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Um sieben Uhr trafen sich die vier wieder im Besprechungsraum zur »Abendandacht«. Nicht jeder Tag wurde von einer Besprechung eingeleitet und beendet, aber wenn sich so viel ereignet hatte, musste man sich am Ende austauschen.

Kjell konnte sich nicht mehr konzentrieren, den anderen ging es ebenso. Henning machte sich ein Bier auf. Alle waren seit der Nacht auf den Beinen.

Barbro hatte herausgefunden, dass die Bankverbindung, die sie unter der Schreibtischunterlage bei dem Passwort gefunden hatten, Peterssons Privatkonto war. Es war in ein Girokonto und mehrere Sparkonten aufgeteilt. Insgesamt befanden sich zehn Millionen Kronen darauf. Zudem existierten noch andere Guthaben. Petersson besaß Aktien. Durch diese Geldgeschäfte hatte er sein Erbe über die Jahre in ein solches Vermögen verwandelt. Das Erbe seiner Eltern hatte aus vier Millionen Kronen und zwei Immobilien bestanden.

»Ich habe Snæfríður vom Wirtschaftsdezernat gebeten, mir zu helfen«, erzählte Barbro. Vor Müdigkeit nuschelte sie schon ein wenig. »Sie bringt als gebürtige Isländerin alle Voraussetzungen mit, um Licht in dubiose Geldkreisläufe und Scheingeschäfte zu bringen.« Alle lachten. »Sie glaubt, dass alles rechtmäßig erworben ist und immer ordentlich versteuert wurde. Alles klar und nachvollziehbar. Sie hat mit dem Steuerberater telefoniert und die Steuererklärungen eingesehen. Was vor unseren Augen sichtbar ist, hat er rechtmäßig erworben. Unter den schwedischen Steuerzahlern kann Petersson als einer der Vorbildlichsten gelten.«

Die Wohnung in der Västmannagatan war Peterssons Eigentum. Die anderen Immobilien aus dem Erbe seiner Eltern hatte Petersson vor einigen Jahren verkauft und den Erlös in Aktien investiert, die sich gut entwickelt hatten.

»Ich habe vorhin mit Hans telefoniert«, sagte Henning. »Er hat bei der Leiche eine kleine Narbe an der Hüfte entdeckt. Das war der Hinweis auf die Herzerkrankung. Die Narbe ist höchstens wenige Wochen alt. Sie entsteht beim Einführen eines Herzkatheters. Den Kardiologen habe ich schon gefunden. Es gibt nicht viele Ärzte, die solche Eingriffe vornehmen. Petersson hat sich vor zwei Monaten an ihn gewandt und über Herzbeschwerden geklagt. Bei der Katheterbehandlung hat sich dann gezeigt, dass die Arterie verengt war. Sie haben diese Stelle dann gedehnt und eine Hülse eingesetzt, die Hans schon gefunden hat.«

»Und wie lebensbedrohlich war das?«, fragte Kjell.

»Es hält sich in Grenzen, aber wenn die Arterie sich ganz schließt, hat man natürlich einen Infarkt. Petersson soll recht besorgt gewesen sein. Eine Herzkatheteruntersuchung ist auch nicht ohne Risiko, aber nur damit kann man klären, wie es da drin wirklich aussieht. Petersson hat sich sofort dafür entschieden.«

»Mit Risiken scheint der Mann ja keine Probleme gehabt zu haben«, gähnte Barbro.

Die Besprechung neigte sich gerade dem Ende zu, als es an der Tür klopfte. Es war Linda. Sie blieb zögernd auf der Schwelle stehen, aber Kjell winkte sie herein. Sie setzte sich auf den freien Stuhl.

»Ah, Linda«, stöhnte Barbro und rieb sich die Augen. »Heute geht es leider nicht. Wir haben einen neuen Fall und sind seit der Nacht auf den Beinen. Ich bin hundemüde.«

»Oh.« Linda lächelte verständig.

Kjell kannte seine Tochter. Nur er konnte sehen, wie enttäuscht sie war.

Linda erhielt seit einem Monat Fahrunterricht, abwechselnd von Barbro und von Henning. Wie sich am Morgen wieder einmal gezeigt hatte, mangelte es Linda an einer gewissen Aufmerksamkeit für ihre Umgebung. Dass sie in Zukunft Auto fahren wollte, erfüllte Kjell mit Sorge. Sie hatte es vorgezogen, Barbro und Henning um Fahrunterricht zu bitten und nicht ihren Vater. Nun ja, dachte er, immerhin hatte die Natur die beiden mit allem ausgestattet, was nötig war, um Linda das Autofahren beizubringen: schnelle Reflexe, Geduld und Gottvertrauen. Sie übten mit Kjells kleinem Renault. Er hatte sich bei seinen Kollegen einige Male nach dem Stand der Entwicklung erkundigt, doch die beiden ließen nur verlauten, dass sie zufrieden seien. Alles liefe gut. Sie waren immerhin noch am Leben.

Manchmal fuhren sie sogar zu dritt. Dann setzten sie Linda am Ende zu Hause ab und fuhren zu zweit dem Horizont entgegen. Offiziell wollte Barbro nicht verpassen, wie der Airbag reagieren würde, wenn er aus dem Lenkrad schoss und Henning am Steuer sitzen sähe. In Wahrheit verbrachten die beiden drei bis vier Abende in der Woche zusammen. Während Barbro zwei Stunden mit Emelie spielte, verteilte Henning das Gewicht seines Körpers gleichmäßig auf dem Sofa der Frau, die wegen ihrer Haltung zu Männern in ihrer alten Abteilung nur »Die Harpunistin« genannt worden war. Doch mittlerweile konnte Kjell sich vorstellen, dass es Momente geben konnte, in denen Barbro sehr weich wurde. Und dass sie sich nach diesen Momenten sehnte.

Es würde ihn nicht wundern, wenn das verchromte Herz von Barbros Vater seine Tochter nach einer Odyssee, die dem klassischen Vorbild weder in Dauer noch in der Zahl der Logbucheinträge nachstand, am Ende in den Hafen von Hennings weit geöffneten Armen triebe. Und Hennings Arme und Hände waren solche, wie man sie bekommt, wenn man jahrelang Schleifen in Schiffsanlegetaue geschlungen hat. Es waren also Arme, aus denen Barbro sich nicht mehr würde herauswinden können, und genau in diese Lage trieb es Barbros Unterbewusstsein anscheinend. Was für eine groteske Entwicklung und wie absolut folgerichtig, fand Kjell. Genauso war das Leben beschaffen.

Wenn Emelie zu zappelig war, wurde sie gegen sieben Uhr auf Hennings Brustkorb gebettet und in den Schlaf gebrummt. Dann schaltete Henning den Fernseher aus. Soweit Kjell wusste, fuhr Henning dann immer noch zu sich nach Hause.

Es war für Kjell überhaupt kein Problem gewesen, das alles herauszufinden. Henning und Barbro verband eine mittelfristige Zukunft in Gestalt eines 10000-Teile-Weltkartenpuzzles, bei dem sich nach zwei Monaten gerade mal die blauen Konturen der Weltmeere abzeichneten. Das alles hatte Henning freimütig zugegeben. Bestimmt puzzelten sie von den beiden Polen aufeinander zu.

Barbro und Linda hatten sich für heute Abend zu einer Fahrstunde verabredet. Deshalb hatte Kjell das Auto auch gestern in der Garage des Präsidiums stehen lassen.

»Wie war der Physiktest?«, wollte Sofi wissen.

Linda war in der vergangenen Woche einige Male ins Büro gekommen, um Sofi Fragen zu den keplerschen Gesetzen zu stellen. Es erstaunte Kjell, dass Linda sich diesmal so viel Mühe gab. Das tat sie bei Fächern, die sie nicht mochte, normalerweise nicht.

»Papa!«, begann Linda. »Höglunds Drucker war kaputt. Er musste uns die Aufgaben diktiiiieren!«

Sie klang empört.

»Und wie lief es?«, fragte Kjell.

»Wir mussten die Umlaufbahn von einem Kleinplaneten berechnen. Und der hieß Joe!«

»Ein Planet namens Joe?«, fragte Barbro amüsiert. »Wie Joe Pesci?«

»Ja!«

Kjell wusste, dass ihre Berechnung der Umlaufbahn des Planeten Joe kein gutes Ende genommen haben konnte, sonst hätte sie ihn schon in der Mittagspause angerufen.

»Das hat mich total durcheinandergebracht. Ich habe gesagt, dass es doch gar keinen Planeten Joe gibt! Wie soll man da die Umlaufbahn berechnen?«

»Ist das denn so wichtig?«, fragte Sofi vorsichtig. Linda sah sie erstaunt an. Sofi versuchte, sich zu erklären. »Ich meine, wenn es einen Planet mit dem Namen loegäbe, dann würden doch die keplerschen Gesetze für ihn genauso gelten. Der Planet könnte doch auch ›Barbro‹ heißen.«

Nein. Das konnte er eben nicht.

Kjell schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. Auf dem Weg zu seinem Mantel strich er seiner Tochter übers Haar. Er überlegte, ob Lindas Auftritt ein Manöver war, kam jedoch zu dem Schluss, dass sie das nicht nötig hatte. Seit Madeleines Tod vor vier Jahren waren sie gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Vom geteilten Leid nahm die Festkörperphysik gute zwei Drittel ein. »Ich bin mir sicher, dass es irgendwo einen Planeten namens Barbro gibt«, sagte er und schlüpfte in den Mantel. »Seine Umlaufbahn ist auf jeden Fall exzentrisch.«

Barbro war so müde, dass sie nur noch abwinken konnte. Sie hatte keine Kraft mehr, jetzt noch eine solche Herausforderung anzunehmen.

Linda rührte sich nicht vom Stuhl, obwohl Kjell seine Hand schon auf die Türklinke gelegt hatte. »Das ist doch noch gar nicht alles. Er hat es dann an die Tafel geschrieben. Und weißt du was, Papa?« Sie drehte sich zu ihm. »Der schreibt sich gar nicht J-O-E. Er meinte Io!«

»Den Jupitermond?«, fragte Sofi.

Linda nickte.

Also doch ein Manöver. Linda wusste nur zu gut, wie sie ihren Vater aufwühlen konnte.

 

»Ist es dir wirklich schlecht gegangen?«, fragte er, als sie allein im Aufzug zur Garage hinabfuhren.

Sie schüttelte den Kopf und wirkte angespannt dabei. »Es war nicht so schlimm.«

Bei ihm siegte die Neugier über alle Bedenken. Er zog den Schlüssel aus der Tasche und hielt ihn ihr hin. »Du darfst fahren, wenn du möchtest.«

Linda zog nur kurz vor Erstaunen ihre Augenbrauen hoch, nahm den Schlüssel und sagte: »Okay.« Zu sehen, wie seine zierliche Tochter in der Tiefgarage des Polizeihauses den Wagen aufschloss, sich hineinsetzte und die nötigen Einstellungen an Sitz und Spiegel vornahm, kam ihm unwirklich vor. Aber dann hörte es sich gut an, wie sie den Wagen anließ.

Jetzt würde alles auf ihre Aufmerksamkeit ankommen. Wer beim Verlassen der Wohnung den Müll mit hinunternimmt, dann aber vergisst, ihn in die Tonne zu werfen, neun Stationen lang mit der stinkenden Tüte in der U-Bahn steht und sich wundert, weshalb er von allen angestarrt wird, wer dann von zwei Schutzpolizisten dabei beobachtet wird, wie er versucht, die Tüte in der bestüberwachten U-Bahn-Station Nordeuropas unauffällig zu deponieren, der musste leider auch ertragen, dass er ausgiebig geprüft wird, bevor er allein Auto fahren darf.

Die Tiefgarage war nicht einfach. Es gab dort Ampeln, viele Rechts-vor-links-Fallen und am Ende hinter der Schranke eine frauenfeindliche Steigung, wo selbst er zweimal in der Woche den Motor abwürgte. Linda hatte den Wagen und die Vorfahrt im Griff. An der Ausfahrt musste sie vor der Schranke halten und Kjell sich ausweisen. An der Steigung heulte nicht einmal der Motor auf.

Draußen quälte sich der Berufsverkehr auf der Hantverkargatan. Die Fahrbahn war zum Glück schneefrei. Ihre Mutter Madeleine hatte bereits sechs Jahre Berufsverkehr mit einem alten Ford hinter sich gehabt, bevor sie Kjell kennenlernte, der ihr erklärte, dass man das Kupplungspedal loslassen könne, wenn man vorher den Gang herausnahm. Madeleine hatte anscheinend mehrmals in der Fahrschule gefehlt und jahrelang die harte Kupplung gedrückt gehalten. Jeden Morgen und jeden Abend jeweils eine Stunde lang, immer wenn das Auto gerade stand. Ihm war es aufgefallen, weil ihr linkes Bein immer so zitterte, manchmal auch, wenn sie gar nicht am Steuer saß. Madeleine hatte es dann ungläubig ausprobiert und danach so glücklich und befreit gewirkt wie nie zuvor. Vielleicht hatte sie ihn aus Dankbarkeit dafür geheiratet, wer wusste das schon.

Kjell erzählte Linda die Geschichte, weil er prüfen wollte, ob sie sich auf zwei Dinge zugleich konzentrieren konnte. Sie lachte.

Er konnte der Erkenntnis nicht länger ausweichen. Neben der Malerei war das Steuern von Fahrzeugen offenbar Lindas Berufung. Wenn es mit der Malerei doch nicht klappte, könnte sie also immer noch Panzerfahrerin werden. Sie war unverkrampft und konzentriert, hatte Zeit und Aufmerksamkeit für einige kürzere Dialoge mit ihm.

»Fahr auf den Esslingeleden«, schlug er vor. »Chauffiere mich ein bisschen herum.«

Sie fuhren schweigend eine halbe Stunde auf dem Stadtring und über wenig befahrene Straßen. Kjell hatte Gelegenheit, über Linda, das Auto und Carl Petersson nachzudenken.

»Du kannst die Prüfung machen und dann das Auto benutzen«, sagte er abschließend. »Du fährst richtig gut. Ich war damals viel schlechter. Von wem hast du das?«

»Na, von Barbro und Henning.«

Kjell berichtete ihr vom Morgen in der Wohnung, schuf für sie ein sinnliches Bild von allen Eindrücken.

»Kennst du einen John Osborne?«, fragte er am Ende.

Erst schluckte sie nach dem langen, stummen Zuhören. »Den Schriftsteller oder den Maler?«

Welchen Schriftsteller? »Den Maler.«

»Der ist ganz berühmt in Amerika. In Europa noch nicht so.«

»Er wohnt anscheinend in dem Haus. Ganz oben ist ein Atelier.«

Linda verpasste eine Möglichkeit zum Linksabbiegen, weil sie ihm zuerst ausgiebig darlegen musste, was das Besondere an Osbornes Bildern war. Er verstand nicht viel davon, was sie über Perspektive erzählte, obwohl es in seinem Beruf ja auch genau darum ging. Er wunderte sich, dass er seine Arbeit als Ermittler noch nicht mit bildender Kunst in Verbindung gebracht hatte. Die Perspektive war doch das A und O, das predigte er Soft jeden Tag.

»Dann schaust du eben einmal bei ihm vorbei«, schlug er vor.

Natürlich würde sie das nie wagen.

Er erkundigte sich nach Neuigkeiten in der Schule und in der Liebe, zwei Dinge, die nur Väter in einem Satz abhandeln konnten.

Natürlich gab es keine Neuigkeiten.