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Donnerstag, 29. November

 

Früh am Morgen brach Sofi nach Uppsala auf. Es hatte wieder angefangen zu schneien. Sie summte im Takt der Scheibenwischer, um später redseliger und offener zu sein. Hinter Knävsta sang sie dann laut. Es war ein värmländisches Lied. Das kannte sie von Bengt, dem Knecht, vom Hof ihrer Pflegeeltern. Sie hatte Jahre gebraucht, um dahinterzukommen, dass sein värmländisches Liedgut aus lauter spontanen Eigenkompositionen bestand. Davor hatte sie gestaunt, dass er zum Namen jeder aktuellen Liebschaft ein Lied, das genau diesen Namen im Refrain enthielt, auf der Pfanne hatte, wie er es nannte.

Sie versuchte sich vorzustellen, was der Tag bringen würde. Sie wollte zuerst noch einmal mit Tivéus sprechen und sich in den Archiven des Instituts umsehen. Für den Mittag war ein Gespräch mit einem Ägyptologen verabredet, dessen Spezialität rätselhafte Inschriften waren. Von diesem Tag erhoffte sie sich Hinweise, die ihr die Entzifferung des Passworts erleichtern könnten.

Das Gespräch mit Tivéus war kurz und beschränkte sich auf Auskünfte, wo Soft ihren Mantel ablegen konnte und wo etwas in dem Institut zu finden war. Der Professor stellte ihr eine Studentin zur Seite, eine von der Sorte, wie es sie an jedem Institut und in jeder Schulklasse als Klassensprecherin gibt. In Firmen verwalteten diese Leute immer die Kaffeekasse. Sie half Sofi, Bücher im Zettelkatalog und in den Regalen zu finden. Sofi suchte neben Veröffentlichungen von Petersson gezielt nach Personen, die eng mit ihm zusammengearbeitet hatten. Doch das zu rekonstruieren, erwies sich als mühsam und schwer. Von den jetzigen Angehörigen des Instituts hatte keiner Petersson mehr erlebt.

 

Bei ihrer Ausstellung hatte Linda mitten im Satz aufgehört, von John Osbomes Porträts zu schwärmen, den Satz jedoch an dieser Stelle wieder aufgenommen, als Kjell ihr am Frühstückstisch erzählte, dass er den Maler später besuchen wollte.

»Du darfst aber nichts von meiner Ausstellung verraten«, flehte sie.

Er versprach es.

John Osborne öffnete die Tür und musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Kjell stellte sich mit Namen und Dienstgrad vor. Osborne sprach leidlich Schwedisch und wollte wissen, was der Unterschied zwischen Kriminal- und Reichskriminalpolizei sei.

»Derselbe wie zwischen County oder State Police und dem FBI«, erklärte Kjell. »Wenn die Reichsmordkommission kommt, ist es immer besonders ernst.«

Osborne nickte.

Die Atmosphäre in dem Dachatelier glich der in Lindas Zimmer. So fühlte er sich nicht fremd. Osborne war für einen berühmten Maler erstaunlich zutraulich, ließ ihn ohne weitere Erklärungen ein und bot ihm einen Platz am Küchentisch an. Außer dem Atelier gab es nur die Küche und zwei weitere Zimmer. Durch die offene Tür sah man in einem der Zimmer ein ungemachtes Bett mit hellblauem Laken.

Die lange Wand des Ateliers war über eine Höhe von zwei Metern auf ganzer Länge verglast. Die Fensterfront maß mindestens sieben Meter in der Breite und war wie die Dächer all der anderen Häuser in diesem architektonisch so monotonen Stadtteil leicht geneigt.

»Schlechtes Licht.« Osborne deutete zur Fensterfront und verfolgte Kjells Blick. Er erzählte, dass hier jemand einige Jahre zuvor die Dachschräge durch eine Fensterfront ersetzt habe, um eine Kombination aus Wintergarten und Gewächshaus zu schaffen.

Die Fassade des Hauses blickte nach Südwesten, also schien die Abendsonne ins Atelier. An der Decke verliefen mehrere Reihen mit Neonröhren. Dieses gnadenlose Licht fand man auch auf Osbornes Bildern. Kjell bedauerte nun ein wenig, dass Linda immer über ihre Malerei schwieg, es lag nicht in ihrer Natur, anderen damit in den Ohren zu liegen. In Osbornes Bildern entdeckte er eine gewisse Ähnlichkeit zu ihren Bildern, die er nicht in Worte fassen konnte. Dazu kannte er sich zu wenig aus. Die Gemeinsamkeit lag vor allem darin, dass es konkrete Bilder waren, meist Porträts. Kjell wusste so viel, dass der Unterschied zwischen konkret und abstrakt viel komplexer war, als er sich das als Malerinnenvater so vorstellte. Osborne und Linda unterschieden sich von anderen lebenden Künstlern darin, dass ihre Bilder sehr sorgfältig gearbeitet waren. Ihnen fehlte die handwerkliche Grobheit, die anderen Malern und Betrachtern zurzeit als Tugend galt. Bisher hatte er geglaubt, dass das bei Linda an ihrem Alter lag, nun aber sah er es mit anderen Augen. Barbro hatte ihm gestern ein Dossier mit Artikeln aus amerikanischen Zeitungen und Fachmagazinen zusammengestellt. Obwohl Osbornes Durchbruch Jahre zurücklag, galt er in der Kunstszene von New York seither offenbar als seiner Zeit voraus.

Osborne bot Kjell Kaffee an, der bereits fertig war. Er hatte gerade beim Frühstück gesessen. Kjell schätzte den Mann auf Ende dreißig bis Anfang vierzig. Er wirkte ruhig, sein Gesicht hatte filigrane, aber nicht unmännliche Züge.

Kjell erklärte ihm, dass die Polizei wegen des Mordes die Nachbarn befragen müsse, und das könne auch mehrmals nötig sein. Er erwähnte auch, was er von Ida wusste. So brauchte Osborne gar nicht erst abzustreiten, Petersson gekannt zu haben.

»Ja, Ida«, seufzte Osborne. »She’s smart as hell.«

Die Küche war nur eine Nische unter der Dachschräge und hatte keine Trennwand zum Atelier, sondern nur eine hüfthohe Theke. So konnte man von hier aus auf die Leinwände blicken. Darauf waren ausschließlich Frauen zu sehen.

»Hast du Ida auch gemalt?«, fragte Kjell arglos.

»Like that?«, fragte Osborne.

»Like that« bedeutete in diesem Zusammenhang »nackt wie im Paradies«.

»She would never agree!«

Kjell atmete auf.

»Ich habe Skizzen von ihr. Das war vor einem Monat. Ich habe sie unten besucht in der Nacht und sie beim Arbeiten gezeichnet.«

Osborne stand auf und ging hinüber ins Atelier. Er kehrte mit einigen Bögen zurück und legte sie vor Kjell auf den Tisch. Kjell kam es so vor, als hätte er das schon einmal erlebt. Beim Betrachten der Skizzen ließ er sich seine Begeisterung nicht anmerken. Es erstaunte ihn, dass dieser Mann etwas an Ida erkannt hatte, von dem Kjell sicher gewesen war, dass nur er es je bemerkt hatte. Das war ganz schön ärgerlich.

»I called them Nightly Scholarship.« Osborne fixierte ihn mit den Augen. »Sie hat ein Problem mit ihrem Körper.«

Kjell schmunzelte. Osborne beobachtete Kjells Reaktion genau, deshalb wechselte Kjell rasch das Thema. »Warum bist du eigentlich in Schweden?«

»Es gibt viele Gründe. Aber der eigentliche Vorteil ist, dass ich dann nicht in Manhattan bin.«

»Wie gut kanntest du Carl Petersson?«

Osborne runzelte die Stirn, als ob er das gar nicht so genau einschätzen könnte.

»Eines Tages hat er geklingelt. Später kam er immer wieder mal vorbei und brachte Fotos mit, zu denen er meine Meinung hören wollte. Es waren altägyptische Stuckmalereien. Funeral, wie sagt man?«

»Grabmalerei?«

Osborne nickte. »And coffins.«

Das passte zu der Datei mit der Abhandlung über einen altägyptischen Sarg, die sie auf Peterssons Computer gefunden hatten.

»Wieso kam er damit zu dir?«

»Das habe ich mich auch gefragt. Es ging um Materialfragen. Ich bin ja auch Bildhauer und habe früher sehr viel mit Materialien experimentiert. Diese Särge sind aus Holz und müssen stuckiert werden, damit man sie bemalen kann. Ich konnte ihm aber nicht helfen.«

»Wieso kam er dann wieder?«

»Er war sehr versiert in der antiken Kunst. Soweit ich weiß, war er Archäologe. Wir hatten eine Reihe von Gesprächen über Fragen zur Perspektive und Proportion. Und da ist die ägyptische Kunst sehr interessant, vor allem für meine aktuelle Arbeit.«

Er zeigte auf eines der Bilder.

Wahrscheinlich hatte Petersson die Gespräche genossen, in denen er mit seinesgleichen über Kunst sprechen konnte.

»Du untersuchst das Verhältnis zwischen Gestalt und Umraum.«

Osborne ließ den ausgestreckten Arm sinken und sah ihn erstaunt an. »Ja.«

In Gedanken sandte er ein Dankeschön an Linda, die ihm beim Frühstück beigebracht hatte, was er zu sagen hatte. »Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«

»In der letzten Woche nicht. Davor war ich in New York. Es muss vier Wochen her sein.«

»Ihr seid euch auch nicht im Treppenhaus begegnet?«

Osborne schüttelte den Kopf.

»Was war Petersson für ein Mensch?«

»Einer, der sich mit allem auskennt. Er hatte Geschmack, war stets gut gekleidet. Ein fruchtbarer Gesprächspartner für alle Themen. Deshalb habe ich mich gern mit ihm unterhalten.«

»Und das Mädchen?«

Osborne schüttelte nur den Kopf und betrachtete sein Bild. »Du kennst dich aus mit Kunst.«

»Nein. Aber meine Tochter. Sie malt.«

»Wie oft?«, fragte er, zunächst ohne Interesse.

Die Frage erstaunte Kjell. Hätte er nicht lieber fragen müssen, wie gut sie malte? »Tag und Nacht.«

Osbornes Interesse wuchs. »Seit wann malt sie?«

»Seit elf Jahren. Sie war ganz aufgeregt, als ich deinen Namen erwähnte. Ida war es, die sie entdeckt hat.«

Auf Osbornes Gesicht machte sich ein abschätzendes Lächeln breit. »Schick sie vorbei«, sagte er. »Sie kann sich die Bilder ansehen.«

 

Barbro fluchte. Der Morgen begann ernüchternd. Der DNA-Vergleich hatte ergeben, dass die beiden Marias die Wohnung von Petersson nie betreten hatten. Zum Glück hatte Barbro keine Zeit damit verschwendet, die Frauen ausgiebig zu befragen. Sie rief die beiden an, teilte ihnen mit, dass man sich geirrt habe, und entschuldigte sich für die Störung. Danach wies sie das Labor an, die Proben zu vernichten.

Nun musste sie überlegen, warum die Suche ergebnislos gewesen war. Sie schlug in der Datenbank nach, wie viele Marias es in Stockholm überhaupt gab. Doch so weit kam sie gar nicht, denn Akazienmädchen antwortete mit einer Rückfrage: Sie sollte die Schreibung des Namens präzisieren. Es gab diesen Vornamen in neun verschiedenen Schreibungen und Variationen. Barbro rief Sofi an und erklärte ihr, welchen Fehler sie begangen hatten.

»Ich habe nicht aufgepasst«, entschuldigte sich Sofi. »Mein Kopf war so voll. Das Programm findest du auf meinem Rechner. Im Namensfeld gibst du M-Sternchen-R-Sternchen ein und führst die Suche noch einmal durch.«

Die neue Suche ergab neben zahlreichem Ausschuss wie Marta, Martin, Maren und Margareta zwei weitere Treffer, eine Mari Svahn und eine Marija Spinoza. Barbro ermittelte die Adressen und brach sofort auf. Die Italienerin war ihre erste Station.

Ihre Wohnung lag im ersten Stock über einem Feinkostgeschäft in Huddinge. Weil das Geschäft ebenfalls Spinoza hieß, ging sie hinein und fragte nach Marija.

Sie war jung und rund und braun wie die Rumkugeln in der Auslage. Barbro fragte, weshalb Marija sich mit einem Jot schreibe, und Marija antwortete in akzentfreiem Schwedisch, dass ihre Mutter Kroatin sei. Der Vater war Italiener und vor zwei Monaten an Prostatakrebs gestorben. Barbro erklärte, dass sie eine Speichelprobe nehmen wolle, da die Polizei in einer Rasterfahndung alle Marias überprüfen müsse, deren Väter vor kurzem an einer Krankheit verstorben waren.

Das Problem war, dass die Maria auf dem Phantombild im Vergleich zu Marija Spinoza dünn wie ein Minzblättchen aussah und ihre Haare um einen knappen Meter kürzer trug. Deshalb beeilte sich Barbro, nach Nacka zu Mari Svahn zu kommen. Sie wohnte in einem freistehenden Haus. Niemand öffnete. Barbro ging um das Gebäude herum und spähte durch die Fenster. Das Haus hatte eine riesige Grundfläche. Das erinnerte sie an Carl Peterssons Wohnung. Auch hier waren die Zimmer aneinandergereiht wie an einer Kette. Der zweite Stock war kleiner, einen Teil der Fläche bildete eine geräumige Terrasse.

Intuitiv wusste sie, dass sie hier richtig war. Die Schreibung des Namens und die Tatsache, dass sie hier niemanden vorfand, fügten sich gut, auch wenn Kjell gerne betonte, dass sich nichts so gut füge wie das Irrsal. Am Haus waren die Rolladen heruntergelassen, und der Briefkasten quoll über. Barbros Intuition wuchs und wuchs.

Sie klingelte beim Nachbarhaus. Eine Frau öffnete und bat Barbro nach wenigen Worten herein. Sie reichte Barbro nicht einmal bis zur Brust.

»Ich kenne Marichen schon seit acht Jahren«, erzählte Frau Vennergren. »Ihre Mutter ist vor fünf Jahren gestorben und vor kurzem auch der Vater.« Frau Vennergren beschrieb ihn als netten und zurückhaltenden Mann. Er erkrankte schon kurz nach dem Tod seiner Frau an Lymphdrüsenkrebs, der sich über Jahre hingezogen hatte. Gustav Svahn war Betriebswirt bei Electrolux gewesen, bevor er vor drei Jahren krankgeschrieben worden war.

Barbro zeigte Frau Vennergren das Phantombild.

»Das ist sie.«

»Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?«

»Auf der Beerdigung. Vor sieben Wochen. Sie war wohl auch ein wenig froh. Das kann man ja verstehen. Im Grunde hat sie ihr halbes Leben mit einem todkranken Elternteil verbracht. Die finanzielle Belastung – das kannst du dir gar nicht vorstellen! Sie haben das Haus, das ist noch lange nicht abbezahlt. Es ist auch viel zu groß für die beiden. Sie hätten es viel früher verkaufen sollen. Gustav lag doch die letzten Jahre im Krankenhaus.«

»Hat Mari denn hier gewohnt?«

»Seit der Beerdigung habe ich sie kaum noch gesehen. Damals hat sie mir verraten, dass die Bank dabei ist, das Haus zu verkaufen. Aber eigentlich wohnt sie noch hier.«

»Was hat Mari denn gemacht? Wo hat sie gearbeitet?«

»Sie hat studiert. Aber ich habe vergessen, was es war. Biologie glaube ich, oder Psychologie. Nein, es hatte mit Knochen zu tun.«

»Hier in Stockholm?«

»Ja. Sie konnte ja nicht anderswo studieren. Wegen Gustav. Ein Wunder, dass sie das Studium geschafft hat.«

 

Zwei Stunden später drang die Polizei in das Haus ein. Es wirkte innen noch verlassener als von außen. Alle Zimmer waren aufgeräumt und sauber, und nur eine dünne Staubschicht bedeckte die Möbel. Die Kriminaltechniker schlössen daraus, dass sich seit dem letzten Hausputz niemand für längere Zeit hier aufgehalten hatte. Barbro öffnete den Kühlschrank. Innen blieb es dunkel.

Die Räume im Erdgeschoss ordnete sie dem Vater zu, die beiden Zimmer in der ersten Etage seiner Tochter. Oben befand sich auch ein eigenes Bad, das ohne Zweifel wie die beiden anderen Zimmer von einer Frau benutzt wurde. Per holte sich seine DNA-Proben aus einer Haarbürste.

Barbro begutachtete die beiden Zimmer. Das Bett war bezogen und auch benutzt. Aus dem Bücherregal konnte man Mari Svahns seelische und äußerliche Entwicklung in den letzten zehn Jahren ablesen, beginnend bei den Pferderomanen der frühen Mari bis hin zu wissenschaftlicher Literatur der späten Jahre. Die Titel passten zu der Vermutung der Nachbarin, dass Mari Biologie oder etwas Verwandtes studiert hatte. In einem kleinen, nur hüfthohen Regal neben dem Schreibtisch fand Barbro Ordner. Darin befanden sich die Aufzeichnungen aus ihrem Studium. Interessant war dabei vor allem, dass die Handschrift von Mari nicht die zweite Handschrift sein konnte, die man in Peterssons Wohnung gefunden hatte.

Als Barbro das Haus verließ, waren Per und sein Kollege Lasse bereits zurückgefahren. Sie kramte eine Weile im Kofferraum und fand schließlich elektronische Siegel für Maris Zimmer und die Haustür.