Theodore Sturgeon
Es folgen die Nachrichten

 

 

Der Mann hieß MacLyle, aber das war – wie ich gern eingestehe – nicht sein richtiger Name; nehmen wir einmal an, es sei eine erfundene Geschichte. Einverstanden? MacLyle hatte einen guten Job in – eh – einer Seifenfabrik. Er arbeitete fleißig, verdiente gut und heiratete ein Mädchen namens Esther. Er kaufte ein Haus in der Vorstadt, und nachdem er es abbezahlt hatte, vermietete er es weiter und kaufte sich selbst weiter draußen ein neues, dazu einen zweiten Wagen, eine Tiefkühltruhe, eine Mähmaschine, ein Buch über Landschaftsgestaltung; und dann machte er sich an die ehrenwerte Aufgabe, seinen Kindern all die Dinge zu verschaffen, die er selbst nie besessen hatte.

Er hatte Gewohnheiten, und er hatte auch Hobbies wie alle anderen, und (wie die aller anderen) unterschieden sich seine ein wenig von denen der anderen. Die Gewohnheit – vielleicht sollte man eher sagen: Hobby –, die seine Frau am meisten störte, war die Sache mit den Nachrichten. MacLyle las eine Morgenzeitung im 8-Uhr-14-, eine Abendzeitung im 6-Uhr-10-Zug, und für das lokale Blatt, in dem seine Vorstadt über verlorengegangene Hunde und Auktionen berichtete, brauchte er vierzig Minuten nach dem Abendessen. Und wenn er eine Zeitung las, so tat er das gründlich, er spielte nicht nur damit herum. Er begann bei Seite 1, dann folgte Seite 2, und der Reihe nach ging er alle weiteren durch – bis zum Schluß. Er machte sich nicht viel aus Büchern, aber auf eine gewisse Art respektierte er sie, und er pflegte zu sagen, daß eine Zeitung eine Art Buch sei; und deshalb war er auch ganz besonders erbost darüber, wenn eine Seite fehlte oder verkehrt herum darin lag oder auch, wenn die Seiten miteinander vertauscht waren. Er hörte aber auch die Nachrichten im Radio. Er konnte drei verschiedene Sender empfangen, und jeder brachte stündlich den Nachrichtendienst, und gewöhnlich konnte er sie alle drei hören. Während dieser Fünf-Minuten-Perioden saß er da und blickte einem direkt in die Augen, und man könnte schwören, daß er einem zuhörte, aber das war nicht der Fall. Das war besonders für seine Frau ziemlich störend, aber nur etwa fünf Jahre lang. Danach stellte sie keine Fragen mehr, wenn das Radio von Überschwemmungen, Skandalen, Morden und Selbstmorden berichtete. Nach weiteren fünf Jahren hatte sie es sich abgewöhnt, ihn während der Nachrichten überhaupt anzureden; aber wenn Leute erst mal zehn Jahre verheiratet sind, spielen solche Dinge keine Rolle mehr; sie reden sowieso in einer Art Code, und neun Zehntel ihrer Gespräche könnte man, wäre es auf Tonband, glatt herausschneiden. Übrigens schaltete er auch die 7-Uhr-30-Nachrichten über Kanal 2 und die 7-Uhr-45-Nachrichten über Kanal 4 im Fernsehen ein.

Nun könnte man vielleicht annehmen, daß MacLyle ein Kauz mit festen Gewohnheiten und einer neurotischen Neigung wäre, aber das war bei weitem nicht so. Im Grunde genommen war er ein vernünftiger Bursche, der seine Frau, seine Kinder und seine Arbeit liebte und das Leben genoß. Er lachte gern und oft, war gesprächig und bezahlte seine Rechnungen. Seine Vorliebe für die Nachrichten rechtfertigte er auf verschiedene Arten. Er konnte Donne zitieren: »… jedes Menschen Tod verringert mich, denn ich bin in der Menschheit mit inbegriffen …«, was eine ziemlich solide Diskussionsbasis und schwer anzuzweifeln ist. Er hob hervor, daß seine Züge ihn und er seine Züge zur Pünktlichkeit anhielten, daß er aber wegen ihnen täglich und unaufhörlich zur gleichen Zeit die gleichen Gesichter sah, bevor, während und nachdem er mit ihnen fuhr; so daß seine unmittelbare Umwelt ziemlich begrenzt war, und nur das ständige Bewußtsein all dessen, was überall in der Welt geschah, hielt in ihm die Tatsache wach, daß er in einer weiteren Umgebung lebte als nur in seinem Haus an einem Ende und seinem Büro am anderen mit einer Eisenbahnstrecke dazwischen.

Es ist schwer zu sagen, wann MacLyle anfing, überzuschnappen, und auch nicht, warum, obgleich es ganz offensichtlich etwas mit all den Nachrichten zu tun hatte, denen er sich aussetzte. Er begann zu reagieren, das heißt, man konnte sehen, daß er lauschte. Er würde »Seht!« zischen, und wenn man versuchte, einen Satz zu beenden, würde er zum Lautsprecher rennen und den Kopf dicht an die Gitter zwängen. Seine Frau und die Kinder hatten gelernt, sich still zu verhalten, wenn die Nachrichten durchgegeben wurden, fünf Minuten vor der vollen Stunde bis fünf Minuten danach (MacLyle wechselte zwischendurch die Sender), und während der dazwischenliegenden fünfzig Minuten las er die lokale Zeitung. Beim Zeitunglesen war er nicht so streng, denn er erstarrte über ihr zu einer Art Bildsäule, umklammerte die oberen Ecken, biß die Lippen zusammen und atmete mit ersticktem Pfeifen durch die Nase.

Verständlicherweise war all das eine Last für seine Frau Esther, die ihr Möglichstes tat, ihn zur Vernunft zu bringen. Zuerst antwortete er ihr etwa, daß ein Mann immer auf dem laufenden sein müsse; aber sehr bald reagierte er gar nicht mehr darauf. Er sagte weder ja noch nein, grunzte nicht einmal, bewegte den Kopf nicht und zog auch die Augenbrauen nicht in die Höhe. Es muß hier noch einmal betont werden, daß MacLyle, abgesehen von seiner Absonderlichkeit, ein freundlicher und leicht verträglicher Typ war. Er mochte die Menschen gern, lud sie ein und besuchte sie; und er war auch einer jener Erwachsenen, die den endlosen Abenteuergeschichten von kleinen Kindern wirklich zuhörten und sie ernst nahmen. Dinge wie Undichten im Reservereifen, Antifrostmittel oder Gedenktage vergaß er nie, und die Winterfenster brachte er stets rechtzeitig an, aber er brüstete sich nie mit seiner Verläßlichkeit, die erste Begebenheit in seinem Leben, die er nicht als selbstverständlich hinnahm, war die Sache mit den Nachrichten, die so klein begonnen hatte und so schnell zu etwas ungeheuer Großem angewachsen war.

Und deshalb packte seine Frau ein paar Wochen nach Beginn den Stier bei den Hörnern und verbrachte einen ganzen Nachmittag damit, jeden einzelnen Empfänger im ganzen Haus lahmzulegen. Das waren drei Radiogeräte und zwei Fernsehapparate. Sie kannte sich mit diesen Dingen nicht aus, aber sie hatte einen Sinn fürs Praktische und arbeitete mit großer Entschlußkraft und dem Büchsenöffner eines Taschenmessers. Sie entfernte aus jedem Gerät eine Röhre, trug sie einzeln, um sie nicht durcheinander zu bringen, in die Küche und schlug ihre Sockel mit peinlicher Genauigkeit gegen das Abwaschbecken. Sie ging sehr vorsichtig zu Werk, um kein Glas zu zerbrechen oder Drähte zu verbiegen, und wenn sie sah, daß die inneren Teile der Röhren lose durcheinanderrollten, setzte sie sie wieder in das betreffende Gerät ein und schraubte den Rückendeckel fest.

MacLyle kam nach Hause, stellte den Wagen in die Garage, gab ihr einen Begrüßungskuß und drehte im Wohnzimmer das Radio an, dann hängte er Hut und Mantel auf. Zu der Zeit hätte das Gerät bereits warmgelaufen sein sollen, aber dem war nicht so. Er drehte ein bißchen an den Knöpfen, klopfte daran herum, schob es hin und her, brummte vor sich hin und blickte dann auf die Uhr. Er wurde wütend, raste in die Küche und schaltete das kleine elfenbeinfarbene Radio auf dem Regal ein. Es erwärmte sich schnell und ließ ein fröhliches Summen hören – das war aber auch alles. Da verlor er die Haltung; er schrie gellend durchs Haus, daß keins der Rundfunkgeräte in Ordnung sei, als ob das nicht schon jedem klargeworden wäre; dann stürzte er die Treppe hinauf in das Kinderzimmer und weckte die Jungen mit seinem Lärm. Auch hier drehte er das Radio an und erhielt wieder einen Summton, diesmal etwas krächzender, nachdem er den Kasten geschüttelt hatte, was er viermal tat, bevor der keinen Laut mehr von sich gab.

Bis zu diesem Punkt hatte Esther alles geplant, aber nicht weiter, was genau ihrer Denkweise entsprach. Sie hatte angenommen, daß sie mit der Situation fertig werden würde, und sie hatte sich getäuscht. Steif wie ein Stock kam MacLyle die Treppe herunter, und er blieb stumm, bis es um 7 Uhr 30 Zeit für die Nachrichten im Fernsehen war.

Das Gerät im Wohnzimmer gab keinen Muckser von sich, folglich jagte er hinauf zu den Kindern, die gerade wieder eingeschlafen waren; der Kleine fing an zu weinen. Aber MacLyle kümmerte sich nicht darum. Als er herausfand, daß auch dieses Gerät keinen Empfang gab, fing er fast zu weinen an. Aber dann hörte er einen Ton. Ein Fernsehgerät besitzt eine Menge Röhren, und Esther konnte die für das Bild und die für den Ton nicht voneinander unterscheiden. MacLyle ließ sich vor dem schwarzen Bildschirm nieder und lauschte den Nachrichten. »In dem von Kämpfen heimgesuchten Grenzgebiet Indiens scheint alles wohl unter Kontrolle zu sein«, meldete das Fernsehgerät. Laute Rufe, und im Hintergrund Beethovens »Türkischer Marsch«. »Und dann –« Musik. Das Lärmen von Menschenmengen: Rhabarber, Rhabarber – und ein Schrei. Ansager: »Sechs Stunden später sah es so aus …« Totenstille – sie hielt so lange an, daß MacLyle mit der flachen Hand auf den Kasten schlug. Dann, langsam und voll, Ketelbeys »In einem Klostergarten«. »Und hier ein etwas erfreulicheres Ereignis: Die sechs Endteilnehmer im Miss-Kontinuum-Wettbewerb.« Untermalende Musik, »Blue Room«, endlos, und nur einmal unterbrochen, als der Ansager mit einem albernen Kichern bemerkte: …und das meinte sie!« MacLyle schlug sich an die Stirn. Der kleine Junge schluchzte. Esther stand am Fußende der Treppe und rang die Hände. So ging es dreißig Minuten lang. Alles, was MacLyle sagte, als er wieder herunterkam, war, daß er die Zeitung zu lesen wünschte – er meinte die lokalen Nachrichten. Und so befand sich Esther dem großen Unbekannten gegenüber und gestand ihm frei heraus, daß sie sie nicht bestellt hatte und auch nie wieder bestellen würde, was natürlich zu einem vollen und rechtschaffenen Geständnis all ihrer nachmittäglichen Handlungen führte.

Nur eine Frau, die länger als vierzehn Jahre verheiratet war, kann einen Mann gut genug kennen, um ihn so schlecht zu behandeln. Sie war sich bewußt, daß sie nicht recht hatte, aber dieses Gefühl wurde von der Tatsache überschattet, daß sie logisch handelte. Es würde nicht logisch sein, ihre Geduld noch weiter fortzusetzen, deshalb mußte es mit ihr, der Geduld nämlich, ein Ende haben. »Wirf das, was dich verletzt, weit von dir, selbst wenn es dein Auge und deine rechte Hand ist.« Zu spät bemerkte sie, daß die Nachrichten so unentwirrbar zu ihrem Mann gehörten, daß sie durch ihre Entfernung auch ihn selbst von sich stieß. Und weg war er. Mit weißem Gesicht lauschte sie auf das Poltern des Garagentors, auf das Zuschlagen der Wagentür – es war ein gelungener Abgang, wie in einem Theaterstück. Es folgte das scharfe Orgeln des Anlassers, das Aufheulen des Motors. Sie sagte, daß sie froh sei, ging in die Küche zurück, stieß das nutzlose elfenbeinfarbene Radio vom Regal und zog sich schluchzend ins Bett zurück.

Und trotzdem – denn das Leben bietet nur wenige saubere Trennungen –, sah sie ihn noch einmal. Um sieben Minuten vor drei Uhr morgens vernahm sie von irgendwoher ganz schwach Musik; seltsamerweise hatte sie Angst, und sie schlich auf Zehenspitzen durchs Haus, um die Ursache herauszufinden. Aber es kam nicht aus dem Inneren des Hauses, deshalb streifte sie sich MacLyles Trenchcoat über und schlich die Stufen zur Garage hinunter. Und dort, direkt vor der Einfahrt, wo der Empfang noch ungestört war, stand der Wagen, und hinter dem Lenkrad hockte MacLyle und döste. Die Musik kam aus dem Autoradio. Sie zog den Mantel fester um sich, öffnete die Wagentür und rief seinen Namen. Gerade in diesem Augenblick ertönte es aus dem Radio: »…es folgen die Nachrichten.« MacLyle richtete sich kerzengerade auf und zischte wie wild. »Seht, seht!« Sie zuckte zurück und stand einen Moment mit einer seltsamen Gefühlsmischung von Sieg und Niederlage da. Dann zog er die Tür zu und beugte sich vor – eine Hand am Radioknopf –, und sie ging zurück ins Haus.

Nachdem der Nachrichtendienst vorbei war und er sich von den Stichwunden eines jugendlichen Verbrechers, von den entsetzlichen Folgen eines entgleisten Zuges, den Schrecken vor dem bevorstehenden Absturz einer C-119, der Faszination eines Kabinettmitglieds, Ehrenmitglied des »Wir-trauen-niemandem«-Clubs, der in diesen selben Worten ausdrückte, daß auch im Schlimmsten von uns etwas Gutes steckt und ein ganz klein wenig Gutes in den Schlimmsten von uns, – nachdem er sich also von all dem wieder erholt hatte, ließ er den Wagen an, weil die Batterie fast leer war, und fuhr so langsam wie möglich in die Stadt.

In einer Nachtgarage ließ er den Wagen waschen und das Öl wechseln und setzte sich dann in ein Automatenrestaurant, in dem er drei Stunden lang mehrere Tassen Kaffee trank, das Kinn in die Hände stützte, bis ihm die Zähne weh taten, und ab und zu ganz hinten in der Kehle einige Laute hervorstieß. Um neun Uhr erhob er sich und verbrachte den ganzen Tag bei seinem erstaunten Rechtsanwalt, mit dem er alle seine Vermögenswerte durchging, verkaufte, konvertierte, etablierte, bis er zum Schluß ein bescheidenes Paket Bargeld hatte. Seine Frau würde ein angemessenes Einkommen haben, bis die Kinder zum College gingen. Dann würde das Haus verkauft werden, die Mieter des älteren Hauses ausgewiesen sein, und Esther konnte, wenn sie wollte, in das kleinere Haus ziehen, und der Verkaufspreis des größeren würde dem Grundkapital hinzugefügt werden. Der Rechtsanwalt hätte sich um MacLyle Sorgen machen können, aber der war die ganze Zeit über jovial und redefreudig und benahm sich wie ein glücklicher Mensch eine seltene Art von Wahnsinn, aber ungefährlich. Es war ein hartes Stück Arbeit, aber sie bewältigten sie in einem Tag, nach dem MacLyle die Hand des Rechtsanwalts drückte, ihm herzlich dankte und sich in einem Hotel einquartierte.

Als er am nächsten Morgen aufwachte und aus dem Bett sprang, fühlte er sich um Jahre jünger. Er öffnete die Tür, hob die Morgenzeitung auf und starrte auf die Schlagzeilen.

Er konnte sie nicht lesen.

Er stieß einen Laut der Verwunderung aus, schloß sorgfältig die Tür und setzte sich mit dem Papier auf dem Schoß ins Bett. Seine Finger fuhren glättend darüber hinweg, bis seine Handballen schwarz und die Schrift verwischt war. Die schreienden Zeichen marschierten wie eine Kolonne Fremder in einer unerkennbaren Uniform über die Seite, und man konnte nur ahnen, was sie sagten. Er zog die Buchstaben mit dem kleinen Finger nach, maß mit Zeigefinger und Daumen die Länge eines Wortes und hob das Blatt dicht vor seine erstaunten Augen. Abrupt stand er auf und ging zum Tisch, auf dem Zeichen, Plakate und gedruckte Anzeigen wie eine Schmetterlingssammlung lagen – die Frühstückskarte, irgend etwas über die Zimmerbedienung, etwas über die Abreise. Er erinnerte sich an alles und wußte, was es bedeutete – aber er konnte es nicht lesen. In der Schublade lagen Schreibutensilien, ein Bild des Gebäudes ohne andere Häuser ringsherum, was in Wahrheit ganz und gar nicht zutraf, und ein Anmeldezettel, der auf ihn wie ein Blatt mit cyrillischen Schriftzeichen wirkte. Telegrammformulare, ein Busfahrplan, ein Löscher, alle trugen Hieroglyphen und Runen, jedenfalls soweit er das erkennen konnte. Ein Telephonbuch voller fremder Namen in unbekannten Zeichen.

Er zwang sich dazu, das Alphabet vor sich hinzusagen. »A«, begann er deutlich, und dann »Eh?«, denn es schien nicht ganz richtig, aber er hätte auch nicht sagen können, was sonst hätte kommen können. Er grinste verlegen vor sich hin und schüttelte den Kopf, zuerst langsam, dann immer schneller; aber trotz Grinsen und Kopfschütteln war ihm unheimlich zumute. Er fühlte sich zufrieden oder erleichtert – auf jeden Fall sogar ziemlich glücklich, aber außerdem war es ihm auch ein bißchen unheimlich.

Er rief den Empfang an und forderte sie auf, ihm die Rechnung auszuschreiben, dann zog er sich an und ging hinunter. Er gab dem Portier seinen Parkschein und wartete, bis er seinen Wagen vorfuhr. Er stieg ein, drehte das Radio an und verließ die Stadt in Richtung Westen.

Er fuhr ein paar Tage lang, immer in diesem seltsamen Stadium von anhaltender, kalter und (trotz allem) glücklicher Furcht, dieser Horrorfilm-Furcht – er kannte die Bedeutung eines Halt-Zeichens, ohne das Wort »Halt« darin wirklich lesen zu können, so auch die Warnschilder vor einem Bahnübergang. Gaststätten sehen wie Gaststatten aus und Tankstellen wie Tankstellen; wenn Washingtons Bild ein Dollar bedeutet und Lincolns fünf, braucht man nicht lesen zu können. MacLyle kam gut voran. Er fuhr so lange, bis er sich in jenen Landstrichen befand, in denen mächtige Gebirgsketten aufragen, dort kreuzte er so lange, bis er die Gegend wiedererkannte, wo er einmal, viele Jahre vor seiner Heirat, einen Jagdurlaub verbracht hatte. Er ließ die Hütte, in der er gewohnt hatte, hinter sich und suchte geduldig die verlassene Kate, in der er einmal in einer Gewitternacht Unterschlupf gefunden hatte. Sie stand noch, wenn sie auch ziemlich gebrechlich wirkte. Lange untersuchte er sie von allen Seiten, prägte sich jede Einzelheit ein, denn er konnte ja keine Liste aufstellen; dann setzte er sich wieder in den Wagen und fuhr in die nächste Stadt, nicht sehr nahe und erst recht nicht groß. In dem Kaufhaus kaufte er Nägel, Schrauben, Kieselsand, Farbe – alle möglichen Arten Farbe, in kleinen Dosen, wie auch in großen Eimern zum Anmalen der Hauswände – Konserven mit Fleisch, Gemüse, Obst und Werkzeug. Er bestellte eine kleine Windmühle und einen Generator, achtzig Pfund Ton zum Modellieren, zwei Pfannen, eine Mischschüssel und aus Armee-Restbeständen eine Urwald-Hängematte. Er bezahlte in bar und versprach, in zwei Wochen diejenigen Dinge abzuholen, die der Laden nicht auf Lager hatte und erst bestellen mußte. Er telegraphierte (denn das konnte übers Telephon geschehen) seinem Rechtsanwalt um die achtzig Dollar im Monat, denn mehr hatte er für seinen Lebensunterhalt nicht vorgesehen. Bevor er ging, stand er noch eine Weile vor einem monströsen Musikinstrument mit dem stolzen Namen Ophikleid, das verstaubt und majestätisch in einer Ecke des Ladens thronte. (Obgleich es für den Leser einfacher wäre, es ein Französisches Horn oder ein Sousaphon zu nennen – das würde den erzählenden Zwecken auch genüge tun –, so hatten wir uns doch darauf geeinigt, hier nicht die reine Wahrheit zu erzählen. MacLyles wirklicher Name ist nicht bekanntgegeben, seine Heimatstadt nicht klar bezeichnet, sein Beruf nicht festgelegt, und verdammt, es war wirklich ein zwölfschlüsseliges, etwa ein Meter großes, altmodisches Blech-Ophikleid aus dem Jahre 1824. Der Ladeninhaber erzählte mir, wie sein Urgroßvater es aus seiner alten Heimat mit herübergebracht hatte. Seit zwei Generationen hatte niemand mehr darauf gespielt, außer einmal einem reisenden Tuba-Spieler, der nach den ersten drei Tönen ganz grün im Gesicht geworden war und es weggelegt hatte, als wäre es mit Zündhütchen vollgespickt.) MacLyle fragte, wie es klänge, und der Mann antwortete: »Schrecklich.« Zwei Wochen danach war MacLyle zurück, um die restlichen Dinge abzuholen; er nickte, lächelte und sprach kein einziges Wort. Noch mehr, er konnte die Worte anderer auch nicht mehr verstehen. Er hatte für die Einkäufe mit einer Hundert-Dollar-Note und einem versonnenen Gesichtsausdruck bezahlt, dann mit einer weiteren Hundert-Dollar-Note, und der Ladeninhaber, der glaubte, daß er taub und stumm sei, haute ihn ganz schön übers Ohr, gleichzeitig aber tat MacLyle ihm leid, so daß er ihm das Ophikleid dazugab. Zufrieden lud MacLyle seinen Wagen voll und fuhr ab. Und das ist der erste Teil der Geschichte über MacLyles schlechte Verfassung.

 

MacLyles Frau Esther fand sich in einer sonderbaren Lage. Freunde und Nachbarn stellten ihr Fragen, auf die sie keine Antwort wußte, und die einzige Person, die überhaupt irgendwelche Informationen hätte geben können – MacLyles Anwalt – unterlag dem Amtsgeheimnis und durfte ihr nichts sagen. Im rechtlichen Sinn war sie nicht verlassen worden, da für sie und die Kinder gesorgt war. Sie vermißte MacLyle, aber auf eine ganz besondere Weise; sie vermißte den alten verläßlichen MacLyle, und der hatte sie in Wirklichkeit schon lange vor jener verwirrenden Nacht, als er weggefahren war, verlassen. Sie wünschte sich den alten MacLyle zurück, nicht diesen Fremden mit der intensiven Vorliebe fürs Nachrichtenhören. Von den vielen unerfreulichen Eigenschaften dieses Fremden stach eine besonders stark hervor, und das war, daß er die Art Mann war, die einfach davonlief, so wie er es getan hatte, und so lange wegblieb, wie er es tat. Folglich war er so lange diese wenig begehrenswerte Person, so lange er nicht von selbst zurückkehrte, und wenn man ihn verfolgte und gegen seinen Willen zurückholte, würde ihr das nur einen Menschen einbringen, den sie nicht vermißte.

Trotzdem war sie mit sich nicht zufrieden, denn schließlich war sie der betroffene Teil, und doch waren das Wunden, die weniger schmerzten als das schlechte Gewissen: Sie war immer stolz darauf gewesen, eine gute Ehefrau zu sein, und sie hatte viele Dinge verrichtet, nur weil sie ihrer Meinung nach zu einer guten Ehefrau gehörten. Im Laufe der Zeit also kam sie von der Frage »Was soll ich machen?« ab und beschäftigte sich mehr mit »Was sollte eine gute Ehefrau tun?« Und nachdem sie gründlich über alles nachgedacht hatte, suchte sie einen Psychiater auf.

Er war ein leidlich intelligenter Psychiater, das bedeutet, daß er das Offensichtliche ein bißchen schneller erkannte als die meisten Menschen. Beispielsweise wurde ihm bereits nach vier Minuten Unterhaltung klar, daß MacLyles Frau Esther nicht ihretwegen zu ihm gekommen war, und er entschied sich, sie zu Ende erzählen zu lassen, bevor er den Entschluß faßte, sie zu behandeln. Nachdem sie alles berichtet und er genügend aufschlußreiche Details ausgegraben hatte, um sich ein Bild zu machen, verfiel er in tiefes Schweigen und dachte nach. Er fügte das grobe Modell von MacLyles Fall in seine Studien und Erfahrungen ein, erkannte die Herausforderung, den klinischen Wert des Falles, errechnete den ungefähren Preis des Diamantenanhängers seiner Besucherin. Er legte die Fingerspitzen aneinander, senkte den feingeschnittenen jungen Kopf, starrte unter den buschigen Augenbrauen hervor MacLyles Frau Esther an und nahm den Fehdehandschuh auf. In der Hoffnung, ihren Mann sicher und gesund wiederzubekommen, dankte sie ihm und verließ das Büro mit gemischten Gefühlen. Der leidlich intelligente Psychiater holte tief Luft und begann mit einem anderen seines Fachs Abmachungen zu treffen: Der sollte eine Zeitlang seine Patienten übernehmen, denn er würde wohl für längere Zeit abwesend sein.

Es fiel ihm erschreckend leicht, die Spuren MacLyles zu verfolgen. Aus dem Anwalt bekam er allerdings nichts heraus. So verließ er sich auf den modus operandi, der die solide Grundlage aller Detektive und Büros für vermißte Personen ist, eine Erkenntnis der angewandten Psychologie, die aussagt, daß ein Mann seinen Namen und seine Adresse ändern kann, aber daß er selten die Dinge, die er tut, vor allem die Dinge, die er gern tut, ändert oder ändern kann. Einer, der begeistert Ski läuft, begibt sich nicht nach Florida, obgleich er vielleicht Banff statt des belebten Mount Tremblant akzeptiert. Ein Philatelist sammelt bestimmt keine Schmetterlinge. Als der Psychiater also zwischen MacLyles Papieren und Akten einige Schnappschüsse und Broschüren der Rockies fand, die aus seinen Studienjahren stammten, Bilder von Bärenfütterungen neben der Hauptstraße und immer wiederkehrende Andenken eines Gebietes, in das er seine Frau nie mitgenommen hatte, da war es ihm eine Erkundigung bei der betreffenden Polizeistelle wert; er fragte an, ob ein Mann von der und der Beschreibung, der so und so einen Wagen fuhr, dort gesehen worden war, er fügte aber die Bitte hinzu, daß dieser Mann weder aufmerksam gemacht noch gewarnt werden sollte, sondern daß man ihn, den leidlich intelligenten Psychiater, davon unterrichten möge. Er warf auch noch andere Angelhaken aus, aber gerade dieser fing den Fisch. Es dauerte wenige Wochen, bis ein Patrouillenwagen der Polizei in dem von MacLyle bevorzugten Warenhaus anfragte. Danach dauerte es nur Minuten, bis die Nachricht den Psychiater erreichte. Er sagte nichts zu MacLyles Frau Esther, außer auf Wiedersehen und daß seine Rechnung nun fällig sei; und dann machte er sich auf den Weg, nicht ohne einen ganzen Sack voll Tricks mitzunehmen. Er mietete sich am Flughafen, der MacLyles Versteck am nächsten lag, ein Auto und fuhr einen langen, ansteigenden Weg, bis er zu dem Warenhaus kam.

Dort interviewte er den Inhaber, wobei er etwa achtzehnhundertmal erfuhr, wie schlecht das Geschäft ginge, wie heiß es sei, wie wenig es geregnet hätte und wieviel es regnen müßte, die Tragödie, daß man die Kaufleute dafür verantwortlich machte, wie teuer die Dinge heutzutage wären, wo doch jeder einigermaßen logisch denkende Mensch wissen müßte, wieviel es kostet, alles bis hierher zu transportieren, besonders wenn die Mengen so klein waren, was wiederum die ungünstige Geschäftsbasis zeigte, und überhaupt; und dazwischen und darin verflochten erfuhr er acht oder zehn Punkte über MacLyle – die genaue Lage seiner kleinen Hütte, die Tatsache, daß er sich in einen Taubstummen verwandelt hatte, der auch nicht lesen konnte, und daß er verrückt sein mußte, denn welcher normale Mensch würde sich schon vierundachtzig Halbliterdosen Farbe bestellen oder sich freiwillig hier draußen niederlassen, wenn er es nicht unbedingt mußte?

Nach einer Weile riß sich der Psychiater vom Ladenbesitzer los und fuhr los. Die Straße stieg immer weiter an, die Landschaft wurde mit jeder Meile staubiger und verlassener, und er betete inbrünstig, daß nichts mit dem Wagen passieren würde, doch wie zu erwarten war, geschah das dann zehn Minuten später. Jedes Auto, das Töne solcher Art von sich gab, war reif für den Schrotthändler. Er fuhr an den Straßenrand, um der Sache nachzugehen. Er schaltete den Motor ab, aber das Geräusch verstummte nicht, und da wurde ihm bewußt, daß der Lärm nicht aus dem Auto kam, sondern von weiter oben aus den Bergen. Er mußte noch eineinhalb Meilen bergauf fahren, und er legte sie mit steigender Verwunderung zurück, denn das Geräusch wurde lauter und lauter und immer eigenartiger. Es klang wie eine Art Musik, aber wie eine Musik, die man weder auf diesem noch auf irgendeinem anderen Planeten je produziert hatte. Es war eine Solostimme – blechern und sehr kräftig. Die oberen Töne, von denen es ungefähr zwei Oktaven zu geben schien, waren wild und unharmonisch, die mittleren klangen rauh, aber die tieferen waren wie die Stimme dieser Berge, naturhaft, erdverbunden wie Bärentatzen. Und doch waren alle Töne vollkommen – die Intervalle waren harmonisch; dieses gräßliche Geräusch war wie eine elektronische Orgel gestimmt. Der Psychiater hatte gute Ohren – obgleich er sich in diesem Augenblick fragte, wie lange er überhaupt noch welche haben würde –, und er erkannte alle diese Töne, die eins der primitiveren Geschicklichkeitsstudien von Czerny, Buch eins, wiedergaben, das dröhnende kleine Stückchen, das etwa wie: do mi fa sol la sol fa mi, re fa sol la ti la sol fa, mi sol la … und so weiter geht.

Plötzlich befand er sich in dem mit Gras überwucherten Garten einer hergerichteten Köhlerhütte, aber das bemerkte er nicht gleich, denn davor saß, was er für den verrücktest aussehenden Mann hielt (denn er war ein wenig aus dem Kontakt mit seinem Beruf), der ihm je unter die Augen gekommen war.

Er saß unter einer ausgedörrten, vom Wind verzogenen Engelmann-Tanne. Bis zu den Achselhöhlen war er barfuß. Darüber trug er die obere Hälfte eines Arbeitshemdes und einen jener kegelförmigen Hüte, wie ihn die Pfadfinder tragen, wenn sie auf Kriegspfaden wandeln. Und er spielte, oder übte jedenfalls, das Ophikleid; auf seinen Schultern hatten sich kleine Berge von Tannennadeln angesammelt, von denen jedesmal ein Schauer herabfiel, wenn er einen besonders tiefen Ton traf. Nur eine Maus, die während einer Probe in einer Tuba gefangen ist, kann in etwa ermessen, wie es ist, wenn man neben einem gespielten Ophikleid steht.

Es war tatsächlich MacLyle, der wohlgenährt und zufrieden schien. Er sah das Auto des Psychiaters herankommen, aber er spielte unbeirrt weiter; er blickte ihn nur kurz an, blinzelte eine Art Gruß mit den Augen, lächelte mit dem linken Mundwinkel, der neben dem gewaltigen Mundstück noch hervorschaute, und verrenkte drei Finger seiner rechten Hand, die einzige Bewegung, die er fertigbrachte, ohne das Spiel zu unterbrechen. Und er hörte auch nicht auf, bis er die spezielle Oktave, die er gerade bearbeitete, einmal hoch und wieder hinunter gespielt hatte. Dann ließ er das Ophikleid sinken, lehnte es behutsam gegen die Tanne und stand auf. Nachdem der letzte dieser erstaunlichen Töne in der Tiefe des Tales verklungen war, wurde sich der Psychiater der großen Einsamkeit ringsherum bewußt, dem völligen Alleinsein mit seinem närrischen Patienten, der offensichtlichen Lebenskraft des Mannes, des Abgrundes, in den er soeben fast seinen Wagen gelenkt hätte. Er rollte das Fenster hoch und drückte den Sicherheitsknopf der Tür. Aber der herzliche Willkommensgruß MacLyles verscheuchte jede Furcht und Vorsicht, und ehe er sich darüber klarwurde, was er tat, hatte er die Tür geöffnet und war hinausgesprungen. Fröhlich ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, dachte er, aber er ist wohl doch ein fröhlicher Mensch. Er rief ihn beim Namen, aber entweder hörte MacLyle ihn nicht oder er kümmerte sich nicht darum; er streckte eine große warme Hand aus, und der Psychiater ergriff sie. Er konnte die dicken Schwielen darin fühlen, und sie erinnerten ihn an den Rüssel eines Elefanten, der ein Kind aufhebt. Er mußte bei diesem Gedanken lachen, denn schließlich war MacLyle kein besonders großer Mann – trotzdem aber strahlte er diese geballte Energie aus. Und als sich das Lächeln einmal breitgemacht hatte, wollte es nicht mehr weichen.

Er erzählte MacLyle, er sei ein Schriftsteller und versuche etwas von diesem großartigen Land in sich aufzunehmen. Er sei einfach immer die Straße entlanggefahren, ohne sich darum zu kümmern, wo sie hinführte, und so sei er zuletzt hier angekommen; aber noch bevor er fertig war mit seinen Erklärungen, machten ihn MacLyles Augen stutzig – sie blickten ihn nicht so an, als höre der Mann ihm zu. Er hätte genausogut eine Melodie vor sich hinsummen können. MacLyle schien gewillt, den Tönen zu lauschen und sich an ihnen sogar zu erfreuen, aber das war auch alles, mehr bedeutete es nicht für ihn. Trotzdem sprach der Psychiater zu Ende; MacLyle wartete einen Moment, um zu sehen, ob noch etwas dazukäme. Dann setzte er wieder dieses strahlende Lächeln auf und deutete mit dem Kopf zur Hütte. Er ging voran, während sein Besucher einige der üblichen Bemerkungen über die Schönheit des Heims vorbrachte. Beim Eintreten brüllte er: »Können Sie mich nicht hören?« Aber MacLyle winkte ihm nur zu, ohne sich umzudrehen.

Sie befanden sich in einem wilden Durcheinander von Farben – da blieb der Psychiater plötzlich stehen. Eine Wand war entfernt und durch Glasscheiben ersetzt worden: man blickte in den Abgrund und hatte den Eindruck, das kleine Haus stehe auf einer Nebelwolke. Alle andern Wände waren mit Batist-Steppdecken behängt, der Fußboden war weiß, und hier drinnen schien es überhaupt heller zu sein als draußen. Gegenüber dem großen Fenster stand eine überdimensionale Staffelei aus geschälten Ästen, die mit Drähten zusammengebunden waren. Darauf war eine riesige Leinwand gespannt, mit den reinsten und kompromißlosesten Farben bemalt. Ein Teil stellte ganz zweifellos diesen Raum dar, oder wenigstens seine Atmosphäre. Auf dem Bild war auch das Ophikleid sorgfältig wiedergegeben, es sah aus wie der Trichter einer gigantischen Höllenmaschine – und im Vordergrund gab es Blumen; aber die Zentralfigur stieß ihn ab, mehr noch, sie stieß alles sie Umgebende ab. Sie erinnerte an nichts Bekanntes oder Vertrautes, und darüber war er fast froh.

Um die Staffelei herum lagen noch weitere Gemälde, einige waren nichts als Farbkleckse, andere wieder waren voller regelmäßiger Linien und sich überschneidender Flächen, aber alle waren sie von dieser schmerzhaft reinen Farbe. Er wußte jetzt, was mit den Dutzenden von Malerfarben, die den Ladeninhaber so erstaunt hatten, geschehen war.

Vereinzelt standen im Raum auch Tonskulpturen, die meisten thronten auf Sockeln, die aus Baumstämmen zurechtgesägt waren. Manche der Sockel waren abgeschält, andere angemalt, bei anderen wieder waren die Struktur der Borke oder die Verdickungen oder Risse im Holz im Modell selbst fortgesetzt worden, bei manchen war Ton bis zum Boden in die Borke geritzt oder gepreßt worden. Manchmal war der Ton mit Farbe bestrichen. Es gab abstrakte und groteske Formen, eine beuteltierähnliche Frau und eine Gitarre mit Beinen, und manche, aber nicht sehr viele Darstellungen waren derart, daß sie selbst einen leidlich intelligenten Psychiater beschäftigten. Nirgends standen irgendwelche Möbelstücke. Es gab Regale – in allen Höhen, auf den verschiedensten Ebenen und von unterschiedlichen Längen –, auf denen sich Nägeldosen, Stoffballen, Konservenbüchsen, Werkzeug und Küchengeräte stapelten. Auch eine Art Tisch war vorhanden, aber es war mehr eine Arbeitsbank, mit einem Schraubstock an der einen und einer halbfertigen groben, aber außerordentlich raffiniert gebauten Töpferscheibe mit Fußantrieb an der anderen Seite.

Er fragte MacLyle, wo er schliefe, und wieder benahm sich MacLyle, als wären die Worte nichts als angenehme Töne; er neigte den Kopf und wartete, ob noch mehr davon kämen. Deshalb ging der Psychiater zur Zeichensprache über, mit den Händen formte er etwas wie ein Kissen und legte den Kopf darauf, wobei er die Augen schloß. MacLyle nickte eifrig und ging zu der weißbespannten Wand. Hinter dem Tuch kam eine Hängematte zum Vorschein, deren eines Ende an der Wand befestigt war. Das andere Ende zog er zu dem großen Fenster und hängte es über einen Haken, der dort an einer Leiste zwischen dem Glas befestigt war. In dieser Hängematte zu liegen, war, als schwebe man zwischen Himmel und Erde wie in Mahomets Grab, umgeben von Landschaft und Wolken. Aber seine Bewunderung für diese Einrichtung ließ nach, als MacLyle ihm aufgeregte Zeichen machte, sich in die Hängematte zu legen. Vorsichtig zog er sich zurück und versuchte MacLyle verständlich zu machen, daß es ihn nur interessiert hätte: nein, nein, er war nicht müde, verdammt noch mal! Aber MacLyle war so darauf versessen, daß er den Psychiater wie ein kleines Kind vor dem Schlafengehen aufhob und ihn zu der Hängematte trug. Jeder Impuls, sich ihm zu widersetzen, wurde durch die Beschaffenheit dieser und aller Hängematten unterbunden, die sich strampelnden Personen gegenüber nicht sehr vorteilhaft zeigen, und auch durch die Nähe des großen Fenster, das, wie er erst jetzt bemerkte, nach außen zu aufging, so daß man von der Hängematte aus direkt nach draußen, und zwar mindestens 150 Meter tief, sehen konnte. Also dann, ergab er sich, wenn du’s so willst, bin ich eben müde.

Zwei Stunden lang lag er in der Hängematte, beobachtete MacLyle, der sich an allen möglichen Dingen im Raum zu schaffen machte, und hing mehr oder weniger beruflichen Gedanken nach.

Er spricht oder kann nicht sprechen (diagnostizierte er): Aphasie, Motorik. Er versteht oder kann keine gesprochenen Worte verstehen: Aphasie, Sinnesvermögen. Er will oder kann nicht lesen und schreiben: Alexie. Und was noch?

Er blickte auf all die Kunst – wenn es Kunst war, und alles, was Kunst war, war es durch Zufall – und die anderen Arbeiten: die Windmühle draußen, und die Schiebetür. Sein Blick folgte dem Verlauf einer Wäscheleine, die vom Pfahl, an dem seine Hängematte befestigt war, herunterbaumelte, blieb an den Rollen und Befestigungen hängen und verfolgte ihren Lauf an der Zimmerdecke entlang zur hinteren Wand. Nach längerer Betrachtung kam er darauf, daß sie, wenn man an ihr zog, zwei lange, schmale, horizontale Luken öffnete, die zur Lüftung dienten. Eine schmale Tür hinter dem Wandbehang führte zu etwas, was er als eine Art Toilette bezeichnete; sie hing über dem Abgrund und war die vollkommenste Lösung für derartige Zwecke, die er je gesehen hatte.

Er beobachtete MacLyles Kramen. Anders konnte man es nicht nennen, und er kramte vorzüglich und im wahrsten Sinne des Wortes. Er hob ein Ding auf, schob es beiseite, legte es nieder, trat zurück, um es prüfend zu betrachten, trat vor, um einen letzten verbessernden Handgriff vorzunehmen. Eine sichtbare Wirkung war nicht festzustellen – und doch konnte man nicht einfach sagen, daß das alles gar keinen Sinn hatte, denn es gab diesem Mann offensichtlich eine tiefe Befriedigung. Minutenlang stand er mit vorgebeugtem Kopf und einem kleinen Lächeln da und betrachtete die halbfertige Töpferscheibe; dann wieder explodierte er zu konzentrierter Aktivität – er sägte, hobelte, drillte. Er legte das fertige Stück zu den anderen Kurbeln und Achsen, streichelte es wie ein gehorsames Kind und wandte sich ab, um den Rest der Arbeit für ein anderes Mal aufzuheben. Mit einer Holzraspel entfernte er vorsichtig die Nase von einer seiner getrockneten Tonfiguren und legte mit peinlicher Genauigkeit eine neue auf. Aber nie verließ ihn diese Konzentration auf seine Arbeiten, und er zeigte eine völlige Hingabe an die Dinge. Und hier gab es viel Zeit, Zeit für alles ohne Ende.

Dieser Mann lebt in einer Zurückgezogenheit, dachte der leidlich intelligente Psychiater, wie sie meine Wissenschaft noch nicht beschrieben hat. Zur Beachtung: Er hat sich dem Primitiven entgegengesetzt, indem er seine Bedürfnisse mit seinen eigenen Händen und Erfindungen erfüllte, aber in diesen Bedürfnissen selbst liegt nichts Primitives. Unaufhörlich arbeitet er, um den Komfort, an den seine Geschichte ihn in der Vergangenheit gewöhnt hat, auch hier aufzustellen – elektrisches Licht, Ventilation, mühelose Müllabfuhr. In der Art, wie er sich selbst für seine Arbeit belohnt, legt er eine tiefe Bescheidenheit an den Tag: er baut sich offensichtlich eine Töpferscheibe, um sein Eßgeschirr selbst herstellen zu können, und da Holz billig ist und Ton hier frei ist, kommen ihn diese angefertigten Dinge billiger als mit Maschinen erzeugte Aluminium-Waren, wenn er seine eigene Arbeit sehr gering einkalkulierte.

Seine Geschicklichkeit ist nicht so groß wie seine Energie (grübelte der Psychiater). Seine Basteleien, wie auch seine Gemälde und Skulpturen, zeigen zwar eine gewisse Intelligenz, aber nur geringe Schulung; er kann bauen, aber nicht entwerfen, und seine Dinge gewinnen nur dann künstlerischen Wert, wenn er den Zufall nicht ausschließt; so daß das Schöpferische in seiner Arbeit, wie auch jeder Random-Effekt, selten und unbeabsichtigt auftritt. Deshalb liegt seine Belohnung allein in der Tätigkeit, die ihm Befriedigung gibt.

Was für eine Befriedigung? Nicht im Besitz selbst, denn dieser Mann hätte mit weniger Besseres kaufen können. Nicht in der Schönheit, denn offensichtlich war er mit weniger Vollkommenheit auch zufrieden. Vielleicht Freiheit von der Routine? Kaum – denn trotz der Unordnung lag in allem eine gewisse Ordnung und ein System; das Vorhandensein eines Weckers an diesem Ort drückte vieles aus. Er wurde nicht von der Ordnung beherrscht – er benutzte sie. Und seine Befriedigung? Die mußte in diesen engen, geschlossenen Kreis mit einbezogen sein, in dem er nur für sich selbst da war, und in dem es keine Kommunikation gab!

Zurückgezogenheit – Rückzug. Wer sich in die Wildnis zurückzieht, der baut sich keine Ventilationsanlage ins Haus oder eine Fünfhundert-Meter-Schwerkraft-Spülung für den Lokus. Wer sich in die Kindheit zurückzieht, der entwirft und baut keine Töpferscheibe. Und wer sich von den Menschen zurückzieht, der begrüßt einen Fremden nicht wie … Halt mal!

Ein Fremder, der etwas mitzuteilen hatte oder eine Art der Kommunikation darstellte, wäre vielleicht nicht so willkommen. Ein beunruhigender Gedanke. Das Risiko, etwas zu tun, das MacLyle nicht mochte, wäre möglicherweise noch gefährlicher als die direkte Herausforderung.

MacLyle begann zu kochen.

Wie er ihn so beobachtete, kam dem Psychiater plötzlich der Gedanke, daß dieses zurückgezogene und wortlose Wesen auf seine Weise glücklich war; er hatte all seine Verpflichtungen und Veranwortungen erfüllt und kümmerte sich nun um nichts mehr.

Es war unerträglich.

Es war deshalb unerträglich, weil es die grundlegendsten Direktiven der Psychiatrie verletzte – wenigstens die der Schule, an die er glaubte, und er würde sich nicht dadurch verwirren lassen, daß er andere mit berücksichtigte, andere weniger oft angewandte Theorien – Die Funktion der Psychiatrie ist es, den Andersgearteten der Gesellschaft anzupassen und ihr seine Nützlichkeit zu erhalten oder zu steigern! Nachzugeben, das Benehmen dieses Mannes zu rationalisieren, würde bedeuten, der Wissenschaft selbst in den Arm zu fallen; denn diese spezielle Psychiatrie sieht ihre wirksamsten Anwendungen in den wissenschaftlichen Methoden, und es lohnt sich nicht, darüber zu diskutieren, ob es nun eine Wissenschaft ist oder nicht. Für ihre Anhänger ist sie es, und das genügt; das muß so sein. Was als wahr erkannt worden ist, wenn auch nur auf statistischem Wege, muß die Wahrheit sein, und alle anderen Dinge, die nur möglich sind, haben in ihr nichts zu suchen. Keine bekannte Wahrheit gestattet einem Mitglied der Gesellschaft, sich auf diese Weise loszusagen, und auf gar keinen Fall würde dieser leidlich intelligente Psychiater diesem – diesem Selbstmord seinen Segen geben.

Deshalb mußte er ein Mittel finden, um mit MacLyle in Verbindung zu treten, und wenn er das gefunden hatte, mußte er ihm seine Fehler klarmachen. Ohne in den Abgrund gestürzt zu werden.

Plötzlich stellte er fest, daß MacLyle ihn anblickte und ihm mit den Augen zuzwinkerte. Automatisch lächelte er zurück und gehorchte MacLyles einladender Geste. Er stemmte sich aus der Hängematte und ging zum Arbeitstisch, auf dem ein Stew in einem irdenen Gefäß verheißungsvoll dampfte. Die Schalen standen auf großen Platten und waren von sorgfältig in Scheiben geschnittenen Tomaten umgeben. Er kostete sie. Sie schienen mit Essig gewürzt und waren mit einer dunkelgrünen Soße beträufelt, unter deren Zutaten sich auch frischer Knoblauch und Salz befanden. Sie war sehr schmackhaft.

Er folgte MacLyles Beispiel, der seine Schüssel aufnahm und nach draußen ging. Sie ließen sich unter der alten Tanne nieder, um dort ihr Essen zu verzehren. Die Stimmung war friedlich und ruhig, und der Psychiater hatte Gelegenheit, sich seinen Mann noch einmal genau anzuschauen und sein Vorgehen zu planen. Er war schon ganz sicher, es fehlte ihm nur noch die passende Gelegenheit. Als MacLyle aufstand, sich streckte, lächelte und ins Haus ging, ergab sie sich. Der Psychiater folgte ihm bis zur Tür und sah, wie er es sich in der Hängematte bequem machte und fast augenblicklich einschlief.

Er lief zu seinem Wagen und holte seinen Trickkoffer hervor. Spät am Nachmittag, als MacLyle räkelnd und gähnend von seinem Schlafchen aufstand, fand er seinen Besucher unter der alten Tanne, wo er das Ophikleid genauestens untersuchte, hier und da herumdrehte, verstellte und auch nicht den kleinsten Teil unberührt ließ. MacLyle nahm ihm das Instrument aus der Hand. Er lächelte nachsichtig und stellte es in die richtige Position, um dem andern zu zeigen, wie es funktionierte; dann fuhr er mit der Zunge an dem gewaltigen Mundstück entlang. Noch bevor er den ersten Ton zustande gebracht hatte, weiteten sich seine Pupillen, und er fiel um wie ein Sack. Es gelang dem Psychiater gerade noch, das Instrument wegzureißen, damit es MacLyle nicht die Vorderzähne einschlug.

Er lehnte es gegen den Baum und legte MacLyle lang hin. Dann fühlte er den Puls des Ohnmächtigen, drehte den Kopf so, daß der Speichel nicht an der Kehle entlangrann, und kramte wieder in seiner Tasche. MacLyle zuckte beim Einstich der Spritze nicht einmal mit der Wimper: Es war eine sorgfältige Mischung der nichteinschläfernden Beruhigungsmittel Frenquel, Chlorpromazin und Reserpin, dazu eine wohlabgewogene Dosis Scopolamin, ein Hypnotikum.

Der Psychiater holte Wasser und wischte mit einem Schwamm MacLyles Mund aus, um zu verhindern, daß er beim nächsten Schlucken noch einmal zusammenklappte. Dann blieb nichts zu tun, als zu warten und zu planen.

Genau nach Fahrplan, nach der Armbanduhr des Psychiaters also, stieß MacLyle einen Seufzer aus und hustete schwach. Sofort forderte ihn der Psychiater mit ruhiger Stimme auf, sich nicht zu bewegen. Und auch nicht zu denken. Er hielt sich außerhalb von MacLyles Blickfeld auf und erklärte ihm, daß er Vertrauen haben müsse; denn er sei hier, um ihm zu helfen, und er solle sich keine Sorgen machen. »Sie wissen nicht, wer Sie sind oder wie Sie hierher gekommen sind«, informierte er MacLyle. Er erzählte ihm auch, daß er siebenunddreißig Jahre alt sei, obgleich das nicht zutraf, denn er war schon über vierzig. Aber er wußte, warum er das tat.

MacLyle blieb gehorsam liegen, dachte über die Dinge nach und wartete weitere Informationen ab. Er wußte nicht, wer er war und wie er hierher gekommen war. Er wußte, daß er dieser Stimme Glauben schenken mußte, dessen Eigentümer hier war, um ihm zu helfen; daß er siebenunddreißig Jahre alt war; und er wußte seinen Namen. In diesen Fakten schwamm er herum. Die Drogen hielten ihn bei Bewußtsein, sanft, unterwürfig und arglos. Der Psychiater beobachtete und triumphierte: Oh, du wundervolles Azacyclonol, sang er in Gedanken, du schönes Piperidyl, freundliches Hydrochlorid, feines Serpasil … Zuversichtlich ließ er MacLyle allein und ging in die Hütte, wo er nach längerem Suchen ein paar anständige Kleidungsstücke aufstöberte, sie hinaustrug und den widerstandslosen Patienten darin einhüllte. Dann half er ihm über die Lichtung ins Auto, wobei er vor sich hinsummte, denn niemand kann je so glücklich sein wie ein Fachmann, der soeben eine gelungene Arbeit vollbracht hat. MacLyle sank in die Polster und warf noch einen verwunderten Blick auf die Hütte, auf das sich in der Sonne spiegelnde Ophikleid. Aber der Psychiater redete ihm mit ernster, ermahnender Stimme ein, daß diese Dinge nichts mit ihm zu tun hätten, absolut nichts, und MacLyle lächelte erleichtert und widmete sich aufmerksam der vorbeifliegenden Landschaft, passiv wie ein Pekinesenhündchen. Als sie am Warenhaus vorbeikamen, wurde er etwas unruhig, sagte aber nichts. Statt dessen fragte er den Psychiater, ob der Ardsmere-Bahnhof schon wieder geöffnet sei, worauf ihm der Psychiater mit einem befriedigten Schnurren antwortete: Der Bahnhof von Ardsmere, zwei Haltestellen vor MacLyles Vorstadtheim, sei vor fast sechs Jahren niedergebrannt und wieder aufgebaut worden; jetzt war er ganz sicher, daß MacLyle in einer Zeit lebte, die noch vor der seiner Schwierigkeiten lag – eine Zeit, in der MacLyle noch sprechen konnte. Er drückte seine Bewunderung für Chlorpromazin (das geholfen hatte, MacLyle zu beruhigen) in einem freudigen Summen aus, in das er auch seine ganze Hochachtung für Scopolamin legte, das den Patienten so außerordentlich gefügig gemacht hatte. Aber all das ließ er sich nicht anmerken, sondern antwortete MacLyle ernsthaft mit ja, Ardsmere sei neu eröffnet worden. Und ob er noch etwas wissen wolle?

MacLyle dachte sorgfältig nach – er wußte, daß er in den Händen dieses Mannes sicher war, wer immer er auch sein mochte; er wußte (dachte er) sein genaues Alter. Man erwartete von ihm, daß seine Gedanken wild durcheinander liefen; er unterstand einem Befehl, nicht zu denken – sanft schüttelte er den Kopf und machte sich wieder daran, die Straße vor ihnen zu beobachten.

»Steinschlaggefahr«, murmelte er, als sie an einem Schild mit dieser Bezeichnung vorbeikamen. Der Psychiater steuerte den Wagen wohlgelaunt aus den Bergen heraus, durch Ebenen und zurück zu der Stadt, wo er ihn sich geliehen hatte. Am Bahnhof ließ er ihn stehen (»Bahnübergang«, murmelte MacLyle) und reservierte für beide ein Zugabteil, ein Flugzeug war zu öffentlich für seine Zwecke, und außerdem viel zu schnell für seinen Stundenlohn, den er gerade dem Honorar hinzuzusetzen beschlossen hatte.

Vor der Abfahrt hatten sie noch Zeit zu einem ruhigen Essen, und dann waren sie endlich im Zug, mit festem Boden unter den Füßen und einem Bestimmungsort. Der Psychiater drehte außer einer Leselampe alles Licht im Abteil aus und lehnte sich vor. MacLyles Augen schienen sich dem schwachen Licht schnell anzupassen, und der Psychiater machte es sich bequem und fragte, wie er sich fühle. MacLyle fühlte sich wohl und sagte das auch. Der Psychiater fragte ihn, wie alt er sei, und MacLyle antwortete siebenunddreißig, aber er schien nicht ganz überzeugt davon.

Weil er wußte, daß die Wirkung des Scopolamin allmählich nachließ, die anderen Beruhigungsdrogen aber noch anhielten, holte der Psychiater tief Atem und deckte die Karten auf; er sagte MacLyle, wie alt er in Wirklichkeit war, und versetzte ihn in die Gegenwart. MacLyle sah ein paar Minuten sehr erstaunt drein, dann formte sich in seinen Zügen ein Ausdruck, der nicht als unglücklich bezeichnet werden konnte. »Rauchen verboten«, war alles, was er sagte, während er auf das Schild mit dem kleinen Metallzeichen starrte. Er wollte damit sagen, daß er wieder lesen könne.

Der Psychiater nickte ernst, gab aber keinen Kommentar von sich. Der Patient sollte erst alleine mit der Situation fertig werden!

Unvermittelt fragte MacLyle, warum er die Fähigkeit, zu sprechen und zu lesen, verloren hätte. Der Psychiater hob die Augenbraue und die Schulter ein wenig und setzte eines jener Lächeln auf, die so viel bedeuten wie »Wenn Sie’s nicht wissen, wer dann?« Dann stand er auf und schlug vor, daß sie sich jetzt schlafen legten. Er klingelte der Bedienung und ließ die Betten herrichten, und aus Gewohnheit bestellte er hinterher die Abendzeitungen. Nichts kann einen Kulturignoranten besser orientieren als die Abendzeitung. MacLyle beachtete sie in keiner Weise. Nachdenklich streifte er den zweiten Pyjama des Psychiaters über, und dann legten sie sich in die Betten.

Der Psychiater wußte nicht, ob MacLyle ihn geweckt oder ob ihn das Langsamwerden des Zugs gestört hatte, oder ob vielleicht beides zutraf. Auf jeden Fall wachte er gegen drei Uhr morgens auf. MacLyle stand neben seinem Bett und starrte auf ihn herab. Er schloß die Augen, kniff sie fest zusammen und öffnete sie wieder, aber MacLyle war noch immer da, und jetzt bemerkte er auch, daß die Leselampe über MacLyles Bett brannte und die Zeitungen über den ganzen Boden verstreut waren.

»Sie sind eine Art Doktor«, stellte MacLyle mit tonloser Stimme fest.

Der Psychiater gab es zu.

»Vielleicht sagt Ihnen das was«, sagte MacLyle. »Als ich noch zur Schule ging, war ich mal hier draußen zum Skilaufen. Ein Unglücksfall – ein Bursche, mit dem ich zusammen war, brach sich das Bein. Verband ihn. Machte es ihm so bequem wie möglich und ging Hilfe holen. Kamen zurück, und er war den Berg hinuntergerutscht, beim Herumwälzen, schätze ich. Gletscherspalte – unten; dauerte zwei Tage, ihn zu finden, drei, ihn rauszuholen. Frostbeulen. Brand.«

Der Psychiater versuchte sich den Anschein zu geben, als folge er der Geschichte.

MacLyle fuhr fort: »An eines erinnere ich mich immer wieder – wie er die ganze Zeit den Verband zurückschob und sein Bein ansah. Wußte, daß es hin war, konnte nicht anders, mußte immer beobachten, wie das Zeug sich nach allen Richtungen hin ausbreitete. Wollte es nicht, konnte aber nicht anders. Versuchte, ihn davon abzuhalten, mußte ihm schließlich helfen, sonst hätte er sich weh getan. Alle zehn, fünfzehn Minuten, den ganzen Weg runter bis zur Hütte, fünfzehn Stunden, immer unter den Verband gucken.«

Der Psychiater überlegte angestrengt, was er darauf sagen könnte, und als ihm nichts einfiel, blickte er einfach weise vor sich hin und wartete.

MacLyle sprach weiter: »Dieser Donne, dieser John Donne, den ich immer zitiert habe – ich habe immer daran geglaubt.«

Der Psychiater begann die Sache mit dem, den man nicht fragen sollte, für wen die Glocken … und so weiter, falsch zu deklamieren.

»Ja, das – aber vor allem ›der Tod eines jeden Menschen verringert mich, denn ich bin in der Menschheit mit inbegriffen‹. Daran habe ich geglaubt«, wiederholte MacLyle. »Und ich glaubte noch mehr als nur das. Nicht nur der Tod. Verdammte Narrheiten verringern mich, denn ich bin mitbetroffen. Leute, die andauernd die andern herumschubsen, das verringert mich. Daß alle bereit sind, schnell Geld zu machen, das verringert mich.« Er hob eine Seite der Zeitung auf und ließ sie wieder zu Boden flattern; wie eine große Motte schwebte sie hinunter. »Ich wurde zu Tode verringert, und ich mußte zusehen – wie damals der Junge mit dem Brand. Das ist der Grund.«

Der Zug, der jetzt nur noch sehr langsam dahinkroch, ruckte ein paarmal, dann stand er still. MacLyles Augen blickten zum Fenster, durch das man die Neonreklame für Bier und eine Verkehrsampel sehen konnte. Er lehnte sich dicht über den Psychiater. »Ich mußte mich einfach von der Menschheit losmachen, bevor ich mich völlig auflöste. Alles, was die Menschheit tat, war meine Schuld. Deshalb habe ich mich losgelöst, und hier stecke ich nun wieder mittendrin.« Plötzlich wandte er sich um und ging zur Tür. »Vielen Dank dafür!« Mit belegter Stimme fragte ihn der Psychiater, was er nun zu tun gedenke.

»Tun?« fragte MacLyle fröhlich. »Ich gehe dort hinaus und vermindere die Menschheit.« Bevor sich der Psychiater auch nur aufrichten konnte, war er bereits auf dem Gang und hatte die Tür hinter sich zugeschlagen. Er riß sie noch einmal auf und lehnte sich ins Abteil. In äußerst sachlichem Ton schloß er: »Und bedenken Sie, Doktor, das ist nur die Meinung eines einzelnen Mannes!« Dann war er verschwunden. Er tötete vier Leute, bevor man ihn faßte.