Arthur C.
Clarke
Seine Majestät der
König
»Wie, zum Teufel, soll ich ihn denn anreden, wenn er hier im Schiff aufkreuzt?« fragte Captain Saunders, während er darauf wartete, daß die Rampe hinuntergelassen wurde.
Die Navigationsoffiziere schwiegen. Mitchell schaltete die Steuerzentrale ab, und der komplizierte Mechanismus hörte zu reagieren auf.
»Die korrekte Anrede ist ›Eure Königliche Hoheit‹«, murmelte er zögernd.
»Ho«, schnaubte der Kapitän. »Ich denke nicht daran, jemanden so anzusprechen!«
»Bei unserem heutigen Denken«, mischte sich Chambers hilfreich ein, »ist, glaube ich, ›Sir‹ völlig ausreichend. Aber Sie brauchen sich darüber keine großen Sorgen zu machen. Schließlich ist es schon eine ganz schöne Zeit her, seit jemand in den Tower geworfen wurde. Und außerdem ist dieser Henry bei weitem nicht so’n schwerer Junge wie der, der die vielen Weiber hatte.«
»Alles in allem«, fügte Mitchell hinzu, »soll er ein sehr netter junger Mann sein. Recht intelligent sogar. Er soll den Leuten oft technische Fragen gestellt haben, die sie nicht beantworten konnten.«
Captain Saunders ignorierte die Bedeutung dieser Bemerkung. Im stillen beschloß er aber, Prince Henry an Mitchell zu verweisen, wenn er unbedingt wissen wollte, wie ein Feldausgleichsgenerator funktionierte. Mühsam stand er auf – während des Fluges hatten sie mit halber Gravitation gearbeitet, und jetzt auf der Erde fühlte er sich wie ein Sack mit Ziegelsteinen – und ging die Gänge entlang zur unteren Luftschleuse. Mit einem öligen Knarren schob sich die gebogene Tür vor ihm zur Seite. Er setzte ein etwas gezwungenes Lächeln auf und schritt hinaus, um sich den Fernsehkameras und dem Erben der Britischen Krone zu stellen.
Der Mann, der vermutlich eines Tages einmal Henry IX. von England sein würde, war etwas über zwanzig. Er war ziemlich klein und hatte feingeschnittene, regelmäßige Gesichtszüge, die seinem Stammbaum alle Ehre machten. Captain Saunders, der aus Dallas stammte und nicht die geringste Absicht hatte, sich von irgendeinem Prinzen beeindrucken zu lassen, stellte erstaunt fest, daß ihn die großen traurigen Augen bewegten. Diese Augen hatten zu viele Empfänge und Paraden gesehen, hatten zu viele uninteressante Dinge aufnehmen müssen, ihnen war nie Gelegenheit gegeben worden, von den sorgsam geplanten offiziellen Begebenheiten abzuschweifen. Als er in dieses müde Gesicht schaute, fühlte Saunders zum erstenmal die unendliche Einsamkeit der Königswürde. Sein ganzes Mißbehagen, das er gegen diese Institution empfand, verließ ihn: Es war nicht fair von der Krone, solch eine Last auf irgend jemanden in der Welt zu konzentrieren …
Der Landesteg war zu schmal für größere Menschenmengen, und es wurde bald klar, daß es Prinz Henry ganz lieb war, die Besichtigung ohne seinen Hofstaat durchzuführen. Als sie dann durch das Schiff schlenderten, verlor Saunders seine steife Zurückhaltung, und nach wenigen Minuten behandelte er den Prinzen wie jeden anderen Besucher.
»Wissen Sie, Captain«, sagte der Prinz nachdenklich, »das ist für uns ein ganz großer Tag. Ich habe schon immer gehofft, daß eines Tages Raumschiffe von England aus starten und auch hier landen. Aber jetzt erscheint es mir fast unfaßbar. Sagen Sie, haben Sie jemals etwas mit Raketen zu tun gehabt?«
»Nun ja, ich mußte darüber Bescheid wissen, aber bevor ich mein Studium beendet hatte, waren sie schon so gut wie überholt. Ich hatte Glück: Die älteren Leute mußten noch einmal von vorn anfangen – oder sie mußten die Raumfahrt ganz und gar aufgeben, wenn sie sich an die neuen Schiffe nicht gewöhnen konnten.«
»War der Unterschied so groß?«
»O ja – als die Raketen aufgegeben wurden, da war das ein ebenso großer Wechsel wie vom Segeln zum Dampfschiff. Diesen Vergleich kann man übrigens oft hören. Über den alten Raketen lag derselbe Zauber wie über den alten Windjammern. Diese modernen Schiffe machen wenig Eindruck. Wenn die Centaurus startet, so geht das ruhig und langsam vor sich. Der Start einer Rakete dagegen ließ die Erde meilenweit erschüttern, und man wäre tagelang taub gewesen, wenn man zu nahe an der Startbahn gestanden hätte. Aber das kennen Sie sicher alles von den alten Nachrichtenblättern her.«
Der Prinz lächelte.
»Ja«, sagte er. »Ich habe sie oft im Palast gelesen. Ich glaube, ich habe jeden Vorfall, der die ersten Expeditionen betraf, aufmerksam verfolgt. Auch mir tut es leid, daß die Zeit der Raketen vorbei ist. Aber hier auf Salisbury Plain hätten wir keinen Flughafen für sie haben können – die Erschütterungen hätten Stonehenge niedergerissen!«
»Stonehenge?« fragte Saunders, als er eine Tür aufhielt, um den Prinzen in die Räume des Trakt 3 zu lassen.
»Altes Bauwerk – eines der berühmtesten Steindenkmäler der Welt. Wirklich sehr eindrucksvoll, und ungefähr dreitausend Jahre alt. Sie sollten es besichtigen – es ist nur zehn Meilen von hier entfernt.«
Captain Saunders mußte sich bemühen, ein Lächeln zu unterdrücken. Was für ein seltsames Land das doch war! Wo, so fragte er sich, konnte man diese Gegensätze finden? Er fühlte sich sehr jung und unfertig, wenn er daran dachte, daß bei ihm zu Hause der Bürgerkrieg »alte« Geschichte war, und in ganz Texas gab es kaum etwas, das älter als fünfhundert Jahre war. Zum erstenmal spürte er Tradition: es verlieh Prinz Henry etwas, was er selbst nie besitzen konnte. Haltung, Überlegenheit – ja, das war es. Und ein Stolz, der mit Arroganz nichts zu tun hatte, denn er war so selbstverständlich, daß er nicht betont zu werden brauchte.
Es war erstaunlich, wie viele Fragen Prince Henry in der halben Stunde stellte, die ihm für die Besichtigung des Schiffes zugestanden worden war. Es waren keine Routinefragen, S. K. H. Prinz Henry wußte eine Menge über Raumschiffe, und Captain Saunders war völlig ausgepumpt, als ihn sein erlauchter Gast verließ.
»Recht vielen Dank, Captain«, sagte der Prinz, als sie einander die Hände schüttelten. »Seit Jahren habe ich mich nicht so gut unterhalten. Ich hoffe, daß Sie hier in England einen angenehmen Aufenthalt haben – und dann eine erfolgreiche Reise!«
»Nun«, sagte Mitchell, als alles vorbei war, »was halten Sie von unserem Prince of Wales?«
»Er hat mich überrascht«, gab Saunders offen zu. »Ich hätte nie geglaubt, daß er ein Prinz ist. Ich dachte immer, die wären ein bißchen dumm. Verdammt, er kannte sogar das Prinzip des Feldantriebs! Ist er jemals im Raum gewesen?«
»Einmal, glaube ich. Nur einen kleinen Sprung in einem Militärschiff über die Atmosphäre hinaus. Es hatte noch nicht mal die Kreisbahn erreicht, als es schon wieder umkehrte – aber der Premierminister bekam fast einen Schlaganfall. Im Parlament fanden ausgedehnte Fragestunden statt, und die ›Times‹ brachte ständig Leitartikel. Es wurde entschieden, daß der Nachfolger der Krone zu wertvoll ist für diese neumodischen Experimente. Deshalb ist er noch nie auf dem Mond gewesen, obwohl er der Oberbefehlshaber der Königlichen Raumfahrtkräfte ist.«
»Der arme Kerl«, sagte Captain Saunders.
Er hatte drei freie Tage, weil es nicht Sache des Kapitäns war, das Beladen des Schiffes oder die Vorbereitungen für den nächsten Flug zu überwachen. Saunders kannte Kapitäne, die immer in der Nähe der Aufsichtsoffiziere herumschlichen und ihnen die Hölle heißmachten, aber er war nicht der Typ. Außerdem wollte er gern London kennenlernen. Er war schon auf dem Mars, der Venus und dem Mond gewesen, aber das war sein erster Englandbesuch. Mitchell und Chambers gaben ihm nützliche Informationen und setzten ihn in die Einschienenbahn, bevor sie zu ihren Familien eilten. Sie würden einen Tag vor ihm zum Raumhafen zurückkehren, um alles noch einmal zu überprüfen. Es war eine große Erleichterung, Offiziere zu haben, auf die man sich verlassen konnte. Sie waren phantasielos und vorsichtig und bis ins Kleinste genau. Wenn sie sagten, daß alles startbereit sei, so konnte er in Ruhe die Reise antreten.
Der schlanke, stromlinienförmige Zylinder sauste durch das sorgsam gepflegte Land. Er lag so dicht über dem Boden und bewegte sich mit solcher Geschwindigkeit, daß man nur einen vagen Eindruck von den Städten und Feldern bekam, die vorüberflogen. Alles, so dachte Saunders, war so knapp bemessen und so unwahrscheinlich klein. Nirgends war freier Raum, kein Feld größer als eine Meile in jeder Richtung. Für einen aus Texas wirkte das beengend – besonders für einen, der ein Raumpilot war.
Die scharfgezeichnete Silhouette Londons erschien am Horizont. Die Gebäude waren meist niedrig – vielleicht fünfzehn oder zwanzig Etagen hoch. Die Bahn schoß durch eine enge Schlucht, über einen sehr hübschen Park, über einen Fluß, wahrscheinlich die Themse, und blieb dann nach einem langsamen Ausrollen stehen. Ein Lautsprecher verkündete: »Paddington. Reisende in Nordrichtung! Bitte behalten Sie Ihre Plätze bei.« Saunders zerrte sein Gepäck aus dem Netz und stieg aus.
Auf seinem Weg zur Untergrundbahn kam er an einem Bücherstand vorbei und warf einen Blick auf die ausgestellten Magazine. Fast die Hälfte zeigte Prince Henry oder andere Mitglieder der königlichen Familie. Das war zuviel des Guten, dachte Saunders. Fast alle Abendzeitungen brachten den Prinzen auf den Titelseiten, wie er gerade die Centaurus bestieg oder verließ. Saunders kaufte sich ein paar davon, um sie in der Untergrundbahn zu lesen.
Die Leitartikel waren von einer monotonen Ähnlichkeit: Endlich gehöre England zu den führenden Nationen der Weltraumfahrt. Jetzt sei es möglich, mit einer Raumflotte zu operieren: die wenigen, der Gravitation widerstehenden Schiffe der Gegenwart könnten, wenn nötig, mitten im Hyde Park landen, ohne dabei auch nur die Enten auf der Serpentine zu stören.
Die Londoner Untergrundbahn war noch immer das beste Transportmittel der Welt, sie brachte Saunders in weniger als zehn Minuten an seinen Bestimmungsort. In zehn Minuten konnte die Centaurus fünfzigtausend Meilen zurücklegen; aber schließlich war der Weltraum auch noch nicht so überfüllt wie diese Gegend hier. Auch waren die Bahnen der Raumschiffe nicht so gewunden wie die Straßen, die Saunders zu seinem Hotel führten.
Er zog sich die Jacke aus und sank erleichtert aufs Bett. Drei ruhige, sorglose Tage: Es schien zu schön, um wahr zu sein.
Das war es auch. Kaum hatte er tief Luft geholt, als das Telefon klingelte.
»Captain Saunders? Ich bin so froh, daß wir Sie gefunden haben. Hier ist die BBC. Wir haben ein Programm mit dem Titel ›Heute abend in London‹, und da dachten wir …«
Das Zuschnappen der Schiffstür war der süßeste Ton, den Saunders seit Tagen gehört hatte. Jetzt war er in Sicherheit: niemand konnte ihn hier in seinem bewaffneten Fort erreichen, das bald weit draußen in der Freiheit des Raums schweben würde. Nicht daß er etwa schlecht behandelt worden wäre, im Gegenteil: Dreimal (oder war es viermal?) war er in den verschiedensten Fernsehprogrammen aufgetreten; er hatte nie in seinem Leben so viele Parties besucht; er hatte mehrere hundert neue Freunde und alle seine alten vergessen.
»Wer hat das Märchen in die Welt gesetzt«, begann er, als Mitchell ihn am Eingang in Empfang nahm, »daß die Briten reserviert und zurückhaltend seien? Gott sei mir gnädig, wenn ich jemals einem temperamentvollen Engländer begegne.«
»Ich nehme an«, antwortete Mitchell, »daß Sie sich gut unterhalten haben.«
»Fragen Sie mich morgen danach«, erwiderte Saunders. »Dann werde ich wieder zu Hause sein.«
»Ich habe Sie gestern nacht in der Quizsendung gesehen«, bemerkte Chambers. »Sie sahen ziemlich bleich aus.«
»Danke. Ich suche ein Synonym für ›nüchtern‹, wenn man die vorangegangene Nacht erst um drei Uhr morgens ins Bett gekommen ist.«
»Schal«, entgegnete Chambers prompt.
»Geschmacklos«, fügte Mitchell hinzu.
»Ihr gewinnt. Beschäftigen wir uns mit den Überholungsarbeiten: Mal sehn, was unsere Ingenieure inzwischen alles getrieben haben.«
Kaum hatte er am Steuerpult Platz genommen, wurde Captain Saunders wieder der alte. Er war zu Hause. Er wußte genau, was zu tun war, und würde es mit automatischer Genauigkeit tun. Rechts und links von ihm prüften Mitchell und Chambers ihre Instrumente und nahmen mit dem Kontrollturm Kontakt auf.
Es dauerte eine Stunde, die komplizierten Vorbereitungen, die vor jedem Start notwendig waren, zu treffen. Als die letzte Unterschrift auf das letzte Instruktionsblatt gesetzt war und das letzte Licht auf dem Monitor grün aufleuchtete, lehnte sich Saunders im Stuhl zurück und zündete sich eine Zigarette an, bis zum Start blieben ihnen noch zehn Minuten.
»Eines Tages«, sagte er, »komme ich inkognito nach England, um herauszufinden, wie dieses Land existiert! Ich verstehe nicht, wie ihr so viele Leute auf einer so kleinen Insel zusammenpferchen könnt, ohne daß sie sinkt.«
»Da sollten Sie mal Holland sehen«, schnaubte Chambers verächtlich. »Dagegen wirkt England so weit und leer wie Texas.«
»Und diese Sache mit der königlichen Familie. Überall, wo ich auftauchte, fragte man mich, wie ich denn mit Prinz Henry ausgekommen wäre, worüber wir gesprochen hätten, ob ich nicht auch fände, daß er ein feiner Bursche ist, und so weiter und so weiter. Ehrlich gesagt, hing mir das allmählich zum Halse heraus. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie ihr das tausend Jahre lang aushalten konntet.«
»Glauben Sie ja nicht, daß die königliche Familie immer so beliebt war«, entgegnete Mitchell. »Denken Sie daran, was mit Charles I. passierte. Und der junge George war fast so, wie ihn Ihre Leute später beschrieben.«
»Wir lieben eben die Tradition«, sagte Chambers. »Wir haben keine Angst davor, uns zu ändern, wenn die Zeit reif ist, aber was die königliche Familie betrifft … auf die sind wir alle ziemlich stolz. Genau das gleiche, was Sie für die Freiheitsstatue fühlen.«
»Kein faires Beispiel. Ich finde es nicht richtig, menschliche Wesen auf einen hohen Sockel zu stellen und sie zu behandeln, als seien sie – na ja, minderjährige Gottheiten. Zum Beispiel Prinz Henry: Glaubt ihr etwa, daß er jemals das tun darf, was er tun möchte? Dreimal habe ich ihn im Fernsehen gesehen. Das erste Mal hat er irgendwo eine neue Schule eröffnet; das zweite Mal hielt er vor der Vereinigung der Fischhändler in der Guidhall eine Rede (ich schwöre, daß ich mir das nicht ausgedacht habe), und zuletzt mußte er vom Bürgermeister irgendeines kleinen Nestes eine Begrüßungsrede über sich ergehen lassen. Ich persönlich säße lieber im Gefängnis, als so ein Leben führen zu müssen. Warum könnt ihr nur den armen Burschen nicht in Ruhe lassen?«
Ausnahmsweise hatte weder Chambers noch Mitchell darauf etwas zu entgegnen, sie sahen ihn nur seltsam an. Das war zuviel, dachte Saunders. Ich hätte meinen großen Mund halten sollen, jetzt habe ich ihre heiligsten Gefühle verletzt. Ich hätte mich an den Rat erinnern sollen: »Die Briten haben zwei Religionen: Cricket und die königliche Familie. Versuche nie, eines von beiden zu kritisieren.«
Die verlegene Pause wurde durch das Radio vom Raumhafenkontrollpunkt unterbrochen.
»Bodenstation an Centaurus. Ihre Flugbahn ist klar, OK zum Start.«
»Startbereit!« antwortete Saunders und warf den Hauptschalter herum. Dann lehnte er sich zurück, sein Blick umfing das gesamte Steuerpult, seine Hände berührten nichts, waren aber zu schneller Reaktion bereit.
Er war angespannt, aber völlig zufrieden. Bessere Kräfte als seine eigenen waren jetzt am Werk, Kräfte aus Metall, Kristallen und elektronischen Stößen. Wenn nötig, konnte er die Führung übernehmen, aber er hatte in seiner ganzen Laufbahn noch kein Schiff mit Handsteuerung gestartet. Wenn die Automation versagte, würde er den Start verschieben und hier auf der Erde bleiben, bis der Fehler behoben war.
Das Hauptfeld trat in Aktion, das Gewicht wich von der Centaurus. Der Schiffskörper stieß Protestseufzer aus, als die Kräfte sich neu verteilten. Die gebogenen Arme der Fahrgestelle trugen keine Last mehr; der geringste Windstoß würde den Frachter weit hinaus in den Himmel tragen.
»Ihr Gewicht ist jetzt Null, prüfen Sie die Meßvorrichtung«, kam die Stimme vom Kontrollturm.
Saunders blickte auf die Schalttafeln. Der Gegenstoß des Feldes müßte jetzt genau gleich dem Gewicht des Schiffs sein, und die Meßanzeiger müßten mit den Zahlen auf den Ladetabellen übereinstimmen. Einen kurzen Augenblick lang hatten die Messungen die Gegenwart eines blinden Passagiers an Bord des Schiffes angezeigt – so fein waren die Messungen.
»Eine Million, fünfhundertundsechzigtausend, vierhundertundzwanzig Kilogramm«, las Saunders von der Anzeigetafel. »Ziemlich gut – stimmt bis auf fünfzehn Kilo. Das erste Mal, daß ich Übergewicht habe. Vielleicht haben Sie ein bißchen zuviel Süßwaren für Ihr vollschlankes Mädchen in Port Lowell geladen, Mitch.«
Der Pilot grinste säuerlich. Er war auf dem Mars nie über eine Zufallsbekanntschaft hinausgekommen, was ihm ganz den Ruf eingebracht hatte, stattliche Blondinen zu bevorzugen.
Es war keine Bewegung zu spüren, doch die Centaurus kletterte hinauf in den Sommerhimmel. Ihr Gewicht war nicht nur neutralisiert, sondern auf negative Werte gebracht. Für die Beobachter unten auf der Erde würde sie ein schnell aufgehender Stern sein, ein silbriges Kügelchen, das durch die Wolken schwebte. Um sie herum vertiefte sich das Blau der Atmosphäre zu dem unendlichen Schwarz des Weltraums. Wie eine Perle an einem unsichtbaren Draht folgte der Frachter dem Muster von Radiowellen, die sie von einer Welt zur anderen führen würden.
Das war für Captain Saunders der sechsundzwanzigste Start von der Erde aus. Aber das Staunen würde ihn nie verlassen, und auch nicht das wunderbare Gefühl der Macht, das ihn erfüllte, wenn er an seinem Steuerpult saß, Meister von Kräften, die sich selbst die alten Götter nicht hatten träumen lassen. Jeder Start unterschied sich ein wenig von den anderen: manche führten in die Dämmerung, andere in den Sonnenuntergang, manche über eine wolkenverhangene Erde, andere durch klare und funkelnde Himmel. Der Raum selbst mochte immer gleich sein, aber auf der Erde änderte sich alles von Mal zu Mal. Dort unten rollten die Wellen des Atlantik gen Europa, und hoch über ihnen jagten blinkende Wolkenmassen. England verschwamm mit dem Kontinent, und die europäische Küstenlinie wurde kürzer, bis sie allmählich hinter der gebogenen Erde verschwand. Im Westen tauchte ein Fleck am Horizont auf: Amerika. Mit einem einzigen kurzen Blick konnte Captain Saunders die gesamte Strecke umfassen, die Columbus vor fünfhundert Jahren zurückgelegt hatte.
Mit der Stille von unbegrenzter Kraft schüttelte das Schiff die letzte Verbindung mit der Erde von sich. Für einen Beobachter wäre das trübe rote Glühen der Steuerflossen das einzige Zeichen der Energien die es verbrauchte, gewesen; wo der Hitzeverlust von den Materialumwandlern in den Raum gestreut wurde.
»14:03:45«, schrieb Captain Saunders fein säuberlich in das Logbuch. »Fliehgeschwindigkeit erreicht. Abweichung vom Kurs geringfügig.« Die Eintragung hatte nicht viel Sinn. Die fünfundzwanzigtausend Meilen in der Stunde, die das Ziel der ersten Astronauten gewesen waren, hatten jetzt keine Bedeutung mehr, da sich die Centaurus weiter beschleunigte und noch mehrere Stunden lang immer größere Geschwindigkeiten erzielen würde. Die Bedeutung der Eintragung war psychologischer Art. Bis zu diesem Augenblick wären sie zurück auf die Erde gefallen, wenn die Kraft versagt hätte. Von jetzt an konnte die Gravitation sie nicht mehr einfangen; sie hatten die Freiheit des Weltraums gewonnen und konnten sich einen beliebigen Planeten aussuchen, um darauf zu landen. Natürlich würden sie in Teufels Küche geraten, wenn sie nicht auf dem Mars ankämen, um ihre Güter zu entladen, wie der Plan es vorsah. Aber wie alle Raumfahrer war Captain Saunders im Grunde ein Romantiker. Er träumte manchmal von der beringten Pracht des Saturn oder von den düsteren Einöden des Neptun, erleuchtet von den Feuern der zusammengeschrumpften Sonne.
Eine Stunde nach dem Start überließ Chambers die Kursanlage sich selbst und brachte die drei Gläser, die unter dem Kartentisch standen, zum Vorschein. Während er den traditionellen Toast auf Newton, Einstein und Oberth ausstieß, überlegte Saunders, worin diese Zeremonie wohl ihren Ursprung hatte. Die Mannschaften der Raumschiffe hatten sie sich während der letzten sechs Jahre zur Regel gemacht, das war sicher. Vielleicht war sie auf den legendären Raketeningenieur zurückzuführen, der einmal die Bemerkung machte: »Ich habe in sechzig Sekunden mehr Alkohol verbrannt, als du jemals über diese dreckige Theke verkaufen kannst.« Zwei Stunden später gaben sie den Rechenanlagen die letzten Kurskorrekturen ein, die ihnen die Erdstationen durchgefunkt hatten. Dann waren sie auf sich allein gestellt, bis der Mars sichtbar wurde. Saunders kostete diesen Gedanken aus. Hier waren nur sie drei innerhalb der nächsten Million Meilen.
Unter diesen Umständen hätte die Detonation einer Atombombe kaum erschütternder wirken können als das bescheidene Klopfen an der Kabinentür.
Captain Saunders war in seinem ganzen Leben nie so erschrocken. Mit einem Aufschrei schoß er aus seinem Sitz. Chambers und Mitchell dagegen benahmen sich typisch britisch. Sie rückten unruhig in ihren Sitzen, starrten zur Tür und warteten darauf, daß ihr Kapitän etwas unternahm.
Es dauerte einige Sekunden, bis sich Saunders erholt hatte. Wäre er einem normalen Notfall gegenübergestellt worden, so hätte er sicher völlig ruhig reagiert. Aber ein schüchternes Klopfen an der Tür der Steuerzentrale, in der die gesamte Besatzung des Schiffs versammelt war, brachte ihn aus der Fassung.
Ein blinder Passagier schien unmöglich. Daß man aber damit rechnen mußte, war bekannt. Man hatte die strengsten Vorsichtsmaßregeln dagegen getroffen. Beim Beladen war stets einer seiner Offiziere anwesend, und Saunders wußte, daß es niemandem gelungen sein konnte, unbeobachtet hereinzuschleichen. Außerdem hatten noch die verschiedenen Inspektionen vor dem Start stattgefunden, Chambers und Mitchell hatten sie durchgeführt. Und schließlich war das Gewicht beim Start überprüft worden; das war endgültig. Nein, ein blinder Passagier war völlig … Das Klopfen an der Tür wiederholte sich. Captain Saunders ballte die Fäuste.
»Öffnen Sie die Tür, Mitchell«, forderte er mit grollender Stimme.
Es schien, als dauerte das Schweigen eine Ewigkeit. Dann kam der blinde Passagier, unter der niedrigen Schwerkraft leicht schwankend, in die Kabine. Er war völlig beherrscht und schien sehr zufrieden mit sich.
»Guten Tag, Captain Saunders«, sagte er. »Ich muß mich für mein Eindringen entschuldigen.«
Saunders schluckte. Dann blickte er zu Mitchell und dann zu Chambers. Beide starrten ihn mit einem Ausdruck unaussprechlicher Unschuld an. »Also das ist es«, sagte er bitter. Erklärungen waren nicht mehr notwendig: alles war klar. Er konnte sich die komplizierten Vorbereitungen vorstellen: die mitternächtlichen Treffen, die Fälschung der Papiere, das Abladen nicht notwendiger Fracht. Es war sicher eine höchst interessante Geschichte, aber er hatte kein Verlangen, sie jetzt anzuhören. Er überlegte, was das Handbuch der Raumgesetze zu einer derartigen Situation zu sagen hatte, obwohl er sich schon jetzt darüber im klaren war, daß ihm auch das nicht viel helfen würde.
Natürlich war es schon zu spät, umzukehren: die Verschwörer hätten diesen Fehler nicht begangen. Er mußte also versuchen, das beste daraus zu machen.
Er überlegte immer noch, was er sagen sollte, als das Hauptsignal am Radio-Schaltbrett aufleuchtete. Der blinde Passagier blickte auf seine Uhr.
»Das habe ich erwartet«, sagte er. »Das ist wahrscheinlich der Premierminister. Ich glaube, ich spreche lieber selbst mit dem armen Kerl.«
Das war auch Saunders’ Meinung.
»Bitte, Eure Königliche Hoheit«, sagte er mit heiserer Stimme.
Es war der Premierminister, und er war sehr verärgert. Ein paarmal gebrauchte er den Ausdruck »Eure Pflicht gegenüber Eurem Volk«, und einmal konnte man ganz deutlich ein Schluchzen hören, als er etwas sagte wie »Ergebenheit in die Dienste der Krone.«
Da lehnte sich Mitchell zu Saunders und flüsterte ihm ins Ohr:
»Der alte Knabe sitzt ganz schön in der Klemme, und das weiß er. Das Volk wird sich hinter den Prinzen stellen, wenn es erfährt, was geschehen ist. Jedes Kind weiß doch, daß er schon seit Jahren versucht, einmal in den Raum zu fliegen.«
»Seht!« machte Chambers. Der Prinz sprach, seine Worte flogen über den Abgrund, der ihn jetzt von der Insel trennte, die er einmal regieren würde.
»Es tut mir leid, Herr Premierminister«, sagte er, »wenn ich Ihnen Sorgen bereitet habe. Ich werde so bald wie möglich zurückkehren. Irgend jemand mußte es tun, und ich hatte das Gefühl, daß der Augenblick gekommen ist, daß ein Mitglied meiner Familie die Erde verläßt. Meine Urahnen waren Seeleute, bevor sie die Könige einer Seemacht wurden. Es wird ein nützlicher Teil meiner Ausbildung sein und mich dazu befähigen, meine Pflicht besser zu erfüllen. Auf Wiedersehn.«
Er legte das Mikrophon aus der Hand und ging hinüber zum Beobachtungsfenster – die einzige Luke im ganzen Schiff, die den Blick in den Raum freigab. Saunders beobachtete ihn, wie er am Fenster stand, stolz und einsam, aber jetzt zufrieden.
Eine lange Zeit sprach niemand. Dann riß sich Prinz Henry los von der blendenden Pracht jenseits der Luke. Er sah zu Captain Saunders und lächelte.
»Wo ist die Kombüse, Captain?« fragte er. »Vielleicht bin ich aus der Übung, aber als ich noch bei den Pfadfindern war, galt ich als der beste Koch in meiner Patrouille.«
Saunders holte ein paarmal tief Luft und lächelte zurück. Die Spannung wich. Mars war noch weit entfernt, aber so schlecht schien dieser Flug nicht zu werden.
Durchaus nicht.