C. M. Kornbluth
Bestseller

 

 

Die Lackawannabahn fuhr immer noch einmal täglich nach Scranton, obgleich es hieß, daß die Stadt ihre Bevölkerung rasch verlor. Außer einem verängstigten, nervösen Schaffner, der sich in unserer Nähe aufhielt und krampfhaft eine Unterhaltung mit uns in Gang zu bringen versuchte, war niemand im ganzen Wagen.

»Ich heiße Pech«, sagte der Schaffner. »Und die Pechs, das kann ich Ihnen versichern, sind schon eine ganz schöne Zeit hier in der Gegend ansässig. Dreiundzwanzig Meilen von Scranton entfernt gibt es eine Stadt namens Pechville. Eine Menge Vettern, Tanten und Onkel von mir lebten da, manchmal fuhr ich hin und besuchte sie, und wir schickten uns auch gegenseitig Ansichtskarten. Du lieber Gott, Mister, was mit ihnen wohl geschehen ist?«

Seine Frage war rhetorisch. Er wußte nicht, daß Professor Leuten und ich die einzigen Personen außerhalb der fälschlicherweise mit ›Pestgebiet‹ bezeichneten Gegend waren, die sie wahrscheinlich beantworten konnten.

»Herr Pech«, sagte ich, »wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann besprechen wir jetzt ein paar geschäftliche Dinge.«

»Pardon«, brummte er verdrossen und ging in den nächsten Wagen. Als wir allein waren, bemerkte Professor Leuten: »Eine interessante Reaktion.« Das war ziemlich milde ausgedrückt. Ohne Warnung zog er eine riesige, zappelnde, haarige Spinne aus seiner Tasche und warf sie mir ins Gesicht.

Aber ich war auch nicht langsam. Mit einem heftigen Satz stand ich mit dem linken Fuß im Gang, machte ihm eine lange Nase und streckte die Zunge raus. Über Rücken und Schultern lief mir eine Gänsehaut.

»Sehr gut«, sagte er und packte die Spinne wieder ein. Sie sah verdämmt echt aus. Obgleich ich wußte, daß sie nur ein Spielzeug aus Federn und Plüsch war, ekelte ich mich doch bei dem Gedanken, wie sie jetzt in seiner Tasche herumzappelte. Für mich waren es Spinnen. Für den Professor waren es Ratten und Erstickungsanfälle. Gegen Ende unseres gegenseitigen Trainings genügte eine Schwefeldioxydkonzentration von einem Millionstel in seiner Nähe, um ihn in die Verteidigungsstellung zu hetzen, wie ein Storch auf einem Bein stehend, die Zunge herausgestreckt, den Daumen an der Nase, Schweiß des Entsetzens auf seiner Stirn.

»Ich muß Ihnen etwas sagen, Professor«, sagte ich.

»So?« fragte er in tolerantem Ton. Und das genügte. Diese Toleranz. Ich hatte vorgehabt, meinen Standpunkt in Form eines würdevollen Vortrags und einer Entschuldigung darzulegen, aber es gab zwei Arten, die Geschichte anzubringen, und jetzt entschied ich mich für die zweite.

»Sie sind ein Betrüger«, sagte ich mit Befriedigung.

»Was?« japste er.

»Ein Betrüger. Ein Schwindler. Ein Lügner. Ein Heuchler. Ein Schurke. Ein sich selbst täuschender Spinner. Ihre Funktionelle Epistemologie ist eine Farce. Wir wollen uns doch nichts vormachen!«

Sein Akzent trat etwas schärfer hervor. »Lassen Sie mich Sie daran erinnern, Herr Norris, daß Sie mit einem Doktor der Philosophie der Universität Göttingen und einem Mitglied der Philosophischen Fakultät der Universität von Basel sprechen.«

»Sie meinen wohl, einem Privatdozenten, der Logik für Laien liest.

Und ich glaube mich auch zu erinnern, daß Göttingen Ihren Doktorgrad widerrufen hat.«

»Ich habe es schon immer geahnt, daß Sie ein Narr sind, Herr Norris«, sagte er langsam. »Aber erst jetzt wird mir klar, daß Sie auch ein Antisemit sind. Es waren die Nazis, die diese Widerrufung vorgenommen haben.«

»So? Das macht mich also zu einem Antisemiten! Von einem Lehrer für Logik klingt das, was Sie sagen, sehr komisch.«

»Sie haben recht«, antwortete er nach einer langen Pause. »Ich nehme meine Bemerkung zurück. Und wären Sie nun wohl so gut, mir die Ihre zu erläutern?«

»Gern, Professor. Erstensmal –«

Ich hatte in meiner Tasche die Gummiratte aufgezogen. Ich riß sie heraus und warf sie in seinen Schoß, wo sie zappelte und sich festkrallte. Er schrie vor Entsetzen, aber der Schrei hielt nicht lange an, da stand er schon auf einem Bein, den Daumen an der Nasenspitze, die Zunge weit herausgestreckt. Er bedankte sich kühl, und ich gratulierte ihm kühl. Ich steckte die Ratte ein, während er sich schüttelte, und dann setzten wir unsere Unterhaltung fort.

Ich erzählte ihm, wie mich Herr Hopedale vor achtzehn Monaten in sein Büro gerufen hatte. Feines Büro, Eichentäfelungen, signierte Fotos von Hopedale Press-Autoren aus unserer glorreichen Vergangenheit: Kipling, Barrie, Theodore Roosevelt und noch einige dieser rückständigen Knaben.

Was mit Eino Elekinen wäre, wollte Herr Hopedale wissen. Eino war einer unserer Romanschreiber. Sein Erstlingswerk, Vinland der Gute, war ein Erfolg bei den Kritikern, in der Öffentlichkeit aber ein Reinfall gewesen; ›Das Erbe der Wikinger‹ brachte uns allen etwas Geld. Er hatte den Termin für die Abgabe des letzten Werks der Trilogie schon um mehr als einen Monat überschritten, und das Ende war noch gar nicht abzusehen.

»Ich glaube, er macht einen Sitzstreik, Herr Hopedale. Er hatte sein Konto weit überzogen, und ich mußte ihm einen Tausend-Dollar-Vorschuß abschlagen. Er wollte seine Frau zu den Virgin Islands schicken, um eine Scheidung zu erzielen.«

»Geben Sie ihm das Geld«, sagte Herr Hopedale ungeduldig. »Wie können Sie von einem Mann erwarten, daß er schreibt, wenn ihn persönliche Schwierigkeiten bedrücken?«

»Herr Hopedale«, sagte ich höflich, »sie könnte sich auch hier im Staate New York scheiden lassen. Er hat ihr in allen fünf Stadtteilen und den westlichen Gemeinden von Long Island Grund genug dafür gegeben. Aber das ist nicht der wichtige Punkt. Er kann nicht schreiben. Und selbst wenn er könnte, so steht doch fest, daß das letzte, was die amerikanische Literatur im Augenblick braucht, eine weitere Trilogie über eine skandinavische Emigranten-Familie ist.«

»Ich weiß«, sagte er. »Ich weiß. Er ist nicht sehr gut. Aber ich glaube, aus ihm wird noch mal was. Und wollen Sie ihn etwa verhungern lassen, während er gerade aus den Kinderschuhen schlüpft?« Seine nächste Bemerkung hatte nichts mehr mit Elekinen zu tun. Erblickte zu dem signierten Foto von T. R. – »einem tyrannischen Verleger« – und sagte: »Norrie, wir sind pleite.«

»Wie?« sagte ich.

»Wir schulden allen und jedem was. Druckereien, Papiermühlen, Warenhäusern. Jedem. Es ist das Ende der Hopedale Press. Außer – ich möchte nicht, daß Sie glauben, jemand hätte über Sie gesprochen, Norris, aber soviel ich verstanden habe, gaben Sie gestern beim Mittagessen eine neue Idee zum besten. Irgend so ein Schweizer Professor.«

Ich mußte angestrengt überlegen. »Sie müssen Leuten meinen, Herr Hopedale. Nein, für uns ist da nichts drin. Das war nur ein Witz von mir. Mein Bruder, der in Philadelphia Philosophie liest, erwähnte ihn mir gegenüber. Leuten ist ein verrückter Vogel. Alle ein oder zwei Jahre bringt der Weintraub Verlag in Basel einen neuen Band von ihm heraus, und sie verkaufen ungefähr eintausend davon. Funktionelle Epistemologie – mein Bruder meint, es sei alles Unsinn, den kein Mensch versteht. Es sollte nur ein Witz sein, daß wir ihn zu einer Art Schweitzer oder Teynbee machen und einen zusammenfassenden Band von ihm herausbringen. Die Leute kaufen eben solche Bücher – schätze, weil sie einmal angefangen haben und sich jetzt genieren, damit aufzuhören.«

»Tun Sie es, Norris«, sagte Herr Hopedale. »Tun Sie es. Wir können genug Bargeld zusammenkratzen, um noch eine Sache zu starten, und dann – ist das Ende da. Morgen früh werde ich Brewster von der Wirtschaftskommission aufsuchen. Ich glaube, daß der uns fünfundsechzig Prozent auf unsere Außenstände vorschießen wird.« Er versuchte, ein zynisches Lächeln aufzusetzen. Aber es gelang ihm nicht. »Norris, Sie sind das, was man einen aufgeweckten jungen Kopf im Verlagswesen nennt. Für ein Lehrbuch können wir siebenfünfzig bekommen. Mit etwas Glück und Förderung können die Verkäufe in die Hunderttausende steigen. Steigen Sie ein.«

Ich nickte. Mir war nicht wohl bei der Sache.

Als ich ihn verließ, sagte Herr Hopedale mit müder Stimme: »Und vielleicht ist es sogar eine Arbeit von gewissem belebendem Wert.«

Professor Leuten saß still da und lauschte, sein Gesicht war gerötet, er atmete schwer. »Sie Verräter«, sagte er schließlich. »Sie mit Ihrem lächelnden Gesicht, der nach Basel kam und von Vorlesungen in Amerika sprach, der mir riet, diesen verdammenswerten Vertrag zu unterzeichnen. Mein Gesicht auf der Titelseite vom Time Magazin, das wie das eines Affen aussieht; diese idiotischen Interviews, die Pressenachrichten in meinem Namen – die ich nie verfaßt hatte. Amerika, dachte ich, hielt aber meinen Mund. Aber – gleich von Anfang an – war es – eine Lüge!« Er vergrub das Gesicht in den Händen und murmelte: »Ach! Sie stinken!«

Das erinnerte mich an etwas. Ich holte aus meiner Tasche eine kleine Stinkbombe und brachte sie zum Platzen.

Er sprang auf, balancierte auf einem Bein und zog mit dem Daumen eine lange Nase. Seine Zunge ragte sehr weit zwischen den Lippen heraus; und er kämpfte gegen einen Erstickungsanfall an.

»Sehr gut«, sagte ich.

»Danke. Ich schlage vor, wir begeben uns ans andere Ende des Wagens.«

Erst als wir unser Gepäck hinübergetragen hatten und selbst bequem saßen, atmete er wieder normal. Ich rechnete damit, daß sein Schrecken und der größte Teil seines Ärgers vergangen waren. »Professor«, begann ich vorsichtig, »ich habe darüber nachgedacht, was wir tun, wenn – und falls – wir Fräulein Phoebe finden.«

»Wir werden ihre Umschulung vervollständigen«, sagte er. »Wir werden ihr klarmachen, daß ihre entfesselten Kräfte falsch angewandt worden sind.«

»Ich kann mir etwas Besseres vorstellen, als ihre Umschulung zu vervollständigen. Deshalb habe ich mich auch ein bißchen derb ausgedrückt. Vermutlich betrachtet Sie Fräulein Phoebe als den bedeutendsten Mann der Welt.«

Er lächelte vor sich hin, und ich wußte, woran er dachte.

 

La Plume, Pa.

Mittwoch

4 Uhr morgens (!)

 

Professor Konrad Leuten c/o Hopedale Press

New York City, New York

 

Mein lieber Herr Professor, obgleich Sie ein berühmter und beschäftigter Mann sind, hoffe ich, daß Sie sich die Zeit nehmen werden, ein paar Worte dankbarer Huldigung von einer alten Dame (vierundachtzig) zu lesen. Ich habe gerade Ihr ausgezeichnetes und inspirierendes Buch ›Wie lebt man auf Kosten des Kosmischen Ausgabenkontos?‹, eine Einführung in die Funktionelle Epistemologie, studiert.

Herr Professor, ich glaube, ich weiß, daß jedes einzelne herrliche Wort in Ihrem Buch wahr ist. Und wenn ein Kapitel noch besser als alle anderen ist, so ist es das Kapitel neun, ›Wie man in äußerster Harmonie mit seiner Umgebung lebt!‹ Die zwölf Regeln dieses Kapitels sollen von diesem Augenblick an mein mich führendes Licht sein, und ich werde sie immer getreulich befolgen.

Ihre dankbare und Ihnen ergebene Freundin

(Fräulein) Phoebe Bancroft

 

Dieser schmeichelhafte Brief erreichte uns am Freitag, einen Tag, nachdem die Zeitungen amüsiert oder bestürzt von der »Gedächtnisstörung« in La Plume, Pennsylvanien, berichtet hatten. Der Ausdruck »Pestgebiet« tauchte erst später auf.

»Ich glaube, sie wäre durchaus dazu imstande«, sagte der Professor.

»Denken Sie einmal darüber nach.« Der Zug verlangsamte die Fahrt, um eine Kurve zu nehmen. Ich stellte fest, daß an beiden Seiten der Schienen eine lange Reihe von Männern und Frauen standen. Und einige von ihnen versuchten wahrhaftig, auf den fahrenden Zug zu springen! Bremsen kreischten; ich stieß mit der Nase gegen den Vordersitz.

»Aggression«, sagte der Professor erstaunt. »Aber das steht nicht in den Regeln!«

Wir sahen auf der Plattform den Schaffner, der den Leuten neben den Schienen etwas zuschrie. Er wurde niedergetrampelt, als sie vorstürzten und sich überall verteilten.

»Kamen nach Scranton«, hörten wir sie schreien. »Verrückte –«

»Ich hab’s«, rief ich dem Professor durch das Getöse zu. »Das sind Flüchtlinge aus Scranton. Sie müssen die Schienen besetzt haben. Jetzt werden sie den Zugführer dazu zwingen, die ganze Strecke bis nach Wilkes-Barre zurückzufahren. Wir müssen aussteigen!«

»Ja«, sagte er. Wir befanden uns in der hintersten Sitzbank. Mit den Ellbogen bahnten wir uns einen Weg durch die brodelnde Menge bis zur Tür und sprangen vom Zug. Der Professor verlor bei dem harten Kampf sein gesamtes Gepäck. Ich rettete nur meine Aktenmappe. Nichts würde mich von ihr trennen.

Hunderte schreiender, drängender Menschen versuchten auf den Zug zu klettern. Einige schwangen sich auf die Wagendächer, als innen kein Fuß mehr Platz hatte. Die Lokomotive stieß einen grellen Pfiff aus, und der Zug rollte langsam zurück.

»Auf nach Norden«, sagte ich.

Nach einem kurzen Querfeldeinmarsch kamen wir auf die Bundesstraße 6 und stolperten auf ihr weiter. Es herrschte überhaupt kein Verkehr. Jeder, der ein Auto besaß, hatte Scranton schon lange verlassen, und nach Scranton ging auch niemand. Außer uns.

Wir sahen unseren ersten Zombie drei Meilen vor der Stadtgrenze. Es war eine Frau in einem Umstandskleid und mit einem Sonnenschirm. Ich konnte nicht erkennen, ob sie jung oder alt war, hübsch oder häßlich. Sie schenkte uns ein süßes, leeres Lächeln und fragte, ob wir etwas zu essen hätten. Ich verneinte. Sie sagte, sie wolle sich nicht über ihr Schicksal beklagen, aber sie sei wirklich sehr hungrig, und natürlich seien die Gemüse und das Obst jetzt sehr viel besser, da man den Boden nicht mehr mit diesen furchtbaren chemischen Düngemitteln bespritze. Dann sagte sie, daß vielleicht ein Stück weiter unten in der Straße etwas zu essen aufzutreiben sei, wünschte uns ein freundliches auf Wiedersehen und ging.

»Ich glaube, daß das ein Beitrag der Herzogin von Carbondale zu der Regierung des Fräulein Phoebe ist. Verschiedene Interviews weisen darauf hin.« Wir gingen weiter. Ich konnte in seinen Gedanken wie in einem Buch lesen: Er hat noch nicht einmal die Interviews gelesen. Er ist ein dummer, ein unmöglicher junger Mann. Und trotzdem ist er hier, er hat sich einem strengen Training unterworfen, und schließlich riskiert er auf eine gewisse Weise sein Leben. Warum?

Ich störte ihn nicht bei seinen Gedanken. Die Antwort lag in meiner Aktenmappe.

»Wann, glauben Sie, werden wir in den Bereich eindringen?« fragte ich.

»Keine Ahnung«, antwortete er gereizt.

»Zu viele Unstimmigkeiten. Vielleicht ist es anders, wenn sie schläft, vielleicht wächst es auch in verschiedenen Ausmaßen an, abhängig davon, wie viele Leute betroffen sind. Ich fühle bis jetzt noch nichts.«

»Ich auch nicht.«

Und wenn wir etwas verspürten besonders, wenn wir Fräulein Phoebe Bancroft die Zwölf Gesetze von »Wie man in äußerster Harmonie mit seiner Umgebung lebt« praktizieren fühlten –, würden wir etwas völlig Idiotisches tun, etwas, weswegen wir – im wörtlichen Sinn – aus dem Büro des Verteidigungsministers geworfen worden waren.

»Wollen Sie mich zum Narren halten?« hatte er uns angedonnert.

»Wollen Sie andeuten, daß die Soldaten der Armee der Vereinigten Staaten ein dreimonatiges Training durchmachen sollen, um zu lernen, wie sie die Zunge herausstrecken und eine lange Nase machen sollen?« Er zitterte unter seinem beschleunigten Blutdruck. Zwei Offiziere der Militärpolizei hatten uns beim Kragen gepackt und uns die Treppen vom Pentagon hinuntergestoßen, als wir nicht leugnen konnten, daß er unseren Vorschlag mehr oder weniger korrekt ausgesprochen hatte.

Und so marschierten Truppen, Züge, Kompanien, Bataillone und Regimenter in das Pestgebiet ein, aber niemals hinaus.

Manche der Soldaten stolperten als Zombies heraus. Nach ein paar Tagen Aufenthalt in ausreichender Entfernung des Pestgebietes hellte sich ihr Verstand wieder auf, und sie erzählten ihre verworrenen Geschichten. Irgend etwas hätte sie überkommen, sagten sie. Eine geistige Verwirrung, die man unmöglich beschreiben könne. Beispielsweise gefiel es ihnen dort, sie verließen das Gebiet nur durch Zufall – wenn sie es verließen. Ein vages, albernes Gefühl der Zufriedenheit hüllte sie ein, selbst wenn sie Hunger verspürten, was fast immer der Fall war. Wie war das Leben in dem Pestgebiet? Nun – es geschah nicht viel. Man schlenderte herum und suchte Nahrung. Eine Menge Leute sahen krank aus, schienen aber zufrieden. Die Bauern aus der Gegend gaben einem mit dem üblichen albernen Grinsen etwas zu essen, aber die Ernte war sehr schlecht, das meiste erhielten die Haustiere. Niemand schien Fleisch zu essen. Niemand zankte oder stritt sich oder sagte auch nur ein hartes Wort. Und trotzdem war es die Hölle auf Erden. Nichts konnte sie überzeugen, wieder zurückzukehren.

Die Herzogin von Carbondale? Ja, manchmal kam sie in ihrer Kutsche angefahren, in flatternden Gewändern, eine Krone auf dem Kopf. Jeder verbeugte sich vor ihr. Sie war eine große, fette Frau mittleren Alters mit randlosen Brillengläsern und einem verkniffenen Ausdruck rechtschaffenen Triumphs auf dem Gesicht.

Die wiedergefundenen Zombies wurden zuerst unter Quarantäne gestellt, und die Doktoren, die sie untersuchen mußten, machten vorher ihr Testament. Das erwies sich aber als unnötig, genauso wie die Untersuchungen ergebnislos verliefen. Keine Bakterien, keine Viren, nichts. Was sie aber nicht daran hinderte, ihre Meinung über das befallene Land weiterzuverfolgen.

Professor Leuten und ich wußten natürlich Bescheid. Und deshalb hatte man uns aus den Büros geworfen, Verhandlungen abgelehnt und als Wahnsinnige eingesperrt. Zu diesem Zeitpunkt versuchten wir, bis zum Präsidenten persönlich vorzudringen. Der Geheimdienst, das kann ich mit aller Überzeugung aussprechen, bewacht unser oberes Regierungshaupt mit einem Eifer, der an Wildheit grenzt.

»Wie geht das Buch?« fragte Professor Leuten unvermittelt.

»Auflage drittes Hunderttausend. Warum? Wollen Sie einen Vorschuß?«

Ich verstehe kein Schweizerdeutsch, aber ich vermag echtes, überzeugendes Fluchen herauszuhören. Er polterte und zeterte fast eine ganze Minute lang, bevor er auf Englisch krächzte: »Idioten! Tölpel! Von fast einer Drittel Million Menschen hat genau einer das Buch gelesen!« Die Antwort darauf wollte ich hinausschieben. »Da ist ein Auto«, sagte ich. »Anscheinend ist es steckengeblieben und wurde von einem Flüchtling aus Scranton hier zurückgelassen.«

»Sehen wir es uns näher an.« Es war ein zerbeulter alter Ford, der neben der Straße stand. Sein Kofferraum war voller Konserven und Alkoholflaschen. Irgend jemand hatte einen Laden geplündert. Ich drückte auf den Anlasser, der Motor sprang nicht an.

»Sinnlos«, sagte der Professor. Ich beachtete seinen Einwand nicht, sondern hob die Motorhaube hoch und untersuchte die Maschinenteile.

»Wir fahren, Professor«, antwortete ich ihm. »Ich kenne mich mit diesen Typen und ihren Benzinpumpen aus. Der Wagen streikte dort auf dem steilen Berg, und er ließ ihn zurückrollen.« Ich drehte den Verschluß des Luftfilters vom Vergaser auf, nahm den Filter herunter und legte ihn auf den Rasen neben der Straße. Der Professor war natürlich einer dieser Burschen, die sich die Hände nicht schmutzig machen wollen. Uninteressiert stand er neben mir, während ich eine Flasche Gin ausleerte, einen Schraubenschlüssel aus dem Werkzeugbündel holte, der auf den Ablaufverschluß des Benzintanks paßte, und die Flasche mit Benzin anfüllte. Er ließ sich sogar dazu herab, sich hinters Steuer zu setzen und von Zeit zu Zeit den Anlasser zu drücken, während ich Benzin in den Vergaser spritzte. Jedes Mal, wenn der Motor kratzte, war weniger Luft in dem Abtropfteller zu sehen. Endlich sprang der Motor an. Ich forderte ihn auf, sich auf den zweiten Vordersitz zu setzen, legte meine Aktenmappe neben mich, wendet auf der breiten, leeren Hauptstraße, und dann ratterten wir nach Norden, in Richtung Scranton.

Es war nur natürlich, daß er sich so weit wie möglich von mir zurückzog, denn ich war ziemlich schmierig von der Arbeit unter dem Benzintank. Dies und die entehrende Fähigkeit, die ich bewiesen hatte, als ich den Wagen in Gang brachte, erinnerte ihn daran, daß er schließlich ein Doktor einer wirklichen Universität war, während ich nur der Angestellte eines Verlags bin. Die Stimmung war nicht gerade ideal dafür, aber früher oder später mußte ich es ihm doch sagen.

»Professor, wir müssen etwas besprechen und klarstellen, bevor wir Fräulein Phoebe finden.«

Er betrachtete die großen Zeichen, die die Stadtväter von Scranton weise errichtet hatten, um die ungewöhnlich starke Neigung der Straße in die Stadt hinein anzuzeigen. »Warnung! Gefährliche Wegstrecke auf sieben Meilen. Todesgefahr! Schalten Sie auf einen niedrigeren Gang. 50 Dollar Strafe. Folgen Sie dieser Aufforderung oder zahlen Sie!«

»Was gibt es da noch zu klären?« fragte er. »Sie hat die Funktionelle Epistemologie zum Teil gemeistert. Das hat gewisse latente Kräfte in ihr freigelegt. Unsere Aufgabe ist es, ihre Beherrschung der ethischen Aspekte der F. E. zu vervollständigen. Sie wird aufhören, andere zu beherrschen, sobald sie begreift, daß ihr Verhalten nicht funktionell ist und gegen das Prinzip der Erlaubten Evolution verstößt.« Für ihn war die Sache erledigt. »Wirklich«, überlegte er, »ich hätte Ihnen nicht erlauben sollen, meine Ausführung über das Dyadische Ungleichgewicht so stark zu kürzen; das muß die Wurzel ihres falschen Benehmens sein. Eine kurze einführende Erklärung –«

»Professor«, unterbrach ich ihn, »ich denke, ich habe Ihnen im Zug schon klargemacht, daß ich Sie für einen Schwindler halte.«

Erhaben korrigierte er mich: »Sie sagten mir, daß Sie denken, daß ich ein Schwindler sei, Herr Norris. Ich ärgerte mich über Ihre Doppelzüngigkeit, aber Ihre Meinung über mich beweist gar nichts. Schauen Sie sich doch um! Ist das alles Schwindel?«

Wir waren jetzt schon in der Stadt angelangt. Hunde kläfften unser Auto an. Überall sahen wir zerbrochene Fensterscheiben und auf den Bürgersteigen verstreuten Hausrat. Hier und dort brannte ein Haus lichterloh. Eingeschlagene und umgestürzte Wagen versperrten die Straßen, und zwischen ihnen spazierten die Zombies. Wenn Fräulein Phoebe eine Stadt traf, so war das so wie ein Bombenangriff.

»Es ist kein Schwindel«, sagte ich, während ich um einen grinsenden Mann mit Strohhut und Overall herumsteuerte. »Aber es ist auch keine Funktionelle Epistemologie. Es hätte der Glauben an irgend etwas Beliebiges sein können, aber zufällig hielt sie sich an Ihr Buch.«

»Sie wagen es, mich mit Glaubensbrüdern zu vergleichen!« schimpfte er mit weißen Lippen.

»Ja«, stimmte ich zu. »Sie werden auf die eine oder andere Art geheilt. Wie so viele Leute. Lassen Sie uns zusammenfassen, Professor. Ich glaube, das beste wäre es, wenn wir Fräulein Phoebe erzählen, daß Sie ein Schwindler sind. Zerstören Sie ihren Glauben an Sie und Ihr System, und ich bin davon überzeugt, sie wird wieder zu einer ganz normalen alten Dame. Einen Moment noch! Erzählen Sie mir nicht, daß Sie kein Schwindler sind. Ich kann es Ihnen beweisen. Sie behaupten, sie beherrsche die F. E. teilweise und erhalte ihre Kräfte durch diese teilweise Beherrschung. Nun, offensichtlich beherrschen Sie selbst die F. E. völlig, da Sie sie ja erfunden haben. Weshalb können Sie also nicht all das, was sie getan hat, tun, und vieles mehr? Warum können Sie dieses Durcheinander nicht beenden, indem Sie nach La Plume schweben, statt den Lackawannazug und einen 1941er Ford zu benutzen? Und, warum zum Teufel, konnten Sie den Ford nicht durch einen einzigen Handgriff und F. E. reparieren, anstatt dabei zu stehen und zuzusehen, während ich arbeitete?«

Seine Stimme klang ehrlich erstaunt. »Ich dachte, das hätte ich Ihnen gerade klargemacht, Norris. Obgleich ich noch nie daran gedacht habe, glaube ich, das, was Sie gerade von mir verlangten, tun zu können, aber mir würde es noch nicht einmal im Traum einfallen. Wie ich schon sagte, wäre das nicht funktionell und ein grober Verstoß gegen die Erlaubte –«

Ich stieß einen gräßlichen Fluch aus und fügte hinzu: »Kurz – Sie können, aber Sie wollen nicht.«

»Natürlich nicht! Das Prinzip der Erlaubten –« Er starrte mich groß an, in seinen Augen dämmerte Verstehen auf. »Norris! Mein Herausgeber! Mein Korrektor. Mein vom Verleger offiziell ernannter Fiduz Achatius. Norris, haben Sie denn mein Buch nicht gelesen?«

»Nein«, sagte ich kurz. »Ich hatte viel zuviel zu tun. Sie kamen nicht rein zufällig auf die Titelseite von Times, müssen Sie wissen.«

Er gab ein hilfloses Lachen von sich. »Wie geht doch das Lied?« fragte er mich endlich mit Tränen in den Augen. »Gott segne Amerika?«

Ich brachte den Wagen mit einem Ruck zum Stehen. »Ich glaube, ich fühle etwas«, sagte ich. »Professor, ich kann Sie gut leiden.«

»Ich Sie auch, Norris«, antwortete er. »Norris, mein Junge, was halten Sie von Damen?«

»Köstliche Kreaturen. Hüter der Kultur. Professor, wie denken Sie über das Fleischessen?«

»Schockierende Überlieferung der Barbarei. Norris! Es ist soweit!«

Er stieß die Wagentür auf und sprang hinaus. Ich folgte ihm. Wir standen jeder auf einem Fuß, machten eine lange Nase und streckten die Zunge heraus.

Einschließlich des Falles im Zug war dies das 1961. Mal während der letzten zwei Monate. Eintausendneunhundertundeinundsechzigmal hatte der Professor dafür gesorgt, daß mir Spinnen entgegensprangen – aus Büchern, vom Fernsehschirm, unter Steaks hervor, aus Tischladen, aus meinen Taschen – und aus seinen. Schwarze Witwen, Taranteln, harmlose (ha!) Hausspinnen, echte und imitierte. Eintausendneunhundertundeinundsechzigmal hatte ich diesen Ekel gegen Spinnen durchgemacht. Jedes Mal, wenn ich ihn verspürt hatte, hatte ich willkürlich die Hauptmuskelsysteme mit ins Spiel gebracht, indem ich ein Bein heftig anhob, heftig die Hand zur Nase führte, heftige Grimassen zog und die Zunge herausstreckte.

Mein Körper hatte es endlich doch gelernt. Diesmal war keine Spinne zu sehen; diesmal war es Fräulein Phoebe: ein unbestimmtes angenehmes Gefühl, so ähnlich wie beim ersten Martini. Aber meine Verteidigungsstellung, dieses 1962. Mal, war von dem alten Widerwillen und Schrecken begleitet. Da es keine Spinnen gab, konzentrierte sich alles auf Fräulein Phoebe. Das unbestimmte Gefühl des ersten Martinis verschwand wie der Morgennebel vor der aufgehenden Sonne.

Vorsichtig entspannte ich mich wieder. Auf der anderen Seite des Wagens tat Professor Leuten das gleiche.

»Professor«, sagte ich, »ich kann Sie nicht mehr ausstehen.«

»Danke«, erwiderte er kühl. »Ich Sie auch nicht.«

»Schätze, daß wir wieder normal sind«, sagte ich. »Steigen Sie ein.« Dann fuhren wir weiter.

Widerwillig murmelte ich: »Gratuliere!«

»Weil es geklappt hat? Seien Sie nicht albern. Es war zu erwarten, daß eine Kampagne, die von den Prinzipien der Funktionellen Epistemologie abgeleitet war, erfolgreich verlaufen würde. Sie brauchten nur genauso klug wie einer von Professor Pawlows Hunden zu sein, und ich gestehe, daß ich diese Hypothese als das einzige schwache Glied in meiner Überlegungskette betrachte …«

Gegen eins rasteten wir, um uns aus den Konserven im Kofferraum ein Essen zusammenzustellen, dann holperten wir weiter nach Norden – durch die zerstörte Landschaft. Die kleinen Städte waren zerstört und verlassen. Vermutlich richteten Flüchtlinge aus dem Pestgebiet durch Plünderung den ersten Schaden an; die darauffolgende Zerstörung war dann einfach nicht mehr aufzuhalten. Es zeigte, was mit jeder Stadt oder jedem Dorf des zwanzigsten Jahrhunderts in wenigen Wochen geschehen würde, wenn die Menschen, die endlose Kriege gegen Verfall und Einsturz führten, einmal keinen Finger mehr rührten. Es war nicht genau festzustellen, ob Feuer oder Wasser mehr Schaden angerichtet hatte.

Auf dem Land waren die Tiere unbeschreiblich fett. Ein ganzes Heer von Kaninchen fraß sich wahrhaftig einen Weg durch ein riesiges Kleefeld. Ein Bauernzombie winkte ihnen mit einer geflickten Steppdecke zu und sagte liebevoll: »Seht, ihr kleinen Kaninchen! Weg hier! Ich will es!«

Aber sie wußten, daß das nicht stimmte, und knabberten sich geruhsam weiter durch sein Feld.

Ich hielt den Wagen an und rief den Bauern herbei. Lächelnd kam er zu uns. »Die kleinen Teufelchen!« sagte er und zeigte auf die Kaninchen. »Aber ich bringe es einfach nicht übers Herz, ihnen Angst zumachen.«

»Sind Sie glücklich?« fragte ich ihn.

»O ja!« Seine Augen lagen tief in den Höhlen und leuchteten; seine Backenknochen stachen aus dem abgezehrten Gesicht. »Die Menschen sollten viel rücksichtsvoller sein«, sagte er. »Ich finde immer, daß Rücksicht im Leben am meisten zählt.«

»Vermissen Sie denn die Elektrizität nicht, Autos und Traktoren?«

»Du liebe Güte, nein. Ich habe schon immer gesagt, daß in den alten Tagen alles viel besser war. Das Leben war viel geruhsamer, viel reizvoller, sage ich immer. Wieso, mir fehlen Benzin oder Elektrizität absolut nicht. Jeder ist so rücksichtsvoll und nett, das wiegt alles andere auf.«

»Würden Sie wohl auch so rücksichtsvoll und nett sein und sich mitten auf die Straße legen, damit wir mit dem Auto über Sie hinwegfahren können?«

Er blickte etwas überrascht drein und machte sich daran, meiner Aufforderung Folge zu leisten, während er bemerkte: »Nun, wenn es den Herren besonderes Vergnügen bereitet –«

»Nein. Machen Sie sich doch lieber nicht die Mühe. Gehen Sie zurück zu Ihren Kaninchen.«

Er tippte an seinen Strohhut und ging davon. Wir fuhren weiter. Ich sagte zu dem Professor: »Kapitel neun: ›Wie man in äußerster Harmonie mit seiner Umgebung lebt.‹ Nur daß sie sich selbst nicht ändert, Professor Leuten; sie verändert ihre Umgebung. Jeder Mann und jede Frau im ganzen Gebiet ist so, wie Fräulein Phoebe glaubt, daß er sein müßte: dumm, sentimental, gefällig und nett bis zur Idiotie.«

»Norris«, sagte der Professor nachdenklich, »wir sind nun schon eine ganz schöne Zeit zusammen. Ich glaube, Sie können sich den ›Professor‹ sparen. Nennen Sie mich einfach ›Leuten‹. In gewisser Hinsieht sind wir Freunde –«

Ich trat auf die ausgeleierten Bremsen. »Hinaus!« brüllte ich, und wir stürzten hinaus. Das komische Glühen hüllte mich mit rasender Geschwindigkeit ein. Daumen an die Nase, Zunge weit aus dem Mund, verjagte ich es wieder. Als ich den Professor ansah und ganz sicher war, daß er ein dickköpfiger alter Bursche war, wußte ich, daß ich mich wieder in der Gewalt hatte. Und als er mich anblinzelte und mich anschnauzte: »Selbstverständlich nehme ich meine letzte Bemerkung zurück, Norris, und kein Gentleman würde mich darauf festnageln«, wußte ich auch, daß er wieder ganz normal war. Wir stiegen ein und fuhren weiter in Richtung Norden.

Die Verwüstung wurde stärker, nachdem wir ein geplündertes, stinkendes Schlachtfeld passiert hatten, das einst die Stadt Meshoppen, Pa. gewesen war. Hinter Meshoppen lagen noch mehr Körper auf der Erde, und die Fliegen wurden zu einer schrecklichen Plage. Kein Pyrethrum von Kenya. Kein DDT von Wilmington. Wir fuhren mit dicht geschlossenen Fenstern und abgestelltem Ventilator in die Nachmittagshitze hinein. Ungefähr auf der Höhe von Meshoppen hatten sich in einem Kreis um La Plume herum die Dinge etwas stabilisiert, und die Armee-Ingenieure hatten begonnen, Stacheldrahtzäune zu errichten. Wer weiß, was dann geschah? Vielleicht hatte sich Fräulein Phoebe von einer leichten Erkältung erholt oder vielleicht sagte sie sich auch mit ernster Stimme, daß ihr Glaube an Professor Leutens wundervolles Buch geschwächt sei; daß sie sich zusammenreißen müsse und sich mit ganzer Kraft an die Aufgabe machen, in äußerster Harmonie mit ihrer Umgebung zu leben. Am nächsten Morgen waren keine Armee-Ingenieure mehr zu sehen. Zombies in Uniformen spazierten durch die Gegend und grinsten. Am darauffolgenden Morgen begann sich das Pestgebiet wieder in beständigem Tempo um eine Meile am Tag auszubreiten – wie zuvor.

Ich wollte mich von der Hitze und dem Schweiß, der mir die Stirn herunterlief, ein wenig ablenken. »Professor«, sagte ich, »erinnern Sie sich an die letzten Worte in Fräulein Phoebes Brief? Es war ›für immer‹. Glauben Sie –?«

»Unsterblichkeit? Ja. Ich glaube sehr wohl, daß das im Bereich der falsch angewandten F. E. liegt. Obwohl die vollkommene Beherrschung von F. E. die Heraufbeschwörung einer solch eigennützigen Kraft ausschließt. Die Schönheit von F. E. liegt in ihrem Konservatismus – im kinetischen Sinne. Sie ist selbstregelnd. Eine Welt, in der die universelle Beherrschung von F. E. erreicht ist, würde sich rein äußerlich in keiner Weise von der jetzigen Welt unterscheiden. Und ich erkenne nun, daß die Publikation meiner Anschauungen durch die Hopedale Press – wenn überhaupt etwas – so doch die Entfernung von diesem Idealzustand zustande brachte.«

»Eingebaute Fluchtklausel«, fuhr ich ihn an. »Wie Yoga. Fordern Sie sie auf, Ihnen zu beweisen, daß sie die vollkommene Selbstbeherrschung erreicht haben, zu schweben oder undurchsichtig zu werden – sie sind für alle Fälle gewappnet. Sie erzählen ihnen, daß sie so viel Selbstbeherrschung erlangt haben, daß sie den Wunsch, zu schweben oder durchsichtig zu werden, bezwingen können. Ich wünschte fast, ich hätte Ihr Buch gelesen, Professor. Vielleicht sind Sie intelligenter, als ich dachte.«

Er wurde über und über rot und krächzte: »Ihre Beleidigungen langweilen mich, Norris.«

Die Straße machte eine Kurve, und wir fuhren hinein. Ich trat auf die Bremsen und rieb mir die Augen. »Sehen Sie sie?« fragte ich den Professor.

»Ja«, antwortete er in kühlem Ton. »Das muß der Hofstaat der Herzogin von Carbondale sein.«

Ein Dutzend Männer standen Schulter an Schulter und versperrten die Straße. Sie waren mit den verschiedenartigsten Sportgewehren bewaffnet. Sie trugen kiltähnliche Umhänge und billige Ketten.

Als wir anhielten, wichen sie in der Mitte auseinander, und die Herzogin von Carbondale fuhr in ihrer Karosse hindurch, nur war es keine Staatskarosse, sondern ein angeschirrter Traberwagen, und sie fuhr ihn auch nicht. Ein mageres, junges Mädchen, aufgeputzt wie eine Hofdame aus von einer Oberschule aufgeführtem »Cäsar und Cleopatra«-Stück, führte das Pferd. Die Herzogin selbst trug füllige weiße Roben, ein Diadem und Juwelen. Sie sah aus wie eine unbeliebte Tante, eine dicke, oder eine Lehrerin, an die man sich noch mit Vierzig erinnert, oder eine jener Frauen, die an der Haustür läuten und einen dazu überreden wollen, eine Petition gegen die Fluorisierung der Zahncreme oder gegen den Atheismus in den Volksschulen zu unterschreiben.

Ein Mann mit einer großen Büchse hatte den Lauf drohend auf uns gerichtet und wartete auf das Nicken der Herzogin. Sein Finger saß am Abzug. »Aussteigen«, sagte ich zum Professor und ergriff meine Aktenmappe. Er blickte auf den Mann und öffnete die Tür.

»Heil, oh, ihr Sterblichen!« sagte die Herzogin.

Hilflos blickte ich den Professor an.

Selbst meine ausgedehnte Erfahrung mit weiblichen Romanschreibern hatte mich nicht gerüstet, mit dieser Situation fertig zu werden. Aber er war ihr gewachsen. Er war Europäer und hatte einen Rang, und das ist der ganze Dreh bei ihnen: Schaffe dir eine Stellung und einen Rang und führe dich dann entsprechend auf. Er sagte: »Madam, mein Name ist Konrad Leuten. Ich bin Doktor der Philosophie der Universität Göttingen und Mitglied der Philosophischen Fakultät der Universität Basel. Mit wem habe ich die Ehre?«

Ihre Augen verengten sich anerkennend. »O Sterblicher«, antwortete sie, und ihre Stimme war nicht mehr ganz so dramatisch. »Erfahret, daß hier in New Lemuria weltliche Titel ein Nichts sind. Und wisset Ihr nicht, daß die reinen Herzen meiner Untertanen nicht mit gemeinen Maschinen beschmutzt werden dürfen?«

»Das wußte ich nicht, Madam«, antwortete Leuten höflich. »Und bitte um Entschuldigung. Wir hatten jedoch nur die Absicht, bis La Plume zu fahren. Dürfen wir mit Ihrer Erlaubnis rechnen, das zu tun?«

Bei dem Wort La Plume wurde sie knallrot im Gesicht. Nach einem Augenblick winkte sie dem Mann mit der Büchse. »Vernichte, o Phraxanartes, die gemeine Maschine der Fremdlinge«, befahl sie. Phraxanartes legte den Daumen auf den Abzug. Leuten und ich hechteten in die Büsche, meine Hand umklammerte den Griff der Aktenmappe. Dann hörten wir einen lauten Knall. Der Benzintank explodierte, und mit ihm einige Flaschen. Nach einer Weile ließ das Geknatter und Getöse nach. Ich hob zuerst den Kopf. Die Herzogin und ihr Gefolge war verschwunden, anscheinend hatten sie sich unter die Bäume bei der Straße zurückgezogen.

Ihre keifende Stimme ertönte: »Steht auf, o Fremdlinge, und vereint euch mit uns!«

Aus dem Busch neben mir flüsterte Leuten: »Eine völlig vernünftige Bitte, Norris. Kommen Sie. Schließlich muß man gehorsam sein.«

»Und huldvoll«, fügte ich hinzu.

Gute alte Herzogin! dachte ich. Guter alter Leuten! Wundervolle alte Welt mit Hügeln und Bäumen und Kaninchen und Kätzchen und vernünftigen Menschen …

Leuten balancierte auf einem Fuß, Daumen an der Nase, Zunge weit vorgestreckt, und kreischte: »Norris! Norris! Verteidigen Sie sich!« Mit der freien Hand schlug er mir ins Gesicht. Träge nahm ich die Verteidigungsposition ein und dachte: So ein Unsinn. Gegen was verteidigen? Aber um nichts in der Welt würde ich den guten alten Leuten verletzen –

Adrenalin rann durch meine Venen, durchdrang meine Sinne. Spinnen. Kriechende, haarige, ekelhafte Spinnen mit roten, giftspeienden Fängen. Sie versteckten sich in Schuhen und bissen einem in die Füße, bis sie ganz dick geschwollen waren. Ihre klebrigen, widerlichen Gewebe streiften das Gesicht, wenn man im Dunkeln ging, und sie krochen geräuschlos heran, mahlten mit den Kiefern und blinkten mit den edelsteinähnlichen Augen. Spinnen!

Ungeduldig plärrte die Stimme der Herzogin: »Ich sagte, vereint euch mit uns, o Fremdlinge. Worauf wartet ihr noch?«

Der Professor und ich entspannten uns und blickten einander an. »Sie ist wahnsinnig«, bemerkte der Professor leise. »Aus einem Asyl.«

»Das bezweifle ich. Sie kennen Amerika nicht. Vielleicht sperrt man sie bei Ihnen in Europa ein, wenn sie so sind. Hier bei uns wählt man sie zur Präsidentin einer Bücherei-Stiftung. Wenn wir das nicht tun, haben wir nie Ruhe.«

Das kostümierte Mädchen führte den Wagen der Herzogin wieder auf die Straße. Einige ihrer Leute folgten ihr schon, als sie das Mädchen ungnädig verabschiedete. Wir wichen der Hitze des brennenden Autos aus und näherten uns. Es gab für uns nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir gingen zu ihr, oder wir mußten versuchen, vor den Kugeln der vielen verschiedenen Sportgewehre davonzulaufen. »O Fremdling«, sagte sie, »ihr erwähntet La Plume. Seid ihr zufällig mit meiner lieben alten Freundin Phoebe Bancroft bekannt?«

Der Professor nickte, bevor ich ihn zurückhalten konnte. Aber ich zerrte die Herzogin von ihrer improvisierten Karosse. Es war ziemlich unangenehm, aber ich legte meine Hände um ihren Hals und kniete mich auf sie. Das bedeutete zwar, daß ich meine Aktenmappe loslassen mußte, aber es war die Sache wert.

Sie schluckte, röchelte und quetschte sich mit letzter Kraft die Worte: »Nicht schießen! Ich nehme es zurück, nicht schießen. Pamphilius, nicht schießen, du könntest mich treffen!« heraus.

»Schicken Sie sie fort«, forderte ich sie auf.

»Niemals!« ächzte sie. »Sie sind meine herzöglichen Gefolgsleute.«

»Versuchen Sie’s, Professor«, sagte ich.

Ich glaube, das, was er jetzt annahm, waren seine Vortragsmanieren. Er reckte sich auf, füllte die Lungen voll Luft, räusperte sich und donnerte gegen die Büsche hin: »Kommt sofort heraus. Alle!«

Wackelig und erstaunt kamen sie hervor. Sie ahnten, daß irgend etwas nicht stimmte. Die Herzogin lag auf dem Boden, und sie sagte ihnen nicht, was sie zu tun hatten. Sie wollten ihr auf alle möglichen Arten gehorchen, wie etwa Fremde erschießen, Konservennahrung für sie besorgen – aber wie konnten sie ihr dienen und gehorchen, wenn sie dort lag und allmählich immer röter im Gesicht wurde? Die Lage war sehr verwirrend. Zum Glück gab es noch jemanden, dem man gehorchen konnte, den Professor.

»Geht weg!« bellte er sie an. »Geht ganz weit weg. Wir brauchen euch nicht mehr. Und werft eure Gewehre weg.«

Jawohl, das konnte man verstehen.

Sie grinsten, warfen ihre Waffen fort und schlichen sich auf ihre unterwürfige und rücksichtsvolle Art davon.

Ich lockerte meinen Griff an der Kehle der Herzogin ein wenig. »Was war das für ein Quatsch über New Lemuria?« fragte ich sie.

»Sie sind ein ungehobelter, ignoranter junger Mann«, schnappte sie. Aus den Augenwinkeln konnte ich den Professor zustimmend nicken sehen. »Jede gebildete Person weiß, daß die verlorene Weisheit von Lemuria wieder ins Leben gerufen werden mußte, und zwar in Person einer wunderschönen Priesterin in diesem Jahr. Gemäß der Wissenschaft der Pyramidologie –«

Wunderschöne Priesterin? Oh.

Der Professor und ich standen da und lauschten, während sie eine erstaunliche Mischung von verlorenem Kontinentismus, den Zehn Stämmen, Anti-Fluorierung, Vegetarismus, homöopathischer Medizin, organischer Landwirtschaft, Astrologie, fliegenden Untertassen und dem Prosagedicht von Kahlil Gibran von sich gab.

Zum Schluß bemerkte der Professor zweifelnd: »Ich nehme an, man muß sie als eine Art kulturellen Diffusionisten bezeichnen …« Er war glücklich, sie eingereiht zu haben. Dann fuhr er fort: »Ich denke, Sie kennen Fräulein Phoebe Bancroft. Wir möchten, daß Sie uns so schnell wie möglich zu ihr bringen.«

»Professor«, klagte ich, »wir besitzen eine Straßenkarte und können La Plume sehr wohl alleine finden. Und wenn wir erst einmal in La Plume sind, dürfte es uns nicht schwerfallen, Fräulein Phoebe aufzutreiben.«

»Ich wäre sehr glücklich, Sie begleiten zu dürfen«, sagte die Herzogin. »Obgleich ich mechanische Vorrichtungen nicht schätze, halte ich mir in der Nähe ein Auto bereit, im Fall von – na ja! Bei all den ungehörigen –!«

Glaube es, wer wolle, aber sie war sprachlos. Nichts von ihrem reichen Schatz an Geschnatter und Haß schien der Situation gewachsen. Anti-Fluorierung, organische Landwirtschaft, selbst Kahlil Gibran war angesichts von uns beiden unzutreffend – wie wir jeder auf einem Bein dastanden, lange Nasen ziehend, Zunge ausgestreckt.

Unleugbar verlor die Verteidigungsstellung an Wirksamkeit. Es dauerte länger als sonst …

»Professor«, fragte ich, nachdem wir uns wieder entspannt hatten, »wieviel können wir noch ertragen?«

Er zuckte die Achseln. »Deshalb wird ein Führer nützlich sein«, antwortete er. »Madam, Sie erwähnten ein Auto.«

»Ich weiß«, sagte sie fröhlich. »Das war Asana Yoga, nicht wahr? Was die Stellungen betrifft, meine ich.« Der Professor lutschte an einer unsichtbaren Zitrone. »Nein, Madam«, entgegnete er mit blassem Gesicht. »Es war weder Siddhasana noch Padmasana. Yoga wurde der Funktionellen Epistemologie untergeordnet, wie übrigens alle anderen philosophischen Systeme, östlicher und westlicher Herkunft – aber wir vergeuden nur unsere Zeit. Wo ist das Auto?«

»Sie müssen es in bestimmten Zeitabständen tun, nicht wahr?«

»Dabei wollen wir es belassen, Madam. Das Auto, bitte.«

»Kommen Sie mit«, forderte sie uns fröhlich auf. Ich sah ihr nicht ins Gesicht. Frau Präsidentin war dabei, einen parlamentarischen Schlag zu landen. Aber ich ergriff meine Aktenmappe und folgte ihr. Das Auto stand in einer nahegelegenen Scheune. Es war ein hübscher neuer Lincoln, und ich war davon überzeugt, daß unsere heitere Fremdenführerin ihn gestohlen hatte. Aber wir hatten unseren Ford schließlich auch nicht anders erstanden.

Ich legte die Aktentasche hinein und setzte mich trotz ihrer Einwände hinters Steuer, und dann starteten wir in Richtung La Plume, das ungefähr zwölf Kilometer entfernt war. Unterwegs kreischte sie plötzlich: »Oh, Funktionelle Epistemologie – und Sie sind Professor Leuten!«

»Jawohl, Madam«, stimmte ich verdrossen zu.

»Ich habe natürlich Ihr Buch gelesen. Fräulein Bancroft auch. Sie wird sich ja so freuen, Sie kennenzulernen.«

»Warum haben Sie Ihren Leuten dann befohlen, uns zu ermorden?«

»Aber Professor, da wußte ich ja noch nicht, wer Sie sind, und es war sehr bestürzend, jemanden in einem Auto zu sehen. Ich – eh – hatte das Gefühl, daß Sie nichts Gutes im Sinn hatten, vor allem, als Sie Fräulein Bancroft erwähnten. Denn in Wirklichkeit ist sie es, die für die Wiedererhebung von New Lemuria verantwortlich ist.«

»Wirklich?« fragte der Professor.

»Dann verstehen Sie was von dem Ineinanderfließen ausgeglichener Persönlichkeit?« Er strahlte.

»Wie meinen Sie?«

»Ineinanderfließen ausgeglichener Persönlichkeit!« bellte er. »Kapitel neun!«

»Oh. Natürlich! In Ihrem Buch! Nun – um die Wahrheit zu sagen, ich überschlug –«

»Noch eine«, murmelte der Professor und lehnte sich im Sitz zurück. Aber die Herzogin plapperte unbeirrt weiter: »Liebes Fräulein Bancroft! Sie schwört auf Ihr Buch. Aber Sie fragten – ach, nein, das war es nicht. Ich stellte ihr Horoskop, und es zeigte sich, daß sie die siebenundzwanzigste Pendragon ist!«

»Scheiße«, murmelte der Professor. »Und so verkörpert sie natürlich Taliesin geistig, und –« ein bescheidenes Kichern – »Sie wissen auch, wem die materielle Verkörperung vorbehalten ist. Was nur logisch ist, da ich von den hohen Priesterinnen von Mu herabgestiegen bin. Wie wenig ich doch nachdachte, als ich den Wee-Okkult-Buchladen in Carbondale führte!«

»Ja«, antwortete der Professor nur. Dann riß er sich zusammen. »Madam – sagen Sie mir bitte etwas. Fühlen Sie niemals etwas ganz Bestimmtes, so eine Art Freundschaft, einen Rausch, ein bestimmtes Bedürfnis, Gutes zu tun, das sie plötzlich wie ein Mantel einhüllt?«

»Oh – das!« sagte sie zornig. »Ja, ab und zu. Es stört mich nicht. Ich denke einfach an all die Arbeit, die ich erledigen muß. Wie ich die furchtbaren, seelenzerstörenden Anhänger der Fleischesserei auslöschen muß, und die chemischen Düngemittel und Fluorierung. Wie ich den heiligen Kampf für die okkulte Wissenschaft führen und die materiellen Philosophen vernichten muß. Wie ich unsere korrupten und selbstsüchtigen Minister und Priester zertrümmern muß, unsere modrigen Gesetze und Bräuche –«

»Du lieber Gott«, stöhnte der Professor, während sie weiterschnatterte. »Bei Norris sind es Spinnen. Bei mir Ratten und Erstickungsanfälle. Aber bei dieser Frau ist es anscheinend alles, was der Kosmos bietet, außer ihrem eigenen revoltierenden Selbst!« Sie hörte ihn gar nicht; sie forderte gerade, daß das Wahlrechtsalter für Frauen auf sechzehn herabgesetzt und das für Männer auf fünfunddreißig gehoben werden sollte.

Wir durchfuhren gewaltige Wolken von Fliegen und Moskitos. Die Fliegen brüteten fröhlich auf toten Kühen und auf Schafen, die unglücklicherweise noch lebten. Es gab keine Pflege für Kühe und Schafe, keine Nahrung, keine Insektenmittel. In New Lemuria gab es keine Staats-, keine Stadt-, keine Landverwaltung, keine Arbeitsgruppen, die ständig unterwegs waren, um nach dem Rechten zu sehen, die Schleusen öffneten und schlossen, Abflüsse säuberten, verrostete Abflußkanäle erneuerten – und so verwandelte sich das gesamte Land in eine einzige Schlamm- und Sumpfwüste. Die Moskitos liebten das außerordentlich.

»La Plume«, verkündete die Herzogin fröhlich. »Und da drüben steht auch schon Fräulein Phoebes kleines Haus. Übrigens, warum wollten Sie sie eigentlich treffen, Professor?«

»Um ihre Umschulung zu vervollständigen …«, sagte der Professor mit müder Stimme.

Fräulein Phoebes Haus und die in der näheren Umgebung waren die einzigen, die in dieser Gegend nicht vernachlässigt waren. Denn Fräulein Phoebe konnte den Zombies sagen, was sie tun sollten, wie etwa Rasen mähen, Unkraut jäten und dergleichen. Das Ungeziefer war hier nicht so lästig.

»Sie ruht sich wahrscheinlich gerade aus, die arme Liebe«, sagte die Herzogin. Ich brachte den Wagen zum Stehen, und wir stiegen aus. Die Herzogin sagte etwas von Kleenex, kroch noch einmal auf den Vordersitz und hantierte im Handschuhfach.

»Bitte, Professor«, sagte ich und umklammerte meine Aktenmappe, »seien Sie vernünftig. Tun Sie, was ich Ihnen geraten habe.«

»Norris«, entgegnete er, »mir ist klar, daß Ihnen meine Interessen sehr am Herzen liegen. Sie sind ein lieber Kerl, Norris, ich mag Sie –«

»Achtung!« schrie ich und sprang in die Verteidigungsstellung.

Spinnen. Das war keine gute alte Welt, nicht solange abscheuerregende Spinnen darin existierten. Spinnen –

Eine Kugel zischte an meinem Ohr vorbei. Der Professor fiel nieder. Ich drehte mich um und sah die Herzogin. Sie blickte selbstzufrieden drein und war drauf und dran, auch mich zu erschießen. Ich machte einen Schritt zur Seite, und sie verfehlte ihr Ziel; als ich ihr die Pistole aus der Hand schlug, dachte ich verwirrt, daß es ein Wunder war, daß sie den Professor auf fünf Schritte Entfernung getroffen hatte. Manche Menschen machen sich gar nicht klar, wie schwer es ist, etwas mit einem Revolver zu treffen.

Ich glaube, ich wollte sie gerade töten oder sie wenigstens schwer verletzen, als ein neues Element eingriff. Auf dem sauberen Kiesweg vom Haus her kam eine kleine alte weißhaarige Dame langsam auf uns zu. Sie trug ein hübsches pastellfarbenes Kleid, was mich in Erstaunen versetzte; irgendwie hatte ich sie mir immer in Schwarz vorgestellt.

»Bertha!« stieß Fräulein Phoebe aus. »Was hast du getan?«

Die Herzogin lächelte einfältig. »Dieser Mann hier wollte dir etwas zuleide tun, meine Liebe. Und dieser Kerl ist auch nicht besser –«

»Unsinn!« sagte Fräulein Phoebe. »Niemand kann mir Böses antun. Kapitel neun, Gesetz sieben. Bertha, ich habe gesehen, wie du diesen Herrn hier erschossen hast. Ich bin sehr böse mit dir, Bertha. Sehr böse.«

Die Herzogin verdrehte die Augen und fiel in sich zusammen. Ich brauchte gar nicht nachzusehen; ich war sicher, daß sie tot war. Wieder einmal war Fräulein Phoebe in äußerster Harmonie mit ihrer Umgebung.

Ich ging hinüber und kniete mich neben dem Professor nieder. Er hatte ein Loch im Bauch, atmete aber noch. Blut war nicht viel zu sehen. Ich setzte mich hin und weinte. Um den Professor. Um die arme, verdammte Menschenrasse, die mit der Geschwindigkeit von einer Meile pro Tag von Apathie und Wahnsinn verschluckt werden würde. Lebt wohl, Newton und Einstein, lebt wohl Steak-Essen und Michelangelo und Tenzing Norkay; lebt wohl, Moses, Rodin, Kwan Yin, Transistoren, Boole und Steichen …

Ein rothaariger Mann mit einem Adamsapfel sagte mit sanfter Stimme zu Fräulein Phoebe: »Dieses Kaninchen hier ist es, Fräulein Phoebe.« Ein enormes Kaninchen sprang an ihm hoch. »Jedes Mal, wenn ich eine Rübe oder so was finde, nimmt es sie mir weg. Es kratzt und beißt mich, wenn ich versuche, mit ihm vernünftig zu reden –« Und tatsächlich – als er aus seiner Tasche eine Rübe zog, schlug sie ihm das Kaninchen aus der Hand, nibbelte triumphierend daran herum und schaute sein Opfer listig an. »Das tut es jedes Mal, Fräulein Phoebe«, klagte der Mann.

»Ich werde mir etwas überlegen«, beruhigte ihn die kleine alte Dame.

»Aber warte, bis ich mich um diese Leute hier gekümmert habe, Henry.«

»Jawohl, Madam«, sagte Henry.

Vorsichtig langte er nach seiner Rübe, aber das Kaninchen biß ihn und knabberte dann ruhig weiter.

»Junger Mann«, sagte Fräulein Phoebe zu mir, »was ist passiert? Sie geben sich der Verzweiflung hin. Das dürfen Sie nicht tun. Kapitel neun, Gesetz drei.«

Ich riß mich zusammen und antwortete: »Das ist Professor Leuten. Er stirbt.«

Ihre Augen weiteten sich. »Der Professor Leuten?« Ich nickte. »Wie man auf Kosten des Kosmischen Aufwandkontos lebt?« Ich nickte.

»Ach, du meine Güte! Wenn ich doch nur irgend etwas für ihn tun könnte!«

Den Sterbenden heilen? Anscheinend ging das nicht. Sie glaubte nicht, daß sie das könnte, und folglich konnte sie es auch nicht.

»Professor«, klagte ich. »Professor.«

Er öffnete die Augen, sagte etwas in deutscher Sprache und fügte dann benommen hinzu: »Frau hat mich erschossen. Habe ihr das Geschäft verdorben. Wer ist das?« Er zog eine Grimasse.

»Ich bin Fräulein Phoebe Bancroft, Professor Leuten«, flüsterte sie und beugte sich über ihn. »Ich bin untröstlich. Ich bewundere Ihr ausgezeichnetes Buch so sehr.«

Sein müder Blick wanderte zu mir.

»Keine Zeit, es ordentlich zu machen, Norris«, stöhnte er. »Wir müssen es auf Ihre Art anpacken. Helfen Sie mir hoch.«

Ich zog ihn auf die Beine; ich glaube, ich litt genauso wie er. Die Wunde begann zu bluten.

»Nein!« rief Fräulein Phoebe. »Sie sollten sich hinlegen.«

Der Professor schielte sie an. »Gute Idee, Baby. Willst du mir Gesellschaft leisten?«

»Was soll das bedeuten?« stieß sie hervor.

»Du hast mich schon verstanden, Baby. Sag mal, hast du nicht ein bißchen Schnaps hier?«

»Natürlich nicht! Alkohol schadet der Entwicklung der höheren Funktionen des Geistes. Kapitel neun –«

»Pfui! Kapitel neun ist ein Dreck, Baby! Ich habe das Zeug nur für Geld geschrieben.«

Wäre Fräulein Phoebe durch diese Worte nicht in einen gewaltigen Schock versetzt worden, dann hätte sie den Schmerz auf seinem Gesicht erkannt, den ihm diese Bemerkung verursachte. »Sie meinen –?« Sie zitterte und sah zum erstenmal so alt aus, wie sie wirklich war.

»Sicher. Eine Menge Kohle. Häng ein paar phantastische Gedanken aneinander und mach Geld damit! Was mich interessiert, sind Frauen und Schnaps. Frauen wie du, Baby.« Das genügte.

Schluchzend, erschreckt, beleidigt und völlig außer sich wankte sie den Weg zu ihrem Haus zurück. Ich ließ den Professor auf den Boden gleiten. Er biß sich fast die Lippen durch.

Hinter mir hörte ich ein neues Geräusch. Es war Henry, der Rothaarige mit dem Adamsapfel. Er kaute auf seiner Rübe herum und hielt das Kaninchen bei den Hinterbeinen. Er schwang es gegen einen Baumstamm. Henry sah wild aus, barbarisch wild und sehr gefährlich. Mit einem Wort: menschlich. »Professor«, hauchte ich in sein Gesicht, das wie eine Wachsmaske wirkte. »Sie haben’s geschafft. Es ist gebrochen. Vorbei. Kein Pestgebiet mehr.«

Mit geschlossenen Augen stammelte er: »Ich bedaure, es nicht ordentlich gemacht zu haben … aber erzählen Sie den Menschen, wie ich gestorben bin, Norris. Mit Würde, ohne Furcht. Für die Funktionelle Epistemologie.«

»Ich werde mehr tun, als es ihnen nur erzählen, Professor«, antwortete ich mit Tränen in den Augen. »Die Welt wird von Ihrer Heldentat erfahren! Die Welt muß es wissen. Wir müssen ein Buch darüber machen – Ihre authentische, autorisierte, erdichtete Biographie – und Hopedales Westküsten-Agent wird sich um die Filmrechte kümmern –«

»Film?« fragte er benommen. »Buch …?«

»Ja. Die Jahre Ihres Kampfes, das kleine Mädchen zu Hause, das an Sie glaubte, als alle anderen Sie verspotteten, Ihre brennende Mission, die Welt zu verändern, und der Höhepunkt – hier, jetzt! –, wie Sie Ihr Leben für Ihre Philosophie lassen.«

»Welches Mädchen?« fragte er schwach.

»Irgend jemanden muß es doch gegeben haben, Professor. Wir werden schon wen auftreiben.«

»Würden Sie meine Vertreibung aus Deutschland durch die Nazis beschreiben?« fragte er, jetzt noch schwächer.

»Nun – das glaube ich nicht, Professor. Der Exportmarkt ist wichtig, besonders, wenn es an den Verkauf von Filmrechten geht, und man will doch nicht herumgehen und Leute beleidigen, indem man alte Geschichten ausgräbt. Aber machen Sie sich darum keine Sorgen, Professor, das Wichtigste ist doch, daß die Welt niemals vergißt, was Sie getan haben.«

Er schlug die Augen auf und holte tief Luft: »Sie wollen sagen, Ihre Version von dem, was ich getan habe. Ach Norris, Norris! Ich hätte niemals geglaubt, daß es eine Kraft auf der Erde gibt, die mich zwingen würde, dem Prinzip der Erlaubten Evolution entgegenzuhandeln.« Seine Stimme klang jetzt kräftiger. »Aber Sie, Norris, sind diese Kraft.« Brummend stand er auf. »Norris«, fuhr er fort, »hiermit warne ich Sie in aller Förmlichkeit, daß jeder Versuch, aus meinem Leben eine Roman-Biographie oder einen Spielfilm zu machen, ein sofortiges Verbot nach sich ziehen wird und eine gerichtliche Auseinandersetzung, in der ich wegen Verleumdung, Vertragsbruch und unerlaubtes Eindringen in mein Privatleben gegen Sie vorgehen werde. Mir reicht’s jetzt endgültig!«

»Professor«, keuchte ich, »Sie sind ja wieder gesund!«

Er schnitt eine Grimasse. »Ich bin krank. Sehr krank durch mein Zuwiderhandeln gegen das Prinzip der Erlaubten –«

Seine Stimme wurde schwächer. Denn er erhob sich langsam in die Luft. In drei Meter Höhe wandte er sich noch einmal zu mir und rief: »Schicken Sie das Honorar weiterhin an meine alte Adresse in Basel. Und denken Sie daran, Norris, ich habe Sie gewarnt –«

Steil gegen Osten aufsteigend, schwebte er davon, mit einer Geschwindigkeit von, schätze ich, hundert Meilen pro Stunde. Aber ich glaube, daß er allmählich schneller wurde.

Zehn Minuten lang stand ich da, seufzte und rieb mir die Augen; ich fragte mich, ob sich überhaupt irgend etwas lohnte. Ich entschloß mich, das Buch des Professors gleich am nächsten Tag zu lesen, ganz bestimmt! – wenn mir nichts dazwischenkam.

Dann ergriff ich meine Aktenmappe und ging den Weg entlang, der zu Fräulein Phoebes Haus führte. (Henry hatte auf dem Rasen ein Feuer entzündet und röstete sein Kaninchen; er starrte mich ziemlich ungefällig ah, und ich machte einen großen Bogen um ihn.)

Das war endlich der Augenblick, für den ich mein Leben und meine geistige Gesundheit aufs Spiel gesetzt hatte.

»Fräulein Phoebe«, sagte ich zu ihr und öffnete die Aktenmappe. »Ich vertrete die Hopedale-Press; hier ist eins unserer üblichen Vertragsformulare. Wir sind sehr daran interessiert, Ihre Lebensgeschichte zu veröffentlichen, mit besonderer Hervorhebung der Vorfälle in den letzten Wochen. Selbstverständlich steht Ihnen ein erfahrener Mitarbeiter zur Verfügung. Ich glaube, daß meine Erwartungen nicht zu hoch gesteckt sind, wenn ich von Verkäufen bis in die Hunderttausende spreche. Als Titel würde ich vorschlagen – recht so, Sie müssen auf dieser Linie hier unterzeichnen –: ›Wie ich mir meine Mitmenschen Untertan machte …‹«