor du dich aber daran machst, die Erde zu erben, wird es nötig sein, sich darum zu kümmern, wie du den Winter überstehst.«

»Natürlich!« fauchte Bogomazov. Er trat zurück zur Tür und rief: »Ihr da! Kommt herein!« Er winkte einem der bewaffneten Bauern zu.

»Du wirst aufpassen, daß dieser Fremde hier nicht flieht oder irgendeine Sabotage begeht, so wie etwa das Zerstören von Handwerkszeugen. Du wirst nicht auf das, was er sagt, hören. Solange er sich ordentlich benimmt, läßt du ihn in Ruhe. Verstanden?«

Der Mann nickte eifrig. »Jawohl, Genosse.«

»Ich besichtige jetzt die Siedlung. Du, Smeet – zurück an die Pflugscharen, und daß sie mir gut werden!«

Unerbittlich brach der Winter an. Von der Steppe her bliesen eisige Winde – nicht die giftigen Winde der nördlichen Tundra, aber trotzdem waren sie unangenehm. An windstillen Tagen stiegen dicke Rauchwolken von den Hütten in den hellen, frostigen Himmel auf und verrieten jedem Plünderer die Siedlung.

Das war nicht zu ändern, denn es gab eine Menge Arbeit. Fast jeden Tag war die Schmiede in Betrieb, und in den Außenbezirken von Novoselje dröhnten Hammer, denn hier entstanden neue Häuser, um dem dichten Gedränge im Dorfzentrum etwas abzuhelfen. Eine Einzäunung wäre recht praktisch gewesen, aber in dieser fast baumlosen Ebene mußte man gefährlich weit gehen, um nützliches Holz zu finden.

Bogomazov, der in Begleitung Ivanovs, seinem schweigsamen und ihm hündisch ergebenen Kommunistengenossen – er war ein paar Wochen nach ihm hier aufgetaucht – einen seiner häufigen Rundgänge machte, blieb stehen, um dem Bau zuzuschauen. Der amerikanische Schmied half bei der Arbeit – im Augenblick zeigte er einem früheren Büroangestellten, wie man einen Hammer handhaben mußte, ohne wertvolle Nägel umzubiegen. Schweigend schaute Bogomazov zu, dann rief er: »Smeet!«

Der Amerikaner blickte sich um, richtete sich auf und kam ohne Hast auf ihn zu. »Was ist jetzt schon wieder?«

»Ich habe dich gesucht. Ein paar Tiere aus der Herde sind krank; niemand scheint zu wissen, ob es etwas Ernsthaftes ist. Kennst du dich in diesen Dingen aus?«

»Ich habe schon mal ein bißchen Tierarzt gespielt – ich bin auf einer Farm aufgewachsen. Ich werde sie mir sofort ansehen.«

»Gut.« Während er ihm mit den Blicken folgte, verspürte Bogomazov ein unbehagliches Erstaunen darüber, wie sehr die Siedlung sich auf den Fremden verließ. Er war der einzige, der in Notfällen Rat wußte – oder der einzige, der sich bereit erklärte, einen Ausweg zu suchen: dieser unvermeidliche Smith.

Natürlich gab es dafür eine Erklärung: aus Smiths Andeutungen über sein Leben vor dem Kriege in Amerika schloß Bogomazov, daß er sich mit bemerkenswert vielen »Spezialitäten« beschäftigt hatte; er war von einem Ort zum andern gezogen, von einer Arbeit zur anderen, in diesem ganzen chaotischen, kapitalistischen Arbeitsmarkt, auf eine Weise, wie sie ihm in dem geordneten, sowjetischen, ökonomischen System nie zugestanden worden wäre … Das Ergebnis war, daß er ein bißchen von jedem getan hatte und ein bißchen von allem zu wissen schien.

Und Bogomazov wußte, daß die Dorfbewohner den Ausländer hinter seinem, Bogomazovs Rücken als »Genosse Spezialist« betitelten – ihm also unschicklicherweise den Ehrentitel tovarishch zusprachen, obgleich er noch nicht einmal sowjetischer Staatsbürger war, geschweige denn ein Parteimitglied … Diese Gedanken erinnerten ihn an etwas, und er rief: »Warte! Noch etwas, wenn du Zeit hast … man sagte mir, daß der Ofen in Bürger Vrachovs Hütte nicht zieht.«

Smith drehte sich lächelnd um. »Das ist schon in Ordnung. Vrachovs Frau hat sich bei mir darüber beklagt, und ich habe ihn gerichtet.«

Bogomazov streckte sich. »Das hätte sie nicht tun sollen. Sie hätte mir die Angelegenheit erst berichten müssen.«

Das Lächeln auf dem Gesicht des Amerikaners verschwand. »Oh … Disziplin, was?«

»Disziplin ist notwendig«, sagte Bogomazov streng. Ivanov, der direkt neben ihm stand, nickte eifrig.

»Wahrscheinlich hast du recht.« Smith musterte ihn nachdenklich. »Ich muß zugeben, daß du einige Dinge erreicht hast, die mir wahrscheinlich nicht gelungen wären – wie zum Beispiel das Verteilen der Wohnungen und das Rationalisierungssystem, um das Dorf durch den Winter zu bringen.«

»Du hättest diese Dinge nicht vollbringen können, weil du kein Kommunist bist«, sagte Bogomazov mit Nachdruck. »Du bist an die ›Unmöglichkeiten‹ einer sterbenden Gesellschaft gewöhnt; aber wir sind stark, weil wir wissen, daß die Geschichte auf unserer Seite steht. Es gibt nichts, was ein richtiger Bolschewik nicht erreichen kann!«

Wieder nickte Ivanov.

»Das Wohlwollen der Geschichte«, wiederholte Smith nachdenklich, »ist berüchtigt, die Seiten zu wechseln. Ich frage mich, ob auch ein Bolschewik … Aber im Falle von Vrachovs Kamin scheint mir deine Disziplin ziemlich kleinlich.«

»Genug!« donnerte der Russe und zog sich merklich in sich selbst zurück. »Du sollst dir die Herde ansehen.«

Smith zuckte mit den Achseln und wandte sich ab. »Okay«, sagte er. »Volya vaska – du bist der Boss.«

 

Ein halbwüchsiger Junge stürzte die Dorfstraße entlang, seine Schuhe dröhnten auf der hartgefrorenen Straße. »Razboiniki!« schrie er. »Razbo-o-oiniki!«

Bei dem gefürchteten Ruf – »Räuber« – rannten die Bewohner aus ihren Häusern wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm, manche ergriffen Äxte, Hacken und auch Brennholz. Keine Gewehre – Bogomazov hatte alle Feuerwaffen eingesammelt, russische und ausländische Fabrikate, und sie sicher in einer festen Hütte hinter dem einzigen Vorhängeschloß des Dorfes aufbewahrt.

Die Dorfbewohner drängten sich aneinander, hielten sich im Schutz ihrer Häuser und starrten verängstigt ostwärts, zur anderen Seite des zugefrorenen Flusses. Der Junge, der den Alarm ausgelöst hatte, rannte zu ihnen und deutete mit dem Arm. Alle sahen die kleinen schwarzen Gestalten, Männer auf Pferden, die auftauchten, verschwanden und wieder erschienen. Dabei wurden sie immer größer und näherten sich dem Flußufer. Ein Seufzer entrang sich allen, als einer abstieg und vorsichtig das Eis untersuchte.

Um die Situation noch zu verschlimmern, stimmten die eingepferchten Schafe, durch den Tumult aufgeschreckt, ein kräftiges Blöken an. Die Laute würden klar und deutlich bis zur anderen Seite des Flusses zu hören sein und den Appetit der razboiniki noch verstärken. Die Novoseljaner zitterten; sie mußten an die vielen Geschichten über ausgeplünderte und zertrümmerte Dörfer denken, deren Einwohner vertrieben oder erschlagen worden waren, und sie erinnerten sich an ihre eigenen Begegnungen mit solchen Plünderertruppen – Überreste revoltierender Armee« Einheiten, Pöbel, der seinen Stadtruinen entronnen war, verstreute asiatische Stämme – bewaffnetes Gesindel, das von Gott weiß woher zusammengeweht war, izza granitsy, von hinter den Kampflinien sogar …

Diese razboiniki waren offensichtlich ziemlich zahlreich, und sie kamen direkt aufs Dorf zu. Etwa einhundert Männer, die Hälfte von ihnen zu Pferd. Und am Horizont konnten diejenigen mit guten Augen sogar Wagen erkennen, anscheinend Ochsenkarren. Der Feind schien organisiert, keine zusammengewürfelte Plünderergruppe. Die Dorfbewohner umklammerten ihre improvisierten Waffen – und ein klobiger, früherer Fabrikarbeiter klagte laut: »Bozhe moi, wenn wir doch nur noch die Maschinengewehre hätten …«

Dann kam Bogomazov mit großen Schritten die Straße herunter, nach rechts und links Befehle schleudernd, Befehle, die die Bewohner in eine Art Verteidigungsstellung bringen sollten. Er fluchte laut, während er an dem gefrorenen Vorhängeschloß der Hütte, in der die Waffen lagerten, rüttelte. Endlich sprang es auf, und zusammen mit Ivanov rannte Bogomazov die Linie auf und ab und verteilte Gewehre und den strikten Befehl, sie nicht eher zu benutzen, als bis er die Erlaubnis erteilte.

Die reitenden razboiniki näherten sich im Schrittempo in einer ungeraden, schwankenden Linie über das Eis.

Smith stand da und beobachtete sie, die Hände tief in die Taschen seiner alten Fliegerjacke vergraben, von der er sich nicht trennen konnte. Handschuhe besaß er nicht. Als Bogomazov an ihm vorbeieilte, bemerkte Smith: »Ich war immer ein ziemlich guter Schütze –«

»Halte du dich da raus!« fuhr ihn der Kommunist an. Er ließ sich auf alle viere nieder, kroch auf den offenen Hang hinunter den Häusern zu und blieb, vorsichtig umherspähend, liegen. Hinter der Linie hastete Ivanov von einem Punkt zum andern und wiederholte die Befehle: »Wartet mit dem Schießen, und wenn ihr schießt, zielt auf die Pferde ganz vorn. Sie haben nicht so viel Pferde wie Männer; und wenn man einen Feind erst einmal davon überzeugt hat, daß die vordere Linie zu gefährlich ist, wird er bald keine Vorderlinie mehr haben …«

Das hohle Hufgetrappel kam näher und schwoll in der Stille zum Dröhnen an. Dann krachte Bogomazovs Gewehr: das Pferd des Führers bäumte sich auf und warf seinen Reiter ab. Unter seinen Beinen gab das Eis nach, und es stürzte. Überall zwischen den Häusern gingen jetzt die Schüsse los, und Bogomazov kam zurückgekrochen. Die Reiter auf dem Eis zersplitterten sich, sie hielten die Köpfe tief über den Sattel gehängt und erwiderten das Feuer. Die Kugeln pfiffen kreuz und quer durch das Dorf, zersplitterten Häuserwände und rissen Löcher in die Dächer.

Einige der razboiniki waren damit beschäftigt, ihre Verwundeten zurück ans andere Ufer zu schleppen, aber zur Rechten setzte eine Handvoll Reiter zu einem Galopp über das krachende Eis an. Sie kamen direkt auf das Dorf zu. Bogomazov trat ihnen mit schwingendem Gewehr entgegen: »Schießt nur auf die Vorderen!« schrie er den anderen zu. »Spart eure Kugeln!«

Die razboiniki erreichten das Ufer und jagten auf die Flanke der Verteidiger zu. Sie bestürmten den Korral, in der Hoffnung, die Umzäunung zu zerstören und die Herde abtreiben zu können; aber da pfiffen ihnen ganze Salven von Kugeln um die Ohren. Einer schnellte vom Pferd und rollte über den gefrorenen harten Boden, ein anderes Pferd stürzte und begrub seinen Reiter unter sich. Die übrigen verloren die Nerven, sie drehten um und flohen.

Mit gezücktem Revolver trat Bogomazov vor, um die Gefallenen zu untersuchen. Einer davon war bereits tot. Dann feuerte Bogomazov zweimal mit ruhiger Präzision zuerst auf das japsende Pferd und dann auf den Reiter, der betäubt darunter lag.

»Sie könnten noch einmal angreifen«, sagte er zu seinen Leuten. »Wir werden Wachen ausstellen.« Aber die razboiniki hatten genug. Nach einer angstvollen Stunde des Wartens und Beobachtens konnten die Dorfbewohner erkennen, daß der Feind sich auf der anderen Flußseite aufstellte und nach Süden weiterzog. Die Novoseljaner lachten und weinten vor Erleichterung, umarmten einander; einer tanzte mitten auf der Straße vor Siegestrunkenheit.

Bogomazov betrat seine verrußte Hütte, die wegen ihres Bewohners die nachdl’naya izbá genannt wurde, die »Oberste Hütte«. Erleichtert und zufrieden atmete er die warme dicke Luft ein und begann sich aus seinen Handschuhen und dem Mantel zu schälen. Dann blieb er plötzlich stehen: Smith wärmte sich die Hände am Ofen. Er trug ein Gewehr über der Schulter. »Woher hast du das?«

Der Amerikaner grinste. »Einer der Proletarier wurde kampfesmüde, ungefähr zehn Sekunden, nachdem das Schießen begonnen hatte – ich bin für ihn eingesprungen.«

Bogomazov zögerte, dann streckte er die Hand aus. »Gib das sofort her.«

Langsam nahm Smith die Waffe herunter und überreichte sie dem anderen. Bogomazov schüttelte die Patronen heraus und steckte sie in seine Tasche. Dann öffnete er die Tür der izbá und rief einen kleinen Jungen herein. »Hier. Du bist dafür verantwortlich, daß dieses Gewehr zu Genosse Ivanov gelangt.«

Der Junge schulterte das Gewehr und blickte ihn bewundernd an. »Jawohl, Genosse General!«

»Du schließt die Gewehre also wieder ein.«

»Natürlich. Ivanov kümmert sich darum.«

Fragend zog der Amerikaner eine Augenbraue hoch. »In meinem Land haben die Menschen das Recht, zu ihrem eigenen Schutz Waffen zu tragen.«

»Wir sind hier in der Sowjetunion.«

»Heute, zum Beispiel, hätten wir sehr gut überrannt werden können, wenn wir die Feinde nicht rechtzeitig entdeckt hätten; so hattest du noch Zeit, das Lager aufzuschließen.«

Erschöpft sank Bogomazov auf eine Bank neben dem Ofen und wickelte die Lappen ab, die ihm als Strümpfe dienten. Mit müder Stimme sagte er: »Mister Smeet, du bist weder ein Russe noch ein Kommunist und verstehst diese Leute nicht so wie ich. Überlaß diese Verwaltungsdinge lieber mir und kümmere dich um die Angelegenheiten, in denen du ein Experte bist … Wie kommst du mit dem Radio voran?«

Smith schüttelte ungeduldig den Kopf. »Nichts – ich kann überhaupt keine Signale kriegen, vielleicht deshalb, weil es keine gibt … Aber die Frage mit den Gewehren ist sekundär. Viel wichtiger ist – was werden wir nun unternehmen?«

Erstaunt blickte ihn der Russe an. »Was meinst du damit?«

»Ich bin zu dir gekommen weil der Angriff heute meinen Verdacht, den ich schon lange hege, bestärkt hat – seit die ersten Banditen hier im November durchgekommen sind, habe ich meine Befürchtungen. Hast du bemerkt, wie wohl diese razboiniki organisiert waren? Sie schienen diszipliniert; ihr Angriff ging von einem Wagencamp aus und zog sich auch wieder dorthin zurück. Ein Camp, das ohne Zweifel Frauen und Kinder beherbergte, und auch eine Herde. Die Zahl ihrer Leute muß die der Bewohner von Novoselje um ein Zwei- oder Dreifaches übersteigen.«

»So? Wir haben sie geschlagen. Du hast gesehen, daß sie nach Süden gezogen sind, während wir weiter in unseren gemütlichen Hütten leben, jedenfalls solange Ordnung herrscht und unsere Rationen ausreichen.«

»Aber sie werden im Frühjahr zurückkehren.«

»Vielleicht. Und wenn schon – bis dahin werden wir stärker sein.«

»Wieso stärker? Wir haben nur noch sehr wenig Munition für die Gewehre, und bevor die Frühjahrsernte hereinkommt, wird es wohl noch Schwierigkeiten mit der Versorgung geben – Unterernährung und so weiter.«

»Die Plünderer haben die gleichen Sorgen. In Lipy, das ist nur fünfzig Kilometer von hier entfernt, wohnt ein Mann, der weiß, wie man Schießpulver herstellt.«

»Das kann ich auch – aber ich müßte wissen, wo man den Schwefel auftreibt … Aber du verstehst mich nicht. Die Anzeichen der Organisation, die wir bei diesen Leuten feststellten, beweisen, daß sie – ganz gleich, woher sie ursprünglich stammen – zum Nomadenleben übergegangen sind, daß sie sich ständig auf der Wanderschaft befinden. Im Frühjahr werden sie wieder über uns herfallen.«

Bogomazov zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Na und – das sind eben Gefahren für uns. Ich werde sie nicht aus dem Auge verlieren. Du konzentrierst dich lieber darauf, eine Radioverbindung herzustellen.«

»Du bist blind! Du siehst nicht, was diese Entwicklung bedeutet!« sagte der Amerikaner aufgeregt. »Du … Ach! Hör zu. Schon vor diesem Krieg sahen einige unserer westlichen ›Bourgeois‹-Historiker – natürlich hast du ihre Schriften nicht gelesen – die menschliche Geschichte als einen langen Kampf zwischen zwei grundsätzlich voneinander verschiedenen Lebensarten, die beiden Hauptströme sozialer Evolution: Zivilisation und Nomadentum. Zivilisation ist eine Lebensart, die auf der Landwirtschaft beruht – hauptsächlich auf dem Getreidebau –, auf festen Wohnplätzen, auf verhältnismäßig stabilen sozialen Grundlagen, dessen höchste Form der Staat ist. Nomadentum hat als ökonomische Grundlage nicht Felder, sondern Herden; geographisch gesehen stützt es sich nicht auf Niederlassungen, Dörfer, Städte, sondern auf fortwährende Wanderung von Weideland zu Weideland; sozial gesehen ist seine Form der Organisation nicht der Staat, sondern die Horde.

Seit der Aufzeichnung der Geschichte hat sich die Grenze zwischen Zivilisation und Nomadentum immer wieder zur einen oder anderen Seite hin verschoben, je nach den örtlichen Vorteilen; aber im allgemeinen hat sich die Zivilisation während der Geschichte – oder vielmehr während eines großen Teils davon – immer in der Offensive befunden. Der letzte große Ausbruch des Nomadentums fand im zwölften Jahrhundert statt – die mongolischen Eroberungen, die über dieses Gebiet hier wegfegten und die Periode einleiteten, die eure Historiker das Tatarenjoch nennen. Gegen das achtzehnte Jahrhundert war der Gegenangriff der Zivilisation so erfolgreich, daß ein anderer Historiker, Gibbon – von dem du wahrscheinlich auch noch nichts gehört hast –, erfreut feststellen konnte, daß Kanonen und Befestigungen Europa für immer gegen derartige Invasionen sichern würden. Es sah so aus, als wär’s mit dem Nomadentum vorbei … Aber die Zivilisation machte sich daran, die Mittel, sich selbst zu zerstören, zu erfinden …: Waffen, die sich gegen die festen Einrichtungen, von denen das zivilisierte Leben abhängt, richteten, die sich aber auf das Nomadentum nur wenig auswirken konnten.

Und nun – wo sind deine Kanonen, deine Befestigungen, deine Kohlenbergwerke und Stahlkammern, deine Stickstoff- und Schwefelsäurefabriken? Wenn du die Plünderer als Unsinn abtust, dann lebst du noch immer in einer Welt, die gerade eines grausamen Todes gestorben ist. Wir haben nicht mehr die gesamte Zivilisation hinter uns, die uns unterstützt: wir sind auf uns alleine angewiesen!«

Bogomazov hatte mit halbgeschlossenen Augen zugehört. »Dann glaubst du also, daß die Zivilisation vorbei ist?«

»Nein! Aber ich glaube, daß das, was davon noch übrig ist, neu aufgebaut, neu organisiert werden muß. Ihr und wir, die Amerikaner und die Russen – wir kämpften unseren Krieg um die Vorherrschaft der Zivilisation, und dabei haben wir sie selbst fast völlig ausgerottet. Aber auf beiden Seiten waren und sind wir für die Zivilisation. Und das zählt jetzt … Wie ist unsere Situation hier? Nach den dürftigen Verbindungen, die wir aufnehmen konnten, gibt es flußauf- und abwärts verstreute Niederlassungen wie unsere, die wieder Fuß zu fassen versuchen. Aus dem Osten, gegen das Kaspische Meer zu, haben wir überhaupt keine Informationen, aus der Ukraine kommen nur Berichte über wandernde Banditenhorden.

Im Frühling werden die razboiniki wieder über uns herfallen – und vielleicht haben sich in der Zwischenzeit mehrere kleine Gruppen zu größeren und gefährlicheren zusammengeschlossen. Mit ihrer wiederentdeckten Technik des Nomadenlebens werden sie sich in das Vakuum hinein ausbreiten, das durch den inneren Zusammenbruch der zivilisierten Welt geschaffen wurde – wie es die Hunnen und ihresgleichen taten, als das römische Empire zusammenbrach … Ich glaube, daß uns keine andere Wahl bleibt, als nach Westen zu ziehen, und zwar sobald die Frühjahrsernte eingebracht ist. Dieses Land hier kann nicht länger der Zivilisation erhalten bleiben; denn erstens ist es zu groß, und zweitens besteht es aus einer ungeheuren Ebene, aus natürlichem Nomadenland. Die eurasische Ebene erstreckt sich über Nordeuropa, über Deutschland und Frankreich hinweg; wir sollten uns nach Süden wenden, um uns nach einer geographisch günstigeren Gegend umzusehen. Vielleicht könnte man sich auf der Krim niederlassen, aber die Radioaktivität soll dort sehr hoch sein; so käme nur noch der Balkan oder Italien in Frage.«

Bogomazov richtete sich auf und blickte Smith an. Er runzelte die Stirn. »Du willst vorschlagen – daß Rußland den razboiniki überlassen wird?«

»Genau. Das wird auf jeden Fall das Ergebnis sein: Ich schlage vor, daß wir uns retten, solange noch Zeit dazu ist.«

Der Kommunist zog die Augen, die gefährlich glitzerten, zusammen. Einen Augenblick lang saß er schweigend, fast regungslos da, dann stieß er ein lautes Gelächter aus. »Du willst einen Marxisten in Geschichte unterrichten! Ich kenne die Geschichte. Ja weißt du denn nicht, daß das genau das Gebiet ist, wo Igors Heer gestanden hat? Die gleiche Gegend, in der Prinz Dimitri Donskói die Goldene Horde besiegte? Und du willst mir einreden, vor einer Handvoll Banditen davonzulaufen! Weißt du –«

»Ich sehe nicht ein, was die vergangenen glorreichen Taten des Heiligen Rußland mit Marxismus oder der Erhaltung der Zivilisation zu tun haben«, unterbrach ihn Smith trocken.

Der andere stand auf und wippte auf den Füßen wie ein kleiner wütender Bär. Böse blickte er auf die schlaksige Gestalt des Amerikaners. »Willst du wohl ruhig sein, bis ich –« schrie er.

Die Tür wurde aufgestoßen, und ein kalter Luftzug kam herein. In der Öffnung stand Ivanov und rief atemlos: »Genosse Bogomazov! Es fehlen zwei Gewehre!«

Sofort war Bogomazov wieder er selbst und griff nach dem Mantel. »Zwei? Ich werde es untersuchen, und wer sie zu verstecken sucht –«

»Entschuldigung, Genosse Bogomazov, aber es ist noch viel schlimmer. Vasya und Miskha-der-Frosch, vielmehr Bürger Rudin und Bagryanov, sind mit den Gewehren verschwunden.«

»Die jungen Narren …« Bogomazov polterte hinaus. Smith folgte ihm langsam und sah, wie der Kommunist eine alte Frau, die bitterlich weinte, wütend ausfragte.

»Wohin sind sie gegangen? Welchen Weg?«

Die alte Frau, Mutter eines der beiden Vermißten, wiederholte nur immer wieder schluchzend: »Ushli y razboiniki … sie gingen zu den Räubern …«

Angewidert wandte sich der Kommunist ab; seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Smith sagte in ruhigem Ton: »Jetzt holst du sie nie mehr ein. Das ist übrigens eine weitere Waffe der Nomaden.«

»Worüber, zum Teufel, sprichst du?«

»Psychologische Kriegführung. Diese jungen Burschen, die sich plötzlich mit einem Gewehr in der Hand und einem großen Abenteuer in greifbarer Nähe wiederfanden, verließen die Zivilisation und ihre öden mit ständigen Hausarbeiten verbundenen Gewohnheiten, um sich in ein romantisch wirkendes Leben zu stürzen.«

Bogomazov brummte ärgerlich. »Ideologischer Unsinn! Wir Russen sind schon immer gern davongelaufen, um uns mit den Räubern zu verbünden. Das liegt in unserer Natur.«

»Richtig. Genauso wie die Jungen in unserem Land nach Westen ziehen, in der Hoffnung, dort Cowboys zu werden. Mich würde wirklich interessieren, was jetzt im amerikanischen Westen los ist … die Menschen haben schon immer gegen die Schranken der Zivilisation rebelliert, und wenn sich die Schranken lockern, brennen sie durch.«

»Wir kommen gut ohne die beiden aus. Und du –« Bogomazov blickte den Amerikaner eisig an. »Du wirst diese Meinung nirgends wiederholen – verstanden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er.

Smith blickte düster hinter ihm her; er wußte, daß es keinen Sinn mehr hatte. Die Entscheidung war gefallen – hierzubleiben und es hier auszufechten.

 

Der Frühling kam mit dem krachenden Aufbrechen des Flußeises, mit dem Strömen des Tauwetters, das die Steppe für eine Zeit zu einer unwegbaren Wildnis aus Schlamm machte, mit dem sprießenden Grün auf der weiten Ebene und auf den Feldern, die im vergangenen Herbst so mühsam urbar gemacht und besät worden waren.

Der Frühling kam mit Vorahnungen, die auf irgendeine Weise mit der Hoffnung, die das wiederkehrende Leben in der ganzen Welt weckt, eng verknüpft sind. Smith hatte seine Gedanken für sich behalten; aber die Novoseljaner tuschelten untereinander. Diejenigen, die aus der Stadt stammten, hatten weniger Angst vor den großen Ebenen, dem Schweigen, dem nächtlichen Gesang der Vögel und Wassertiere am sumpfigen Flußufer; aber die Bauern hatten ihre unheimlichen Sagen, die so alt waren wie die Rasse selbst, tief mit der Tradition verwurzelt. Und nun gewannen sie eine neue, furchterregende Bedeutung. Über sie war die Leibeigenschaft gekommen, die Emanzipation, wieder Leibeigenschaft unter dem Namen des Kollektivismus, und endlich das apokalyptische Verschlingen der Welt von Städten, die sie nie ganz verstanden oder denen sie nie ganz vertraut hatten … und in ihren Erinnerungen lebte all das und noch vieles andere weiter.

Sie wußten, daß in den alten Tagen die grünen Hügel hinter dem Fluß das Ende der Welt gewesen waren, die Tatarensteppe, aus der die Khans geritten kamen, um die russischen Prinzen vor ihren Füßen kriechen zu sehen. Die grandiose, halbfertige Arbeit des fünften Fünf-Jahres-Plans lag nun dort in Trümmern, und es kam ihnen in den Sinn, daß es nun vielleicht wieder die Tatarensteppe war. Sie erinnerten sich der uralten Leiden der Slawen, des Elends, das in den ersten russischen Chroniken erzählt wird. Düster sprachen sie von der Horde von Mamai, die in der russischen Sprache zu einem festen Begriff geworden ist; und von dem obry, was heute »Menschenfresser« bedeutet, der aber in Wirklichkeit der Nomade Avars war, der Menschen wie Vieh zu Herden zusammengetrieben hatte und mit ihnen bis ins Herz Europas vorgedrungen war.

Wenn die Kommunisten sie nicht beobachteten, deuteten sie die Zukunft aus den Gruppierungen der Zugvögel und den Schreien der Nachttiere. Und all diese Deutungen ergaben Böses.

Aber es gab auch greifbarere Gründe zu Befürchtungen. Nachrichten über geplünderte und niedergemetzelte Siedlungen von flußabwärts wandernden Banden trafen ein, deren Zahl und Ausmaße zweifellos durch die mündliche Überlieferung um vieles verstärkt waren. Es gelang Bogomazov, die meisten dieser Nachrichten zu unterdrücken oder sie wenigstens zu bagatellisieren, aber nicht alle ließen sich totschweigen, und die dunklen Rauchfahnen, die eines Tages am südlichen Himmel aufstiegen, konnten nicht verborgen bleiben …

Bogomazov spürte diese dunkle Furcht, und, mit Ivanov auf den Fersen, stapfte er scheltend, schmeichelnd und ermahnend durchs Dorf, aber es half nicht viel. Früher hätte der Ortsverwalter zum Telefon greifen und eine eindrucksvolle Truppe Parteibeamter in glänzenden Autos, mit Uniformen und Medaillen herbeizaubern können – und die Tölpel hätten wochenlang nichts anderes mehr gesagt als »Ja, Genosse«. Oder er hätte auf die Flugzeuge zeigen können, die als ein sichtbares Zeichen der Allmacht des sowjetischen Staates über ihren Himmel dröhnten. Aber jetzt gab es kein Telefon, und am Himmel zogen nur die Vögel vorbei, Tag für Tag flogen sie nordwärts, als flüchteten sie vor irgendeinem Schrecken.

»Jetzt sind wir auf uns selbst angewiesen«, dachte Bogomazov; dann runzelte er die Stirn, als ihm einfiel, daß das die Worte des Amerikaners waren.

 

Das Ende kam plötzlich.

Smith war mit einem halben Dutzend Bauern hinaus auf die Felder gegangen, um den wachsenden Weizen zu inspizieren. Auf einmal sahen sie auf der gegenüberliegenden Seite des Feldes eine kleine Gruppe Reiter, nicht mehr als sie selbst, die bewegungslos auf ihren zottigen Ponies saßen und Ausschau hielten. Wie sie so still und ungesehen herbeikommen konnten, blieb ein Rätsel; es war, als hätte sich die Welt in jenes Märchen verwandelt, in dem bewaffnete Banden plötzlich aus dem Samen in der Erde hervorwuchsen. Die Beobachter trugen ein buntes Durcheinander moderner und primitiver Waffen; manche hatten Gewehre, und an ihren Hüften baumelten Säbel, andere wieder trugen Speere, deren gehämmerte Eisenköpfe in der Sonne glitzerten.

Die beiden Gruppen standen ein paar Minuten einander bewegungslos gegenüber – wie Wesen verschiedener Welten. Dann wendeten die Eindringlinge und ritten in gemächlichem Trott über den Hügel davon.

»Kommt!« sagte Smith und rannte auf das Dorf zu.

Bogomazov nahm die Nachricht mit unbeweglichem Gesicht entgegen.

Er zog seinen Schlüssel hervor und öffnete das Vorhängeschloß zum Waffenlager – die Hütte war leer.

Irgend jemand hatte im Winter seine Mußestunden darauf verwendet, unter der Mauer hindurch einen Tunnel zu graben und sämtliche Gewehre zu holen.

»Wer hat das getan?« schrie der Kommunist.

»Ich nicht, Genosse …«

»Ich war es bestimmt nicht, Genosse …«

Alle Bauern standen schuldbewußt, wie kleine ungezogene Kinder.

»Nun gut!« sagte Bogomazov bitter. »Ihr seid alle beteiligt. Ihr habt die Gewehre gestohlen und versteckt. Im Stroh, unter dem Fußboden, ganz gleich, wo. Aber jetzt holt sie hervor – hört ihr mich?«

Sie scharrten unbehaglich mit den Füßen, gehorchten aber nicht.

»Anscheinend ist die sowjetische Konstitution geändert worden«, bemerkte eine ironische Stimme.

»Du! … Steckst du hinter diesem Diebstahl?«

»Natürlich nicht«, sagte Smith. »Mir vertrauen sie auch nicht genug – sie haben das dunkle Gefühl, daß ich einer von deiner Sorte bin, einer der Führer, die sie hassen, ohne die sie aber nicht auskommen.«

Er drehte sich um und sagte, ohne die Stimme zu heben: »Ihr habt die Gewehre für euren persönlichen Schutz genommen. Wenn ihr sie dafür benutzen wollt, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Der Haupttrupp der razboiniki wird nicht weit hinter den Spähern zurückgeblieben sein. Wollt ihr euch verteidigen, die Häuser, die ihr gebaut habt, die Felder, die ihr mühselig bestellt habt?«

Sie murmelten miteinander und begannen zu zweit oder zu dritt wegzugehen. Bald kamen aus allen Hütten die Männer mit den vermißten Gewehren.

Sie verbrachten eine Stunde voller Spannung, bis sie den Feind wieder zu Gesicht bekamen. Und immerzu hörten sie das Quietschen von Rädern in der Steppe hinter den flachen Hügeln. Das Geräusch schien in der Luft zu hängen, es kam von nirgends und von überall. Die Männer von Novoselje standen in kleinen Gruppen beieinander und warteten. Ihre Finger spielten mit den Waffen. Bogomazov übernahm die Leitung; er postierte hier und da Wachen und richtete das gesamte Dorf in eine Verteidigungsstellung ein. Sie gehorchten ihm widerwillig wie eine Viehherde, die von der Weide getrieben wird.

Da zeichnete sich am Horizont ein Dutzend Reiter ab, sie tauchten in dem grünen Gras des Abhangs unter, näherten sich den Feldern. Andere folgten ihnen, bis zum Entsetzen der gespannten Augenpaare im Dorf der ganze Hügel von Reitern und Pferden zu wimmeln schien.

»Ruhe bewahren!« schrie Bogomazov. »Wartet mit dem Feuer –«

Plötzlich ließ ein Mann sein Gewehr fallen, drehte sich schluchzend um und lief davon; es war Ivanov, der andere Kommunist. Bogomazov hatte ihn mit zwei gewaltigen Sprüngen eingeholt und mit einem kräftigen Schlag zu Boden geworfen.

»Steh auf! Zurück an deinen Posten!« schrie er in das benommene und blutige Gesicht.

Aber die anderen Männer waren bereits zurückgewichen, ihre Furcht wuchs.

Smith, dessen Gestalt die der anderen überragte, schrie laut: »Haltet eure Gewehre fest. Nicht wegwerfen! Wir stellen uns auf dem Dorfplatz auf!« Er war plötzlich neben Bogomazov, der vor Wut und Enttäuschung halb blind war, packte ihn am Arm und zog ihn mit sich hinter den anderen her. »Komm! Wenn wir die Männer noch ein paar Minuten zusammenhalten können, fangen sie sich vielleicht wieder.«

Die razboiniki kamen jetzt über die bebauten Felder, und alles, was ihnen im Weg stand, trampelten sie nieder. Vom anderen Ende der Straße erscholl ein Schrei: »Hier kommen sie!«, und fast gleichzeitig kreischte jemand auf und deutete zum Flußufer, wo eine dritte Truppe auf der gegenüberliegen den Seite auftauchte. Sie stellte sich so auf, daß es keinen Fluchtweg mehr gab.

Als die Angreifer mit klappernden Hufen von zwei Seiten in Novoselje eindrangen, waren alle kampffähigen Männer des Dorfes auf dem Platz im Zentrum versammelt. Einige hielten noch immer ihre Waffen umklammert, aber die meisten hatten sie weggeworfen.

Die razboiniki kamen vorsichtig näher. Ihr Anführer, ein untersetzter Mann mit einem breiten Kalmückengesicht, ritt ganz dicht heran; er zügelte das Pferd und blickte auf die Novoseljaner. In hartem Russisch sagte er mit lauter Stimme: »Wir wollen nicht töten. Ihr gebt auf – wir verbrennen Dorf. Geht. Dann Frieden.« Er wiederholte: »Frieden!« und wartete mit wohlwollender Miene die Reaktion ab, während er sein Gewehr am Sattel befestigte – es war sein kostbarster Besitz, ein deutsches Gewehr, das sein Ziel auf tausend Meter Entfernung treffen konnte, und er hatte nicht die Absicht, seine restlichen Patronen im Nahkampf zu verschwenden. Dafür trug er einen alten Säbel an der Seite.

Smith trat vor und sprach langsam und deutlich: »Wir wünschen auch den Frieden. Warum sollten wir kämpfen und unser Leben aufs Spiel setzen, wenn nach dem großen Krieg sowieso nur so wenige übriggeblieben sind? Ihr seid Nomaden, wir bestellen das Land – nur einen ganz kleinen Teil des Landes, so daß für uns beide Platz genug ist.«

Er beobachtete das asiatische Gesicht. Wußte der razboinik, daß die Dorfbewohner nicht kämpfen würden, daß – was diesen Vorposten betraf – der Widerstand der Zivilisation zu Ende war?

»Dorf – nicht gut«, erklärte der Kalmück mit einer wegwerfenden Geste. »Baut Häuser, pflügt Land – dann, bumm! Nicht gut …«

Er brach ab und drehte sich halb im Sattel um, um einen jungen Mann herbeizurufen. Der sagte in fließendem Russisch:

»Der vozhd’ meint, daß es gefährlich sei, in Städten zu leben. Wenn die Leute in Städten leben, werden früher oder später die amerikanischen Bomber kommen, viele werden getötet und andere durch Brand und Beulen, die zu Wasser werden, verletzt werden; selbst über die Steppen weht der Tod und vernichtet Tiere und Menschen … Wir können euch nicht erlauben, in solcher Gefahr zu leben. Deshalb werden wir diese Stadt niederbrennen, und für diesen Dienst, den wir euch damit erweisen, braucht ihr uns nur die Hälfte eurer Herde zu geben, und die Munition, die in unsere Gewehre paßt; ihr dürft eure Waffen und euer bewegliches Gut behalten und hingehen, wohin ihr wollt. Wer sich uns anschließen will, ist willkommen.«

»Eure Bedingungen sind zu hart«, sagte Smith ruhig. »Und ihr –«

Er wurde unterbrochen. Bogomazov, vor Entschlossenheit weiß im Gesicht, stieß ihn beiseite und rief mit befehlender Stimme: »Dieser Mann ist ein Verräter! Bürger, folgt mir!«

Der Revolver in seiner Hand brüllte auf, aber da hatte sich der junge Sprecher schon flach auf den Rücken seines Pferdes geworfen. Im selben Moment lehnte sich der Kalmückenführer weit aus dem Sattel, und sein Säbel sauste wie ein lautloser Blitzstrahl nieder.

Die Männer beider Seiten starrten auf den gefallenen Bogomazov. Smith beugte sich zu ihm, dicht vor den nervös tänzelnden Füßen des Ponies.

Bogomazov wollte sich erheben, aber es fehlte ihm an Kraft. Seine Augen blickten abwesend, sein Gesicht drückte Sprachlosigkeit aus.

Er bemühte sich zu sprechen, das Blut spritzte ihm aus dem Mund.

Smith hielt das Ohr ganz dicht neben sein Gesicht und glaubte die letzten Worte des Mannes verstanden zu haben: »Selbst ein Bolschewik …«

Der Sprecher der Nomaden ritt ein Stück vor und rief mit rotem Gesicht: »Gibt es noch mehr wie ihn?«

Smith richtete sich auf und blickte ihn an. Das Spiel war verloren, und der Feind wußte das jetzt, aber er mußte seine letzte Karte noch ins Spiel werfen. Mit kühler Stimme sagte er: »Ihr irrt euch. Die amerikanischen Bomber kommen nicht mehr.«

»Woher willst du das wissen?«

»Weil ich ein Amerikaner bin.«

Es war totenstill. Smith hörte deutlich das Zurückschnappen eines Karabinerabzugs. Mit einem unerforschlichen Ausdruck ruhten die schrägen Augen des Kalmücken auf ihm. Dann grinste er unter seinem struppigen Bart und sagte etwas sehr schnell in einer asiatischen Sprache.

»Der vozhd’ sagt: ›Das kann, muß aber nicht wahr sein.‹ Für ihn bist du ein Mann wie alle anderen.«

»Aber –« begann Smith.

»Aber wir gehen kein Risiko ein. In einer halben Stunde brennen wir das Dorf nieder; bis dahin habt ihr Zeit, eure Sachen zusammenzutragen. Diejenigen, die mit uns kommen wollen, sollen sich hinten auf dem Feld versammeln. Kryshka – das ist alles!«

Smith ließ die Arme hängen. Einige der Dorfbewohner hatten sich schon auf den Weg zu dem angegebenen Versammlungsort gemacht.

 

Ein Stückchen weiter draußen in der Steppe war kurgdn, ein uralter mit Gras bewachsener Grabhügel längst vergessener Menschen. Zivilisationen, Kriege und Katastrophen waren darüber hinweggefegt, aber er hatte sich nicht verändert. Hier war der höchste Punkt der Umgebung für viele Meilen. Von hier aus beobachtete Smith die glühende Asche der neuen Siedlung.

Ringsherum war die Steppe, ungeheuer groß und dunkel im Zwielicht des Frühlingsabends. Tausende von Meilen, monatelange beschwerliche Fußmärsche – dann mußte man doch zu einem Ort kommen, wo es eine, wenn auch zweifelhafte, Sicherheit gab, und die Chance, ganz von vorn zu beginnen! Zeit und Raum – einmal hatte der Mensch sie erobert, aber jetzt war der Mensch wieder ein seltenes Tier in einer Welt, in der Zeit und Raum ihn verspotteten. In gewisser Hinsicht war Bogomazov gut dran: seine Ausbildung hatte ihn dazu befähigt, das, von dem er wußte, daß es wahr war, nicht zu glauben, so daß er niemals gezwungen war, die Bedeutung dessen, was geschehen war, zu erkennen – oder hatte er es doch erkannt – am Ende?

Der Horizont im Westen war jetzt leer, jedenfalls konnten seine Augen nicht länger die schwarzen Pünktchen vor dem Sonnenuntergang erkennen, die schwarzen Pünktchen, zu denen die westwärts marschierende Horde geworden war. Über die Hälfte der Dorfbewohner waren mit ihnen gezogen – mit einigen Ausnahmen alle, die aus den Städten, den Fabriken gekommen waren; die Bauern blieben. Sie hatten sich um den alten Grabhügel gelagert.

Hinter Smith fragte eine klagende Stimme: »Genosse Amerikaner – was sollen wir tun? Manche von uns glauben, daß wir weiter nach Süden gehen sollten, zu …«

»Stört mich jetzt nicht!« sagte Smith schroff; aber als der Mann erschrocken schwieg, fügte er beschämt hinzu: »Morgen … morgen werden wir weitersehen.«

Die sich entfernenden Schritte verschluckte der Grasboden. Unten am Fluß erstarben die letzten Funken. In weiter Ferne erschütterte ein trauriges Heulen die Steppe, wie es Smith noch nie gehört hatte – vielleicht war es das Klagen eines Wolfes.

Im Westen verblaßte das Tageslicht, die Nacht brach an, und von Asien her breitete sich die Dunkelheit wie auf grenzenlosen Schwingen über ihnen aus.