Sofi zitterte. Es lag nicht an der Kälte. Unter ihrer Hose und der lacke hatte sie es warm. Ihre Knie hatten ganz unmerklich zu schlottern begonnen. Seit Barbros Aufbruch hatte sie von Minute zu Minute heftiger gezittert. Das war sechs Minuten her. Sofis Knie schlackerten und schlugen gegeneinander, und dasselbe taten ihre Backenzähne. Mit der Angst kam die wirkliche Kälte. Sie durchzog ihren Körper in einer geraden Linie von den Knien nach oben, als stiege sie in einen tiefen, kalten Bergsee.
Kurz bevor die Linie ihre Schultern erreichte, entschied sie sich, etwas dagegen zu tun. Sie stemmte sich aus der Hocke und lief taumelnd an der Flanke des Hauses entlang. Das Kellerfenster verwarf sie sofort. Wenn sie dort einstiege, wäre sie dabei jedem Angriff ausgeliefert. Sie streifte sich die Handschuhe von den Händen und warf sie gegen den Gartenzaun in die Dunkelheit. Mit gezogener Waffe drückte sie ihren Rücken neben der Tür gegen die Hauswand. Sie sah den Spalt. Obwohl ihre Angst größer war als das Haus, schlüpfte sie hinein. Sofort entdeckte sie den Heizkörper und legte ihre Finger in mittlerer C-Lage darauf, wie sie es in ihrer ersten von insgesamt drei Klavierstunden gelernt hatte. Auf einmal flog die Tür zur Halle auf. Sofi schraubte ihren Körper mechanisch hinter der Tür in den Stand und erstarrte. Es war nicht Barbro. Die festen Schritte stammten von einem Mann. Der Mann machte drei Schritte zur Haustür und verharrte. Er hatte bemerkt, dass die Tür nur angelehnt war. Er hielt die Klinke in der Hand und sah zurück in die Halle. Sofi konnte er nicht entdecken, sie kauerte hinter der Innentür und atmete nicht. Es tropfte aus ihrer Nase, ohne dass sie schniefen konnte. Der Mann schloss die Tür und ging zurück. Sofi sank in sich zusammen und spürte, wie ihre Hose nass wurde.
Barbro presste sich in die Ecke des langen Kellerflurs. Einige Meter weiter arbeitete sich jemand im Heizungskeller durch einen Stapel Umzugskartons. Aus dem Kesselraum strömte sommerwarme Luft in den Flur. Barbro labte sich daran. Der Mann hatte sie nicht bemerkt, und Barbro ließ ihn suchen, solange es ging. Sie hatte nur diesen Mann bemerkt. Ab und zu zeichnete sich sein Schatten auf dem Estrich des langen Ganges ab. Sie glaubte, dass er zu kurz war, um von Fohlin stammen zu können. Der maß gute zwei Meter.
Da drang eine laute Stimme von oben: »Jon Ola!«
Die Geräusche aus dem Heizungsraum erstarben im selben Augenblick. »Ja!«, rief Jon Ola.
»Warst du draußen?«
Der Mann zögerte und rief dann: »Nein!« Von oben kam keine Antwort, nur Stille. Der Mann begann nach wenigen Sekunden wieder zu rascheln und zu rumpeln. Barbro dachte an Sofi. Auf einmal hielt Jon Ola inne, schöpfte Verdacht. Er hatte wohl erwartet, dass der andere herunterkam. Aber er kam nicht.
Er trat in den Türrahmen. Der Mann vom Parkplatz. Jon Ola Sundman. Der Kellergang war lang wie ein U-Bahn-Waggon.
Er zog sich unter dem ganzen Haus mit seiner riesigen Grundfläche entlang. Acht Schritte von Barbro entfernt stand der kleine Mann. Sie war am Ende des Ganges in die Hocke gesunken und in den Schatten eingetaucht. Er sah die Treppe hinauf. Barbro, die mit der Waffe auf sein Ohr zielte, bemerkte er nicht. Sie drückte sich aus der Hocke.
Jan Ola wollte sich in Bewegung setzen, die Treppe hinauf.
»Halt!«, rief Barbro gedämpft. »Leg dich hin, du Zwerg!«
Er drehte langsam den Kopf in Barbros Richtung und starrte sie nur an, er zuckte weder zusammen noch gab es eine andere Reaktion. Es wäre klüger gewesen, um die Ecke zu springen, aber das tat der Mann nicht. Barbro hielt ihr Telefon in der anderen Hand und drückte die Eins. Sie hielt es sich ans Ohr. Kjell meldete sich sofort.
»Maris Haus, Sundman und Fohlin. Ich habe die Waffe auf ihn gerichtet.«
»Wir sind schon unterwegs!«
Der Mann trat einen Schritt auf sie zu.
»Er will mich angreifen.«
»Du musst sofort schießen! Wir kommen aus seiner Wohnung. Er und Fohlin waren Berufssoldaten. Nicht warten. Sofort schießen!«
Sofi stemmte sich von der Wand ab und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sie hatte zwei, drei Sekunden geweint, aus Angst. Das machte sie wütend. Sie folgte dem Mann. Er stand am Treppenabsatz zum Keller und rief hinab.
»Warst du draußen?«
Ein dumpfes Nein kam aus dem Keller zurück. Bevor der Mann seinen Fuß auf die nächste Stufe setzen konnte, war Sofi hinter ihm, stieß ihm von hinten den Griff der Waffe in weitem Schwung gegen den Kehlkopf und sprang ihm mit dem rechten Fuß in die Kniekehle seines Standbeins. Während sie es tat, erkannte sie, wie dumm sie war. Der Körper gab viel weniger nach, als sie erwartet hatte. Aber sie traf gut, und wenn man es unerwartet macht, geht auch ein starker Körper nach hinten zu Boden. Aus Fohlins Kehle drang ein Blubbern. Sie war mit dem Griff der Pistole schräg über seinen Kehlkopf gestreift. Er knallte mit dem Kopf auf die Steinfliesen und blieb liegen. Sie packte ihn am Kinn und am rechten Arm. So konnte sie ihn mit Mühe über den glatten Boden zerren, nur ein Stück weit in die Mitte der Halle. Fohlin war nicht bewusstlos, er strampelte. Sie hieb ihm mit dem Knie gegen die Schläfe, aber es schlackerte so, dass sie ihn schlecht traf und die Kraft nicht auf ihn überging. Er wand sich und versuchte, sich auf den Bauch zu drehen. Dann war seine Hand ganz plötzlich da und schnappte nach ihrer. Er fasste ihr Handgelenk und zog sie zu sich. Sein Oberkörper schnellte hoch, er ballte die freie Hand zur Faust und hielt Sofi so fest, dass sie seine Faust kommen sah, ohne ausweichen zu können. Mit voller Wucht schlug sie auf ihrem Kinn ein. Sein Griff verhinderte, dass sie wegflog. Stattdessen knickte sie zu Boden und schlug nun selbst mit dem Kopf auf den Steinboden. Er wälzte sich auf sie und presste sein Knie zwischen ihre Beine.
Barbro ließ das Telefon fallen und nahm die Pistole in beide Hände. Der Mann machte noch einen Schritt und noch einen. Er stand in der Mitte des Gangs vier Meter von ihr entfernt. Von oben platzte ein Schuss durchs ganze Haus. Jon Ola zuckte nur kurz und lächelte. Barbro wich zurück, wich immer weiter. Im Kopf wusste sie, wie falsch das war, trotzdem tat sie es. Sie tat es schon die ganze Zeit. Sie spürte ihre Finger nicht. Sie hatte sich schon tausendmal entschlossen abzudrücken.
Sofi zog Kenneth Fohlin ächzend in die Küche. Sein Oberschenkel hinterließ eine breite Blutspur auf den hellen Kacheln. Nach dem Schuss hatte sie sich unter ihm befreien können und ihm noch einmal mit dem Knie gegen die Schläfe geschlagen. Diesmal hatte sie getroffen. Sie schloss die Küchentür und gab ihm einen Tritt gegen den Brustkorb. Er erwachte röchelnd aus seiner Ohnmacht. Sein Schlag war so stark gewesen, dass ihre Knie immer wieder nachgaben. Sie hielt ihm die Pistole ins Gesicht.
»Ich töte dich jetzt aus Notwehr. Wer hat Carl und Kajsa getötet? Fünf, vier, drei, zwei, …«
Sie zählte, so schnell sie konnte. Er war als Major im Kosovo gewesen. Er hatte viele Menschen schießen sehen. Er sah es in ihren Augen. Sie würde es tun.
»Kajsa!«, stöhnte er auf.
»Was Kajsa?«
»Sie hat Petersson getötet. Ich kann es beweisen. Wir haben alles auf Video. Bei Sundman. Such bei Sundman!« Seine Stimme klang immer noch so gurgelnd seit Sofis erstem Angriff.
»Du lügst. Ist Sundman im Haus?«
Er nickte.
»Ist er bewaffnet?«
Er nickte wieder.
»Wer hat Kajsa getötet?«
»Wir nicht. Das Haus stand schon in Flammen, als wir wieder hinkamen.«
»Wer!«
»Die Ägypter. Es müssen die Ägypter gewesen sein.«
Sofi dachte an Kullgrens Worte. Er hatte Recht. Sie hatte das einzig Richtige getan. Kajsa das Falsche. Sie war eine von denen, die die Ägypter betrogen hatten. Sofi versetzte Fohlin erneut einen Tritt, aber er wurde davon nur benommen. Sie sprang aus der Küche und verriegelte die Tür hinter sich. Sie war aus leichtem Holz, aber weil sie nach innen aufging, würde er sie kaum auftreten können. Als sie den Schlüssel abzog, zögerte sie. Wenn sie ihn töten wollte, dann jetzt. Sie überlegte. Sie musste es jetzt tun. Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob er zu den Ägyptern gehörte. Warum war er nicht tot wie Kajsa? Sie erschrak über sich selbst. Sie wollte niemanden töten. Nur die Frau mit dem Messer in Kairo. Wenn sie jetzt vor ihr stünde, würde sie die Frau töten.
Sie lauschte in die Weite des Hauses und betastete ihren Unterkiefer. Still zu lauschen, fiel ihr unendlich schwer. In ihrem linken Ohr rauschte es. Sie wusste nicht, ob ihr Kiefer gebrochen war. Zuletzt war sie mit zehn Jahren von ihrer Mutter geschlagen worden.
Sie rannte zur Treppe. Die Stufen waren aus Marmor oder einem Imitat. Mit ihren hartgefrorenen Gummisohlen erzeugte sie darauf ein lautes Tappen. Sie hielt sich am Geländer fest und nahm Stufe um Stufe, wobei sie sich tief in die Knie sinken ließ, um den Aufprall abzudämpfen. Ihre Knie schmerzten, als hätte jemand mit einem Hammer daraufgeschlagen. Die Treppe wand sich wie eine Spirale hinab. Als sie in der Biegung erkannte, dass am Ende der Treppe noch ein Durchgang folgte, ging sie schneller. Sie spähte um die Ecke und sah im Schatten den Umriss eines Mannes. Er stand mit dem Rücken zu ihr. Und Barbro erkannte sie bald darauf als noch dunkleren Fleck, der hin und wieder auftauchte. Sofi glaubte, dass Barbro sie nicht sehen konnte. Sie wurde von dem Mann verdeckt.
Was dort vor sich ging, konnte sie nicht erkennen. Die beiden gaben keinen Laut von sich. Dann hörte sie Barbro aufschluchzen. Sofi wackelte auf ihren Beinen. Deshalb lehnte sie sich mit der linken Schulter gegen die Wand. Sie zielte ins Dunkel. Immer wieder vermischten sich die beiden Konturen. Sofi biss sich auf die Lippe. Sie konnte unmöglich schießen. Emelie. Sie konnte nicht riskieren, Barbro zu treffen. Der Knall, dachte sie. Sie hatte Gott darum gebeten. Schnell werden Wünsche wahr.
Sie hob die Waffe ein wenig, das verbesserte die Chance, den Mann zu treffen. Sofi schloss die Augen und machte sie wieder auf. Und schoss.
Der Knall in dem langen, unverkleideten Gang mit dem Steinboden riss Sofi das Herz aus der Brust. In ihren Ohren hallte er noch lange danach. Das laute Schellen in ihren Ohren weckte sie und ließ sie mechanisch nach einem Lichtschalter tasten. Es überdeckte alle anderen Geräusche. Als das Licht ihr in die Augen stach, zuckte sie zusammen. Barbro stand. Sie stand in Rot und Gelb an die Wand gelehnt. Ihr Stehen war unnatürlich aufgerichtet. Barbro starrte mit aufgerissenen Augen in ihre Richtung. Vor ihr lag Sundman. Nein, er lag nicht, sein Kopf war in Barbros Schoß gebettet, sein Kreuz durchgebogen. Als hätte sie die beiden bei etwas Schlüpfrigem erwischt.
Der Gang dauerte ewig. Barbro rührte sich nicht, gab Sofi kein befreiendes Zeichen. Auf ihrem Bauch troff ein großer roter Fleck in Form einer Raute. Er zog sich von ihrem Busen bis hinunter in ihren Schoß. Barbro lebte, ihre Augen waren nicht tot. Sofi erkannte es auf den letzten Metern. Neben ihrem Kopf war die Holzverkleidung der Wand zersplittert. Sie zog den toten Körper von ihr weg. Er fiel in sich zusammen. Barbro stöhnte laut auf, befreite sich so aus ihrer Starre. Sofi dachte an das Eintauchen in ein warmes Schaumbad. Barbros Jacke war geöffnet. Der Fleck saß auf dem weißen Oberteil darunter. Sofi riss es hoch. Der nackte Bauch war unversehrt.
Barbro seufzte: »Sofi.«
Aber Sofi hörte nur das Schellen in ihrem Kopf.