Abschlussprüfung

 

Am nächsten Tag

 

Nachdem ich aus dem Club nach Hause gekommen war, konnte ich kaum schlafen. Ich bereute, vor dem Eintreffen der Shadow Kings gegangen zu sein, wusste aber, dass ich mich von Pete hatte entfernen müssen. Außerdem fragte ich mich, ob es richtig gewesen war, Daniel nicht alles zu erzählen.

Doch noch immer konnte ich es nicht tun.

Wenn Talbot diesen Shadow Kings am Abend zuvor gefolgt war, bedeutete es, dass wir nun näher an Jude herangekommen waren als je zuvor. Ich konnte nicht das Risiko eingehen, dass sich irgendjemand in die Sache einmischte.

Im Kunstunterricht saßen Daniel und ich wie üblich nebeneinander. Er reichte mir die Pastellkreiden, wenn ich ihn darum bat, ich nickte, wenn er mir vorschlug, ein dunkleres Blau zu verwenden als das, was ich ausgewählt hatte. Doch wenn irgendwer gesehen hätte, dass wir uns kaum ansahen, wenn wir miteinander sprachen, hätte man denken können, dass wir zwei Fremde wären, die sich zufällig den Tisch teilten.

Ich konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken, als Katie an unseren Tisch trat, um Daniel zu fragen, ob er immer noch einen ihrer Pinsel hätte. Ich konnte nicht ausstehen, wie sie ihn ansah. Ich konnte weder ihr glänzendes Haar ausstehen noch ihre ach so coole Frisur und auch nicht ihr altmodisches Stirnband mit der selbst gebastelten Blume direkt über ihrem Ohr.

Daniel öffnete seine Tasche und holte ihren Pinsel raus. Ich fragte mich, ob er ihn ihr geliehen hatte, als sie am Tag zuvor in seiner Wohnung zusammen gearbeitet hatten. Hatte sie gerade etwa seine Finger berührt, als er ihr den Pinsel reichte?

»Alles in Ordnung, Grace?«, fragte sie.

Ich antwortete nicht.

Ich war froh, als die Klingel ertönte, um die nächste Stunde anzukündigen. Und ich konnte den Schulschluss kaum abwarten, sodass ich endlich die Schule und diese Leute hinter mir lassen konnte, um mich wieder dem Projekt der Barmherzigen Samariter zu widmen. Ich wollte Talbot treffen. Mit jemandem reden, der mich verstand. Doch hauptsächlich musste ich wissen, ob er diese Shadow Kings am Abend zuvor aufgespürt hatte.

Auf dem Weg zum Bus blieb ich an meinem Spind stehen. Ich konnte den Pfahl nicht finden, den Talbot mir gegeben hatte. Ich hätte ihn mir gern noch mal angesehen, aber er war nicht da. Ich knallte die Spindtür zu und wollte gerade gehen, als ich Katie sah. Sie trug einen Karton mit Plakatfarben auf dem Arm und lief in Richtung Haupthalle.

Es schien, als ob es eher ein Glücksfall für sie gewesen war, dass ihre Brüder die meisten ihrer Poster ruiniert hatten. Nun konnte sie umso mehr Zeit mit meinem Freund verbringen. Tatsächlich schien es wie ein willkommener Vorwand und das Timing war mehr als verdächtig. Sie war im Kunstraum gewesen, als Daniel und ich unser Picknick geplant hatten – und nun sollte ich also glauben, dass ihre kleine Krise zufällig zur selben Zeit eingetreten war?

Sie versucht, ihn dir wegzunehmen.

Ich ballte die Hände zu Fäusten, als sie an mir vorbeilief.

Du solltest ihr eine Lehre erteilen.

Meine Augen verengten sich, während ich sie beobachtete. Es bedurfte nur eines einzigen Schlags, um sie krachend gegen die Spinde knallen zu lassen. Überall würde Farbe verspritzt werden. Ich würde bestimmt schnell genug verschwinden können, bevor irgendjemand entdeckte, dass ich es gewesen war.

»Grace!«

Beim Klang meines Namens drehte ich mich um. April kam durch den Flur gelaufen. Ich blickte wieder zu Katie. Jetzt war es zu spät, um irgendwas zu unternehmen.

»Grace«, sagte April. »Meine Güte, du wirst nicht glauben, wer mir gerade eine SMS geschickt hat.«

Ich sah wieder zu ihr.

Sie bebte wieder mal wie ein Cockerspaniel, doch ihr Gesicht verriet mir, dass es nicht aus Freude geschah. Der Ausdruck darin reichte aus, um alle Gedanken an Katie aus meinem Kopf zu verscheuchen.

»Wer?«

Sie fasste meinen Arm und beugte sich dicht zu mir. »Jude«, flüsterte sie. »Zumindest glaube ich, dass er es war. Die Nummer ist unterdrückt, aber er muss es sein.«

Sie hielt mir ihr hellrosafarbenes Handy entgegen. Auf die Rückseite hatte sie kleine weiße Glitzersteine in Form des Buchstabens A geklebt. Meine Hand zitterte, als ich das Handy nahm und den Text las: Sag ihr, sie soll sich fernhalten. Die Zeit läuft ab. Sie ist genau da, wo sie sie haben wollen.

»Das ist alles?«, fragte ich. »Weiter nichts?« Wenn er sich schon die Mühe machte, eine SMS zu schicken, warum zum Teufel klang er dann so geheimnisvoll? Es schien fast, als wäre er nicht ganz bei Sinnen.

»Das ist alles«, bestätigte April. »Aber er ist es doch, oder?«

»Ja. Ich glaub schon.« Wer sonst hätte diese Nachricht schicken sollen?

»Was hat das zu bedeuten?«

»Es bedeutet, dass wir auf der richtigen Spur sind.« Ich warf April das Handy zu und wir liefen direkt zum Bus. Wenn Jude schrieb, dass ich mich fernhalten sollte, hieß das, dass ich näher an ihn herangekommen war. Hatte er mich am Abend zuvor im Club gesehen? Wusste er, dass Talbot ein paar von den Shadow Kings aufgespürt hatte – wenn es tatsächlich so gewesen war? Ich musste unbedingt sofort mit Talbot sprechen.

Das Problem war nur, dass Gabriel an Bord kletterte, als der Bus gerade losfahren wollte, und erklärte, er sei für diesen Tag unsere Aufsichtsperson. Es war das erste Mal seit Beginn des Projekts, dass er uns überhaupt begleitete. Ich hatte mich schon gefragt, ob er eine Abneigung gegen die Innenstadt hegte. Doch Daniel hatte mir erklärt, dass Gabriel in der ersten Woche mit der ersten Gruppe und in der zweiten Woche mit der anderen Gruppe arbeiten wollte. Wieso musste er sich ausgerechnet diesen Tag aussuchen, um uns zu begleiten? Ich musste einen Weg finden, um mich mit Talbot absetzen zu können, ohne dass Gabriel ihn bemerkte.

Während wir zum Freizeitzentrum in Apple Valley fuhren, stand Gabriel vorn im Bus und hielt eine Ansprache über die Aufgabe des Tages, die eher nach einer Predigt klang. Ich holte mein Handy hervor, stellte es auf lautlos und schrieb an Talbot.

Ich: Hilfe! Jude hat eine SMS an April geschickt.

Talbot antwortete sofort:?! Was hat er gesagt?

Ich wiederholte ihm Judes Mitteilung und fügte hinzu: Ich glaube, wir sind auf der richtigen Spur. Was hast du gestern Abend rausgefunden?

Talbot: Ich zeig’s dir, wenn du hier bist. Hab eine Überraschung für dich.

Ich: Problem. Gabriel ist im Bus.

Talbot: Sch****

Ich: Komm zur Rückseite des Gebäudes. Ich schleiche mich weg.

Talbot: Klingt gut.

Ich: Welche Überraschung?

Talbot: Wirst schon sehen …

Und dann, zehn Sekunden später: Bring deinen Pfahl mit. Ich durchsuchte noch immer meinen Rucksack, als der Bus auf den Parkplatz des Apple Valley Freizeitzentrums fuhr. »Mist«, stieß ich leise hervor.

»Was suchst du denn?«, fragte April.

»Meinen Pfahl«, flüsterte ich und sah zu Gabriel rüber, während er aus dem Bus stieg. »Ich könnte schwören, dass ich ihn am Freitag im Rucksack gelassen habe. Aber ich kann ihn nirgendwo finden.«

»Ähm …« April zog den Reißverschluss ihres Rucksacks auf und schob ihre Hand hinein. »Okay, werd bitte nicht sauer.« Sie zog den Pfahl heraus – oder zumindest etwas, das wie der Pfahl aussah, nur dass der Griff jetzt über und über mit hellblauen Kristallen und diamantähnlichen Steinen besetzt war.

»Du hast meinen Pfahl mit Glitzersteinen bepflastert?«

»Äh … Überraschung!«, rief April. »Nur weil du eklige Typen verfolgst, heißt das ja nicht, dass du’s ohne Stil machen musst.«

Später

 

Der Reihe nach stiegen wir aus dem Bus und betraten den Parkplatz, wo die Vans mit laufenden Motoren auf uns warteten – alle, bis auf Talbots. Die Klasse scharte sich um Gabriel, der noch mit seinem Vortrag beschäftigt war, sodass ich April und Claire ziemlich einfach zuflüstern konnte, im Freizeitzentrum mal eben auf die Toilette zu müssen. Dann schlich ich mich von der Gruppe weg. Ich lief ins Gebäude, duckte mich an der Empfangsdame vorbei und ging durch den Hintereingang wieder hinaus. Talbots Wagen wartete unter einer großen Eiche auf dem östlichen Teil des Parkplatzes auf mich. Um sicherzugehen, dass mich niemand beobachtete, blickte ich mich um. Dann stieg ich in das Auto.

Talbot begrüßte mich mit einem anerkennenden Lächeln. »Sieht so aus, als ob sich mein Einfluss langsam bezahlt macht. Du kannst dich ja schon richtig gut wegschleichen.«

»Gehört alles zum Programm«, erwiderte ich. »Also, was hast du rausgefunden? Und wo ist die große Überraschung?«

»Wie schon gesagt, du wirst es sehen.« Talbots Lächeln wurde doppelt so breit wie gewöhnlich. Er lenkte den Van auf die Straße. Er fuhr nicht zum Dōjō, wo wir normalerweise trainierten, sondern in entgegengesetzte Richtung auf die Innenstadt zu. Ich versuchte ihn auszufragen, was nach meinem Verschwinden am Abend zuvor im Club passiert war. Er hatte jedoch nur weiterhin dieses alberne Grinsen im Gesicht und sagte mit einem Singsang in der Stimme: »Du wirst schon sehen.« Vor lauter Spannung hätte ich ihm am liebsten einen Schlag auf den Arm versetzt. Mein Herz pochte in freudiger Erwartung.

Talbot parkte den Wagen vor einem alten Mietshaus in der Nähe der Tidwell-Bücherei. Ich konnte die Einmündung zu der kleinen Gasse sehen, wo wir die Frau vor den bewaffneten Gelals gerettet hatten.

»Uuuund?«, fragte ich und trommelte mit den Fingern auf das Armaturenbrett.

»Die Shadow Kings sind gestern Abend gekommen, gleich nachdem du weg warst. Ich bin im Club hinter ihnen hergeschlichen und habe ganz deutlich gehört, wie jemand Judes Namen erwähnte.«

»Echt?« Mein Herz schlug jetzt zehnmal schneller. Warum war ich nicht dageblieben? »Was hast du dann gemacht?«

»Ich bin ihnen hierher gefolgt.« Er deutete mit dem Daumen auf das Mietshaus. »Ich glaube, wir haben die Spur gefunden, die zu dieser Bande führt – und zu deinem Bruder.«

»Was hast du gemacht? Hast du sie ausgefragt?«

»Nein. Das wirst du machen.«

»Ich?« Mein Herz schien abrupt stehen zu bleiben. »Ich glaube nicht …«

»Doch, du kannst es. Wir haben zwar nur eine Woche trainiert, aber das ist die Gelegenheit, Kiddo. Ich weiß, dass du bereit bist.« Talbot streckte seine Hand aus. »Wo ist dein Pfahl?«

Ich zog ihn aus meinem Rucksack.

Als er den mit Glitzersteinchen übersäten Pfahl erblickte, machte Talbot ein ersticktes Geräusch, als wollte er ein Lachen abwürgen.

»April«, erklärte ich.

»Aha.« Talbot nahm meine Hand und schob den Ärmel meines Hemds hoch. Dann drückte er behutsam den glitzernden Pfahl an meinen Unterarm und zog den Hemdsärmel wieder darüber. »Nur zur Sicherheit. Falls du ihn brauchen solltest.«

»Du meinst, dass ich da allein reingehe?«

Talbot nickte. Einen Augenblick behielt er meine Hand in seiner, dann legte er mir seine Hand in den Nacken. Seine Finger spielten mit der Weißgoldkette des Mondsteinanhängers. Ich wollte unbedingt vermeiden, dass seine Berührung ein Kribbeln in meiner Wirbelsäule verursachte. Es geschah trotzdem. Ich wollte ihn gerade bitten, die Hand wegzunehmen, um ihn an die Grenze zu erinnern, die nicht überschritten werden sollte – als ich etwas reißen hörte und spürte, wie er mir die Kette vom Hals rupfte.

»Was machst du da?« Ich langte nach dem Anhänger in seiner Hand.

Er zog ihn weg. »Ein verräterisches Zeichen. Du wirst da hochgehen und das verlorene Schäflein spielen. Wenn die Shadow Kings das hier sehen, hast du dich innerhalb von zwei Sekunden verraten.«

»Aber ich brauche es.«

»Nein, Grace, das brauchst du nicht. Ich hab’s dir schon mal gesagt. Das hier«, er hielt den Anhänger in die Höhe, »hält dich genauso sehr zurück wie Daniel und Gabriel. Sie glauben nicht an dich. Sie kennen dich nicht so, wie ich dich kenne. Du wirst niemals wissen, wozu du wirklich fähig bist, wenn du dich nicht von den Dingen löst, die dich zurückhalten.« Er stopfte den Anhänger in die vordere Tasche meines Rucksacks und klopfte mir dann mit der Hand auf die Schulter. Er blickte mich mit seinen intensiven grünen Augen an, die in diesem Moment dieselbe Dominanz auszustrahlen schienen, die ich schon im Club bemerkt hatte. »Betrachte es als deine Abschlussprüfung. Zeig mir, dass du bereit bist, ein echter Hund des Himmels zu werden.«

Im Haus

 

Ich klopfte an die Wohnungstür und wartete ungefähr dreißig Herzschläge ab, bevor ich ein zweites Mal anklopfte. Ohne meinen Mondsteinanhänger, den ich mehr als zehn Monate ununterbrochen getragen hatte, kam ich mir irgendwie nackt und verletzlich vor.

»Hallo?«, rief ich mit zuckersüßer Stimme, die nur ein winziges bisschen zitterte. »Ist jemand da? Ich brauche Hilfe.«

Ich wusste, dass Talbot mich beobachtete. Ich hatte keine Ahnung, von wo, konnte aber seine Anwesenheit ganz in der Nähe spüren.

Ich hörte, wie die Dielen in der Wohnung knarrten. Dann wurde rasselnd die Tür geöffnet. Ein Teenager spähte durch den Türspalt. Er sah aus wie ein x-beliebiger kaputter Straßenjunge: das Kinn von Bartstoppeln bedeckt, die Augen rot und geschwollen, als hätte ich ihn gerade aus einem unruhigen Schlaf gerissen. Doch an dem deutlichen Geruch nach saurer Milch konnte ich erkennen, dass er ein Gelal war.

»Hi«, sagte ich und winkte dem Typen mit meinem unbewaffneten Arm freundlich zu. »Ich hab ’ne Autopanne, und mein Handy funktioniert nicht.« Ich spielte mit dem Finger an einer Haarlocke und ließ meine Kaugummiblase platzen. Ich bemühte mich wirklich, so gut es ging, April zu verkörpern. »Könnte ich mal kurz telefonieren? Dauert bloß ’ne Sekunde.«

Der Typ schielte auf meine Haarlocke, die ich mir um den Finger gewickelt hatte. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Seine Zähne waren gelb, einer fehlte. »Na klar, Schätzchen.« Er machte die Tür weiter auf. »Komm einfach rein.«

Meine Muskeln verspannten sich, mein Magen wurde zu einem festen Knoten. Ich erkannte dieses eklige Lächeln wieder. Er war der Kerl, der mit seinem Freund April im Club belästigt hatte. Der Typ mit dem eisenharten Griff, dem ich in den Unterleib getreten hatte und der mir wahrscheinlich mit bloßen Händen die Knochen brechen könnte. Ich war jetzt ziemlich anders als im Club angezogen, ohne dieses übertriebene Outfit mit Polyesterhose. Deshalb hoffte ich, dass er mich nicht sofort erkannte. Ich kämpfte gegen den Fluchtinstinkt an und schenkte ihm mein süßestes und naivstes Lächeln, während ich über die Türschwelle in die feuchte kleine Wohnung trat.

Es gab keine Möbel im Zimmer, nur ein paar zerknüllte Decken, die ein Nest in der Ecke bildeten. Kein Fernseher, kein Sofa, keine Stühle. Nicht mal ein Telefon an der Wand. Talbot hatte gesagt, er sei zwei Dämonen hierher gefolgt, aber das ergab keinen Sinn. Soweit ich sehen konnte, war der Typ allein in der Wohnung und besonders lange schien er hier auch noch nicht zu wohnen.

»Du hast schönes Haar«, sagte er hinter meinem Rücken. Ich tat so, als hörte ich nicht, wie er die Tür zuschloss.

»Also, äh, wo ist denn das Telefon?«, fragte ich.

»Oh«, erwiderte er mit seiner Reibeisenstimme und trat dichter an mich heran. »Ich vergaß. Ich hab gar keins.« Mein Körper zuckte zusammen, als er mich bei den Haaren packte und mich an seine Brust zog. Seine andere Hand legte sich um meinen Hals. Ich konnte spüren, dass sich seine Nägel zu Klauen ausdehnten, während er mit den Fingern nach meiner Halsschlagader tastete.

»Wirklich zu dumm«, sagte ich mit süß klingender Stimme und schüttelte mein Handgelenk. Der Pfahl glitt unter meinem Ärmel in meine Hand.

»Was?«, fragte der Typ sichtlich verwirrt. Ich war sicher, dass er einen Schrei erwartet hatte.

»Jetzt kannst du gar nicht um Hilfe rufen.«

Ich spürte einen Kraftschub und trat ihm auf den nackten Fuß. Die Knochen seiner Zehen zerbrachen unter meinem Absatz.

Er schrie und ließ meinen Hals los. Ich packte seinen Arm, machte mir sein Körpergewicht zunutze und schleuderte ihn über meine Schulter. Er landete auf dem Rücken. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck purer Überraschung. Dann wurden seine Augen schmal und er fauchte mich an: »Ich dachte schon, dass du mir bekannt vorkommst. Du bist dieses zickige kleine Miststück aus dem Club.« Dann sprang er wieder auf die Füße und kam mit ausgestreckten Klauen auf mich zu. »Haben sie dich geschickt?«

Ich wehrte den Angriff ab und trat ihm in die Kniekehle. »Hat wer mich geschickt?«

Der Dämon krachte gegen die Wand und wirbelte herum. »Wir haben ihnen gesagt, dass wir rauswollten, und er meinte, wir könnten gehen.« Er stürzte auf mich zu.

Ich stieß ihn zur Seite und brachte meine Fäuste in Verteidigungshaltung. Mit einer Hand hielt ich noch immer den Pfahl. Er fletschte die Zähne und langte mit seinen Klauen nach der Waffe. Ich wehrte ihn ab und wich zurück.

»Aber sie haben dich hergeschickt, oder?«, fragte der Typ und stürzte sich wieder auf mich.

Redete er über die Gang?

Ich wandte drei meiner neuen Tricks an und kämpfte mit ihm, bis ich ihn bezwingen konnte. »Wer sind sie?«, fragte ich und rammte ihm mein Knie in den Magen. »Wo ist die Gang? Wie finde ich sie?« Ich versetzte ihm einen weiteren Stoß in den Unterleib.

Er hustete. »Weißt du das noch nicht?«

»Sag mir, wo ich sie finde!« Ich packte ihn an der Gurgel, schleuderte ihn vor die Wand und hielt den Pfahl über seine Brust. »Ich will wissen, wo die Shadow Kings sind – oder wie sie auch immer heißen. Rede und du kommst mit dem Leben davon.«

Der Typ lachte. Schwarze Flüssigkeit tröpfelte aus seinem Mundwinkel. »Wenn du das Rudel finden willst, warum fragst du dann nicht ihren Hüter?«

»Was?«

Er versuchte wieder zu lachen, brachte aber nur ein krächzendes Husten zustande. Ein paar Tropfen der schwarzen Säure landeten auf meiner Hand und verbrannten die Haut, aber ich ließ nicht los.

»Der Kerl ist ein richtiger Betrüger. Findest du nicht?«, fragte der Dämon.

»Betrüger? Wovon redest du…?«

Hinter mir hörte ich ein krachendes Geräusch. Ich drehte vorsichtig den Kopf und sah Talbot mit geschwungenem Schwert durch die Tür brechen.

»Tal…?«

»Pass auf, Grace.«

Doch es war zu spät. Ich hatte meine Deckung aufgegeben. Der gelbzähnige Typ holte nach mir aus, bevor ich es verhindern konnte. Seine Klauen rissen meinen Arm auf. Ich heulte vor Wut und Schmerz auf, als das Blut aus der Wunde schoss. Dann ließ ich ihn los und schwankte von ihm weg. Ich fasste nach meinem Arm, um die Blutung zu stoppen. Durch den Geruch des Bluts wurden die Augen des Typen animalisch. Er legte den Kopf in den Nacken und fiel wie ein Löwe über mich her – die Klauen ausgestreckt, die Kiefer aufgerissen, bereit zu töten.

Wut schoss durch meine Adern und umklammerte mein Herz. Töte ihn! Ich riss meinen verletzten Arm hoch und spießte seine Brust mit meinem Pfahl auf. Das Holz drang tief in ihn ein, bis ich nur noch den juwelenbesetzten Griff in der Hand hielt.

Ich zog den Pfahl wieder heraus. Schwarze Säure spritzte aus der Wunde. Der Kerl prallte rückwärts gegen die Wand. Schwarzer Schleim rann an der grünen, sich ablösenden Tapete herab, während der Dämon zuckend und stöhnend zu Boden sackte, bis er schließlich erstarrte. Ich kam wieder zu mir und konnte gerade noch zur Seite springen, bevor er in einer glühenden Fontäne aus Säure und Rauch explodierte.

Ich umklammerte den schwarz verschmierten Pfahl so fest, dass die falschen Diamanten in meine Handfläche schnitten. Mein Herz flatterte wie ein Kolibri in meiner Brust und ich atmete so schnell, dass fast schon kein Sauerstoff mehr in meine Luftröhre drang.

Ich ließ die Hände fallen und lechzte nach Luft, erstickte aber beinahe an dem säurehaltigen Qualm, der von den Überresten des Dämons zu mir heraufwaberte. Mir war schwindelig. Ich schwankte zurück und wäre hingefallen, wenn mich nicht ein Paar warme Hände aufgefangen hätten.

Talbot drehte mich zu sich herum, sodass wir uns anblickten. »Du hast es getan, Kiddo! Du hast es wirklich getan. Los, komm, das müssen wir feiern!«

»Was feiern? Ich hab nichts aus ihm rausgekriegt … Er ist tot … Ich habe versagt.«

»Die Informationen sind mir völlig egal. Wir werden den anderen Typen aufspüren und ihn ausquetschen. Du hast deinen ersten Dämon getötet, das muss gefeiert werden. Jetzt bist du ein echter Hund des Himmels!«

»Bin ich das?«

»Allerdings.« Talbot drückte meine Schulter. Er strahlte mich mit seinem Grübchenlächeln an. »Wie fühlt sich das an? Großartig, was?«

Abgesehen von dem Schmerz in meinem blutenden Arm war mir schwindelig und heiß und überall kribbelte es – so fühlte sich anscheinend also ein Höhenflug an. Ich konnte nicht fassen, dass ich den Dämon mit eigenen Händen aufgespießt hatte, bevor er mich töten konnte. »Ja, wirklich.« Ich holte tief Luft, und als sich der erste Schock über meine Tat gelegt hatte, bemerkte ich, dass ich tatsächlich vor lauter Nervenkitzel zitterte. Noch nie hatte ich diese Kontrolle verspürt. So viel herrliche Kraft rauschte durch meine Adern!

»Ich wusste, dass du es kannst, Kiddo.« Talbot drückte wieder meine Schulter.

Wenn er wirklich geglaubt hat, dass ich es allein kann – warum ist er dann hier reingeplatzt? Weil er wohl eigentlich gedacht hatte, dass ich es nicht selbst schaffen würde. Immerhin hatte ich ihn vom Gegenteil überzeugt. Ich war sogar stärker, als er gedacht hatte.

Mit zitternder Hand hob ich den Pfahl hoch. »Wenn du noch einmal Kiddo zu mir sagst, schieb ich dir das dahin, wo’s wirklich wehtut.«

Talbot lachte und legte seine starken Arme um mich. »Du hast recht. Ein Kind bist du wirklich nicht mehr.« Er hielt mich fest umarmt und blickte mich aus hellen, leuchtenden Augen an. »Du bist wirklich unglaublich, Grace«, sagte er leise.

Als Nächstes spürte ich, wie er meine Wange berührte und seine schwieligen Finger über meine Haut strichen. Er neigte seinen Kopf. Seine Lippen schwebten nur einen Fingerbreit über meinen. Sie bebten leicht bei jedem Atemzug, so als wollten sie mich bitten, ihm auf dem letzten Stück entgegenzukommen.

Ich konnte mich nicht rühren.

»Darf ich?«, flüsterte Talbot.

Ich schüttelte ganz leicht den Kopf und streifte bei dieser Bewegung fast seine Lippen.

»Bitte?« Die Wärme seines Atems ließ mich in seinen Armen erschaudern.

»Nein«, flüsterte ich, schaffte es aber nicht, mich von ihm zu lösen. »Ich habe schon jemanden.«

»Nur einmal … Bitte. Ich muss einfach wissen, wie sich das anfühlt.«

Ich schloss halb die Augen, versuchte, mir Talbots Berührung vorzustellen, doch in meinen Gedanken sah ich nur den Ausdruck auf Daniels Gesicht, wenn er je erführe, dass ich jemand anderen geküsst hätte. Als Talbot versuchte, seine Lippen auf meinen Mund zu pressen, drehte ich den Kopf weg. Seine Lippen streiften meine Wange. Er nahm die Hand von meinem Gesicht.

Ich wandte mich ab und trat in die Türöffnung. »Ich muss gehen«, sagte ich. Meine Stimme versagte beinahe.

»Warum?«, fragte Talbot. »Du willst es. Ich kann es spüren. Hör auf, dir zu verweigern, was du wirklich willst.«

Hitze rauschte durch meinen Körper. »Ich kann einfach nicht.«

Talbots Nasenflügel bebten, doch dann blickte er weg. »Es tut mir leid. Ich hab mich von der Aufregung hinreißen lassen. Ich werd’s nie wieder tun.« Er kam einen Schritt auf mich zu.

Ich hob meine Hand, um ihn aufzuhalten, und schüttelte wieder den Kopf. »Schon in Ordnung. Wir haben uns beide hinreißen lassen. Ich muss jetzt zurück zum Bus.«

Talbot zog die Autoschlüssel aus seiner Tasche. »Dann lass uns gehen.«

Ich verließ die Wohnung und lief zum Van, der auf der Straße geparkt war. Ich konnte hören, wie Talbot mir folgte, aber ich drehte mich nicht um.