In der Höhle des Löwen
Kurze Zeit später
Alle in Calebs Rudel hatten ihre Hemden ausgezogen. Ich wusste nicht, wieso. Vielleicht nur, um ihre eindrucksvollen Muskeln oder die Shadow-King-Tätowierungen auf Schulter oder Bizeps vorzuführen. Drei kamen zu mir, drei weitere kümmerten sich um Daniel. Die restlichen zwei rissen Gabriel von seinem Platz in der Ecke.
Einer der Jungen löste meine Fesseln, während die anderen mich festhielten. So wie Daniel trat und schlug ich wie wild um mich. Gabriel hingegen leistete keinen Widerstand, als sie uns aus dem kerkerähnlichen Raum zerrten. Sie führten uns ein paar Treppen hinauf. Ich machte schlapp. Ich hoffte, dass mein Widerstand die anderen aus dem Konzept brachte, doch einer meiner Bewacher packte mich bloß und hievte mich wie einen Kartoffelsack auf seine Schulter. Ich konnte seine gewölbten Rückenmuskeln erkennen, wusste aber auch, wo ich ihn empfindlich treffen konnte. Gerade wollte ich meine Faust in seine Nieren rammen, als ein anderer Typ meine Hände fasste und sie mit eisernem Griff umklammert hielt.
Ich musterte ihn von Kopf bis Fuß. Ein Gelal, dachte ich. Den würde ich töten können, wenn es erforderlich wurde. Doch der Typ, der mich trug, war definitiv ein Urbat. Er stank wie ein tollwütiger Hund.
Am oberen Ende der Treppe ließ mich mein Träger zu Boden fallen. Ich zögerte nicht, kam blitzschnell auf die Füße, doch schon waren wieder zwei Bewacher da, die mich festhielten. Jude stand unbeweglich daneben und beobachtete die Szene.
Caleb trat aus seinem Zimmer und kam uns auf der dem Lagerhaus zugewandten Galerie entgegen. Auf seinem Gesicht war ein boshaftes Grinsen. »Ich hoffe, ihr beiden habt die gemeinsame Zeit genossen. Hat Spaß gemacht, euch zuzusehen.«
Einer meiner Bewacher lachte.
Die Überwachungskamera. Natürlich, sie hatten uns beobachtet.
»Es war wirklich rührend, was ihr da über wahre Liebe und diesen ganzen Dreck gefaselt habt. Allerdings hätten wir die Ketten wohl etwas länger machen sollen. Einige von uns hatten nach dem Kuss auf ein wenig nackte Haut gehofft.« Er musterte mich kurz, sodass ich mich am liebsten übergeben hätte. Sein Blick ruhte auf meinen Beinen und ich wünschte, mein Kleid wäre einen Meter länger gewesen. »Aber dafür habe ich später noch genügend Zeit.«
Drei weitere Typen lachten. Sie klangen wie verrückte Hyänen.
Daniel schlug wild um sich. »Wag es ja nicht, sie anzurühren!«, schrie er seinen Vater an.
»Oh, mach dir keine Sorgen. Wir werden ganz sanft sein. Zumindest zu Beginn. Es ist ja schon eine Weile her, dass wir ein Mädchen im Haus hatten.«
»Wahrscheinlich, weil nicht viel von ihnen übrig bleibt, wenn du sie erst mal in die Finger kriegst«, grunzte Talbot aus dem Schatten hinter Caleb.
Talbot war mir erst jetzt aufgefallen; seine Hände waren gefesselt und zwei von Caleb Kalbis Akhs hielten ihn fest. Als ich ihn zuletzt gesehen hatte, war er der Aufpasser an unserer Tür gewesen. Wieso war er jetzt gefesselt? Was war geschehen?
»Deswegen wollte ich sie auch nicht zu dir bringen«, sagte Talbot. »Du verdienst sie nicht.«
Caleb schnippte mit seinen langen Fingern, und einer der Bewacher rammte seine Faust in Talbots Unterleib. Stöhnend sackte Talbot zusammen.
»Talbot sollte dich eigentlich im Laufe der letzten Wochen dazu bringen, dass du dich verwandelst. Für gewöhnlich ist er sehr talentiert. Doch offenbar hattest du weit größeren Einfluss auf ihn als er auf dich. Einer der Gründe, warum ich mit deiner Verwandlung bis heute Morgen gewartet habe und es selbst mache. Vorfreude ist die schönste Freude. Aber ich wollte auch sehen, wer sich mir gegenüber loyal verhält. Ich hatte letzte Nacht schon damit gerechnet, dass einer von ihnen versuchen würde, euch zu befreien. Allerdings hatte ich gedacht, dass es dein Bruder sein würde und nicht mein Beta.«
Deswegen war Talbot also wieder gefesselt. Er hatte versucht, uns zu retten. Vielleicht war ja der Tumult, den ich vor der Tür gehört hatte, gar kein Traum gewesen. Mein eigener Bruder stand jedoch weiter ungefesselt und ungerührt an Calebs Seite, nicht bereit, irgendwas zu tun.
»Du bist wirklich etwas ganz Besonderes.« Caleb kam so dicht heran, dass ich eine Mischung aus Alkohol und seinem Eigengeruch wahrnehmen konnte. Er strich mit dem Finger über meine Wange und dann entlang der Pulsader an meinem Hals. »Selbst an den ungewöhnlichsten Orten bringt man dir Zuneigung entgegen. Du wirst eine ausgezeichnete Alpha-Wölfin, wenn ich dich zu meiner Gefährtin mache.«
»Dazu wird es niemals kommen«, sagte ich so nüchtern, als beschriebe ich eine wissenschaftliche Tatsache. Ich wollte Caleb nicht das Vergnügen bereiten, mich ängstlich oder wütend zu sehen. Bevor er mich anrührte, wäre ich ohnehin schon tot. »Und du bist gar kein wahrer Alpha. Aber Daniel ist es.«
Oder war, wie mir plötzlich klar wurde. Mit einem Mal ergab es einen Sinn, dass Caleb diesen ganzen Aufwand auf sich nahm, um Daniel noch vor der Herausforderungszeremonie zu finden und zu vernichten. Aus demselben Grund hatte er Daniel seit dessen Geburt gehasst. Daniel war mit dem Wesen des wahren Alpha geboren worden. Als Gabriel davon gesprochen hatte, dass es neben Sirhan vielleicht noch einen anderen wahren Alpha gäbe, hatte er Daniel gemeint. Nur wusste er nicht, ob Daniel nach seiner Heilung dieses Potenzial auch weiter in sich trug oder nicht. Alles war sehr verwirrend. Caleb wollte kein Risiko eingehen. Wenn Daniel tatsächlich ein wahrer Alpha war, dann war er der Einzige, der Caleb davon abhalten konnte, Sirhans Rudel zu übernehmen.
»Daniel ist selbst in seinem kleinen Finger mehr wahrer Alpha, als du es je sein wirst. Deshalb hasst du ihn auch, nicht wahr? Weil er all das ist, was du nicht bist.«
Calebs Gesicht erschien ganz dicht vor meinem. Seine Nasenflügel bebten, die gelben Augen blitzten. Er spreizte seinen Finger vor meinem Hals, als wollte er mich mit bloßen Händen erwürgen. Doch dann fasste er nach meinem Mondsteinanhänger und riss ihn mir mit solcher Kraft vom Hals, dass mein Kopf nach vorn fiel und wieder zurückschnellte.
Er warf den Anhänger gegen die nackte Wand, und ich musste zusehen, wie er zu kleinen schwarzen Stückchen vergeblicher Hoffnung zerbrach. Ich versuchte, eines der Stückchen aufzuheben, konnte mich aber nicht aus der Umklammerung meiner Bewacher losreißen. Ich hatte darauf vertraut, dass mir der Mondstein ein paar Minuten der Balance gegeben hätte.
»Zeit, das Spiel zu beenden.« Caleb machte den beiden Bewachern, die mich wie dressierte Köter festhielten, ein Zeichen. »Werft sie in die Grube.«
Als mich die beiden Typen mit sich schleiften, schlug ich nicht um mich und schrie auch nicht. Ohne den Mondsteinanhänger konnte ich mir keinerlei Aufregung leisten.
Meine Zeit war abgelaufen.
Ich hielt völlig still und ließ mich von ihnen zum Rand der Galerie zerren. Ein letztes Mal sah ich zu Daniel. Er schlug wie wild um sich. Vier Bewacher hielten ihn fest. Einen Augenblick hielt er inne, so als könnte er meinen Blick spüren. Mit Tränen in den Augen blickte er mich an.
»Ich werde dich immer lieben«, sagte ich zu ihm. Dann warfen mich die beiden Typen kopfüber vom Rand der Galerie.
»Nein!«, hörte ich Daniel schreien.
Ich wollte fallen. Mit dem Kopf auf den Zementfußboden fünf Meter weiter unten aufschlagen. Doch meine Instinkte übernahmen die Kontrolle und mitten in der Luft rollte ich mich herum. Ich landete, schlug einen Purzelbaum und sprang auf die Füße. Ich knickte mit dem linken Fuß leicht um, entschied mich aber, es zu ignorieren.
Jetzt stand ich völlig allein in dem großen Lagerhausraum.
»Du musst dir schon was Besseres einfallen lassen!«, rief ich Caleb zu.
Er lehnte sich über die Brüstung der Galerie. »Oh, wir fangen gerade erst an, meine Kleine.«
Der Boden unter meinen Füßen vibrierte und verursachte einen stechenden Schmerz in meinem empfindlichen Knöchel.
Ein großes Garagentor öffnete sich auf der entgegengesetzten Seite des Lagerhauses. Das rumpelnde Geräusch des Tors wurde von einem Chor heulender Stimmen begleitet.
»Wie du siehst, Grace Divine, hat der Wolf durchaus Instinkte, um sich selbst am Leben zu erhalten. Wenn man ihn nur genügend reizt, wirst du es nicht verhindern können, dass er aus dir hervorbricht.«
Das schwere Garagentor fuhr weiter nach oben und ließ eine Reihe von sechs heulenden Werwölfen erkennen. Bereit zum Angriff rollten sie mit den Augen, fletschten die Zähne und kauerten sich zusammen. Sie schienen nur noch auf ein Zeichen von Caleb zu warten. Er hielt einen Finger in die Höhe, so als wollte er noch etwas sagen, bevor er seine Hunde des Todes auf mich hetzte.
»Mach, was du willst!«, rief ich Caleb zu. »Aber ich verspreche dir: Ich sterbe eher, bevor ich dem Wolf verfalle.«
»Du wirst ihm verfallen, mein Mädchen«, fauchte Caleb mich an. »Du wirst ihm so ganz und gar verfallen, dass du nur noch mich allein sehen kannst, wenn du aus diesem herrlichen Abgrund aufschaust, in den du dein Leben verwandelt hast. Und dann gehörst du mir.«
Er machte eine knappe Handbewegung. Das Wolfsrudel brach durch die Tür. Ich wollte schreien, weglaufen oder in Ohmacht fallen, kämpfte aber dagegen an. In zwei Reihen kamen sie auf mich zu, verteilten sich und bildeten einen Kreis. Jetzt gab es kein Entkommen mehr. Mein Körper bebte. Schmerz stieg unter meiner Haut auf. Meine Muskeln drohten zu explodieren. Der Dämon in meinem Kopf befahl mir, ihn freizulassen.
Ich durfte es nicht geschehen lassen.
Ich durfte die Kontrolle nicht verlieren.
Einer der Wölfe stürzte auf mich los. Ich trat ihm mit dem Fuß in die Seite und er flog durch die Luft. Als er mit einem Krachen auf dem Boden aufschlug, jaulte er vor Schmerzen. Nicht so hart, Grace, befahl ich mir selbst. Ich wusste nicht, ob Selbstverteidigung als ›raubtierhafter Akt‹ gerechnet wurde, aber ich konnte es einfach nicht riskieren, eines dieser Biester zu töten. Ich durfte sie nicht einmal töten wollen. Sie hatten noch immer menschliche Herzen hinter ihren Wolfsherzen.
Der zweite Wolf griff an. Ich gab ihm einen Tritt. Er schien kaum etwas gespürt zu haben und stürzte wieder auf mich zu. Ich versetzte ihm einen Hieb auf die Schnauze. Blut spritzte aus meinem Knöchel hervor, als ich einen seiner messerscharfen Zähne erwischte. Die anderen Wölfe hatten anscheinend das Blut gerochen und gerieten in völlige Raserei.
Zwei weitere Wölfe kamen jetzt gleichzeitig auf mich zu. Ich wehrte einen ab, doch der andere langte mit seinen Klauen nach meinem Bein, bevor ich ihn wegstoßen konnte. Blut rann aus der Wunde und durchnässte meine zerrissene Strumpfhose.
Ich konnte gar nicht darüber nachdenken, die Verletzung heilen zu lassen, denn schon sprang ein anderer Wolf auf meinen Rücken und brachte mich fast zu Fall. Er rammte seine Zähne in meine Schulter. Scharf brennendes Gift schoss durch meinen Arm und meinen Rücken. Ich konnte das Gewicht des Wolfs nicht viel länger aushalten, warf daher den Kopf nach hinten und knallte ihn vor den des Wolfes. Er heulte auf und rutschte herunter, wobei seine Klauen das Rückenteil meines Capes zerfetzten.
Ein weiterer Wolf stürzte sich auf mich, rammte mir die Zähne in die Seite und durchbohrte meinen Bauch. Ich spürte, wie irgendetwas in meinem Rücken zerplatzte. Eine Niere? Ich schrie verzweifelt auf und verwandte alle mir verbliebenen Kräfte, um den Wolf abzuschütteln.
Ich fasste gerade nach meiner blutüberlaufenen Seite, als einer der anderen Wölfe seine Zähne in mein Bein bohrte. Mein verletzter Knöchel gab nach. Ich schrie und fiel vornüber auf den Zementfußboden.
Die sechs Wölfe umkreisten mich, jaulten und schnappten nach mir. Ich rechnete mit dem Todesstoß, doch keiner der Wölfe löste sich aus seiner abwartenden Haltung. Caleb musste ihnen ein Zeichen gegeben haben, sich noch zurückzuhalten. Wahrscheinlich gefiel es ihm, mich dort in einer Lache meines eigenen Blutes liegen zu sehen.
Steh auf, heulte die schreckliche Stimme in meinem Kopf.
Steh auf. Töte sie! Du willst, dass sie sterben. Steh auf und töte sie alle!
»Nein!«, schrie ich zurück. Ich versuchte, mich vom Boden hochzustemmen, doch meine Arme zitterten so stark, dass ich auf mein Gesicht fiel. Mein Körper zuckte wie wild, so als wäre etwas in mir und kämpfte darum, hinauszugelangen. Eine brennende Flamme in meinem Innern hüllte mich ein und züngelte an meiner Seele.
Töte sie! Töte sie!, sang die Stimme des Wolfs in meinem Kopf. Sie verdienen es, zu sterben! Steh auf und töte sie, bevor sie dich töten!
Ich rollte mich zu einem Ball zusammen. Tränen liefen über mein Gesicht.
Lass mich sie töten. Es gibt keinen anderen Ausweg! Gib dich mir hin und wir töten sie alle.
Ich heulte verzweifelt auf, als meine Muskeln verkrampften und Kopf und Körper in einem unkontrollierbaren Anfall zuckten.
»So ist es gut!« Caleb beugte sich über die Brüstung der Galerie. »Du willst mich töten, nicht wahr? Hier bin ich, meine Kleine. Komm her und hol mich!«
Ja, töte Caleb. Töte ihn, und alles hat ein Ende!
»Nein«, flüsterte ich. Es musste einen anderen Weg geben. Daran glaubte ich. Wirklich.
Ich rollte mich auf den Rücken, blickte zur Decke und stellte mir vor, ich könnte den Himmel dort draußen sehen. »Lieber Gott«, flüsterte ich. »Bitte verschone Daniel und meine Familie. Ich weiß, dass du es kannst. Du kannst mich sterben lassen, aber lass mich nicht dem Fluch verfallen. Rette sie.«
»Jetzt!«, rief Caleb den Wölfen zu.
Sie lösten den Kreis um mich und zogen sich in geduckter Position zurück, bereit zum Angriff. Ein Feuerschwall durchzuckte mich und der Dämon in meinem Kopf schrie nach einer Reaktion. Die Werwölfe richteten sich auf die Hinterbeine auf. Wenngleich ich wusste, dass er mich nicht hören konnte, flüsterte ich Daniel ein Auf Wiedersehen zu und rollte mich auf die Seite.
»Nein!!!«, schrie Daniel. Einer von Calebs Männern brüllte etwas, als sich Daniel aus seiner Umklammerung befreite und ihn zur Seite stieß. Doch die anderen konnten nicht schnell genug reagieren, da sie von den Wölfen und mir völlig abgelenkt waren.
Ja!, dachte ich. Ja, Daniel hat eine Chance zu entkommen!
Dann sprang Daniel über die Brüstung der Galerie.
Nein, warum läuft er nicht weg? Völlig entsetzt sah ich, wie er zu mir herunterfiel. Doch anstatt auf den Boden zu krachen, rollte sich Daniel in der Luft herum und begann plötzlich … sich zu verändern.
Wandlung.
Transformation.
Seine Klamotten platzen von seinem Körper ab.
Ich kniff die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffnete, war es nicht Daniel, der nur ein paar Zentimeter neben mir auf allen vieren gelandet war, sondern ein großer weißer Wolf.
Die anderen Wölfe, die mich gerade hatten angreifen wollen, richteten ihre Aufmerksamkeit jetzt auf den weißen Wolf und versuchten jaulend, ihn von ihrer Beute zu vertreiben. Der weiße Wolf schien mich anzublicken und kauerte sich zusammen. Auf seiner Brust entdeckte ich einen viereckigen Fleck schwarzen Fells. Er verzog seine Lefzen zu einem Fauchen und stürzte auf mich zu.
Ich schloss die Augen und bereitete mich aufs Sterben vor.
Plötzlich spürte ich hektische Bewegungen um mich herum. Ich hörte ein Schnappen und Fauchen und Jaulen. Und als ich die Augen wieder öffnete, stand der weiße Wolf über mir – und beschützte mich.
Der weiße Wolf warf den Kopf zurück und stieß ein derart ohrenbetäubendes Heulen aus, wie ich es noch nie zuvor gehört hatte. Es hallte von den Wänden des Lagerhauses wider, brachte die Fenster über uns zum Zersplittern und ließ meinen Körper bis in meine gebrochenen Knochen hinein erbeben.
Als das Heulen erstarb, war nur noch Stille zu hören.
Der weiße Wolf stand weiter über mir und blickte umher, als wollte er jedem trotzen, der sich auch nur einen Schritt in unsere Richtung wagte.
Ich konnte kaum die Augen offen halten, als ich meinen Kopf zur Seite drehte, um nachzusehen, was passiert war. Zwei der Wölfe lagen blutend am Boden und einer hatte sich zum Garagentor zurückgezogen. Doch die anderen drei sahen aus, als verbeugten sie sich, als hätten sie die Köpfe flehend vor dem weißen Wolf geneigt.
»Nein! Nein! Tötet sie!«, schrie Caleb seine Wölfe an. »Tötet sie beide!«
Die drei Wölfe legten sich auf den Bauch und verweigerten jede weitere Bewegung.
»Dann werde ich dich selbst töten!« Caleb kletterte über die Brüstung der Galerie.
»Nicht, so lange ich etwas zu sagen habe!«, rief eine andere Stimme. Dann schlug jemand Caleb mit einer Eisenstange auf den Hinterkopf. Vielleicht lag es an meinem schwindenden Sehvermögen, aber ich hätte schwören können, dass es Gabriel war.
Caleb sackte hinter dem Geländer zusammen. Plötzlich gab es ein wildes Durcheinander. Einer von Calebs Gelals stürzte sich auf Gabriel, ein weiterer rannte zu ihnen. Ich hörte Talbot etwas rufen. Er sprang mit einem Satz auf den Rücken des Gelals und schlang ihm seine gefesselten Hände über den Kopf und um die Kehle. Die beiden fielen über die Brüstung der Galerie und landeten mit einem harten Krachen. Talbot stieß sich auf seine Knie zurück und zog den Gelal mit sich hoch. Er presste die gefesselten Hände fester um den Hals des Gelals und brach ihm mit einer ruckhaften Bewegung das Genick. Der Gelal fiel in sich zusammen und Talbot zog seine Arme über den leblosen Kopf. Bevor er eine weitere Bewegung machen konnte, stürzte sich ein Akh auf Talbot, und die beiden begannen einen Kampf.
Aber wo war Jude? Wieso konnte ich ihn nirgendwo entdecken?
Das ganze Lagerhaus erbebte in allgemeinem Kampfgetümmel. Ich blickte mich suchend nach Jude um. Zwei weitere Werwölfe kamen drohend auf uns zu, bereit, den weißen Wolf anzugreifen. Der Wolf rührte sich nicht vom Fleck und behielt weiter seine beschützende Stellung bei. Ich musste für einen Augenblick das Bewusstsein verloren haben, denn plötzlich sah ich, dass sich die beiden Wölfe vor dem großen weißen Wolf verneigten.
Einer war viel kleiner als alle anderen. Ist das Ryan?, fragte ich mich.
Ich schmeckte Blut und hustete. Der weiße Wolf beugte sich herunter und schnüffelte an meinem Gesicht. Ich blickte in seine tiefen dunklen Schlammtörtchen-Augen. Daniels Augen.
Aber wie?
Wenn Daniel vor seiner Heilung ein schwarzer Wolf gewesen war, wieso war er jetzt ein weißer?
Ich hörte jemanden aufheulen und wandte all meine Energie auf, um den Kopf zu drehen. Gabriel hing zusammengesunken am Geländer der Galerie; sein Arm stand in einem unnatürlichen Winkel von seinem Körper ab. Caleb, der sich von dem Schlag auf den Kopf völlig erholt zu haben schien, sprang brüllend über das Geländer. Er landete auf den Füßen in der Mitte des Raums.
»Vorsicht«, flüsterte ich Daniel zu.
Der Kopf des weißen Wolfs richtete sich auf. Er kauerte sich drohend zusammen und jaulte Caleb an, der mit einem boshaften Knurren auf uns zustürzte. »Du wirst jetzt sterben!«, schrie er.
Der Daniel-Wolf bellte und die anderen fünf Wölfe, die mit geneigten Köpfen vor uns standen, sprangen auf, drehten sich herum und fauchten jetzt Caleb an. Sie stellten sich auf die Hinterbeine, bereit zum Angriff.
Caleb verlangsamte seine Schritte und musterte das Rudel vor ihm. Sechs gegen einen, konnte ich ihn fast denken hören. Hinter seinen gelben Augen kalkulierte er das Risiko.
Dann stand plötzlich Talbot neben uns. Von den Schnüren an seinen Handgelenken tropfte Gelal-Säure. Er machte eine heftige Bewegung und die von der Säure angegriffenen Fesseln fielen ab. Dann ballte er die Hände zu Fäusten und starrte Caleb an. Drei tote Gelals lagen auf dem Boden.
Sieben gegen einen.
»Sieht so aus, als hätten wir dich in die Enge getrieben!«, rief Gabriel von der Galerie. Er hielt seinen verletzten Arm an die Brust gedrückt, schwang jedoch in seiner anderen Hand die Eisenstange. Zwei Akhs lagen stöhnend zu seinen Füßen.
Caleb wich einen Schritt zurück.
Acht gegen einen.
Aber wo waren Calebs andere Gefährten?
Wo war Jude?
»Hier!«, hörte ich meinen Bruder rufen. Zuerst wusste ich nicht, wo seine Stimme hergekommen war. Doch dann verdrehte ich so weit wie möglich den Kopf und sah ihn in der offenen Tür des Lastenaufzugs stehen. Calebs restliche Jungs hatten sich im Aufzug zusammengedrängt. Sie mussten offenbar durch den Schacht aus dem oberen Stockwerk geflüchtet sein. »Hier, Vater! Schnell. Hier entlang.« Jude winkte Caleb zu und zeigte ihm einen Fluchtweg auf.
»Nein«, sagte Caleb. »Wir führen es zu Ende.« Er blickte zu seinen übrig gebliebenen Shadow Kings. »Kommt!«, rief er ihnen zu, als wären sie ein Häuflein Schoßhunde.
Doch nicht ein Einziger begab sich aus der Sicherheit des Aufzugs.
»Kommt!«
»Nein, Vater«, sagte Jude. »Wir gehen. Jetzt.«
Caleb runzelte die Stirn und verzog knurrend das Gesicht.
Hatte Jude jemals zuvor gewagt, so mit seinem Meister zu sprechen?
»Komm jetzt her, Vater«, forderte Jude Caleb auf.
Caleb starrte einen Augenblick auf den weißen Wolf. Dann richtete er seinen Blick auf Talbot und sah zu Gabriel hoch. Ich war mir nicht sicher, welchen der drei er am liebsten getötet hätte.
Schließlich wandte er sich um und eilte auf den Aufzug zu.
Der weiße Wolf setzte an, Caleb zu folgen, zögerte aber dann und blickte auf mich herunter, als hätte er Angst, seine Beschützerrolle aufzugeben.
»Geh«, sagte ich. »Du musst ihn aufhalten.«
Der weiße Wolf knurrte und rannte mit fünf anderen Wölfen hinter Caleb her. Ich blieb in einer Lache meines eigenen Blutes auf dem kalten Zementboden zurück. Ich hatte keine Kraft mehr, meinen Kopf noch länger aufrecht zu halten, um ihnen nachzublicken.
Plötzlich spürte ich zwei warme Arme, die mich aufhoben. Jemand hielt mich vorsichtig an seine Brust gedrückt. »Talbot?«, fragte ich, seinen Geruch wahrnehmend.
Er drehte sich in Richtung des Tumults, sodass wir gerade noch sehen konnten, wie Caleb auf den Aufzug zuhetzte. Sechs Wölfe waren ihm auf den Fersen – doch nicht nahe genug. Caleb schlüpfte durch den schmalen Spalt der Tür zu seinen Gefährten in den Aufzug. Der weiße Wolf sprang hinterher, aber Jude warf sich zwischen Caleb und Daniel und blockierte den Zugang.
Der weiße Wolf bremste kurz ab und rutschte über den Boden, bis er direkt vor Jude landete. Die anderen fünf hielten jaulend und schnappend hinter dem weißen Wolf inne. Daniel knurrte Jude an, doch mein Bruder bewegte sich nicht. Er starrte Daniel nur an, als forderte er ihn heraus, sich auf ihn zu stürzen, um so an Caleb zu gelangen.
Mit einem frustrierten Heulen wich Daniel einen Schritt zurück.
Jude hatte das Einzige getan, was Daniel davon abhalten konnte, seinen Vater zu erwischen. Daniel hätte meinen Bruder nicht noch einmal absichtlich verletzt.
Caleb zog mit einem Krachen die Aufzugstür herunter und ließ Jude draußen zurück. Er rammte seine Faust vor das Absperrgitter und grunzte vor Wut. Die Fahrstuhlkabine rasselte. »Wenn Sirhan stirbt, werdet auch ihr sterben!«, rief er, als sich der Aufzug in Bewegung setzte.
Jude flehte Caleb an, ihn nicht zurückzulassen.
»Nun bist du auf dich selbst gestellt, mein Junge«, fauchte Caleb. Mit den übrigen Jungen verschwand er zur unteren Etage des Lagerhauses.
Daniel jaulte.
Bevor irgendwer sie aufhalten konnte, würden Caleb und seine Gefährten durch den Korridor ins Depot laufen und von dort aus verschwinden.
Talbot verstärkte seinen Griff um meinen Körper und wollte mich wegtragen. Seine Schulter verdeckte die Szene am Aufzug und verbarg mich vor den Blicken der anderen. Talbot hätte jede Sekunde mit mir fliehen können und niemand hätte es bemerkt.
»Lass mich runter«, versuchte ich ihn anzuherrschen, brachte jedoch nur ein krächzendes Flüstern hervor. »Wo … Wo … bringst du mich hin?«
»Ich versuche nur zu helfen«, entgegnete Talbot.
»Warum?«
Mein Kopf fühlte sich schrecklich schwer an, und die Welt um mich herum wurde unscharf und dunkel. Ich wusste nicht, ob ich noch ganz bei Bewusstsein war, als ich glaubte, Talbot sagen zu hören: »Weil ich dich liebe.«
»Nein … du liebst mich nicht«, versuchte ich zu erwidern, war mir aber nicht sicher, ob diese Worte über meine Lippen kamen. Wusste Talbot überhaupt, was Liebe ist?
Talbot sagte etwas, doch ich war so erledigt, dass ich es nicht verstehen konnte. Ich konzentrierte meine übrig gebliebenen Superkräfte darauf, ihm zuzuhören. »… weil du mich daran erinnerst, wie ich sein wollte … vor langer Zeit. Wie meine Vorfahren … die Saint Moons. Seit ich dreizehn bin, habe ich allein gelebt, nur mit dem Wolf in meinem Kopf … Ich verlor den Blick auf alles, woran ich einst geglaubt habe.« Talbot drückte mich fester an seine Brust. Er beugte sich zu mir herunter und flüsterte – oder schrie, wie ich es empfand – in mein Ohr: »Caleb bot mir eine Familie. Aber du hast mir etwas gezeigt, was viel mehr wert ist: mein eigenes Selbst.«
»Jude?«, flüsterte ich, unfähig Talbots Beichte zu verarbeiten. Ich war viel zu benommen. »Was … ist … passiert …?« Ich konnte nicht einmal klar genug denken, um die Frage zu formulieren.
Talbot stöhnte. Er wandte sich um in Richtung des Lastenaufzugs. Nur verschwommen konnte ich etwas erkennen, doch ich sah, dass der weiße Wolf und die fünf anderen Wölfe jetzt Jude einkreisten, der von seinem so genannten Vater verlassen und – im wahrsten Sinne des Wortes – den Wölfen zum Fraß vorgeworfen worden war. Daniel stand ganz ruhig da, doch die anderen fünf scharrten mit ihren Pfoten über den Boden, knurrten Jude an und schienen begierig, ihn anzugreifen.
Mein Bruder fiel inmitten des Rudels auf die Knie. Er schlug sich die Hände vors Gesicht. »Bitte … ich will jetzt einfach nur nach Hause«, glaubte ich Jude sagen zu hören.
Dann verlor ich das Bewusstsein und alles wurde schwarz.