Grenzen
Sonntagmorgen
Der Gottesdienst fiel bereits zum zweiten Mal aus, weil Dad immer noch unterwegs war. Seit zweieinhalb Wochen war er jetzt nicht zu Hause. Seine bisher längste Reise.
Als Mom ihn die ersten Male losgeschickt hatte, um nach Jude zu suchen, hatte er stets darauf bestanden, spätestens zum Sonntagsgottesdienst wieder zurück zu sein. Es war ja schon schlimm genug, wenn er mittwochs die Bibelstunde nicht geben konnte! Schließlich verdiente er damit unseren Lebensunterhalt.
In letzter Zeit hingegen waren seine Trips länger und länger geworden und heute war der fünfte Sonntagsgottesdienst, den er in zwölf Wochen nicht gehalten hatte. Zum dritten Mal hatte er vergessen oder keinen Wert darauf gelegt, jemanden zu engagieren, der für ihn einspringen und den Segen erteilen konnte.
Mom wachte in einem ihrer erdrückend manischen Zustände auf und befahl Charity und mir, jedes einzelne Gemeindemitglied anzurufen, um ihnen mitzuteilen, dass der Gottesdienst ausfiel, sowie sich im Namen meines Vaters dafür zu entschuldigen – obwohl sie selbst den Grund dafür geliefert hatte, dass er überhaupt unterwegs war.
Leider war es so, dass die Liste der zu benachrichtigenden Familien mit jedem Sonntag, den Dad verpasste, kürzer wurde. Normalerweise kamen die Leute aus Rose Crest und Oak Park, teilweise sogar aus Apple Valley, um das Evangelium von meinem Vater zu hören. Doch immer mehr von Dads einst treu ergebenen Gemeindemitgliedern waren zu Pastor Clark in New Hope übergelaufen. Und jedes Mal, wenn Dad einen Gottesdienst ausfallen ließ, wurde darüber gemunkelt, dass die Gemeinde einen neuen Pastor brauchte.
Die freundlicheren Leute schlugen am Telefon vor, dass Dad einen Jungpfarrer einstellen sollte, der auf Abruf bereitstünde, wenn Dad nicht da war, und vielleicht auch den Religionsunterricht an der Schule übernehmen könnte, da Mr. Shumway gekündigt hatte. Doch ein paar der frustrierten und ihm weniger zugetanen Gemeindemitglieder erklärten meckernd, dass Dad komplett ersetzt werden müsste, auch wenn die Gemeinde seit drei Jahrzehnten von den Divines betreut wurde. Ich fragte mich, ob sie wohl noch derselben Ansicht gewesen wären, wenn ich ihnen freiheraus erzählt hätte, dass Dad nicht da war, weil er nach Jude suchte.
Ich beendete das letzte Gespräch in der Erwartung, völlig ausgelaugt und erschöpft zu sein, verspürte aber nur Angst. Und das lag daran, weil ich eine Nummer siebenmal angerufen hatte, ohne dass jemand drangegangen war. Daniels Nummer.
Weshalb ging er nicht ans Telefon?
Wahrscheinlich schläft er bloß, versuchte ich mir einzureden. Wenn er immer noch krank ist, braucht er Ruhe und ich sollte ihn nicht behelligen.
Nichtsdestotrotz verspannten sich meine Muskeln jedes Mal, wenn ich an das Motorrad zurückdachte, das seinem so ähnlich gesehen und nur ein paar Blocks vom Depot entfernt gestanden hatte. Aber es konnte doch nicht seins gewesen sein, oder? Was hätte er in der City zu tun gehabt? Nein, es war nicht Daniels Motorrad. Er lag krank im Bett. Zumindest hatte er das gesagt. Ich meine, warum sollte er lügen?
Eine Weile versuchte ich, ein Buch für den Englischunterricht zu lesen, und machte mich dann an den Berg von Aufgaben, die Mom, obwohl es Sonntag war, Charity und mir auferlegt hatte. Doch sosehr ich es auch versuchte, ich konnte die Ruhelosigkeit in meinem Körper nicht abschütteln. Ich wollte aus dem Haus raus. Ich wollte zu Daniel.
Ich wollte rennen.
Das war eines der Dinge, an die ich mich inmitten dieser ganzen Mit-dem-Fluch-infiziert-sein-Nummer noch nicht gewöhnt hatte – das Bedürfnis zu rennen. Ich war nie eine Läuferin gewesen. Tatsächlich hatte unser Sportlehrer in der zehnten Klasse April und mich die ›Schildkröten-Zwillinge‹ getauft, weil wir bei dem täglichen Kilometer immer als Letzte ins Ziel gekommen waren: April, weil sie das Schwitzen nicht ausstehen konnte, und ich, weil ich das Laufen nicht mochte. Jetzt allerdings sehnte ich mich oft nach einem guten Sprint und wusste, dass ich mich den ganzen Tag lang nicht entspannen könnte, wenn ich die Schmerzen in meinen Muskeln nicht durch die Berührung meiner Füße mit dem Asphalt aus mir herausbrachte. Und nebenbei konnte ich nach Daniel sehen.
Mom zog James gerade eine Jacke an und wollte zu einem abendlichen Trip ins Seniorenheim aufbrechen, um dort Mrs. Ludwig und ein paar andere Witwen aus der Gemeinde zu besuchen (eine von Dads sonntäglichen Aufgaben), als ich in Laufschuhen und Trainingsklamotten die Treppe herunterkam.
»Wo willst du denn bitte schön hin?«, fragte sie.
»Ich muss mich unbedingt etwas bewegen, Mom. Ich hab alle Hausaufgaben erledigt, alle Badezimmer geputzt und den Wäscheraum aufgeräumt, so wie du mich gebeten hast.« Eher wie du mir befohlen hast, aber egal. »Ich werde nicht lange wegbleiben, ich versprech’s.«
Ihr verkniffener Gesichtsausdruck ließ mich fast glauben, dass sie mir nicht erlauben würde, das Haus zu verlassen. Doch stattdessen knöpfte sie den letzten Knopf an James Jacke zu und streifte sich ihre Handtasche über die Schulter. »Nun gut. Aber lauf nicht zu weit vom Haus weg. Es wird bald dunkel und man weiß ja heutzutage nie, wer da draußen rumrennt.«
»In Ordnung.« Ich sagte ihr nicht, dass ich vorhatte, bis nach Oak Park zu laufen, und schlüpfte durch die Tür, bevor sie ihre Meinung ändern konnte.
Neben dem Walnussbaum blieb ich stehen und stützte mich mit der Hand ab, während ich meine Oberschenkel dehnte, dann verfiel ich in einen leichten Trab. Den ganzen Tag hatte ich nicht aufhören können, an die Ereignisse vom Vortag zu denken. Ich hatte meine Kräfte im Griff gehabt, sie einen Augenblick zurückgehalten und dann kurz eingesetzt. Wieder und wieder hatte ich mit Daniel ergebnislos trainiert. Die Tatsache, dass ich meine Kräfte tatsächlich hatte einsetzen können, um diesen Typen abzuwehren und jemanden zu beschützen, an dem mir etwas lag, war eine wirklich belebende Erfahrung.
Und ich wollte mehr.
Ich war ungefähr einen Kilometer von zu Hause entfernt, als der bekannte Schmerz der einsetzenden Kräfte in meinem Körper aufwallte, sich in meinen Muskeln bündelte, meine Schultern zittern und meine Beine pochen ließ. Ich schraubte meine Geschwindigkeit zu einem schnellen Sprint hoch.
Hinter den Hügeln von Rose Crest versank die Sonne. Mom hätte gewollt, dass ich jetzt umkehrte. Doch ich konnte nicht aufhören daran zu denken, wie frustrierend es gewesen war, als meine Kräfte am Abend zuvor nachgelassen hatten und ich auf eine andere Person angewiesen gewesen war, die mich hatte retten müssen. Hätte ich über größere Kontrolle verfügt, wäre ich auch ohne fremde Hilfe mit diesen Typen fertig geworden. Noch weitaus frustrierender war allerdings die Erkenntnis, dass ich meine Kräfte wirklich brauchte, wenn ich Jude finden wollte. Das Debakel am Abend zuvor hatte es mir deutlich gezeigt.
Ich konzentrierte mich auf den Schmerz in meinem Körper. Versuchte, ihn anzunehmen. Versuchte, meinen Beinen zu befehlen, schneller und ausdauernder zu laufen als je zuvor.
Aber nichts passierte.
Ich konnte die wie auch immer geartete Grenze, die zwischen mir und der vollen Ausschöpfung meiner Kräfte lag, nicht überwinden.
Später
Meine Beine waren ungefähr so stabil wie Radiergummis, als ich auf Maryanne Dukes altes Haus zutrabte. Ich hatte gehofft, Daniel ein paar gute neue Nachrichten mitteilen, ihm erzählen zu können, wie ich endlich meine Schnelligkeit und Beweglichkeit verbessert hatte. Stattdessen hingen meine Schultern frustriert herab. Ich verstand es nicht. Weshalb hatte ich am Abend zuvor meine Kräfte anwenden können, jetzt aber nicht? Wo lag der Unterschied?
Meine Frustration verwandelte sich in Neugier, als ich mich Maryannes Haus näherte und draußen Daniel entdeckte, der einen Seesack auf seiner Honda Shadow befestigte.
»Hey!«, rief ich ihm zu, als ich in die Einfahrt joggte.
Daniel war in die Hocke gegangen und richtete einen der Riemen, die sein Gepäck festhielten. »Was machst du denn hier?«
»Wollte nur mal sehen … Ähm, wollte nur vorbeikommen, um Hallo zu sagen.« Ich winkte ihm zögernd zu. »Also denn, hallo.«
»Hallo.« Daniel kratzte am Verband seines Unterarms und überprüfte den Halt eines weiteren Riemens, der seinen Seesack umspannte. Bis jetzt hatte er mich noch nicht angesehen.
»Was ist los?« Ich fummelte am Reißverschluss seines Seesacks herum. »Fährst du irgendwohin?«
Daniel grunzte, doch bevor er antworten konnte, wandten wir uns beide dem Geräusch eines Autos zu, das hinter uns in die Einfahrt fuhr. Nicht irgendein Wagen, sondern der Streifenwagen des Sheriffs. Daniel erstarrte und richtete sich auf. Für eine halbe Sekunde blickten mich seine Augen nun endlich an, richteten sich danach aber gleich wieder auf den Seesack auf dem Gepäckträger seines Motorrads. Er stellte sich davor, als Sheriff Ford und Hilfssheriff Marsh ausstiegen.
»Hallo Sir«, sagte er zum Sheriff. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Gibt es ein Problem?« Er klang wie jemand, der viele Male wegen überhöhter Geschwindigkeit angehalten worden war – was ich keineswegs bezweifelte. Daniel hatte immer darauf gestanden, schnell zu fahren. Doch der bleiche Gesichtsausdruck von Sheriff Ford ließ mich vermuten, dass er wegen etwas Ernsterem als eines Strafzettels gekommen war.
»Worum geht es denn?«, fragte ich.
»Kennt einer von Ihnen einen Tyler Whitney?«
»Nein«, erwiderte Daniel, »da bin ich mir ziemlich sicher.«
»Nun, es gibt einen Zeugen, der das Gegenteil behauptet.« Der Sheriff deutete auf den Verband an Daniels Arm. »Jemand sagt, Sie wären mit Tyler und ein paar seiner Freunde neulich abends aneinandergeraten.«
»Moment mal. Tyler?« Ich sah Daniel an. Er wirkte ausdruckslos wie ein Stein. »Ich glaube, er meint Pete Bradshaws Freund Ty.« Den ich gestern Abend im Club gesehen hatte. »Das ist purer Unsinn«, sagte ich zum Sheriff. »Wenn sie Anzeige erstattet haben, so sollten Sie wissen, dass Daniel und ich uns nur um uns selbst gekümmert haben, als sie sich an uns herangemacht haben. Daniel hat sich nur verteidigt.«
»Grace.« Daniels Stimme hatte einen warnenden Unterton.
»Was denn? Sie sollten die Wahrheit erfahren.«
»Sieht aus, als hätten Sie sich ordentlich verletzt«, befand Hilfssheriff Marsh. »Sie wollten ihm also nicht irgendwas heimzahlen? Sie haben Tyler nicht zufällig verfolgt und versucht, ihm eine Lektion zu erteilen, weil er sich mit Ihnen angelegt hat? Und sind dabei vielleicht ein bisschen zu weit gegangen?«
»Wie bitte?« Daniel sah Marsh direkt in die Augen. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Was ist mit diesem Tyler?«
Sheriff Ford räusperte sich. »Er ist tot.«
Mir wurde übel. »Was ist passiert?«
»Sein Mitbewohner, ein gewisser Pete Bradshaw«, Sheriff Ford blickte in sein Notizbuch, »hat ihn heute Morgen vor ihrer Wohnung gefunden. Sieht so aus, als wäre er auf dem Parkplatz angegriffen und dann irgendwann im Laufe der Nacht erschlagen worden.«
»Pete hat uns gesagt, dass Sie vor zwei Tagen eine Auseinandersetzung mit ihm hatten«, ergänzte Hilfssheriff Marsh. »Er meinte, Sie wären auf Rache aus gewesen.«
»Das ist total krank«, sagte ich. »Daniel würde niemals irgendjemanden angreifen.« Na ja, zumindest nicht der neue, vom Werwolf befreite Daniel. »Pete ist ein Lügner. Er würde alles behaupten, um Daniel Schaden zuzufügen.«
»Ich kann Ihnen versichern, Sir, ich hatte nichts damit zu tun«, sagte Daniel zum Sheriff und klang dabei viel ruhiger als ich.
»Sie beide haben ja mit Mr. Bradshaw schon eine gewisse Vorgeschichte, wenn ich mich recht erinnere.« Marsh starrte Daniel an. »Vielleicht hatten Sie ja die Absicht, eine alte Rechnung mit Pete zu begleichen, und sind dann auf seinen Mitbewohner losgegangen, als Sie ihn nicht antrafen. Sie müssen doch ganz schön wütend gewesen sein, als die Anschuldigungen gegen Pete in der Sache mit Ihrer Freundin fallen gelassen wurden. Insbesondere, da der einzige andere Zeuge tot war. Die meisten Jungs würden es nicht so einfach wegstecken, wenn ihre Freundin von einem Klassenkameraden angegriffen würde, der dann so ohne Weiteres wieder freikommt. Vielleicht war der Kampf vor zwei Tagen ja bloß der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.«
»Marsh!«, fauchte der Sheriff. Ford mochte Daniel wesentlich lieber als der Hilfssheriff und hatte eine Menge Respekt vor meinem Vater. Entweder das oder sie lieferten gerade eine richtig tolle Guter-Bulle-böser-Bulle-Vorstellung. »Es steht mir leider nicht frei, die Einzelheiten zu erörtern, aber wir haben Grund zu der Annahme, dass Tylers Tod im Zusammenhang mit dem Überfall auf den Day’s Market steht. Und da Sie sowohl eine Auseinandersetzung mit Tyler hatten als auch bei Day’s arbeiten, müssen wir Ihnen ein paar Fragen stellen. Wir können das hier oder auf der Wache machen.«
»Augenblick mal, beschuldigen Sie ihn jetzt etwa auch in der Supermarkt-Sache?«
»Wir beschuldigen niemanden. Wir ermitteln nur.«
Im meinem Bauch grollte die Wut. Pete und seine idiotischen Anschuldigungen brachten unser Leben ganz schön durcheinander. Wenn Ty und die Sache im Supermarkt zusammenhingen, hatte das wahrscheinlich weitaus mehr mit seiner Anwesenheit im Depot zu tun. Ah! Natürlich. Das Depot! Diese Spielertypen hätten Tyler doch am liebsten lebendig gehäutet, weil er ihr Spiel durcheinandergebracht hatte. Waren sie ihm vielleicht nach Hause gefolgt und hatten dann beschlossen, ihn zum Dank dafür fertigzumachen?
»Tyler hängt öfter in einem Club in der City rum … Er heißt Depot. Vielleicht sollten Sie …«
Daniel warf mir einen abschätzigen Blick zu.
Hilfssheriff Marshs dünne Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Sie wissen also, wo sich Tyler letzte Nacht aufgehalten hat? Das ist ja interessant. Seine Freunde wollten ihn gestern in einem Club namens Depot treffen, aber als sie dort hinkamen, war er nicht da. Sind Sie beide ihm gefolgt?«
»Ähm … nein.« Mist. Alles was ich sagte, ließ Daniel nur verdächtiger erscheinen. Wie konnte ich ihnen klarmachen, was ich im Club gesehen hatte, ohne zu erzählen, dass ich selbst dort gewesen war? Es würde bloß so klingen, als wäre ich Tyler gefolgt. »Ich habe nur gehört, dass es sich um einen gefährlichen Ort handelt. Und wenn Tyler dahin ist und irgendwelchen Leuten auf die Zehen getreten hat … möglicherweise hat er ja jemanden bei einem Videospiel gestört … dann sind sie vielleicht total sauer geworden und haben’s ihm heimgezahlt.«
»Sie glauben also, dass Tyler wegen eines Videospiels getötet wurde?«, fragte Hilfssheriff Marsh.
»Das wäre möglich«, erwiderte ich, klang dabei aber so, als glaubte ich selbst nicht daran. Ich hätte vielleicht einfach meine Klappe halten sollen.
»Wir werden das überprüfen«, sagte Ford. »Aber in der Zwischenzeit muss ich Sie, Daniel, fragen, wo sie letzte Nacht waren.«
Daniel verspannte sich. Ich konnte beinahe den Stress fühlen, der von seinem Körper abstrahlte. Bis zu diesem Moment hatte er so ruhig gewirkt. Ich sah ihn an und wartete auf seine Antwort.
»Ich war hier«, sagte er betont langsam, »und hab Fernsehen geguckt.«
»Zwischen zehn Uhr abends und ein Uhr morgens? Was haben Sie gesehen? Uhrzeit? Kanal? Irgendeine Werbung, an die sich erinnern können?«
»Hm …« Daniels Finger zuckten. Ich wollte seine Hand nehmen, um das nervöse Zucken abzuschwächen, bevor es die anderen bemerkten, doch das wäre sicher genauso auffällig gewesen. »Ich kann mich an nichts Besonderes erinnern.«
»Tatsächlich?«, fragte Hilfssheriff Marsh. »Überhaupt nichts?« Er stemmte die Hände in die Hüften und streckte seine Brust raus, so als wollte er Daniel im nächsten Moment packen und auf die Polizeiwache verfrachten. Das selbstzufriedene Grinsen auf seinem Gesicht wirkte, als hätte er es nur zu gern getan.
Daniel trat einen kleinen Schritt zurück; seine Finger zuckten immer noch. »Es tut mir leid. Ich kann mich wirklich nicht erinnern.«
Ich machte einen Schritt nach vorn. »Was er damit meint, ist, dass er abgelenkt war. Wir waren hier … zusammen. Der Fernseher lief, aber wir haben, nun Sie wissen schon, nicht wirklich hingesehen.« Obwohl ich nicht die Wahrheit sagte, wurde ich rot, hoffte dabei aber, dass sich meine Schamesröte mit den roten Flecken vermischte, die immer dann an meinem Hals auftraten, wenn ich log.
Daniel blickte mich an, als wäre er völlig überrascht von meinen schauspielerischen Fähigkeiten. Hoffentlich war er mir auch dankbar.
»Ich war bis ungefähr zwei Uhr morgens hier. Daniel hat es einfach nicht erwähnt, weil … na ja … Sie werden’s doch nicht meinem Dad erzählen, oder?«, fragte ich und verdrehte die Hände. An dieser Stelle musste ich gar nicht mehr schauspielern. »Bitte?«
Sheriff Ford räusperte sich. »Sind Sie sicher, dass Sie die ganze Zeit mit ihm zusammen waren? Allein?«
Ich nickte.
»Nun, gut.« Ford stopfte sein Notizbuch in die Tasche. »Das ist alles, was ich wissen muss.«
Marsh ließ die Schultern hängen, behielt jedoch sein freches Grinsen bei. Er deutete auf den Seesack, der an Daniels Motorrad befestigt war. »Ich hoffe, Sie haben nicht vor, in nächster Zeit zu verreisen.«
»Nein, Sir«, erwiderte Daniel ruhig.
»Wir behalten Sie im Auge«, sagte der Hilfssheriff.
Daniel und ich standen nebeneinander und sahen zu, wie die beiden Polizeibeamten in ihren Wagen stiegen und losfuhren.
Auch nachdem sie weggefahren waren, zuckten Daniels Finger weiter. Ich griff nach seiner Hand, bevor er sich wegdrehen konnte. »Erzähl’s mir mal«, sagte ich. »Wo warst du gestern Abend?«
Nach sechzig Sekunden Schweigen
Je länger Daniel nichts sagte, desto mehr verspannten sich meine Muskeln. Ich konnte wieder den vertrauten Schmerz in mir spüren – so wie es immer war, wenn ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Es war dasselbe Gefühl, das in mir das Bedürfnis hervorrief, zu kämpfen oder zu laufen.
Daniel versuchte, seine Hand aus meinem Griff zu befreien. Ich hatte sie viel fester gehalten, als mir bewusst gewesen war. Seine Fingerspitzen waren hellrot.
Ich ließ seine Hand los und verspürte ein leichtes Schuldgefühl, als er seine Finger massierte und dann über den Verband an seinem Arm strich. Ich war sicher, dass ich den Schmerz der Wunde nur verschlimmert hatte. Doch das Schuldgefühl verwandelte sich in Wut. Warum solltest du dich schuldig fühlen, wenn er im Unrecht ist?, fragte eine fremde Stimme in meinem Kopf. Ich schüttelte mich und wusste nicht, wieso ich das überhaupt gedacht hatte. Es war nicht zu entschuldigen, wenn man jemandem Schmerzen zufügte.
»Warum willst du mir nicht sagen, wo du gestern Abend gewesen bist?«, fragte ich. »Das ist doch eine einfache Frage.«
Daniel kratzte sich hinterm Ohr und blickte in die uns umgebende Dämmerung. »Ich hab’s schon gesagt. Ich war hier. Hab Fernsehen geguckt.«
Er lügt, sagte die fremde Stimme in meinem Kopf. Seinetwegen hast du die Polizei belogen und er schwindelt dich nur weiter an. Ich trat einen Schritt zurück. Wieso hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, die nicht mal wie meine eigene klang? Allerdings hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen.
»Ich habe deinetwegen gerade die Polizei angelogen, Daniel. Denkst du nicht, dass du mir eine Antwort schuldest, die erklären könnte, warum ich das tun musste?«
»Ich habe dich nie gebeten zu lügen.« Daniel schob seine Hände in die Hosentaschen. Anscheinend wusste er nicht, was er mit seinen zuckenden Fingern anstellen sollte. »Ich schulde dir nichts.«
»Ach, nein?« Meine Stimme bebte vor Wut. »Nach allem, was wir durchgemacht haben?« Nach allem, was du für ihn getan hast!, sagte die Stimme. »Ich habe – buchstäblich – deine verdammte Seele gerettet und du bist nicht der Ansicht, dass du mir erklären müsstest, wo du gestern Abend gewesen bist? Was zum Teufel hast du getan?«
»Das habe ich nicht gemeint.« Daniel ließ die Schultern hängen und blickte zum Himmel auf. »Ich … kann einfach nicht.«
»Kannst was nicht? Es mir erzählen? Mir vertrauen?«, schrie ich ihn praktisch an. Fast konnte ich die Lautstärke meiner Stimme nicht mehr kontrollieren.
»Bitte, Gracie. Hab einfach nur Geduld mit mir. Ich will, dass du dich da raushältst. Gib mir etwas Luft zum Atmen.«
»Luft zum Atmen?« Ein Feuer brannte unter meiner Haut. Ich zitterte vor Wut und anschwellender Kraft. Irgendetwas war total verkehrt. Ganz entschieden verkehrt. Kämpfen oder Fliehen, flüsterte diese Stimme in meinem Kopf. Doch ein kleiner, vernünftiger Teil meines Hirns wollte nicht auf Daniel losgehen. Also tat ich, was mir jetzt wie meine zweite Natur vorkam. »Nimm dir alle Luft, die du brauchst«, sagte ich und rannte los.
»Gracie, warte!«, rief Daniel, als ich durch die Einfahrt fegte. »Verdammt, so hab ich’s doch gar nicht gemeint.«
Doch ich lief weiter, selbst dann noch, als ich das Dröhnen von Daniels Motorrad hinter mir hörte. Ich rannte schneller. Er rief meinen Namen, wollte, dass ich stehen blieb. Ich konnte nicht. Die Kraft war in jede meiner Zellen gedrungen, trieb mich weiter an. Daniel holte mich mit dem Motorrad ein. Ich hörte ihn rufen, sprang jedoch auf den Bürgersteig und bahnte mir einen Weg über verschiedene Grundstücke und zwischen den Häusern hindurch, wo er mir nicht folgen konnte.
Auch als ich sicher war, dass ich ihn abgeschüttelt hatte, lief ich nicht langsamer. Die halbmondförmige Narbe an meinem Arm pochte wie wild. Ich beschleunigte mein ohnehin schon rasendes Tempo. Ich rannte jetzt schneller, als ich es mir vor ein paar Monaten auch nur hätte träumen lassen. Und ich zwang mich selbst, noch schneller zu laufen. Meine Beine schrien förmlich nach mehr. Ich brauchte es. Lechzte danach.
Meine Füße flogen dahin wie der Blitz. Mittlerweile war es ganz dunkel geworden. Das Blut schoss mir ins Gesicht und ich verspürte einen enormen Druck hinter den Augen. Ich blinzelte und plötzlich war meine Sehkraft besser, schärfer, fast so, als wäre die Nacht heller geworden. Ich konnte jetzt genauso gut sehen wie in der Dämmerung eines trüben Tags.
Dabei musste ich überhaupt nichts sehen. Meine Füße wussten instinktiv, wo sie entlanglaufen sollten. Sie setzten an genau den richtigen Stellen auf und vermieden haarscharf die Risse und Schlaglöcher in den unebenen Straßen. Sie fanden den bequemsten Weg zwischen den Grabsteinen und den verwachsenen Büschen auf dem Friedhof am Faraway Boulevard. Mit jedem blitzschnellen Schritt schmolzen Schmerz und Wut dahin und wurden von einem Gefühl des puren Glücksrauschs abgelöst.
Freiheit.
Unbekümmertheit.
So wie ich mich beim ersten Mal gefühlt hatte, als ich mit Daniel durch den Wald gerannt war. Damals, als er mich mit sich gezogen hatte. Damals, als ich rein menschlich war. Ich hatte mich so großartig gefühlt. Nie zuvor hatte ich so etwas erlebt.
Das hier war noch weitaus mehr. Nicht nur Energie, die von jemandem auf mich übertragen wurde. Das hier kam aus meinem Innern. Es war meine Kraft. Und niemand konnte sie mir wegnehmen.
Ich warf den Kopf zurück, betrachtete den am Himmel aufsteigenden, silbrig glänzenden Mond und ließ mich von diesem Gefühl der Kraft durchströmen. Prickelnde Hitze fuhr mir durch Arme, Beine und Brust.
Jetzt hast du die Kontrolle, versicherte mir die fremde Stimme, während ich weiterlief.
Ich hatte endlich die Grenze überschritten.