Charles Beaumont
Unsichtbar

 

 

Kurz nach fünf Uhr überfiel ihn das Gefühl zum erstenmal; jedenfalls einen Teil von ihm, in einer winzigen Ecke, tief im Unterbewußtsein – erst einige Zeit später ergriff es ihn voll und ganz. Genau um fünf Uhr läutete die Glocke. Zehn Minuten später begannen sich die Stühle zu leeren. Schubkästen schlugen zu, Papier knisterte, steife Glieder streckten sich, erleichtertes Gähnen und das Scharren von Füßen war zu vernehmen. Herr Minchell entspannte sich. Er rieb die Hände, lehnte sich bequem im Stuhl zurück und dachte daran, wie schön es wäre, jetzt aufzustehen und nach Hause zu gehen – wie die anderen. Aber da war noch der Rechnungsstreifen. Er mußte noch bleiben.

Er wünschte den Leuten, die an ihm vorbeieilten, einen guten Abend.

Als sie weg waren, glitten seine Finger wieder eilig über die Tasten. Das Klicken dröhnte laut durch die leeren Büroräume, aber Herr Minchell nahm es gar nicht wahr. Er war völlig in seine Arbeit vertieft.

Er zündete sich eine Zigarette an.

Erregt zog er den Rauch ein.

Er streckte die rechte Hand aus und legte den Zeigefinger auf die Taste mit der Aufschrift TOTAL.

Ein leises metallisches Einrasten ertönte, und dann war es totenstill.

Herr Minchell öffnete die Augen und zwang sie auf die Addiermaschine.

Er seufzte.

Die Gesamtsumme zeigte ihm an: 18037447.

»O Gott.« Er starrte auf die Zahl und dachte an die dreiundfünfzig Seiten lange Liste, die dreitausend verschiedenen Zahlenreihen, die nun noch einmal überprüft werden mußten. »O Gott.«

Der Tag war ein Verlust. Unwiederbringlich. Jetzt war es zu spät, noch irgend etwas zu tun. Madge würde mit dem Essen warten, und F. G. hielt nichts von Überstunden; auch –

Noch einmal blickte er auf die Summe. Auf die beiden letzten Ziffern. Er seufzte. Siebenundvierzig. Und erstaunt dachte er: Du lieber Himmel, ich habe ja heute Geburtstag! Heute bin ich vierzig – was? – siebenundvierzig geworden. Schätze, daß das den Fehler erklärt. Unterbewußtes Denken …

Langsam stand er auf und blickte sich in dem verlassenen Büro um.

Dann ging er zur Garderobe, zog den Mantel an und setzte den Hut auf.

»Fast fünfzig …«

Die Halle war dunkel. Langsam ging Herr Minchell zum Fahrstuhl und drückte den Knopf. »Siebenundvierzig«, sagte er laut. Dann leuchtete der Knopf rot auf, und mit einem krächzenden Geräusch glitt die schwere Tür zurück. Der Fahrstuhlführer, ein gertenschlankes Mädchen mit brauner Hautfarbe, wandte den Kopf und blickte nach allen Seiten des Korridors. »Abwärts«, sagte sie.

»Jawohl«, antwortete Herr Minchell und trat einen Schritt vor.

»Abwärts.« Das Mädchen schnalzte mit der Zunge. »Verdammte Gören«, murmelte sie. Sie gab der Gitterpforte einen leichten Stoß und drückte den Verschlußhebel hinunter.

Komisch, dachte Herr Minchell. Er wünschte, er hätte die Treppen benutzt. Zu zweit in einem Fahrstuhl zu fahren, hatte ihn schon immer nervös gemacht, und jetzt machte es ihn sehr, sehr nervös. Als die Anspannung unerträglich zu werden schien, sagte er: »Langer Tag heute.«

Das Mädchen schwieg. Ihr Blick drückte Unzufriedenheit aus, und ganz tief in ihrer Kehle schien sie eine Melodie zu summen.

Herr Minchell schloß die Augen. In weniger als einer Minute – während der er davon geträumt hatte, wie das Kabel sich verhedderte, der Fahrstuhl zwischen zwei Stockwerken festklemmte und er sechs Stunden lang verzweifelt bemüht war, sich mit dem seltsamen Mädchen zu unterhalten – eilte er bereits schnellen Schrittes in die Vorhalle. Das Gitter schlug hinter ihm zu.

Er wandte sich nach rechts. Dann blieb er stehen und fühlte sein Herz schneller schlagen. Ein großer, gepflegt aussehender Mann Mitte Vierzig stand hinter den Scheiben der Ausgangstür.

Herr Minchell öffnete die Tür und trat hinaus. Jetzt hat er mich schon gesehen, dachte er. Sollte er irgendwelche Fragen stellen, sage ich einfach, daß ich es nicht mit auf die Stempelkarte gesetzt hätte; das dürfte ihn zufriedenstellen …

Er nickte und lächelte dem großen Mann zu. »Gute Nacht, Herr Diemel.«

Der Mann blickte kurz auf und blinzelte mit den Augen.

Herr Minchell fühlte, wie sich ein brennendes Gefühl auf seinem Gesicht ausbreitete. Er eilte die Straße entlang. Wieder durchfuhr ihn dieses Gefühl, er erinnerte sich, daß er seit zehn Jahren nicht mehr direkt mit F. J. Diemel gesprochen hatte, außer einem gelegentlichen ›Guten Morgen‹.

Kalte Schatten fielen von den hohen Gebäuden auf die Straße. Wie Steinfiguren schob sich die Menschenmenge die Gehsteige entlang, erschöpft, aber zielsicher. Herr Minchell betrachtete sie. Sie bewegten sich mit einer gewissen Unauffälligkeit, und plötzlich schien es ihm, als liefen alle, selbst die Kinder, vor einem furchtbaren Verbrechen davon. Ausdruckslos drängten sie weiter.

Aber sie blickten ihn nicht an, stellte Herr Minchell fest. Eher durch ihn hindurch. So wie es das Mädchen im Fahrstuhl getan hatte, und F. J.! Hatte ihm überhaupt jemand gute Nacht gewünscht?

Er schlug den Mantelkragen hoch und ging nachdenklich auf die Drogerie zu. Er war siebenundvierzig Jahre alt. Nach den allgemeinen Berechnungen über die Lebensdauer hatte er noch siebzehn oder achtzehn Jahre zu leben. Und danach kam der Tod.

Wenn ich nicht schon tot bin!

Er blieb einen Augenblick stehen und mußte an eine Geschichte denken, die er einmal in einer Zeitschrift gelesen hatte. Irgend etwas über einen Mann, der stirbt und dessen Geist dann seine Pflichten aufnimmt und erfüllt; jedenfalls wußte der Mann nicht, daß er tot war. Und am Ende der Geschichte begegnete er seinem eigenen Leichnam.

Ziemlich absurd! Er sah an seinem Körper hinab. Geister tragen keine Anzüge für 36 Dollar, sie haben auch keine Mühe, eine Tür aufzustoßen, und sie verspüren auch keine Schmerzen in den Hühneräugen – was ist eigentlich heute mit mir los?

Er schüttelte den Kopf.

Natürlich lag alles an dem Rechnungsstreifen und der Tatsache, daß heute sein Geburtstag war. Deshalb benahm er sich so komisch. Er betrat das Kaufhaus. Es war viel Betrieb. Er steuerte auf den Zigarrenstand zu und versuchte, sich durch das Gedränge nicht irritieren zu lassen. Als er in die Tasche griff, um das Geld herauszuholen, drängte sich ein kleiner Mann vor ihn und rief laut: »Geben Sie mir zwei Fünfcentstücke, ja?« Der Kassierer brummte und legte ein paar Geldstücke auf den Tisch. Der kleine Mann drängte sich durch die Menge davon. Andere nahmen seinen Platz ein. Herr Minchell zwängte seinen Arm bis zum Ladentisch vor und sagte: »Ein Päckchen Luckies, bitte.« Der Verkäufer griff nach einem Zellophanpäckchen, wobei er in eine ganz andere Richtung starrte. »Zweisechzig«, rief er. Herr Minchell schob die abgezählte Summe auf die Glasplatte. Der Verkäufer legte das Päckchen genau daneben und nahm das Geld mit flinken Fingern. Er hob den Blick nicht ein einziges Mal.

Herr Minchell steckte die Zigaretten ein und verließ den Laden. Trotz des kühlen Windes schwitzte er jetzt leicht. »Lächerlich«, durchfuhr es ihn. »Absolut lächerlich. Und trotzdem«, dachte er, »stimmt es denn etwa nicht? Kannst du denn beweisen, daß der Mann dich gesehen hat? Oder daß dich irgend jemand heute abend gesehen hat?«

Schwer atmend ging er weiter, immer in Richtung Untergrundbahn. Dann betrat er eine Bar. Ein kleines Gläschen würde nichts schaden, ein ganz kleiner steifer Schnaps.

Die Bar war düster und nicht sehr warm, aber sie war voll. Herr Minchell setzte sich auf einen Barhocker und faltete die Hände. Der Barmixer unterhielt sich mit einer alten Frau, und ab und zu lachte er herzhaft. Herr Minchell wartete. Minuten vergingen. Manchmal blickte der Barmixer in seine Richtung, aber nichts sprach dafür, daß er seinen neuen Kunden entdeckt hatte.

Herr Minchell sah auf seinen alten grauen Mantel, die billige geblümte Krawatte, den geschlissenen Stoff seines Anzugs und wurde gewahr, wie sehr er seine äußere Erscheinung haßte. Er saß auf dem Hocker und verabscheute sein Äußeres, und das tat er eine lange Zeit. Dann blickte er sich um. Der Barmixer putzte geruhsam ein Glas.

Also gut. Dann nicht. Dann gehe ich eben woanders hin!

Er rutschte vom Hocker. Als er sich umdrehen wollte, sah er die Spiegelwand, rosa umrahmt und geschwungen. Er blinzelte. Dann stürmte er aus der Bar.

Kalter Wind blies ihm ins Gesicht. Lächerlich. Der Spiegel war geschwungen, du Idiot. Wie kannst du erwarten, dich in einem geschwungenen Spiegel zu sehen?

Er ging an hohen Gebäuden vorbei und kam zu der Bücherei und dem Steinlöwen, den er einmal König Richard getauft hatte; er hatte sich immer gewünscht, einmal auf ihm zu reiten, schon immer, seit er klein war, und er hatte sich ganz fest vorgenommen, es einmal zu tun.

Er eilte weiter zur Untergrundbahn, lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter und konnte gerade noch auf den Expreß springen. Es donnerte und krachte. Herr Minchell hielt sich an den Riemen fest. Niemand beachtete ihn. Niemand gönnte ihm auch nur einen einzigen Blick, als er sich zur Tür drängte und auf den leeren Bahnsteig stieg.

Er wartete. Dann fuhr der Zug ab, und er war allein.

Er ging die Treppe hinauf. Jetzt war es völlig dunkel geworden. Er dachte über den Tag und all die seltsamen Dinge nach, die ihm durch den Kopf gingen, als er in die Straße einbog, die zu seiner Wohnung führte.

Die Tür öffnete sich.

Er konnte seine Frau in der Küche hin und her gehen sehen. »Madge, ich bin’s!« rief er.

Madge antwortete nicht. Ihre Bewegungen waren ganz normal. Jimmy saß am Tisch, spielte mit einem Glas Limonade und flüsterte mit sich selbst.

»Ich –«, begann Herr Minchell.

»Jimmy, steh auf und geh ins Badezimmer, hörst du? Ich habe das Wasser für dich eingelassen.«

Jimmy brach in Tränen aus. Er sprang vom Stuhl und rannte an Herrn Minchell vorbei ins Schlafzimmer. Krachend fiel die Tür ins Schloß.

 

»Madge.«

Madge Minchell kam ins Zimmer – müde, abgezehrt und schwerfällig. Ihre Augen bewegten sich nicht.

Sie ging in das Schlafzimmer; es folgte eine kurze Stille und danach ein scharfes klatschendes Geräusch und Geschrei.

Herr Minchell lief ins Badezimmer; er versuchte, sein Entsetzen zu dämpfen. Er verschloß die Tür und wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn. Lächerlich, dachte er, lächerlich! lächerlich! Ich benehme mich wie ein verdammter Narr. Ich brauche nur in den Spiegel zu sehen und –

Er fuhr sich mit dem Taschentuch an den Mund. Der Atem stockte ihm.

Dann wußte er, daß er Angst hatte.

Denk doch mal ganz ruhig darüber nach, Minchell: warum solltest du eigentlich nicht verschwinden?

»Junger Mann, warte du nur, bis dein Vater kommt!«

Er hielt das Taschentuch fest auf den Mund gepreßt und lehnte sich erschrocken gegen die Tür.

Was willst du damit sagen – verschwinden?

Los, sieh es dir doch an. Dann wirst du schon verstehen, was ich meine.

Er versuchte zu schlucken, es gelang ihm aber nicht. Er versuchte seine Lippen anzufeuchten, aber sie blieben trocken.

»Großer Gott –«

Er runzelte die Stirn, ging zum Spiegel und schaute hinein.

Seine Augen weiteten sich.

Der Spiegel warf nichts zurück. Er war trüb, grau und leer.

Herr Minchell starrte auf das Glas, fuhr mit der Hand darüber und zog sie hastig wieder zurück.

Wieder kniff er die Lider zusammen und starrte gebannt auf die Scheibe. Dort machte er jetzt eine Gestalt aus: unbestimmt, vage, konturenlos. Aber eine Form.

»Großer Gott«, sagte er. Plötzlich verstand er, warum das Mädchen im Fahrstuhl ihn nicht gesehen, und warum F. J. ihm nicht geantwortet hatte, warum der Verkäufer im Kaufhaus, der Barmixer und Madge …

»Ich bin nicht tot.«

Natürlich bist du nicht tot – nicht So jedenfalls.

»– dein Versteck, Jimmy Minchell, wenn er nach Hause kommt –«

Herr Minchell drehte sich auf dem Absatz herum und schob den Riegel der Tür zurück. Er rannte aus dem dampfenden Bad, quer durchs Wohnzimmer, die Treppen hinunter, hinaus auf die Straße, in die kühle Nacht.

Ein paar Häuserblocks weiter verlangsamte er seine Schritte.

Unsichtbar! Immer wieder sprach er das Wort vor sich hin. Und er versuchte, des Entsetzens, das in seinen Beinen, seinem Kopf saß und ihn ganz und gar ausfüllte, Herr zu werden.

Warum?

Eine dicke Frau mit einem kleinen Mädchen ging an ihm vorbei. Keine von beiden blickte auf. Er wollte einen Schrei ausstoßen, beherrschte sich aber. Nein! Das würde nichts ändern. Es bestand gar kein Zweifel mehr. Er war unsichtbar.

Er ging weiter, und dabei kamen ihm langvergessene Dinge in den Sinn. Sie wirbelten durch seinen Kopf und vergingen schnell wieder. Er konnte sie nicht festhalten. Er konnte nur beobachten und sich erinnern. An sich selbst als kleinen Jungen, wie er Tarzan und Wells gelesen hatte; als Studenten, der gern unterrichten wollte, und wie er Madge begegnet war; dann, wie er alle Pläne aufgesteckt hatte, wie Madge sich allmählich veränderte und er alle Träume beiseite schob und begrub. Für später. Für den rechten Zeitpunkt. Und dann Jimmy – kleiner fremder Jimmy, der Bleistifte in den Mund steckte, in der Nase bohrte und vor dem Fernsehgerät hockte, der niemals Bücher las, niemals; Jimmy, sein Sohn, den er nie verstehen würde … Er ging jetzt am Park entlang. Dann durch den Park, durch ein Labyrinth vertrauter und fremder Straßen und Gäßchen. Er ging, erinnerte sich, blickte die Leute an und spürte einen starken Schmerz, denn er wußte, daß sie ihn nicht sehen konnten, nicht jetzt – nie mehr, denn er war verschwunden – unsichtbar. Er ging, erinnerte sich und weinte.

Alle die verbannten Träume kamen zurück. Die geplante Reise nach Italien. Der offene Sportwagen, ohne Rücksicht auf schlechtes Wetter. Das Wissen, das ihn befähigt, zu sagen, ob er Stierkämpfe für gut hielt oder ob er sie ablehnte. Das Buch …

Dann fiel ihm etwas anderes ein. Er wurde sich bewußt, daß er nicht ganz plötzlich verschwunden war, nicht einfach so! Nein! Seit langem war er ganz allmählich, nach und nach verschwunden. Mit jedem Morgen, an dem er diesem Bastard Diemel einen guten Morgen wünschte, war er ein bißchen weniger zu sehen. Jedesmal, wenn er in diesen furchtbaren Anzug stieg, verblaßte er ein bißchen mehr. Der Prozeß des Verschwindens vollzog sich jedesmal, wenn er sein Gehalt nach Hause trug und Madge aushändigte, jedesmal, wenn er sie küßte oder ihre weinerlichen, nie endenden Klagen und Vorwürfe anhörte, jedesmal, wenn er sich entschloß, diesen oder jenen Roman doch nicht zu kaufen, wenn er der Addiermaschine, die er so haßte, einen Stoß versetzte oder … Ganz bestimmt.

Für Diemel und die anderen im Büro war er schon vor Jahren verschwunden. Jetzt konnten ihn selbst Madge und Jimmy nicht mehr sehen. Und er selbst konnte sich kaum noch im Spiegel erkennen.

Es erschien ihm alles sehr logisch. Warum sollte man nicht verschwinden? Es gab keinen vernünftigen Grund dagegen. Keinen einzigen. Und das machte die Sache auf eine ganz bedrückende Art so selbstverständlich und klar wie eine perfekte Rechnung.

Dann dachte er daran, wie er am nächsten Tag und dem darauffolgenden wieder zur Arbeit ginge. Natürlich mußte er das tun. Er konnte doch Madge und Jimmy nicht verhungern lassen; und außerdem – was sollte er sonst tun? Es war nicht so, als hätte sich etwas äußerst Wichtiges verändert. Er würde weiterhin nach der Uhr leben, würde den Leuten, die ihn gar nicht sahen, einen guten Morgen wünschen, er würde die Zahlenlisten durchgehen und erschöpft nach Hause kommen; alles war so wie vorher, und eines Tages würde er sterben, und alles war vorbei. Plötzlich fühlte er sich todmüde.

Er setzte sich auf eine Steintreppe und seufzte. Undeutlich stellte er fest, daß er wieder bei der Bücherei angelangt war. Er saß einfach da, beobachtete die Menschen und fühlte, wie sich eine bleierne Müdigkeit in ihm ausbreitete.

Dann blickte er auf.

Über ihm ragte schwarz und königlich der gewaltige Steinlöwe in den Himmel. Sein Mund stand offen, und der große Kopf war stolz erhoben.

Herr Minchell lächelte. König Richard. Erinnerungen durchfuhren ihn: König Richard, mein Gott – soweit ist es nun mit uns beiden gekommen.

Er sprang auf. Wenigstens fünfzigtausendmal war er an dieser Stelle vorbeigekommen, und jedesmal hatte er sich gewünscht, auf König Richard zu reiten. Jetzt war dieses Verlangen stärker, stärker als je zuvor. Drängend!

Er rieb sich das Kinn und blieb mehrere Minuten lang stehen. Einfach lächerlich, dachte er, ich muß übergeschnappt sein, das erklärt alles. Aber, so fragte er sich, selbst wenn das der Fall wäre – warum sollte ich es eigentlich nicht tun?

Schließlich bin ich unsichtbar. Niemand kann mich sehen. Natürlich hätte es nicht auf diese Weise zu geschehen brauchen. Ich weiß nicht recht, fuhr er in seinen Gedanken fort, das heißt, ich glaubte, das Richtige zu tun. Wäre es richtiger gewesen, zurück zur Universität zu gehen und Madge sausen zu lassen? Das könnte ich doch nicht ändern, oder? Hätte ich dagegen irgend etwas machen können, selbst wenn ich es gewußt hätte?

Traurig nickte er mit dem Kopf.

Schon gut, aber mach es nicht noch schlimmer. Besteh, um Himmels willen, nicht darauf!

Zu seinem Erstaunen kletterte er jetzt am Betonsockel der Statue empor. Sein Atem flog – und er sah, daß er viel einfacher ein paar weitere Stufen hätte hochgehen können –, aber er mußte wohl so vorgehen, wie er es tat. Oben angelangt, fuhr er mit der Hand über die Flanken des Tieres. Die Oberfläche war glatt und kalt und hart, wie man es von den Muskeln eines Löwen erwartete, und lohfarben.

Er machte einen Schritt vorwärts. Großer Gott! Diese Kraft! Diese Würde! Kam sie vom Stein? Nein, ganz sicher nicht! Viele Leute ließen sich täuschen – aber nicht Herr Minchell. Er wußte Bescheid! Dieser Löwe war keine bloße Dekoration. Es war ein Tier von tödlicher Schläue, phantastischer Stärke und Wildheit. Und es bewegte sich nicht, weil es sich nicht bewegen wollte. Es wartete. Eines Tages würde es sehen, worauf es wartete, seinen Feind, der die Straße heraufkam. Und dann gebt acht! Er erinnerte sich jetzt an die ganze Geschichte. Von allen Menschen auf der Erde kannte nur er, Henry Minchell, das Geheimnis des Löwen. Und nur er allein durfte auf dem mächtigen Rücken reiten.

Er trat auf den Schwanz, zögerte, schluckte und schwang sich mit einem Satz nach vorn auf den gebogenen Rumpf.

Zitternd rutschte er weiter, bis er über den Schultern direkt hinter dem erhobenen Haupt saß.

Sein Atem ging sehr schnell.

Er schloß die Augen.

Aber bald hatte er sich beruhigt, und es drang ihm die heiße, stinkende Luft des Dschungels in die Nase. Er fühlte, wie die gewaltigen Muskeln unter ihm unruhig spielten. Er lauschte auf das Rascheln von Blättern und Buschwerk und flüsterte:

»Ruhig, mein Guter.«

Die heranschwirrenden Pfeile erschreckten ihn nicht. Er saß hochaufgerichtet und hielt sich an der vollen roten Mähne – der Wind zerrte an seinen Haaren …

Dann öffnete er die Augen.

Vor ihm erstreckte sich die Stadt mit ihren Menschen und Lichtern. Er wollte nicht weinen, denn er wußte, daß siebenundvierzigjährige Männer das nicht taten, auch dann nicht, wenn sie unsichtbar waren – aber er konnte sich nicht dagegen wehren. Und so hockte er hoch oben auf dem Steinlöwen, senkte den Kopf und weinte.

Zuerst hörte er das Gelächter nicht. Und dann glaubte er zu träumen. Aber es war Wirklichkeit: Jemand lachte.

Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, klammerte er sich an ein Ohr von König Richard und lehnte sich vor. Er blinzelte. Einige Meter unter ihm standen Menschen. Junge Menschen. Manche trugen Bücher. Sie blickten zu ihm auf und lachten.

Herr Minchell rieb sich die Augen.

Einer der Jungen winkte und rief:

»Hoppe, hoppe, Reiter!«

Herr Minchell verlor fast das Gleichgewicht. Dann verzog sich sein Mund zu einem breiten Grinsen.

»Ihr … seht mich?« fragte er.

Die jungen Leute tobten.

»Wahrhaftig!« Herr Minchell stieß einen lauten Jauchzer aus und umarmte König Richards zottige Steinmähne.

Unten blieben die Passanten stehen. Sie starrten fassungslos zu ihm hoch.

Eine Frau im grauen Pelzmantel kicherte.

Ein dünner Mann in einem blauen Anzug brummte etwas über die verdammten Exhibitionisten.

»Halten Sie den Mund«, fuhr ihn ein anderer an. »Wenn der Bursche den gottverdammten Löwen reiten will, so ist das seine Sache.«

Ein Gemurmel machte sich breit.

Der Mann, der zu dem anderen gesagt hatte, er solle den Mund halten, war ziemlich klein und trug eine schwarzrandige Brille. Er wandte sich zu Herrn Minchell um und rief: »Wie ist es?«

Herr Minchell grinste. Irgendwie hatte man ihm eine Chance gegeben. Und diesmal wußte er, was er damit anfangen würde. »Prima!« schrie er zurück; er stellte sich aufrecht auf König Richards Rücken und schwenkte seine Melone. »Kommen Sie herauf!«

»Kann nicht«, sagte der Mann.

»Habe eine Verabredung.« In seinen Augen lag höchste Bewunderung. Dann drehte er sich noch einmal um, hielt die Hände wie ein Sprachrohr vor den Mund und rief: »Ich werde Sie wiedersehen!«

»Jawohl!« antwortete Herr Minchell und fühlte den kalten frischen Wind auf dem Gesicht. »Sie werden mich wiedersehen.«

Dann stieg er von dem Löwen herab.