Der Barmherzige Samariter
Am nächsten Tag, in der Schule
So ziemlich alle waren am Montag über den neuen Religionslehrer in hellster Aufregung. Angesichts der Tatsache, dass das Durchschnittsalter der Lehrer an der HTA bei über vierzig lag, bot das Auftauchen eines so jungen (wenn auch nur dem Anschein nach) neuen Lehrers offenbar einigen Gesprächsstoff.
»Ich hab gehört, er soll süß sein«, sagte April, als wir in der letzten Stunde zum Religionsunterricht der Oberstufe gingen.
Ich war froh, dass April mir Gesellschaft leistete, da Daniel und ich uns an diesem Tag offenbar aus dem Weg gingen. Zumindest tat ich das, denn als klar wurde, dass ihre Tischnachbarin krank war und fehlte, hatte ich mich ganz hinten im Kunstraum neben April gesetzt. Sie hatte dann die meiste Zeit damit verbracht, Kostümentwürfe für mich zu zeichnen. Obwohl ich selbst keinen großen Wert darauf legte, einen lilafarbenen Umhang mit einem auf der Rückseite angebrachten WG (für Wolf Girl!) zu tragen, hatte ich es nicht übers Herz gebracht, ihr zu erzählen, dass mir das Training erst mal untersagt worden war. Und wenn Daniel, Gabriel und Dad ihre Meinung diesbezüglich nicht änderten, würde ich auch wohl niemals einen ihrer Entwürfe benötigen. Doch im Augenblick wünschte ich mir fast, dass April zu einem Thema wie ›Optimale Fußbekleidung für die Verbrechensbekämpfung‹ zurückkehrte, da mir die Erörterung der Vorzüge von Gabriel oder Pastor Saint Moon, oder wer immer er auch sein mochte, nicht besonders am Herzen lag.
April seufzte, als wir die Klasse betraten. »Okay, er ist also süß. Aber wäre gut aussehend nicht treffender für ihn? Was meinst du? Süß beinhaltet ja eine gewisse Jungenhaftigkeit, aber…«
Ich beugte mich dicht zu ihrem Ohr. »Weißt du eigentlich, dass er so was wie ein achthundertunddreißig Jahre alter Werwolf ist?«
»Was?« April brachte in einem Atemzug zehn weitere Fragen vor, doch ich muss gestehen, dass ich sie ausblendete.
Gabriel stand neben Daniels Tisch. Beide hatten sich über einen Bogen Papier in Daniels Hand gebeugt. Ich wusste, dass ich mein Supergehör einschalten könnte, um mitzuhören, worüber sie sprachen. Es war inzwischen recht einfach geworden, diese Kraft zu steuern. Aber mir gefiel die Idee nicht, meine Fähigkeiten anzuwenden, um Daniel nachzuspionieren. Genauso gut hätte ich wahrscheinlich einfach rübergehen und fragen können, was sie da machten. Ich saß ja normalerweise ohnehin neben Daniel. Aber offen gestanden wollte ich mit keinem der beiden reden. Und da Daniel seit dem Abend zuvor keine Anstrengung unternommen hatte, mit mir zu sprechen – mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass er sich wegen der Lügen über seinen Aufenthaltsort nicht entschuldigt und mir schließlich den Rücken zugekehrt hatte –, zog ich die weiter vor sich hin murmelnde April auf die andere Seite des Klassenraums.
»Hallo Grace«, begrüßte mich Miya Nagamatsu, nachdem ich mich vor sie gesetzt hatte.
»Hi.« Ich lächelte sie an. Hauptsächlich deswegen, weil ihre Anwesenheit bedeutete, dass April aufhören würde, mich über Gabriels Werwolf-Hintergrund auszufragen.
»Wir sehen dich ja überhaupt nicht mehr.«
Ich zuckte mit den Achseln. Sie hatte recht. Das war eines der Dinge, die sich verändert hatten, nachdem April und ich nicht mehr befreundet gewesen waren. So, als wären wir zu der unausgesprochenen Übereinkunft gekommen, dass April alle unsere anderen Freundinnen wie Miya, Claire und Lane für sich behielt. Sie nahmen für gewöhnlich gemeinsam das Mittagessen im Rose Crest Café ein, während ich im Kunstraum blieb, um mit Daniel und manchmal auch Katie Summers zu arbeiten. Nachdem Daniel unmittelbar nach dem Pausenklingeln verschwunden war, hatten heute nur Katie und ich an unseren Bildern gearbeitet. Ohne Daniels Anwesenheit war sie weitaus weniger gesprächig gewesen.
»Ja«, fügte Claire hinzu. »Wir vermissen dich.«
»Danke, Leute.«
»Habt ihr euch getrennt oder so was?« Miya deutete quer durch den Raum auf Daniel. »Ihr beiden klebt doch sonst immer aneinander.«
Wie aufs Stichwort sah Daniel plötzlich zu mir herüber. Unsere Blicke trafen sich und er schenkte mir ein zaghaftes Lächeln. In seinem Gesichtsausdruck lag mehr Traurigkeit, als ich erwartet hätte. Das Herz wurde mir schwer. Was ist bloß mit ihm los?
»Nein«, sagte ich zu Miya. »Mir war heute nur nach einer Veränderung.« Kaum hatte ich das gesagt, verspürte ich das plötzliche Bedürfnis, die Distanz zwischen Daniel und mir zu überbrücken. Daniel hatte mich zwar angelogen und mich auch nicht unterstützt, als ich ihn gebraucht hatte, aber ganz offensichtlich beschäftigte ihn irgendetwas. Ich hasste mich selbst, weil ich dumm und kleinlich gewesen war und jetzt nicht für ihn da sein konnte.
In diesem Augenblick ließ sich Katie Summers auf dem leeren Platz neben Daniel nieder, wo ich sonst saß. Sie beugte sich zu ihm und fragte ihn etwas. Er wandte seinen Blick von mir ab und antwortete ihr.
Die Klingel ertönte. Widerwillig richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Gabriel, der sich der Klasse vorstellte. Er schrieb die Wörter Pastor Saint Moon an die Tafel. Ich fragte mich, wieso er diesen Namen benutzte. Es war der Ehename seiner Schwester, nicht seiner.
»Ich bin neu in Rose Crest, doch ich nehme an, dass einige von Ihnen meinen Onkel, Donald Saint Moon, kannten. Den meisten von Ihnen dürfte er als Don Mooney bekannt sein.«
Ich musste beinahe lachen. Der Gedanke, dass Don Gabriels Onkel gewesen war, war ziemlich amüsant. Es war doch wohl eher so, dass Don sein Ur-Ur-Ur-multipliziert-mit-zehn-Großneffe war.
»Ich werde da weitermachen, wo Mr. Shumway aufgehört hat. Wer kann mir sagen, worüber Sie letzte Woche gesprochen haben?«
Katies Hand schnellte nach oben. »Wir hatten gerade angefangen, über das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter zu sprechen. Als Mr. Shumway das letzte Mal hier war, haben wir die entsprechende Bibelstelle gelesen.«
»Grace«, wandte sich Gabriel an mich, »können Sie uns sagen, was Sie über den Barmherzigen Samariter wissen?«
»Was?« Im Augenblick konnte ich nur daran denken, dass der Typ in der Lederjacke Talbot als den Barmherzigen Samariter bezeichnet hatte, nachdem die Streiterei im Club beendet gewesen war. Die Bilder von Talbot, der sich über mich beugte, als ich am Boden lag, wobei er mir seine Hand anbot und der künstliche Nebel im Hintergrund waberte, kamen mir wieder in den Sinn. Ich verdrängte sie aus meinem Kopf. Es war idiotisch daran zu denken – und ganz sicher nicht das, was Gabriel gemeint hatte.
»Können Sie die Geschichte für uns zusammenfassen?«, fragte Gabriel erneut.
»Oh, ja klar.«
»Stehen Sie bitte auf, damit wir Sie alle sehen können.«
Ich erhob mich. »Ein Jude war ausgeraubt, geschlagen und zum Sterben am Wegesrand zurückgelassen worden. Zwei reiche Männer seines eigenen Volks entdeckten ihn, unternahmen aber nichts, weil sie Angst hatten. Doch als ihn ein Samariter sah – sie wurden von den Juden eigentlich gehasst –, erbarmte er sich des Mannes, brachte ihn in ein Gasthaus und bezahlte dafür, dass der Mann wieder gesund gepflegt wurde.«
»Und was sagt uns das Ihrer Meinung nach?«
Ich überlegte einen Augenblick. »Ich denke, es bedeutet Folgendes: Wenn man selbst die Fähigkeit und die Gelegenheit hat, jemandem zu helfen, es aber nicht macht, weil man Angst hat oder weil es unbequem oder sonst was ist, dann ist man vielleicht selbst genauso schlecht wie die Leute, die das Problem eigentlich verursacht haben.«
»Gute Analyse«, lobte Gabriel. »Vielen Dank.«
Ich wollte mich gerade wieder hinsetzen, doch irgendetwas an der Erklärung störte mich. »Aber bedeutet das dann nicht auch, dass man anderen helfen sollte, wenn man die Fähigkeit hat, die dazu gebraucht wird? Ich meine, der Barmherzige Samariter hätte ja einfach weitergehen können, so wie alle anderen. Stattdessen entschied er sich dafür, etwas zu unternehmen. Das macht ihn doch zu einem Helden. Er ließ es nicht zu, dass die Angst ihn zurückhielt.«
»Ja, aber der Samariter hat nicht versucht, die Banditen zu verfolgen und zu bekämpfen. Er half dem verletzten Mann durch Nächstenliebe und Mitleid. Gewalt und Kampf sind keine gute Antwort.«
»Aber was passiert, wenn man im Krieg ist? Wenn es sich um eine Schlacht zwischen Gut und Böse handelt? Sollte man dann nicht ›Feuer mit Feuer bekämpfen‹?« Ich sah zu Daniel hinüber, denn auf diese Weise hatte er ursprünglich erläutert, wozu Gott die Urbats überhaupt erschaffen hatte.
Als sich die Dämonen über die Erde verbreiteten, entschied sich Gott dafür ›Feuer mit Feuer zu bekämpfen‹. Mit eiserner Hand verteidigten die Menschen ihr Land, aber sie waren auch unerschütterlich in ihrem Glauben an Gott und befolgten seine Gesetze. Gott beschloss, sie dafür zu belohnen und segnete sie mit besonderen Fähigkeiten. Er übertrug ihnen die Eigenschaften des mächtigsten Tiers, das in ihren Bergwäldern lebte, dem Wolf, und stattete sie mit mehr Schnelligkeit, Beweglichkeit, Geschicklichkeit, Kraft und Spürsinn aus.
Ich blickte Gabriel an. »Wenn man sich mit dem Bösen im Krieg befindet, dann ist das doch etwas völlig anderes, nicht wahr? Muss man nicht manchmal extreme Maßnahmen ergreifen, um seine Lieben zu beschützen?«
Gabriel räusperte sich. »Glauben Sie mir, Grace. Ich bin im Krieg gewesen. Kein Ort, wo Sie gern hingehen möchten.«
Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, also standen Gabriel und ich eine Weile nur da und starrten uns an, bis Claire hinter mir fragte: »Sind Sie im Mittleren Osten gewesen?«
Gabriel kniff die Augen zusammen und sah zu ihr. »Entschuldigung, wie bitte?«
»Der Mittlere Osten? Der Krieg? Mein Bruder ist im Irak.«
Gabriel trat einen Schritt zurück. »Oh ja. Ich war im Mittleren Osten.«
»Wie ist es da?«
»Ich kann mich nicht erinnern. Es ist lange her.« Seine Stimme klang leise und ich war mir nicht sicher, ob es außer mir jemand anderer gehört hatte.
Ich setzte mich auf meinen Stuhl und schlug mein Heft auf.
»Wir sollten jetzt mit der Stunde fortfahren«, sagte Gabriel, an die Klasse gewandt. »Soweit ich es verstehe, haben Sie alle über die Leitgedanken der Evangelien gesprochen. Doch ich gehöre zu den Menschen, die es für sinnvoll halten, über das Gespräch hinauszugehen und die Lektionen, die wir lernen sollen, auch tatsächlich umzusetzen. Den christlichen Glauben leben, um es mal so auszudrücken. Und nach dem, was Mr. Shumway für die nächsten Wochen geplant hatte, scheinen wir eines Geistes zu sein.« Gabriel trat an die Tafel und schrieb in großen Buchstaben: Oberstufenprojekt Religionsunterricht.
»Mr. Shumway hatte die Absicht, neue Regeln für alle Oberstufenschüler einzuführen, die in diesem Jahr ihren Abschluss machen möchten. Er hatte vorgesehen, dass Sie alle noch vor den Ferien an einem umfangreichen sozialen Projekt teilnehmen. Ich halte das für eine brillante Idee und beabsichtige, mich an die Absprachen zu halten, die er bereits getroffen hat.«
Ich richtete mich auf. Das musste also die große Überraschung sein, die uns Mr. Shumway vor seiner Kündigung versprochen hatte.
»Vor den Ferien?«, fragte Chris Conway, der Sohn des Direktors, und hörte auf, flammende Totenschädel in sein Heft zu zeichnen. Ich war überrascht, dass er zur Abwechslung überhaupt mal zugehört hatte. »Es sind nur noch zwei Wochen bis zu den Ferien. Das ist völlig unmöglich.«
»Es ist keineswegs unmöglich, und Sie bekommen jeden Tag eine Stunde früher frei, um an Ihren jeweiligen Projekt teilzunehmen.«
»Können wir alles machen, wozu wir Lust haben?«, fragte April. »Ich könnte Schmuck für die Patienten in der Kinderklinik machen.«
»Mr. Shumway hat die einzelnen Projekte schon vorab für Sie ausgewählt. Wir werden mit einer Organisation arbeiten, die sich die Rock Canyon Stiftung nennt.«
»Die betreiben doch das Obdachlosenheim in der Innenstadt, oder?«, fragte ich.
»Sehr gut, Grace.«
»Es tut mir leid, aber meine Eltern werden mir auf keinen Fall erlauben, im Obdachlosenheim zu arbeiten«, meinte Katie. »Sie lassen mich nicht mal in die Innenstadt fahren, seit sich diese unsichtbaren Kriminellen dort rumtreiben.«
»Deshalb werden wir die Gruppe auch aufteilen. Eine wird sich hier in der Nähe aufhalten. Mr. Shumway hatte für diese Gruppe ursprünglich vorgesehen, dass sie die Rock Canyon Stiftung bei der Arbeit im Seniorenheim in Oak Park unterstützt. Allerdings werde ich diese Vereinbarung etwas abändern. Ich vermute, die meisten von Ihnen haben mitbekommen, was im örtlichen Supermarkt geschehen ist. Ich habe gehört, dass der Besitzer Hilfe benötigt, um den Laden aufzuräumen und wieder in Gang zu bringen. Man muss dort sauber machen und ein paar Dinge an der Lichtanlage reparieren. Ich nehme an, dass sie Spendensammler und ein paar unbezahlte Arbeitskräfte ganz gut gebrauchen könnten. Daniel Kalbi wird diese Gruppe anleiten, da er bereits für Mr. Day arbeitet. Diejenigen, denen nicht erlaubt ist, Rose Crest zu verlassen, oder die direkt nach der Schule arbeiten müssen, werden in dieser Gruppe sein. Mr. Shumway hat Ihre Erziehungsberechtigten bereits um Erlaubnis gefragt und die Klasse in zwei Gruppen eingeteilt. Daniel hat die Namen derjenigen, die in Rose Crest bleiben.«
Daniel winkte mit dem Papierbogen, den er sich mit Gabriel angesehen hatte.
»Daniel, Sie brauchen einen Partner, um die Gruppe anzuleiten.«
Ich hielt meine Hand hoch, hätte aber schwören können, dass Gabriel mich absichtlich übersah. »Die junge Dame neben Daniel, wie heißen Sie?«
»Katie Summers«, erwiderte sie. »Ich werde Daniel gern unterstützen.«
»Gut«, sagte Gabriel. »Helfen Sie Daniel, alle Schüler auf der Liste mit der Einteilung der Gruppen vertraut zu machen.«
Na großartig, dachte ich. Ich zeigte noch mal auf. »Ich wäre auch gerne in der Day’s-Market-Gruppe. Ich hab da schon beim Aufräumen mitgeholfen.«
»Nun, Grace«, wandte sich Gabriel mir endlich zu, »Mr. Shumway hat Sie ausdrücklich als Leiterin der zweiten Gruppe benannt, und ich stimme mit ihm überein, dass Sie dazu perfekt geeignet wären. Ihr Team wird mit der Rock Canyon Stiftung im Rahmen ihres Barmherziger-Samariter-Projekts arbeiten. Sie werden jeweils Zweiergruppen bilden und einen Fahrer zugeteilt bekommen, der Sie zu den verschiedenen Projekten in der City und den benachbarten Orten bringt. Dort werden Sie Essen-auf-Rädern ausfahren, mit dem Jungen- und Mädchenclub arbeiten, älteren Leuten bei der Hausarbeit helfen und alles tun, was sonst noch erforderlich ist. Diese Gruppe wird also unmittelbar vor Ort sein und den Bedürfnissen der Gemeinschaft dienen.«
»Das ist doch nicht Ihr Ernst«, sagte Chris. »Mein Vater wird uns niemals so ohne Weiteres freigeben.«
»Oh, Ihr Vater wird heute sogar dabei helfen, Ihre Gruppe zu beaufsichtigen. Und ich bin sicher, dass Sie ein guter Partner für Grace sein werden.«
Noch großartiger. Ich bezweifelte, dass Chris in den letzten drei Jahren auch nur eine einzige Schulaufgabe gemacht hatte. Allein dass sein Vater der Direktor war, hatte ihn bisher vor einem Rauswurf aus der HTA bewahrt. Ich konnte mir schon ausmalen, dass ich die ganze Arbeit allein machen musste.
Ich wollte gerade protestieren und darauf bestehen, in Daniels Gruppe zu kommen, als mir einfiel, dass dies vielleicht die perfekte Möglichkeit bot, in der City weiter nach Jude zu suchen. Vielleicht könnte ich mich ja irgendwann wegschleichen und das Depot, dieses Mal natürlich inkognito, oder einen der Läden in der Umgebung abchecken.
»Okay«, stimmte ich also zu. »Wann soll’s losgehen?«
Im Schulbus
Mr. Shumway hatte tatsächlich schon alle Absprachen getroffen. Gabriel hatte also keine Witze gemacht und trug die von unseren Eltern unterzeichneten Papiere, die unsere Teilnahme gestatteten, bereits bei sich. Wir sollten unmittelbar mit der Arbeit beginnen.
Die Hälfte der Klasse ging mit Daniel und Gabriel zum Day’s Market, der Rest von uns bestieg mit Direktor Conway den Schulbus. Ich hatte angenommen, dass wir erst am nächsten Tag mit dem Projekt anfangen würden, doch Gabriel hatte erklärt, dass das Ganze bereits am letzten Freitag hätte beginnen sollen. Die Leute von der Stiftung warteten also gespannt auf unser Eintreffen. Ich hatte kein Problem mit dieser plötzlichen Entwicklung, käme ich doch früher als erwartet in die Innenstadt.
Allerdings informierte uns Direktor Conway, dass wir am Freizeitzentrum in Apple Valley mit der Samariter-Gruppe verabredet waren. Nur ein paar von uns würden überhaupt in der City sein, abhängig vom Einsatzplan unserer Fahrer.
Ich verteilte die Papiere, die Gabriel mir gegeben hatte, kurz bevor ich in den Bus gestiegen war. Er hatte bereits alle in Zweiergruppen eingeteilt. Wie ich befürchtet hatte, arbeiteten Chris und ich zusammen. Als der Bus vor dem Freizeitzentrum vorfuhr, versammelten wir uns alle auf dem Parkplatz und wurden von einer Reihe Vans in Empfang genommen, die alle das Logo der Rock Canyon Stiftung trugen – zwei ineinander verschränkte Hände.
»Euer Fahrer wird euch in zwei Stunden wieder hier abliefern, dann nehmen wir den Bus zurück zur Schule«, erläuterte ich den anderen. Dann brachen alle auf und ich blieb mit Direktor Conway zurück, um sicherzugehen, dass alle in die richtigen Autos stiegen und losfuhren.
Leichte Eifersucht überkam mich, als ich April und Claire zuwinkte, die im letzten Van mit einer Frau mittleren Alters am Steuer vom Parkplatz rollten. Meine Unterlagen besagten, dass ich mit Van Nr. 8 fahren sollte, doch es waren nur sieben Autos gekommen, und nun waren alle außer dem Direktor, Chris und mir verschwunden.
»Das ist wirklich merkwürdig«, sagte Direktor Conway. »Ich spreche mal mit dem Projektleiter und erkundige mich, was den letzten Van aufgehalten hat.« Er zog sein Handy aus der Tasche und betrat das Freizeitzentrum.
Chris und ich standen für eine Weile allein auf dem Parkplatz. Der Wind zerrte an meinen Haaren. Ich rieb mir die Arme. Der Herbst war in diesem Jahr außergewöhnlich warm gewesen, doch nun wünschte ich, dass ich eine leichte Jacke mitgenommen hätte. Hoffentlich brauchte der letzte Van nicht zu viel Zeit, um herzukommen.
»Das ist doch alles Käse«, meinte Chris. »Ich verzieh mich.« Er warf sich seinen Rucksack über die Schulter und stapfte los.
»Äh, wo willst du denn bitte hin?«, rief ich ihm nach.
»Ich hab da unten an der Straße eine Spielhalle gesehen. Ich bin rechtzeitig wieder da, bevor der Bus zurückfährt.«
»Aber unser Wagen kommt doch gerade.« Ich deutete auf den weißen Van mit den getönten Scheiben und dem Logo der verschränkten Hände, der jetzt auf den Parkplatz fuhr.
»Mir egal«, rief Chris und lief weiter.
Der Van blieb direkt vor mir stehen. Durch die dunklen Scheiben konnte ich nicht ins Wageninnere sehen. Es war eine Sache, zu einer völlig fremden Person in einen Wagen zu steigen, wenn noch jemand von der Schule dabei war, doch da ich jetzt allein war, gefiel mir der Gedanke überhaupt nicht. Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen und zögernd blieb ich am Randstein stehen.
Das Fenster auf der Beifahrerseite wurde ein paar Zentimeter heruntergekurbelt. »Kommst du?«, fragte eine tiefe Stimme aus dem Innern.
Ich konnte den Fahrer noch immer nicht erkennen und blickte zurück zum Eingang des Freizeitzentrums, um nachzusehen, wo Direktor Conway steckte.
»Wir müssen jetzt los, wenn wir rechtzeitig für euren Bus wieder hier sein wollen.«
Ich hob meinen Rucksack auf und ging auf den Van zu, wo ich die Tür öffnete. Ich wollte dem Fahrer sagen, dass er ohne mich fahren sollte.
»Grace Divine?«, fragte der Fahrer. Unter dem Schirm seiner Baseballcap lächelte er mich an. Die Ärmel seines karierten Flanellhemds waren bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. »Ich hab doch gesagt, dass wir uns wiedersehen.«
Ich kippte fast um. Schnell fasste ich nach dem Türgriff, um mich festzuhalten. »Nathan Talbot? Was um alles in der Welt machst du hier?«