20
Samstag, 1. Dezember
Ida beugte sich über sein Gesicht und küsste ihn auf den Mund. Er schlug die Augen auf und sah, dass sie angezogen war.
»Ich muss zur Arbeit«, flüsterte sie. »Jetzt ist es acht.«
Er schlief wieder ein, bis ihn um elf Uhr sein schlechtes Gewissen weckte. Er hatte Linda nicht mehr angerufen. Er goss sich eine Tasse Kaffee auf und setzte sich an Idas Küchentisch, der so lang war, dass daran auch zwölf Jünger frühstücken könnten. Sie hatte ihm darauf eine kleine Halbarena zwischen den Büchern freigeräumt, in der er seine Tasse abstellen konnte.
Nichts war schöner, als allein in der Wohnung einer Frau zu sitzen. Jeder Mann wusste das. Anders als Frauen litten Männer nicht an dem Zwang, in fremden Wohnungen eine Komplettinventur aller Räume durchzuführen, und konnten die enge Vertrautheit genießen, die sie mit der Liebsten verbindet, obwohl sie gar nicht anwesend ist. Ida hatte ihm Knäckebrot bereitgelegt, aber er war nicht hungrig. Er saß nur da. Hin und wieder nippte er an seinem Kaffee, bis nach einer Viertelstunde sein Telefon klingelte. Es war Barbro.
»Du musst sofort herkommen. Wir haben Robert Sahlin gefunden!«
Er sprang in seine Hose, verließ Idas Wohnung und zog die Tür hinter sich zu. Oben an der Treppe sah er Schuhe. Aus irgendeiner Ahnung blieb er stehen. Dann fiel es ihm ein. Er hatte diese Schuhe bezahlt.
Linda!
Sie ging so langsam, dass man nicht mehr ernsthaft von Gehen sprechen konnte. Die Finger ihrer rechten Hand streiften an der Wand entlang. Mitten auf der Treppe hielt sie inne, sah in seine Richtung, wandte den Blick wieder nach vorne auf die letzten Stufen. Vom unteren Ende der Treppe aus steuerte sie auf ihn zu. Nun konnte er ihr Gesicht sehen. War sie betrunken? Sie schwankte ja.
Dann war sie bei ihm. Er breitete aus Reflex die Arme aus. Sie sank dankbar hinein und legte ihren Kopf an seine Schulter.
»Hallo Papa.«
Sie fühlte sich warm an. Ihre Stimme klang weich und klar. Betrunken war sie nicht.
»Was ist los mit dir? Du bist ja nicht bei Sinnen.«
Sie seufzte erneut.
Er nahm ihren Kopf zwischen die Hände und blickte ihr in die Augen. »Wo kommst du denn her?«
»Ich war oben, im Atelier.« Ihr Kopf sank wieder nach unten.
Er stutzte. »Habt ihr bis jetzt gemalt?«
Sie nickte, indem sie ihre Stirn an seiner Schulter rieb. Er sah auf die Uhr, es war kurz vor zwölf.
»Bist du heute früh hin?«
Sie legte den Kopf zurück und schüttelte ihn lächelnd. Ihr Lächeln hatte etwas Diabolisches. »Gestern.«
Er fühlte wieder die Wärme, die von ihr ausging, eine gut gedämmte Bettwärme war das. Nein. Das wollte er nicht. Er wollte es zu dieser Erkenntnis nicht kommen lassen, doch er hielt seine schlaffe Tochter in den Armen und glaubte, jeden Quadratzentimeter von ihr auf seinem Körper zu spüren. Dieser Grad an Entspanntheit setzte eine Form der Vorarbeit voraus, die er nicht länger verdrängen konnte.
Linda löste sich und blickte ihn aufrichtig an. Sie fragte nicht, was er hier tat. Alles schien selbstverständlich für sie zu sein. Wie immer.
»Hat er dir etwas angetan?«
Sie blickte ihn ernst und nach innen gekehrt an, als müsste sie die Ereignisse erst vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen lassen, um diese Frage beantworten zu können. Er hatte den Eindruck, dass sie bei der ein oder anderen Station ins Stocken geriet. Schließlich verneinte sie mit einem schnellen Kopfschütteln.
»Komm«, sagte er. »Ich bringe dich nach Hause.«
Sie hob den Kopf. »Sei nicht bös, Papa. Ich möchte ein bisschen für mich sein. Ich fahre allein nach Hause. Ja?« Sie wartete seine Antwort nicht ab und wandte sich zur Tür. »Bis später«, rief sie und verschwand.
Er blieb zurück und starrte ihr nach. Linda hatte sich noch nie in ihren Empfindungen stören lassen. Für die Dauer eines Geistesblitzes wollte er nach oben rennen und »aufräumen«. Doch er wartete an Ort und Stelle, bis ihr Vorsprung groß genug war, und verließ das Haus. Draußen schien die Sonne auf den frischen Schnee.
»Wo hast du denn gesteckt?«, fragte Barbro und musterte argwöhnisch den braunen Anzug von gestern, in dem er immer noch steckte. Emelie spielte unter Hennings unbesetztem Schreibtisch auf einer Kuscheldecke. »Ich habe versucht, Linda anzurufen, ob sie heute auf Emelie aufpassen kann. Bei dem Wetter hätten sie in den Zoo gehen können.«
»Sie kann nicht.«
»Ist was passiert?«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist nichts.«
»Sahlin ist vor zwei Stunden in Arlanda angekommen.«
»Wie? Angekommen?«
»Er ist ganz normal mit einer Maschine aus Tel Aviv gelandet. Der Zoll hat ihn festgehalten. Sie bringen ihn her.«
»Warum hat ihn denn in Israel niemand aufgehalten? Was sind denn das für verdammte Vollidioten dort?«
Barbro zuckte zusammen und starrte ihn fassungslos an.
Man überführte Robert Sahlin in kurzer Zeit nach Kungsholmen ins Präsidium. Er wartete im Verhörzimmer, als Kjell hereinkam und ihm die Hand entgegenstreckte. »Robert Sahlin?«
Sahlin nickte. Er war von schmächtiger Statur. Kjell war alles andere als ein Meister darin, Alter und Körpergröße anderer Menschen zu schätzen. Er selbst war einsneunundsiebzig, und wie alle Männer dieser Größe gab er einen Zentimeter drauf. Sahlin hingegen war gute anderthalb Köpfe kleiner als er.
»Du gibst uns Rätsel auf«, begann Kjell. Er stellte sich den kleinen Mann als Lehrer vor einer neunten Klasse vor. Bisher wusste Sahlin offenbar nichts von den Ereignissen in der Västmannagatan. Aber sein Blick war voll Ruhe und Gelassenheit. »Du kommst aus Israel?«, fragte Kjell.
Sahlin nickte.
»Was war der Grund für diese Reise?«
»Ich fahre jedes Jahr ans Tote Meer«, antwortete Sahlin. »Zur Kur.«
Seine Stimme klang unerwartet sonor. Mit ihr füllte er unaufdringlich den ganzen Raum. Auf einmal konnte Kjell ihn sich als Lehrer vorstellen.
»Geht es um etwas Politisches?«, fragte Sahlin.
»Weil es Israel ist? Nein. Es geht um deine Wohnung.« Sahlin sah ihn verständnislos an, aber von Unruhe war er weit entfernt. »Wann warst du zum letzten Mal in deiner Wohnung?«
»Ich bin von dort zum Flughafen gefahren.«
Kjell sah auf seine Notizen. »Das war am Mittwoch, dem 21. November?«
»Um zehn Uhr war ich am Flughafen, und um kurz vor zwölf hob ich ab.«
»Kennst du Carl Petersson?«
»Petersson?« Sahlin dachte nach. »Nur einen im Haus.«
»Den meine ich. Er ist am Montag darauf ermordet worden, mitten in der Nacht.«
»Herrje.« Sahlins Blick war ernst.
Kjell hatte den Eindruck, dass er Anteil nahm, obwohl er Sahlin durchaus glaubte, dass er ihn kaum kannte. Schrecken darüber, dass Tür an Tür ein Mord geschehen war, fand er nicht bei Sahlin.
»Du warst also zur Kur?«
Sahlin reckte wieder den Kopf. »Neurodermitis, im Sommer Island, wegen des Schwefels. Im Winter fahre ich zum Toten Meer.«
»Das war also der einzige Grund für diese Reise?«
Sahlin nickte.
»Hat jemand einen Schlüssel zu deiner Wohnung?«
»Meine Mutter bis zu ihrem Tod. Aber das ist schon lange her.«
»Der Grund für unsere Suche nach dir ist einfach. Der Anruf bei der Polizei kam von dem Telefon in deiner Wohnung.«
Auf Sahlins Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Tatsächlich? In meiner Wohnung ist sonst nie etwas los.«
»Die Wohnung ist nur ein Punkt. Der andere dein Reiseziel, Petersson hatte mit dem Nahen Osten zu tun.«
»Ich verstehe«, sagte Sahlin, aber augenfällig verstand er nicht. »Wie sah meine Wohnung denn aus? Wurde eingebrochen?«
»Eben nicht. Sie war normal verschlossen. Durchwühlt wurde auch nichts.«
Barbro trug ein Tablett herein und stellte es auf dem Tisch ab. Sie füllte drei Tassen mit Kaffee. Das war Teil einer Inszenierung, die die Gruppe »Die Zahnarzthelferin« nannte, und die sie immer dann aufführten, wenn ein männlicher Zeuge oder Tatverdächtiger vernommen wurde. Kjell hatte sie während eines Zahnarztbesuchs entwickelt, als er den Zahnarzt fragte, was eigentlich mit Zahnarzthelferinnen geschah, die das dreiundzwanzigste Lebensjahr vollendet hatten. Wurden die irgendwo hingebracht? In die Bergwerke von Kiruna zum Beispiel? »Die heiraten!«, hatte der Zahnarzt erklärt.
»Die Zahnarzthelferin« war eine ganz und gar archaische Methode: Eine Polizistin notierte zuerst die Personalien, räumte dann den Sitzplatz, auf dem sie nur vorne auf der Kante sitzen durfte, ließ den Stift jedoch am Platz liegen. Dann kam der männliche Kommissar, nahm herrschaftlich Platz, ergriff den Stift wie ein Szepter und begann das Verhör. Die Kollegin hatte etwas später einen zweiten Auftritt beim Hereinbringen von Dingen, die nicht immer wirklich benötigt wurden. Für Sexualstraftäter hatten sie hingegen die sogenannte »Frauenhölle« entwickelt, bei der der Verhaftete nach Betreten des Präsidiums ausschließlich Frauen zu Gesicht bekam und sich während des Verhörs als einziger Mann mit sieben Frauen im Raum befand. Kjell brachte dann gerne auf Anforderung Unterlagen vorbei. Kaffee gab es für Vergewaltiger nur, wenn sie noch viel zu gestehen hatten.
Als Sahlin und Kjell sich Milch in ihren Kaffee füllten, entstand eine kurze Unterbrechung.
»Eine Ida Florén hat angerufen und nach dir gefragt«, flüsterte Barbro.
Kjell wandte sich Barbro eine Spur zu interessiert zu, als dass es jemand wie ihr hätte entgehen können. »Hat sie eine Nummer hinterlassen?«
Barbro kniff die Augen zusammen und prüfte ihn eingehend. Das tat sie ausgiebig, dann nickte sie langsam. Sie hatte Lunte gerochen. Ein erster Verdacht keimte in ihr.
Sahlins Stimme unterbrach ihr Blickgefecht. »Ida Florén aus meinem Haus? Wurde bei ihr auch eingebrochen?«
»Nein. Sie ist nur eine Zeugin.« Kjell betonte das Wort Zeugin.
»Arme Ida«, sagte Sahlin. »Aber jetzt geht es ihr ja besser.«
»Kennst du sie etwa?«
»Mhm«, summte Sahlin. »Wir sind Freunde. Ich habe sie im Sommer zweimal im Krankenhaus besucht. Vorher kannten wir uns nur aus dem Treppenhaus. Im Herbst verschlechtert sich meine Haut immer. Ida kam dann oft. Sie hat für mich eingekauft und Wäsche gewaschen.«
»Warum war Ida denn im Krankenhaus?«
Sahlins Blick wanderte zwischen Kjell und Barbro hin und her.
»Ich kenne sie privat«, versicherte Kjell. »Es ist nicht für die Ermittlung. Sie hat damit nichts zu tun.«
»Das war im Juni nach ihrem Selbstmordversuch.«
Erst zwei Stunden später wählte er ihre Telefonnummer, die Barbro auf einem Zettel notiert hatte. Ida hob nach dem zweiten Läuten ab. Sie klang fröhlich.
»Du hast daran gedacht, etwas bei mir zu vergessen«, behauptete sie. »Das Kabel für dein Telefon nämlich.«
»Das habe ich absichtlich gemacht«, log er.
»Ich hatte nur die Nummer von deiner Visitenkarte.«
Kjell gab ihr all seine anderen Telefonnummern und bat um ihre Mobilnummer.
»Ich habe gar keine. Ich liege im Streit mit der Telefongesellschaft. Als ich im Juni vergessen habe, die Rechnung zu bezahlen, haben sie das Telefon gleich gesperrt. Und da habe ich ihnen das ganze Telefon mit der Karte zurückgeschickt. Die Grundgebühr muss ich leider immer noch bis nächsten Sommer bezahlen.«
Im Juni also. Da hätte er Zeit gehabt. »Möchtest du sehen, wie ich wohne?«
»Wohnst du noch auf Söder?«
Das war lange her. Ida hatte er damals natürlich nie mit nach Hause bringen können. Es gab schließlich gewisse Grenzen.
»Reimersholme.«
»Lädst du mich ein?«
»Ja. Heute geht es leider nicht. Linda ist wahnsinnig geworden, und ich muss ihr Hausarrest geben, bis sie volljährig wird.«
»Wann ist das?«
»In drei Monaten.«
Ida lachte.
»In dieser Woche habe ich frei«, sagte sie. »Da kann ich also immer.«
»Morgen wäre gut. Ich habe am Nachmittag eine Besprechung, und dann hole ich dich ab.«
»Sehe ich dann Linda?«
»Ja, aber sie wird angekettet sein.«