Wie eine Bombe

 

Später am Tag

 

Nach den Weihnachtsferien und dem Schulbeginn hatte es nicht lange gedauert, bis die Leute in unserem Viertel bemerkten, dass Jude verschwunden war und Mom sich nicht mehr wie die Mutter der Nation und Vorzeigegattin des Pfarrers aufführte. Am Ende der ersten Schulwoche im Januar hatte die ganze Gemeinde kapiert, dass irgendetwas mit den Divines nicht in Ordnung war. Und Dad hatte beschlossen, dass er seinen Gemeindemitgliedern eine Erklärung schuldig wäre. Er wollte die Wahrheit sagen. Zumindest in einer Version, die keine Werwölfe beinhaltete. Selbst meine Mutter wusste nicht viel, und angesichts ihres labilen Geisteszustands war es für sie wahrscheinlich das Beste.

»Ich möchte nur sagen, dass Jude Probleme hatte und weggelaufen ist«, hatte Dad uns erklärt. »Und dass wir es schätzen würden, wenn sich die Leute gedulden, bis sich unsere Familie auf die neue Situation eingestellt hat.«

Doch Mom wollte das nicht zulassen. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass irgendwer ein Urteil über ihre Erziehung fällte und schlecht über unsere Familie dachte.

»Was sollen wir denn dann machen?«, hatte Dad sie gefragt.

»Wir lügen«, hatte sie geantwortet.

»Die ganze Stadt belügen?«, hatte ich gefragt.

»Ja.« Sie hatte sich auf ihrem Stuhl hin- und hergewiegt und auf den Fernseher gestarrt. »Er wird bald zurückkommen. Wir finden ihn. Niemand wird je erfahren, dass etwas nicht in Ordnung war.«

An jenem zweiten Sonntag im Januar fütterte Dad die Menschen in Rose Crest also mit der ›offiziellen‹ Version – und belog sie geradewegs von der Kanzel herab. Gemäß dem Wunsch meiner Mutter erzählte er, dass Jude zu unseren Großeltern nach Florida gefahren sei, weil sie nach Großvater Kramers Rückenoperation Hilfe im Haus brauchten. Und dass er, also mein Dad, ebenfalls gelegentlich zur Unterstützung dort hinfahren werde.

Doch die Leute sind nicht blöd. Sie kamen nicht umhin zu bemerken, dass Jude bereits seit fast zehn Monaten fort war, ohne uns auch nur ein einziges Mal besucht zu haben. Ihnen war nicht entgangen, dass sein Verschwinden mit einem mysteriösen ›Hundeangriff‹ in der Pfarrkirche einhergegangen war, der Daniel für eine Woche auf die Intensivstation gebracht hatte. Natürlich fiel ihnen auf, dass Mom, mit ihrem zu einem falschen Lächeln erstarrten Gesicht und den völlig glasigen Augen, kaum in der Lage war, eine von Dads Predigten zu überstehen. Und die Leute stellten alsbald fest, dass Dad häufiger nach ›Florida runterflog‹, um seinen Schwiegereltern zu helfen, als dass er sich zu Hause aufhielt.

Was also bedeutete, dass die Bewohner von Rose Crest über uns redeten.

Ich wusste, dass es nicht möglich war, allen Menschen reinen Wein über die Ereignisse des letzten Jahres einzuschenken. Doch neben der Tatsache, die Geheimnisse der Unterwelt zu kennen und jeden im Hinblick auf das Verschwinden meines Bruders anzulügen, musste ich auch noch verbergen, dass ich hören konnte, was sich die Leute hinter unserem Rücken über meine Familie und mich erzählten – ein weiterer wenig schöner Nebeneffekt der Tatsache, über ein übermenschliches Gehör zu verfügen, das gern zu den unmöglichsten Zeiten einsetzte.

Die meisten Menschen sind grundsätzlich freundlich. Doch einige waren nur in meiner unmittelbaren Anwesenheit nett. Ich konnte sie über meine Familie tuscheln hören, sobald sie mich außer Hörweite glaubten. Sie liebten es, darüber zu spekulieren, dass Jude vielleicht drogensüchtig wäre oder uns verlassen hätte, um sich einer Sekte anzuschließen. Oder dass er sich auf einer dieser Schulen ganz weit im Westen befände, wo sie gestrauchelte Kids ohne ausreichende Wasservorräte durch die Wüste wandern lassen.

»Ich hab’s ja immer gewusst, dass dieser Junge viel zu perfekt war, um wirklich echt zu sein. Ich wette, sie haben in jener Nacht in der Pfarrkirche Drogen genommen«, hatte ich Brett Johnson, einen von Judes Freunden, einmal flüstern hören, als ich einen Block von ihm und seiner Freundin entfernt war.

Ich wusste auch, dass die Menschen, wenn sie glaubten, dass ich sie unmöglich hören könnte, meine Mutter als verrückt bezeichneten.

Was die Leute auf der Schule über mich sagten, war kaum weniger nervig. Ich war immer daran gewöhnt gewesen, dass sie mich beobachteten und beurteilten, weil ich die Tochter des Pastors war. Doch wenn ich ihnen nun den Rücken zukehrte, wurde ich augenblicklich zur Aussätzigen – aber das ist wohl nichts Ungewöhnliches, wenn der Kapitän des Hockeyteams verhaftet wird und von der Schule fliegt, weil er dich angegriffen hat. Mal ehrlich, ich hatte keine Ahnung, dass die Holy Trinity Academy (HTA) so fanatisch nach Hockey war, bevor ich dafür verantwortlich gemacht wurde, unsere Chancen für den Gewinn der Meisterschaft verdorben zu haben. Spielte ja weiter keine Rolle, dass Pete Bradshaw mich tatsächlich angegriffen hatte.

Ich konnte nicht einmal darauf reagieren, weil normale Menschen eben nicht hören, was andere über sie sagen, wenn sie sich zwei Zimmer weiter nebenan aufhalten. Ich muss also zugeben, dass ich mich nur ein bisschen schuldig fühlte, als sich mein Supergehör heute in der Schule einschaltete und ich belauschte, dass die Massen eine neues saftiges Thema hatten, auf dem sie herumkauen konnten. Die Neuigkeiten über die Ereignisse im Day’s Market hatten schon die Runde gemacht. Und die Spekulationen über die Übeltäter erhielten neues Futter, als meine zweite Stunde, Sport, abgeblasen wurde, weil man entdeckt hatte, dass es an einem der Fenster der Turnhalle einen Einbruchsversuch in die Schule gegeben hatte.

In der dritten Stunde schließlich kursierten die wildesten Gerüchte über die Flure, als verkündet wurde, dass auch der Religionsunterricht komplett ausfiele, da Mr. Shumway, der Religionslehrer, nicht in der Schule erschienen sei.

Einige Leute behaupteten, Mr. Shumway werde vermisst. Doch als ich durch die Haupthalle lief, hörte ich, wie eine Sekretärin im Büro des Direktors sagte, dass er heute ganz früh angerufen und gekündigt habe. Das ergab jedoch keinen Sinn, da Mr. Shumway während der letzten zwei Wochen ständig von einer großen Überraschung gesprochen hatte, deren Einzelheiten er unserer Klasse eigentlich heute hatte verraten wollen. Ich war fast schon bereit, dem Typen unten in der Halle zu glauben, der fünfzig Meter von meinem Spind entfernt behauptete, er habe gehört, dass Mr. Shumway im Zusammenhang mit dem Einbruch ›etwas gesehen‹ hätte. Und dass es ihn derart erschreckt hätte, dass er sich weigerte, zurück in die Schule zu kommen.

Es gab tatsächlich so viel Gequatsche, dass ich in der vierten Stunde nur noch meinen Kopf auf den Zeichentisch legen und mir die Hände auf die Ohren pressen konnte.

»So schlimm?«, fragte Daniel, als er sich auf den Platz neben mich setzte.

»Grauenhaft. Es verursacht mir echt Übelkeit, dass ich nicht in der Lage bin, mein Supergehör ein- und auszuschalten, wann ich es will. Ach, und erinnere mich bitte daran, dass ich nicht mehr am Umkleideraum der Jungs vorbeilaufe, wenn meine Ohren gespitzt sind. Für eine Truppe von christlichen Schülern haben sie ganz schön derbe Sprüche drauf.«

Daniel lachte. Bei der Vibration der Schallwellen hätte ich am liebsten meine Stirn auf die Tischplatte geknallt.

»Oh, tut mir leid«, flüsterte Daniel und räusperte sich. »Du glaubst also, dass Jude etwas mit diesem versuchten Einbruch in die Turnhalle zu tun hat?«, fragte er so leise wie möglich. »Trainer Brown meint, wer immer es gewesen ist, hätte es auf die Computer im Labor nebenan abgesehen. Aber ich schätze, dass Jude nach dem Besuch bei Day’s hier gewesen ist.«

Ich hob meinen Kopf gerade in dem Augenblick, als April Thomas an unserem Tisch vorbeikam und auf ihren Platz im hinteren Teil des Raums zusteuerte. Eine Viertelsekunde lang schielten ihre Augen in meine Richtung. Dann lief sie direkt zu ihrem Tisch, den sie sich mit Kimberly Woodruff teilte, ohne weiter erkennen zu lassen, dass sie meine Existenz überhaupt wahrnahm. Ich erinnerte mich, dass wir uns vor nicht allzu langer Zeit – im letzten Jahr – noch einen Tisch geteilt hatten, als wir die einzigen Schüler der Mittelstufe gewesen waren, die an Mr. Barlows Kunst-Leistungskurs hatten teilnehmen dürfen. Bevor Daniel in die Stadt zurückgekehrt war, April anfing, mit meinem Bruder auszugehen und alles zwischen uns total seltsam wurde.

»Was meinst du?«, fragte Daniel.

Ich wollte es nicht glauben, doch es ergab durchaus einen Sinn, dass Jude nach dem Supermarkt die Schule aufgesucht hatte, wenn man in Betracht zog, dass er in der Nacht, in der er Jessica Days Leiche hinter dem Supermarkt deponiert hatte, hierhergekommen war. Er war zur Turnhalle gekommen, um auf der Weihnachtsparty nach Daniel zu suchen.

Ich wollte Daniels Theorie gerade kommentieren, als jemand hinter mir so laut »Hey, Leute!« sagte, dass ich fast vom Stuhl gefallen wäre.

Daniel und ich drehten uns um und entdeckten Katie Summers, unseren Neuzugang aus Brighton. Sie hielt ein paar Kohlestifte in der Hand, die von einem Band in Hellorange zusammengehalten wurden, das erstaunlicherweise wie ein Riemchen von einem BH aussah. Es passte perfekt zu dem coolen, selbst gemachten Haarband, mit dem sie ihre blonde Kurzhaarfrisur zusammenhielt. »Wow, Grace, deine Haare sehen heute toll aus. Du solltest sie immer halboffen tragen. Hat wirklich was sehr Eigenes.«

Bei den meisten hätte sich das wie ein zweifelhaftes Kompliment angehört – insbesondere, da ich einen nachlässig gebundenen Pferdeschwanz trug, nachdem mir heute Morgen nichts Besseres eingefallen war. Doch von jemandem wie Katie ausgesprochen, die ihre Tofu-Sandwiches und ihren Bio-Weizengrastee in einer Sammlung stilechter 70er-Jahre Behältnisse mit in die Schule brachte, schien ›eigen‹ eine ziemlich coole Sache.

»Oh, danke«, entgegnete ich. Vor dem Hintergrund, dass meine beste Freundin nicht einmal mehr mit mir sprach, fand ich es immer überraschend, wenn jemand anderer als Daniel oder meine Lehrer den Versuch machte, mich zu einer Unterhaltung zu bewegen. »Du siehst fantastisch aus, wie immer.«

Was wirklich stimmte. Katie war eines dieser natürlich schönen Geschöpfe, die zum Schulpicknick ein aus einem blauen Kartoffelsack gefertigtes Kleid tragen können – was sie letzten September tatsächlich getan hatte – und dabei immer noch zum Umfallen großartig aussehen.

»Du bist so süß.« Katie richtete ihre kobaltblauen Augen auf Daniel. »Hey«, sagte sie. »Danke, dass ich mir letzte Woche den Kohlestift ausleihen durfte. Ohne den hätte ich mein Projekt niemals rechtzeitig fertig bekommen.« Sie streckte ihre vielfach beringte Hand aus und hielt Daniel die Kohlestifte hin. »Das ist für dich.«

»Wirklich? Danke schön, Katie.« Daniels Wangen wurden rot und er schien sehr darauf bedacht, nicht das BH-Band zu berühren. »Du hast meinen Stift doch kaum benutzt. Wäre wirklich nicht nötig gewesen, mir diese zu geben.«

»Für meinen Helden ist nichts zu viel«, erwiderte sie und lächelte ihn an.

Ich mochte Katie, ich mochte sie wirklich. Sie behandelte mich nicht auf diese Geh-mir-aus-dem-Weg-Unart, wie es die meisten an der HTA in letzter Zeit taten. Und noch nie hatte ich sie hinter meinem Rücken schlecht über mich reden hören. Was ich an Katie allerdings nicht mochte, war die Art, wie sie Daniel anlächelte. Ganz zu schweigen davon, wie sie ihn ständig nach seiner Meinung über ihre neuesten Projekte fragte – die übrigens immer so atemberaubend waren wie sie selbst. Ihre Eltern waren im letzten Sommer kurzerhand nach Rose Crest gezogen, damit sie am Kunst-Leistungskurs der Holy Trinity Academy teilnehmen konnte.

Daniels Wangen wurden noch röter.

Ich trat ihm vors Schienbein. Etwas zu hart.

»Oah. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen«, wiederholte er, blickte mich dabei aber mit einem sarkastischverschlagenen Lächeln an.

»Okay, Leute, wir sehen uns später«, sagte Katie. »Ist heute nicht der große Tag, oder was meint ihr?«

Ich legte meinen Kopf wieder auf den Tisch und lauschte dem Geräusch ihrer über das Linoleum gleitenden Schuhe.

Der große Tag war momentan das Letzte, worüber ich die Energie hatte nachzudenken.

Nach dem Mittagessen

 

Die Bombe fiel gleich nach Beginn der fünften Stunde.

Der Kunst-Leistungskurs war eine Doppelstunde mit der Mittagspause dazwischen. Als Daniel und ich von unserem Imbiss zurückkehrten, bat uns Mr. Barlow in sein Büro. Alle hatten schon gerätselt, wann die Bekanntgabe erfolgen würde, zumal sich Mr. Barlow in den letzten paar Wochen seltsam verhalten hatte. Während wir arbeiteten, war er an unseren Tischen aufgetaucht, hatte jeden unserer Pinselstriche beobachtet und es mir unmöglich gemacht, auch nur eine einzige gerade Linie zu zeichnen – und hatte somit jeden auch noch so kleinen Hoffnungsfunken erstickt, dass der große Tag für mich etwas anderes als eine Enttäuschung bereithalten würde.

Deswegen war ich auch ziemlich schockiert, als mir klar wurde, dass Barlow in diesem Moment nicht nur Daniel in sein Büro bat.

April saß schon drinnen bei ihm. Sie hatte die Arme über der Brust verschränkt und sah weg, als ich den Raum betrat. Katie Summers hockte neben Barlows Schreibtisch. Sie war etwas grün im Gesicht, wirkte aber trotzdem nicht besonders aufgeregt. Sie lächelte und winkte Daniel zu, als er hinter mir ins Büro kam.

Mr. Barlow schloss die Bürotür hinter sich. Er nahm einen Stapel großer weißer Umschläge von seinem Schreibtisch und händigte jedem von uns einen aus. April öffnete ihren und stieß einen spitzen Schrei aus. Ich riss meinen auf und spürte mein Herz schneller schlagen.

Mit der Hand strich ich über das geprägte, saphirblaue Logo des Amelia Trenton Art Institute.

Dies war tatsächlich der große Tag.

Und ich gehörte dazu?

»Wie Sie wissen«, sagte Mr. Barlow, nachdem er sich an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, »ist Trenton eine sehr konkurrenzorientierte Schule. Die HTA verfügt über eine der wenigen Kunstlehrgänge im Mittleren Westen, die Trenton überhaupt für die Aufnahme von Studenten als würdig erachtet. Um den guten Ruf unseres Kunstprogramms aufrechtzuerhalten, wähle ich jedes Jahr persönlich diejenigen Schüler aus meinem Leistungskurs aus, die sich meiner Meinung nach am besten für eine Bewerbung in Trenton eignen. In diesem Jahr gibt es nur vier Bewerbungsformulare. Jeder von Ihnen hält eines in der Hand.«

Neben mir holte Daniel tief Luft, so als wollte er diesen Augenblick bewahren.

Ich konnte überhaupt nicht mehr richtig atmen.

»Die Bewerbung muss in einem Monat eingereicht werden. Sie benötigen Fotografien ihrer besten Werke, um ein Portfolio Ihrer Arbeit zu erstellen, brauchen zwei Empfehlungsschreiben – Sie alle erhalten eines von mir – und müssen zwei persönliche Essays verfassen. Das ganze Paket müssen Sie vor Ende der Bewerbungsfrist einreichen, ansonsten wird Ihre Bewerbung nicht berücksichtigt. Das ist eure Chance für Trenton, also verderbt sie euch nicht, Leute.«

April zitterte wie ein überglückliches Hündchen. Katie presste das Bewerbungsformular an ihre Brust. Daniel legte seinen Arm um mich und drückte meine Schulter. »Wir haben’s geschafft, Grace«, flüsterte er und küsste mich auf die Schläfe.

»Freuen Sie sich nicht zu früh«, mahnte Barlow und verschränkte seine Hände auf dem Schreibtisch. Normalerweise tat er das immer, wenn er den Haken an einer Sache erläuterte. »Für gewöhnlich nimmt Trenton nur einen Studenten der HTA pro Jahr auf, manchmal zwei.« Sein Blick wanderte zwischen Daniel und mir hin und her. Dann sah er April und Katie an. »Ich habe Sie vier ausgewählt, weil Sie die besten Chancen haben. Machen Sie das absolut Beste aus ihren Bewerbungen. Vielleicht stellen wir dann dieses Jahr einen neuen Rekord auf.« Er strich über seinen gezwirbelten Schnurrbart. »Jetzt verschwinden Sie aus meinem Büro und machen sich wieder an die Arbeit.«

»Viel Glück, Mädels!«, sagte Katie, nachdem wir das Büro verlassen hatten. »Daniel.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Ich möchte sichergehen, dass meine Malerei für das Portfolio genau richtig ist. Würdest du sie dir einmal ansehen? Alle wissen, dass du der Beste bist.«

»Ähm. Ja. Klar.« Er drückte wieder meine Schulter, dann folgte er ihr zu ihrem Tisch.

Ich ließ mich auf meinen Stuhl sinken, saß dort für eine Weile und starrte auf den Trenton-Umschlag. Ich war überzeugt gewesen, dass Mr. Barlow mir unter keinen Umständen ein Bewerbungsformular geben würde. Abgesehen von meiner in letzter Zeit unsicheren Hand waren meine Noten im letzten Winter ziemlich abgefallen – was angesichts der Tatsache, dass sich meine große Liebe als Werwolf entpuppt und mein Bruder in der ganzen Stadt Verwüstungen angerichtet hatte, vielleicht nicht weiter verwunderlich war.

Daniel redete täglich über Trenton. Wie es für uns wohl wäre, wenn wir beide dort zusammen studierten. Er wollte gerne Industriedesigner werden, Gebrauchskunst herstellen, die Menschen in den Händen halten konnten und die ihre Lebensweise verändern würde. Deshalb war er unter anderem nach Rose Crest zurückgekehrt war. Natürlich auch, um nach einer Heilung für seinen Werwolffluch zu suchen. Er träumte davon, dass wir zusammen aufs College gingen, dass wir die Hausarreste und die schrägen Blicke der Leute in der Stadt hinter uns ließen. Dass er endlich den schrecklichen Erinnerungen an seinen Vater entkam, die ihn jedes Mal überfielen, wenn er an seinem alten Haus vorbeigehen musste, um zu unserem zu gelangen.

In der anderen Ecke des Raums brach Katie in Gelächter aus. Ich blickte mich um und sah Daniel auf diese typisch ironische Art grinsen, während er auf etwas in ihrer Zeichnung deutete. Anscheinend hatte er gerade irgendeinen Witz gemacht. Doch mein Supergehör war irgendwann in der Mittagspause verebbt, sodass ich nicht wusste, was er gesagt hatte.

Katie hatte recht: Daniel war der Beste. Wir alle wussten, dass er ein sicherer Kandidat für Trenton war. Es spielte keine Rolle, dass er schon im letzten Jahr seinen Abschluss hätte machen sollen. Wenn er die HTA erst mal hinter sich brächte, war ihm ein Platz in Trenton sicher, wie ihm einer der dortigen Berater versprochen hatte. Der wirkliche Wettbewerb um den zweiten Platz auf der Kunstakademie spielte sich zwischen April, Katie und mir ab.

Meine Chancen schienen gering. April war der absolute Knaller, wenn es um Pastellkreiden ging, und mit Acrylfarben kannte sich in der Klasse niemand besser als Katie aus. Doch andererseits und obwohl Kohlezeichnungen immer meine Spezialität gewesen waren, hatte ich es unter Daniels Anleitung inzwischen mit Ölfarben zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. Zweimal hatte ich in diesem Semester von Barlow eine Eins plus bekommen. Diese behielt er nur Projekten vor, die nach seiner Meinung wirklich etwas Besonders waren. Außerdem hatte Barlow es selbst gesagt: Er hätte mir das Bewerbungsformular nicht gegeben, wenn er geglaubt hätte, dass ich keine Chance haben würde.

Als sich der erste Schock gelegt hatte, spürte ich Tränen in den Augen. Ich wischte sie fort. Dies war zwar ein glücklicher Augenblick, doch ich hatte es nie gemocht zu weinen.

Daniel kam von Katie zurück. Lächelnd brachte er sein Bewerbungsformular zu unserem Tisch.

Auch ohne Superkräfte konnte ich hören, wie Lana Hansen und Mitch Greyson sich an dem Tisch hinter uns flüsternd unterhielten. Mitch hatte anscheinend etwas an Barlows Entscheidung auszusetzen. Ich zuckte mit den Schultern, nahm meinen Trenton-Umschlag und steckte ihn zur Sicherheit in meinen Rucksack.