58

Die Fahrzeuge standen unauffällig im Viertel um das klobige Gebäude der SHF herum verteilt. Um zehn Uhr zwölf bekam Kjell den Anruf von Sofi.

»Acht Uhr 58«, sagte sie. »Tyra hat Kenneth auf dem Mobiltelefon angerufen. Da war er gerade auf dem Årstalänken zum Büro unterwegs. Sie haben zwei Minuten lang geredet. Henning sagt, dabei habe er draußen vor der Tür gestanden und gehustet.«

»Hat also wunderbar geklappt. Was haben sie gesprochen?«

»Weiß ich noch nicht. Melde mich dann.«

Sie legten auf. Kjell gab den Befehl zum Losschlagen. Wie bei einem Broadwaymusical formierten sich die zufällig auf der Straße umhergehenden Passanten zu einer Phalanx, die zielstrebig über den Parkplatz der SHF auf den Eingang zumarschierte. Gleichzeitig fuhren zwölf Wagen auf den Parkplatz und suchten sich in aller Ruhe freie Stellplätze. Man schlenderte zum Eingang. Kjell beschlich kurz die Angst, dass drinnen gerade niemand aus dem Fenster blickte und alles umsonst gewesen war. Er hatte neben seinem Telefon noch ein weiteres dabei. Damit rief er Idas Nummer an, bekam aber nur eine Mitteilung, dass es im Moment nicht möglich sei, den Anruf zu vermitteln. Nun funktionierten in der näheren Umgebung nur noch die Telefone der Polizei und das von Fohlin. »Die Spinne im Netz«, wie Barbro ihre Kollegin Sofi am Morgen getauft hatte, blockierte die ganze Sendeparzelle des Telefonnetzes, weil sie nicht wissen konnten, ob Fohlin oder einer seiner Komplizen ein Telefon besaß, das der Polizei nicht bekannt war. Wie auch immer Fohlin jetzt Kontakt zur Umwelt aufnahm, Sofi zeichnete es auf. Interessanter war aber die Frage, was in diesen Minuten auf den Computern geschah.

Unter den Polizisten waren sieben Leute aus Ragnars Gruppe und der Rest Computerexperten und Kartonträger für das Beweismaterial. Unten in der Eingangshalle gab es eine Zentralrezeption, die die Besucher für alle drei Firmen empfing. Kjell lehnte sich mit dem rechten Arm auf die Theke. Eine blonde junge Frau hatte den Hörer am Ohr und wackelte beim Herumblicken sommerlich mit ihrem Pferdeschwanz. Er wartete, bis sie das Telefonat beendet hatte.

»Guten Morgen«, sagte er dann.

»Guten Morgen!«, antwortete sie irritiert. Ihre Stimme klang antrainiert heiter und sympathisch.

»Wir möchten zu SHF. Bitte melde uns dort an. Ich bin Kjell Cederström vom Reichskriminalamt.« Er hielt ihr seinen Ausweis hin.

»Möchten die Damen und Herren auch mit?«

»Ja«, sagte er. »Wir machen eine Durchsuchung.«

Sie riss die Augen auf, nicht gerade aus Panik, eher erstaunt und dankbar. Erst diese Show, und dann kam auch bald das Wochenende. Schade, dass sie seine Choreographie draußen auf dem Parkplatz verpasst hatte, dachte er. Sie ging bestimmt gerne in Musicals und ärgerte sich wohl, dass sie nicht mit nach oben konnte, um alles mitanzusehen und dabei mit einer Freundin zu telefonieren.

»Einen Moment, ja?«

Er nickte, während sie zum Hörer griff.

»Sag bitte, dass wir alles durchsuchen wollen.«

Sie nickte freundlich und sagte es dann so. Anschließend legte sie auf und sah Kjell in die Augen. »Jemand kommt und holt euch ab.«

»Dann nehmen wir so lange Platz.«

Es dauerte fünf Minuten, bis eine Frau mit kastanienbraunem Haar und Businesskostüm aus dem Lift stieg. Kjell und seine Kollegen erhoben sich.

»Worum geht es bitte?«

»Bitte schön.« Er wies auf die Aufzugtür. Mit der anderen Hand zeigte er seinen Ausweis. So drängte er die Frau zwischen seinen beiden geöffneten Armen vor sich her. Die anderen folgten. In den Aufzug passten nur acht Personen, der Rest nahm die Treppe.

Die Fußtruppe stand schon oben, als der Lift ankam. Fohlin kam selbstsicher auf sie zu. Er trug einen braunen Anzug, der von derselben Güte war wie der graue bei Kjells letztem Besuch.

»Hallo«, sagte Fohlin. »Kommt ihr wegen unseres Gesprächs am Montag?«

»Wo warst du am Wochenende, Freitag, Samstag, Sonntag?«

»Freitag bis acht Uhr hier, seitdem zu Hause.«

»Kann das jemand bestätigen?«

»Meine Frau, nehme ich an. Bitte fragt sie.«

Fohlin konnte natürlich nicht wissen, dass Kjell das Telefonat mit seiner Frau bekannt war. »Das haben wir bereits. Sie hat das bestätigt.«

»Na dann. Weshalb brauche ich denn für das Wochenende ein Alibi?«

»Das werden wir später klären. Bitte bestell deinen Anwalt nach Kungsholmen ins Präsidium.«

Die Türen öffneten sich erneut. Nun strömten zwei Dutzend uniformierte Polizisten herein. Fohlin wurde gleich mitgenommen und nach Kungsholmen gebracht, ebenso zehn andere Mitarbeiter, darunter auch Fohlins Sekretärin und Petra Hult, die Halterin des blauen Hondas. Die Computerexperten nahmen ihre Arbeit in dem Raum auf, der von der Serveranlage ausgefüllt war.

Viele Mitarbeiter traten aus ihren Büros. Sie hatten soeben festgestellt, dass ihr Computer nicht mehr reagierte. Ein Fenster war auf ihren Bildschirmen aufgetaucht und forderte sie auf, den Computer nicht auszuschalten, das bringe gar nichts. Stattdessen solle man sitzen bleiben und abwarten.

Kjell ging in eines der Büros, weil er es mit eigenen Augen sehen wollte. Gut, wenn man Sofi nicht zum Feind hat, dachte er. Das war ihre bisher spektakulärste Computeraktion. Sie hatte die totale Kontrolle über Södra Hammarbyhamn einschließlich des Mobilfunknetzes.

Ragnars Gruppe untersuchte die Aktenordner. Daraus würde sich nichts ergeben, eigentlich kam es nur auf den Auftritt an. Die Sache war schon gelaufen.

 

Barbro wartete im Büro auf die Ankunft von Petra Hult. Um halb zwölf war es so weit. Sie war gespannt und hatte die Wartezeit genutzt, um alle möglichen Szenarien durchzuspielen. Dann betrat sie Verhörraum sechs im dritten Stock. Die Frau hatte ihre dicke weiße Daunenjacke nicht ausgezogen. Barbro ließ einen Stapel Papiere auf die Tischplatte fallen und setzte sich der Frau gegenüber. Grußlos begann sie das Verhör.

»Du bist heute gegen acht mit dem blauen Honda bei SHF angekommen.« Sie zog ein Foto aus der Klarsichthülle und drehte es ihr hin. Darauf sah man, wie Petra Hult aus dem Wagen stieg. »Das Auto ist auf deinen Namen zugelassen. Kannst du mir mehr über diesen Wagen erzählen?«

»Ich habe ihn seit drei Jahren. Er ist vom Betrieb teilfinanziert.«

»Machen das noch andere Mitarbeiter?«

Sie nickte.

»Wer fährt mit dem Wagen?«

»Vor allem ich.«

»Wer sonst noch?«

»Während ich arbeite, können ihn auch andere benutzen. Die Firma zahlt dafür. Sonst könnte ich mir den Wagen gar nicht leisten.«

»Wer ihn ausleihen möchte, fragt dich?«

»Nein, ich gebe den Schlüssel an der Rezeption ab. Die regeln das.«

»Dann gibt es ein Fahrtenbuch?«

»Ja, es liegt im Handschuhfach.«

Barbro nahm ihr Telefon und rief in der Garage an. Dort gab es ein gesondertes Abteil, in dem die Spurensicherung beschlagnahmte Wagen aufbewahrte und untersuchte. Sie forderte das Fahrtenbuch an.

»Der Wagen wird untersucht, du kannst ihn in den nächsten Tagen nicht verwenden.«

Sie warteten einige Minuten, bis ein Mitarbeiter anklopfte und das Fahrtenbuch hereinbrachte. Barbro blätterte es durch.

»Kennst du diese Namen?«

Petra Hult kannte drei der aufgeführten Personen.

»Und vorgestern?«

»Ich bin um acht gekommen und abends um sechs mit dem Wagen zurückgefahren.«

Barbro beendete das Verhör und ging in ihr Büro zurück. Zusammen mit Sofi suchte sie alle fünf Namen im Personalverzeichnis der SHF. Leider handelte es sich ausschließlich um Frauen. Am Montag hatte eine gewisse Selma Hildingson den Wagen in der entsprechenden Zeit ausgeliehen.

»Hat aber nicht ausgestempelt«, sagte die Spinne im Netz nach einem kurzen Blick in den Computer.

 

Barbro rief bei SHF an, ließ Selma ans Telefon holen und fragte, was sie am Montag getan habe. Selma war in der Buchhaltung und hatte am Montag dasselbe getan wie an den dreihundert Montagen davor, nämlich Belege verbucht und abgeheftet.

»Du warst nicht außer Haus?«

»Herrgott, jetzt während des Jahresabschlusses?«

»Bist du schon mal mit dem blauen Honda gefahren?«

»Hm?«

»Bist du dienstlich unterwegs?«

»Wohl kaum. Der Jahresabschluss!«

 

Barbro zog sich beim Aufstehen ihre Jacke über die Schultern und eilte in die Garage. Sie fuhr zu SHF. Dort gab es zwei Empfangssekretärinnen. Sie bestätigten ihr, dass es vier Autos gebe, die privat und dienstlich genutzt wurden. Barbro verlangte eine Liste darüber, welchen Mitarbeitern sie am Montag den Schlüssel ausgehändigt hatten. Es gab eine solche Liste, doch sie war für die Zeit am Montag für sämtliche Fahrzeuge leer. Die beiden Sekretärinnen bestanden darauf, dass sie die Schlüssel die ganze Zeit unter Verschluss gehabt hatten. Barbro erkundigte sich nach Duplikaten und wurde an Fohlins Sekretärin verwiesen.

Sie fuhr wieder zurück. Es lag Schneematsch auf den Straßen, und der Verkehr floss zäh. Sie kam erst um zwei Uhr wieder im Präsidium an. Die Verhöre hatten noch nicht begonnen. Sofi war mit ihrer Auswertung noch nicht fertig. Barbro betrat Verhörraum zwei, wo Helena Åkesson vor einer Tasse Kaffee, einer Thermoskanne und dem schwedischen Tagblatt saß. Barbro grüßte kurz und flüchtig. Helena rückte sich auf dem Stuhl zurecht.

»Ich brauche die Wagenschlüssel für die vier Autos«, sagte Barbro. »Wo liegen die?«

Helena sah sie erschrocken an. Barbro bemerkte erst jetzt, dass sie den Kern der Sache getroffen hatte.

»Ja«, begann Helena langund breit. »Wir haben Reserveschlüssel bei der Geschäftsleitung.«

»Gut, prima.« Sie zog das Fahrtenbuch aus der Mappe, schlug den Montag auf und deutete auf den Namen der Buchhalterin. »Wer hat hier den Schlüssel von dir bekommen?« Barbro sah sie hart an und musste den Gedanken an Emelie verdrängen, der in ihr immer wieder aufstieg. Sie durfte jetzt nicht milde dreinblicken.

»Ich habe keinen Schlüssel herausgegeben.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Jeder in der Geschäftsleitung hat Zugriffdarauf.«

»Da gibt es einen Mann mit kurzen Haaren und schwarzer Lederjacke.« Sie zog den Farblaserausdruck aus der Mappe und hielt ihn Helena hin. »Sag mir, wer das ist.«

Helena beugte sich vor, um das Bild zu betrachten, und ließ sich wieder gegen die Lehne des Stuhls zurückfallen. Dann sah sie Barbro in die Augen. »Ich habe einen fünfzehnjährigen Sohn. Er kommt um fünf aus der Schule.«

»Kann er sich heute selbst versorgen?«

Sie nickte.

Barbro verstand, dass Helena Åkessons Bemerkung mehr grundsätzlicher Natur gewesen war, eine, die nicht nur diesen Abend betraf, sondern den Rest des Lebens.

»Der arbeitet nicht bei uns, kommt aber oft zu Fohlin. Er geht ein und aus. Ich weiß nicht, was der tut.«

Barbro reichte der Frau Schreibblock und Kugelschreiber. »Notier bitte, wann er zuletzt da war.«