Will
Stanton
Das
Geburtstagsgeschenk
Ich verließ das Haus gegen zehn Uhr morgens. Über meinen Knickerbockern trug ich Ledergamaschen und auf dem Rücken einen Proviantsack mit meinem Mittagessen darin. Mein Fernglas steckte in einem Behälter, der an einem Riemen über meiner Schulter baumelte. Das Handbeil, ein Messer und das Kochgeschirr waren an meinem Gürtel befestigt – meine Mutter neckte mich deswegen.
»Glaubst du, daß ein Gürtel all diese Dinge und auch noch deine Hosen hochhalten kann?« sagte sie. »Das ist ein bißchen viel verlangt.« Ich entschuldigte mich, schließlich hatte sie mir das meiste der Gegenstände gekauft.
»Ich möchte, daß du gegen vier Uhr zurück bist«, fuhr sie fort. »Ich möchte, daß du dann etwas für mich erledigst. Aber nicht später als vier, und auch nicht vorher.« Ich konnte mir gut denken, worum es ihr ging, denn ich hatte ja schließlich Geburtstag. Aber keiner von uns beiden ließ sich das anmerken. Ich stieg die Stufen hinunter und trat auf die Straße.
Für einen Samstagmorgen herrschte eine ziemliche Ruhe – ein paar Leute harkten in ihren Vorgärten Blätter zusammen, aber von den Kindern war nichts zu entdecken. Ich ging ein Stückchen an den Häusern entlang und schlug dann den Pfad, der hinter Pokey Michaels Haus durch die Felder führte, ein. Pokey war mein bester Freund. Wir haben schon viele gemeinsame Entdeckungsfahrten unternommen, sind zusammen in die Berge gewandert, und wir wollten ein Boot bauen, sobald wir Zeit haben würden.
Ich überquerte den Bach und kletterte den schmalen Pfad hinauf, der in die Berge führte. Normalerweise wären Pokey und wahrscheinlich auch ein paar weitere Freunde mit mir gekommen, aber an diesem Samstag hatten sie sich alle auf die eine oder andere Weise entschuldigt. Ich war ziemlich sicher, daß ich die meisten von ihnen gegen vier Uhr zu Hause bei mir antreffen würde. Fast jedes Jahr haben meine Leute zu meinem Geburtstag irgendeine Überraschung für mich bereit. Und ich glaubte, daß es diesmal im Hintergarten ein Festessen geben würde, mit Braten und natürlich Kuchen und Eis und Süßigkeiten.
Ich erreichte Rocky Ridge in genau achtundzwanzig Minuten. Ich hatte es schon in einer kürzeren Zeit geschafft, aber ich versuchte an diesem Morgen ja auch keine Rekorde zu brechen. Von hier aus konnte ich einen guten Teil der Stadt überblicken – jedenfalls die Dächer. Das Dach von unserem Haus und auch das von Pokey war nicht zu entdecken, es gab zu viele Bäume, aber man konnte Spud Ashleys Dach erkennen und das Fenster zu seinem Zimmer. Mit dem Fernglas war es sogar möglich, Signale dorthin zu senden – wir wollten den Code dazu lernen.
Als ich mich ein wenig ausgeruht hatte, machte ich mich an das steilste Stück des Weges. Hier wucherten Eichengestrüpp und dichtes Unterholz, so daß man kaum sechs Meter sehen konnte. Immerzu mußte ich an mein Geburtstagsgeschenk denken – es würde ein Gewehr sein, das war ganz sicher. Kein Luftgewehr, das besaß ich schon seit vielen Jahren, sondern ein richtiges, ein 22er.
Der Grund meiner Annahme waren die Spaße, die meine Leute darüber machten. »Du bist so versessen aufs Wandern und Kampieren«, sagte meine Mutter, »daß du was kriegen solltest, was man draußen im Freien gut gebrauchen kann. Wie zum Beispiel wollene Unterwasche.«
»Das ist kein richtiges Geschenk«, antwortete mein Vater. »Man sollte ihm lieber was aus ‘nem Eisenwarengeschäft besorgen – vielleicht etwas, womit er sich ein bißchen Geld verdienen könnte. Ich dachte da an einen Rasenmäher.« Als ob ich mir den nicht von jedermann borgen könnte! Nein, ich hatte das Gefühl, daß sie nicht darüber gespöttelt hätten, wenn ich kein Gewehr bekommen würde.
Endlich kam ich zu der Stelle, wo unser Pfad begann. Wir hatten einen Baum eingeritzt, um ihn zu markieren. Von dem Baum aus mußte man fünfzig Schritte zurückgehen und nach rechts einbiegen. Aber wir hatten es uns zur Regel gemacht, den Weg niemals öfters als einmal an einer Stelle zu verlassen, damit keine Spuren entstehen konnten. Jedesmal schlugen wir eine andere Richtung ein. Und bei einem großen Felsen begann unser Geheimpfad erst richtig. Wir hatten ihn durch das dichte Buschwerk gehauen, und nach ein paar hundert Metern führte er zu einer Höhle, die außer den Mitgliedern unseres Klubs niemand kannte. Natürlich gab es in den Bergen viele Höhlen, wahrscheinlich auch welche, die noch niemand entdeckt hatte, aber das war die unsere.
Wenn man durch die Büsche davor hindurchlugte, konnte man Rocky Ridge sehen. Das bedeutete, daß wir mit der ganzen Stadt ein Kommunikationssystem aufrechterhielten. Nehmen wir mal an, Spud sei zu Hause und bekäme von jemand einen Telefonanruf, dann könnte er die Nachricht zum Ridge signalisieren. Und wer gerade dort war, könnte sie zur Höhle weiter übertragen. Auf diese Weise würden andere Banden, die uns verfolgten, nicht viel Glück haben.
Ich baute eine Feuerstelle und richtete mein Essen her. Eine Dose Spaghetti kochte ich im Kochgeschirrboden, eine Banane und etwas Pudding aß ich aus dem Deckel. Nach dem Essen rollte ich mir eine Zigarette aus feinem Getreidegras. Wir hatten abgemacht, daß keiner von uns Tabak benutzen sollte, bevor wir die Oberschule hinter uns hatten, wenn aber jemand den Wunsch hatte, nach dem Essen eine Zigarette aus Gras zu rauchen, um sich zu entspannen, hatten wir nichts dagegen.
Normalerweise konnte man von der Höhle aus das Pfeifen des Zwei-Uhr-zehn-Zugs hören, aber an diesem Nachmittag blieb es aus. Meine Uhr konnte nicht viel falsch gehen – ich hatte sie so reguliert, daß sie höchstens fünf Minuten in einer Woche vorging, aber an diesem Tag hörte ich den Zug nicht. Um halb drei löschte ich das Feuer und räumte den Lagerplatz auf. So konnte ich mir beim Abstieg Zeit lassen und würde genau um vier zu Hause sein. Es war ein schöner Tag gewesen, sehr warm für Oktober, und windstill. Um zwanzig nach drei erreichte ich die Anhöhe, wo ich stehenblieb und die Aussicht genoß. Es war sehr ruhig. Sonst hörte man an Samstagen immer das Geräusch der Hupen und des Verkehrs von der Stadt herauf, aber jetzt herrschte völlige Stille. Nur entfernte Vogelrufe und Rascheln im Unterholz, aber nichts Mechanisches oder Menschliches. Im allgemeinen ist man die Gerausche von Menschen so sehr gewohnt, daß man sie gar nicht mehr wahrnimmt. Aber wenn sie fehlen, merkt man das sofort. Ich wartete nicht länger – eilig setzte ich meinen Weg den Pfad hinab fort.
Ich überquerte den Bach und rannte über das Feld hinter Pokeys Haus. Dann blieb ich stehen. Die Straße war noch genauso wie am Morgen – jedenfalls die Häuser und die Bäume. Aber nirgends waren Menschen zu sehen, und dann war noch etwas – etwas ganz Verrücktes. Möbel. Entlang der ganzen Straße stand vor jedem Haus ein Tisch, und darauf waren Gewehre aufgeschichtet. Es war, als hätten alle Leute ihre Häuser durchstöbert und jedes Gewehr, jedes Messer, jede andere Waffe vor der Haustür aufgebaut, damit sie der Müllmann oder sonstwer abholen könnte. Aber warum hatten sie das getan – und gleich alle auf einmal? Über eine Minute stand ich wie erstarrt und blickte die Straße auf und ab. Dann hörte ich das erste Geräusch. Es kam aus einem leeren Auto, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt war. Jemand mußte das Radio angestellt haben, die Stimme eines Mannes ertönte. Ich konnte nicht verstehen, was er sagte, aber er schien Befehle auszuteilen – den Leuten zu sagen, was sie tun sollten.
Ich beobachtete das Auto noch ein Weilchen, und dann hörte ich den anderen Ton – das Klopfen. Als versuchte jemand, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Kurze Zeit hörte ich nichts, dann begann es noch einmal von vorn. Ich drehte mich um. Es war Pokeys Vater, der geduckt hinter dem Vorderfenster seines Hauses stand und an die Scheibe klopfte. Früher war er Sieger im Mittelgewichtsboxen der Marine gewesen, sagte Pokey, aber jetzt wirkte er alt und sehr klein. Er gab mir Zeichen, nicht näher zu kommen. Pokey und seine Mutter waren nirgends zu sehen, und auch sonst niemand in der ganzen Straße. Ich war völlig allein.
Dann merkte ich plötzlich, wie ich rannte. Mein Rucksack und das Fernglas hüpften an den Riemen auf und nieder, und das Kochgeschirr schlug gegen mein Bein. Was immer auch geschah, ich mußte nach Hause. Noch zehn Häuser – es schien ewig zu dauern. Dann stürmte ich durch die Hecke, über den Rasen und die Stufen hinauf. Das letzte, was ich sah – das letzte, an das ich mich erinnere, war unser Kartentisch, der mit einem Gewehr darauf vor der Haustür stand. Einem neuen Gewehr – einem 22er.
Ich weiß nicht, wie oft ich die Geschichte nun schon erzählt habe – des Nachts, wenn wir in unseren Kojen liegen und miteinander flüstern. Dann erzähle ich ihnen von der Wanderung, dem selbstgekochten Essen und so weiter. Sie wollen, daß ich es immer und immer wieder erzähle. Ich glaube, daß ich diese paar Stunden noch für mich hatte – in denen ich frei war und tun und lassen konnte, was mir gefiel – als alle andern es schon wußten.
An nichts denke ich so oft, wie an diese Stunden. Immer, wenn ich nachts aufwache, behalte ich die Augen zu, um festzustellen, ob ich den Duft der Tannennadeln riechen und das Pfeifen des Zuges hören kann – des Zuges, der um zehn nach zwei einläuft. Und dann weiß ich, daß ich nach dem Essen nur ein wenig eingenickt bin und den Pfad hinuntergehen kann – und dort werden sie alle auf mich warten – Pokey und meine Leute – mit der Geburtstagsparty und allem.
Durch die Fenster fällt fahles Licht, das die Wände und die Decke grau erscheinen läßt, und ein neuer Tag hat begonnen. Viele hier haben schon aufgegeben – sie sagen, daß es nichts mehr gibt, auf das man hoffen kann. Vielleicht haben sie recht, aber ich warte.
Eines Tages werde ich den Zug pfeifen hören, und dann wird all dies vorbei sein, und ich werde nach Hause gehen können.