Test

 

Dienstagnachmittag

 

»Bist du wirklich bereit?«, fragte Talbot, als ich in den Van kletterte.

»So bereit wie nur irgend möglich.« Ich ließ den Rucksack auf den Sitz zwischen uns fallen und kramte meine Laufschuhe aus seinen Tiefen hervor. Dann kickte ich die Ballerinas weg, die ich immer in der Schule trug, und zog die Turnschuhe über.

»Wo ist denn dein Partner? Hat er sich wieder abgesetzt?«

Ich grinste. »Ich hab’s so hingedreht, dass er zwanzig Dollar in Viertelmünzen auf seinem Sitz im Bus gefunden hat. Das dürfte für ein paar Tage in der Spielhalle reichen.«

Talbot lachte. »Mir gefällt die Art, wie du denkst.«

»Also, was liegt für heute an? Haben wir denn überhaupt ein bisschen Zeit für … na, du weißt schon … fürs Training?«

»Ich hab mich schon um die heutigen Aufträge gekümmert, bevor ich hierhergekommen bin. Außerdem haben wir eine zusätzliche Stunde, bevor der Bus zurückfährt. Das sollte ausreichen, um dich mit den Grundlagen vertraut zu machen.«

»Welche Grundlagen?«

»Du wirst schon sehen«, erwiderte er.

Wir fuhren in einen Vorort namens Glenmore – eine Gegend, die in den fünfziger Jahren vielleicht mal ganz hübsch gewesen war, sich mittlerweile jedoch in eine seltsame Mischung aus Sozialwohnungen, unrenovierten und von Senioren bewohnten Einfamilienhäusern sowie alten, zu Ladengeschäften umgebauten Häusern verwandelt hatte. Wir waren nur ein paar Blocks von der Schnellstraße entfernt, als Talbot das Auto vor einer Pfandleihe namens Second Chances zum Stehen brachte. Als Erstes fielen mir die große x-förmig angebrachte Polizeiabsperrung an der Tür sowie eine weitere Absperrung über dem eingeschlagenen Fenster an der Vorderseite auf.

Talbot kramte seinen großen Rucksack hinter dem Fahrersitz hervor und stieg aus dem Wagen. Ich folgte ihm. Er lief geradewegs auf den Laden zu. Talbot blickte rechts und links die Straße entlang und rüttelte dann kräftig an der Türklinke. Ich hörte ein Geräusch, als sich die Tür aus dem Schloss löste und aufging. Talbot schob das Absperrband zur Seite und deutete mir an, in den Laden hineinzugehen.

»Ähm, ist das nicht irgendwie illegal?« Ich war nicht gerade daran gewöhnt, mich irgendwo hineinzuschleichen.

Talbot zuckte mit den Achseln. »Bei dieser Arbeit darf man es manchmal mit den Regeln nicht so genau nehmen.«

»Und wenn wir geschnappt werden?«

Talbot tippte an sein Ohr. »Der Laden ist leer. Die Überwachungskameras funktionieren nicht. Und wir sind in ein paar Minuten wieder draußen. Ich will nur etwas testen.«

»Was denn?«

»Dich.«

Ich blickte in seine grünen Augen, warf den Kopf zurück, sagte jedoch nichts.

»Los, komm, bevor wir die Gelegenheit verpassen«, sagte er.

Ich zögerte nur eine Sekunde, schlüpfte dann unter dem Absperrband hindurch und in den Laden hinein. Zerbrochenes Glas knirschte unter meinen Schuhen, als ich einen kleinen Kreis beschrieb, um die Zerstörung um mich herum in Augenschein zu nehmen. Sämtliche Vitrinen waren eingeschlagen, und es sah aus, als ob alle Waren verschwunden wären.

»Den Laden hier hat’s gestern Abend erwischt«, erklärte Talbot. »Wer immer dafür verantwortlich ist, hat sämtliche Waren mitgenommen und ist in weniger als sechs Minuten mit einem dreihundert Kilo schweren Safe entkommen. Genau die Zeit, die die Polizei brauchte, um nach der Auslösung des stillen Alarms herzukommen.«

»Woher weißt du das alles?«

»Es schadet nicht, wenn man einen guten Draht zur Polizei hat.«

»Oh. Dann lass mich mal raten. Keine verwendbaren Kameraaufzeichnungen?«

»Exakt. Ich hab heute Morgen meinen Bekannten bei der Polizei ausgefragt. Er sagte, es sei dasselbe wie bei allen diesen Überfällen, die anscheinend von unsichtbaren Gangstern verübt wurden. Keine Fingerabdrücke, keine Kameraaufzeichnung, alles innerhalb von Minuten ausgeraubt.«

»Und was machen wir jetzt hier?«

»Atme mal tief ein.«

Ich blickte ihn fragend an.

»Los. Probier’s mal.«

Ich holte tief Luft. Wenn er dachte, dass ich erst einmal Atemübungen machen sollte, bevor er mir sagte, was er mit mir vorhatte, musste es sich dabei um eine ziemlich interessante Sache handeln. Die Luft roch sauer, wie verdorbene Milch, und ich atmete sofort wieder aus. Ich sah mich nach einem Wasserhahn um, um den ekligen Geschmack wegzuspülen, der in meinem Mund zurückgeblieben war. Als ich keinen entdecken konnte, blickte ich wieder zu Talbot. »Okay, worum geht’s hier?«, fragte ich zögernd. »Warum sind wir hier? Was für einen Test soll ich hier absolvieren?«

Talbot zog eine Augenbraue hoch. »Das Luftholen war Teil des Tests. Hast du irgendwas gerochen?«

»Nun, ja. Hier riecht’s nach saurer Milch. Aber was hat das zu bedeuten?«

»Hmmm. Wir haben wohl mehr Arbeit vor uns, als ich ursprünglich dachte. Ich hatte angenommen, du hättest zumindest ein paar Jagdinstinkte.«

Ich war peinlich berührt. »Nein. Ich glaube, ich verstehe jetzt, worauf du hinauswillst.« Ich machte einen weiteren tiefen Atemzug und behielt die Luft ganz hinten in meiner Kehle. Ich konnte nur die saure Milch schmecken, zwang mich aber, die Luft nicht auszuatmen. Ich wollte vor Talbot nicht versagen, wollte nicht, dass er glaubte, ich sei für das Training nicht bereit. Ich wusste, dass ich zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich bereits ein bisschen blau angelaufen war, was mich ziemlich ärgerte. Schließlich atmete ich durch die Nase aus. Plötzlich nahm ich einen weiteren Geruch wahr, den ich vorher nicht bemerkt hatte. »Ich schmecke die saure Milch, aber ich rieche noch etwas anderes. So was wie verdorbenes Fleisch vielleicht? Irgendwas Fauliges.«

»Gut«, befand Talbot. »Oder eigentlich schlecht.«

»Okay, wenn du denkst, dass ich es nicht richtig gemacht habe, dann zeig mir, wie ich es besser machen kann. Du hattest doch vor, mich zu trainieren, weißt du noch?«

»Noch nicht. Erst der Test. Den hast du allerdings bestanden. Die saure Milch sagt uns, dass wir’s hier mit ein paar Gelals zu tun haben. Dieser Geruch nach fauligem Fleisch bedeutet, dass außerdem mindest ein Akhkharu hier gewesen ist.«

»Akh…a … was?«

»Ak-hay-roo«, wiederholte er betont langsam.

Ich rümpfte die Nase und machte nicht mal den Versuch, dieses Wort wieder in den Mund zu nehmen.

»Ja«, sagte Talbot. »Nenn sie einfach Akhs. Ist leichter auszusprechen. Manche Leute bezeichnen sie auch als Vampire.«

Ich spürte, wie ich die Augen aufriss. »Im Ernst?«

»Ja, allerdings sind sie was anderes als die klassischen Ich-will-dein-Blut-saugen-Vampire.« Talbot zuckte mit den Schultern. »Lass uns verschwinden, bevor hier irgendjemand aufkreuzt. Wir müssen für deinen Test unterwegs noch mal woanders anhalten, bevor ich dich zum Bus zurückbringe.«

»Und das heißt was?«

»Sagen wir einfach: Es ist gut, dass du deine Laufschuhe mitgebracht hast.«

Ein paar Minuten später

 

Talbot schulterte seinen Rucksack und führte mich zum Ende des Blocks. Die Nase im Wind blieb er an der Ecke stehen. Mit Ausnahme einer alten Frau an einer Bushaltestelle war die Straße leer. »Riechst du das?« Talbot atmete schnell ein.

Ich folgte seinem Beispiel. »Ja, es ist derselbe Geruch nach saurer Milch und faulem Fleisch.«

Talbot nickte zustimmend. »Wir sind ihnen auf der Fährte.« Während Talbot weiter die Luft prüfte, fasste er nach meinem Ellbogen und wir überquerten die Straße. »Ja, hier sind sie entlanggegangen. Sie waren zu Fuß unterwegs.«

»Mit einem dreihundert Kilo schweren Safe?« Meine Stimme drückte weit mehr als nur leisen Zweifel aus.

»Du darfst die Dämonen nicht unterschätzen, Kiddo. Diese Gelals neulich waren leicht zu erledigen. Zu leicht, wenn du mich fragst.«

Mein Magen schlug einen kleinen Purzelbaum. Das sollte leicht gewesen sein?

»Bist du bereit für die nächste Testphase?«

»Ja. Sicher. Glaub schon.«

Talbot hielt mich noch immer am Ellbogen fest und zog mich jetzt dicht zu sich heran. Unsere Körper berührten sich fast. Er neigte den Kopf, sodass sein Gesicht dicht über meinem Nacken schwebte, und machte einen langen, tiefen Atemzug. Als er wieder ausatmete, kitzelte die Luft meinen Hals und verursachte mir Gänsehaut auf dem Rücken.

»Hast du gerade an meinem Haar gerochen?«, fragte ich mit mehr als unsicher klingender Stimme.

»Ich nehme deinen Geruch auf. Du solltest dir meinen auch merken. Für den Fall, dass wir getrennt werden.«

»Deinen Geruch aufnehmen?« Ich musste fast lachen und stellte mir vor, ich sei einer dieser Polizeispürhunde, die man am Hemd eines verschwundenen Kindes schnuppern lässt, bevor sie auf die Suche geschickt werden.

Talbot zog mich noch dichter zu sich heran, sodass meine Lippen beinahe über seinen Nacken strichen. Seine Hand hielt meinen Ellbogen fest umklammert. Ich machte einen tiefen Atemzug und behielt die Luft ganz hinten in der Kehle. Talbot roch nach Pfefferminzkaugummi, frischem Sägemehl und etwas anderem, was ich ohne meinen jetzt einsetzenden Wolfssinn nicht hätte wahrnehmen können. Er roch wie meine Hündin Daisy, wenn sie morgens auf der hinteren Veranda faul in der Sonne gelegen hatte. Es war ein Geruch, den ich in der Vergangenheit immer als leicht unangenehm empfunden hatte – besonders dann, wenn sie versuchte, sich derartig riechend auf meinem Bett breitzumachen. Doch nun verspürte ich bis in die Zehenspitzen ein Gefühl der Erinnerung an vertraute Dinge.

»Du riechst nach Rosmarin und Zitrone«, sagte Talbot. Er stand jetzt so dicht zu mir gebeugt, dass ich seine Worte wie warmes Sonnenlicht auf meinem Gesicht spüren konnte. Er zupfte an einer meiner dunklen Locken.

Ich trat einen Schritt zurück. Ich hatte ihn zu nahe an mich herankommen lassen. »Das ist bloß mein Shampoo.«

»Nun, es riecht gut und ist leicht aufzuspüren, falls ich kehrtmachen muss, um dich zu finden. Hast du meinen Geruch?«

Ich nickte.

»Okay, das ist bloß zur Sicherheit, für den Fall, dass du dich verläufst. Ich möchte, dass du dich jetzt auf den Geruch der Gelals und Akhs konzentrierst. Ihre Fährte ist schon älter und lässt nach. Mach dir also keine Vorwürfe, wenn du sie verlierst. Meine Fährte ist frisch und neu. Konzentrier dich auf sie, wenn wir getrennt werden.« Er lächelte. Seine Grübchen traten wieder hervor. »Und versuch zumindest, mit mir Schritt zu halten. Es wäre nicht so spaßig, wenn ich allein auf sie träfe.«

»Oha, warte mal, wir verfolgen die Einbrecher? Jetzt?«

»Wolltest du das nicht?«

»Ja, aber ich dachte, wir gehen es langsam an. Ich dachte, wir gehen erst mal die Grundlagen durch.« So hätte es Daniel gemacht. Mach langsam. Halte deine Balance. »Also, ich meine, du hast mir ja noch gar nichts beigebracht.«

»Das hier sind die Grundlagen, Grace. Wir sind Dämonenjäger. Zum Entspannen haben wir keine Zeit.« Talbot krempelte die Ärmel seines blaurotkarierten Hemds hoch.

»Und, äh, was machen wir, falls wir diese Dämonen finden?«

»Uns wird schon was einfallen, wenn wir sie finden.«

»Wenn?«

Talbot lachte. »Das wird ein Heidenspaß.« Dann rannte er die Straße hinunter.

Bevor ich auch nur realisiert hatte, dass er weg war, hatte er schon den Block hinter sich gebracht und bog gerade um die Ecke. Ich rannte ihm nach, da ich ihn mit Sicherheit sofort verloren hätte, wenn ich nicht gleich losgelaufen wäre. Als ich um die Ecke gelaufen kam, stand er mit den Händen in den Hosentaschen an einen Baum gelehnt da. Und als ich ungefähr einen Meter entfernt war, lachte er und stürzte wieder davon. Während er weiter abwechselnd stehen blieb und weiterrannte, folgte ich ihm durch die verwaisten Straßen des Viertels – ein richtiges Katz- und Mausspiel. Talbot schien sich bestens zu amüsieren, was mir auf die Nerven fiel. Er rannte auf diese parcoursmäßige Art, so wie Daniel es immer getan hatte, als er noch im Besitz seiner Kräfte gewesen war, und nahm den kürzesten Weg durch die Hindernisse hindurch oder über sie hinweg, anstatt um sie herum zu laufen. Ich sah, wie er ein paar Betontreppen an einem angrenzenden Gebäudes hinaufsauste, dann, oben angekommen, unter dem Geländer hindurchtauchte, nach einer Vorwärtsrolle in der Luft auf dem Boden landete und sofort wieder aufsprang.

»Los, weiter, Kiddo!«, rief er.

Ich atmete tief ein und folgte seinem Beispiel, war schockiert und gleichermaßen glücklich, als ich denselben Sprung wagte. Talbot jubelte mir zu. Eine Frau, die vorbeikam und ihren Hund ausführte, ließ ihre Leine fallen und starrte uns ungläubig an.

Talbot sprang weiter, rannte jetzt sogar noch schneller als zuvor. Ich lief ihm nach, versuchte meine Kräfte zu mobilisieren, und ließ mich von der gleißenden, pochenden Hitze davontragen. Ich war knapp zwanzig Meter hinter ihm, als er nach links ausbrach, über eine zwei Meter hohe Mauer sprang und verschwand.

Ich brauchte all meine Konzentration, um dem geänderten Lauf zu folgen. Ich schlug die andere Richtung ein und rannte in rasendem Tempo auf die Mauer zu – viel zu schnell. Doch gerade, als ich kurz davor war, mit dem Gesicht voraus dagegen zu knallen, lösten sich meine Füße vom Boden, und ich schwang mich hoch in die Luft. Meine Finger berührten knapp die Mauerkrone, während ich in einer halben Sekunde darübersprang.

Fast lautlos setzten meine Füße wieder auf. Als ich zu einer Straßeneinmündung kam, reduzierte ich mein Tempo zu einem lockeren Lauf. Die Straße wurde in beide Richtungen breiter und eine mit Kies bedeckte Seitenstraße führte in eine von heruntergekommenen Häusern gesäumte Sackgasse. Talbot war nirgendwo zu sehen, doch ich konnte seinen warmen Geruch spüren.

Ich lief ein paar Schritte nach links und prüfte die Luft. Ich nahm den Gelal-Gestank wahr und machte weitere fünf Schritte. Der Gelal-Geruch verblasste, ebenso Talbots Fährte. Dann wiederholte ich das Ganze, diesmal zur rechten Seite. Das war auch nicht die richtige Richtung. Ich ging zurück zur Kreuzung und die vermischten Gerüche waren wieder da. Also lief ich ein kleines Stückchen in die Sackgasse hinein. Der Geruch lag immer noch schwer in der Luft. Talbot war zu einem dieser Häuser gelaufen. Doch zu welchem?

Ich beschrieb einen kleinen Kreis, sog die Luft ein und kam mir vor wie ein Hund, der seinem eigenen Schwanz hinterherhetzt. Ich witterte einen deutlichen Geruch und folgte ihm vorsichtig in die Einfahrt eines Hauses, das einst ein wunderschönes Anwesen im viktorianischen Stil gewesen sein musste, doch nun so wirkte, als hätte man es schon vor mindestens einem Jahrzehnt zum Abriss freigegeben. Der Gestank nach fauligem Fleisch und saurer Milch erstickte mich fast, während ich mich über die kiesbedeckte Einfahrt näherte. Talbot blieb weiter verschwunden.

»Was nun?«, schnaubte ich verärgert. Dann spürte ich, wie sich etwas Festes über meinen Mund legte und ich hinter einen hohen Busch gezerrt wurde.

Unwillkürlich schlug ich auf meinen Angreifer ein, war aber plötzlich von Talbots warmem Duft umgeben und hörte ihn flüstern: »Psssst. Die haben auch übernatürliche Sinne, weißt du das nicht?« Er nahm seine Hand von meinem Mund.

Ich wandte mich zu ihm um. »Sie?«, flüsterte ich ganz leise und bewegte dabei fast nur die Lippen. »Dann sind sie also da drin?«

Talbot nickte. »Kannst du sagen, wie viele es sind?« Er berührte mein Ohr, um mir zu verdeutlichen, dass ich genau hinhören sollte.

Ich hielt den Atem an. Mein Herz schlug durch die Rennerei noch immer heftig, und ich wollte unbedingt, dass es sich beruhigte. Ich lauschte über die zirpenden Grillen hinweg, die uns in dem Busch Gesellschaft leisteten, und blendete alle nahen Töne aus, bis ich mich auf die Geräusche hinter der Hauswand konzentrieren konnte. »Es sind drei«, flüsterte ich. »Einer von ihnen schnarcht, die anderen beiden klingen so, als säßen sie an einem Tisch.«

»Vier«, korrigierte Talbot. »Da ist noch einer im ersten Stock. Der Schlafende ist wahrscheinlich ein Gelal. Die Akhs schlafen normalerweise nicht.« Talbot nahm seinen Rucksack ab und öffnete ihn. Er zog etwas heraus, das einem kurzen Schwert ähnelte und dessen Griff von einer schwarzen Lederschnur umwickelt war, sowie ein dickes Holzstück, das an einem Ende zu einem Pfahl angespitzt war.

»Möchtest du Holz oder Stahl?«, fragte er.

»Wie bitte?«

»Du siehst so aus, als ob du Holz vorziehst«, erwiderte er mit einem Grinsen und warf mir den Pfahl oder Pflock, wie ich wohl eher sagen sollte, zu.

Ohne nachzudenken schnellte meine Hand nach vorn und fing dieses Ding auf. Ich hätte mich an diese Reflexe durchaus gewöhnen können. »Was hast du vor? Wir gehen doch da nicht allen Ernstes rein, oder?«

»Aber natürlich.« Talbot zog das Schwert. Es sah verdammt scharf aus. »Vier gegen zwei. Keine schlechten Chancen.«

»Auf keinen Fall.« Meine Hand zitterte so sehr, dass ich den Pflock fast fallen ließ. »Für meinen ersten Tag ist das ein bisschen mehr als Grundlagentraining. Ich kann da nicht rein.«

»Aber sicher kannst du, Grace«, flüsterte Talbot. Er sah mich mit seinen durchdringenden grünen Augen an. »Was ist, wenn das hier die einzige Chance wäre, deinen Bruder zu retten? Würdest du dann weglaufen? Stell dir vor, dass er jetzt da drinnen ist. Was wäre, wenn sie ihn dort gefangen hielten? Vielleicht ist er derjenige im ersten Stock? Es könnte ja sein, dass sie ihn da oben angekettet haben und für ihre nächste Mahlzeit aufsparen. Möchtest du etwa nicht, dass sie dafür bezahlen?«

Ich konnte wieder spüren, wie sich dieser feste, flammende Knoten in meinem Bauch bildete – dasselbe Gefühl, das ich verspürt hatte, als ich den maskierten Gelal seine Waffe an Talbots Kopf halten sah. Mit einem Mal konnte ich mir Jude in diesem Haus vorstellen, gefesselt, blutend und grün und blau geschlagen. Über ihn gebeugt ein Monster, das drohte, ihn in Stücke zu reißen. Ich verstärkte meinen Griff um den Pfahl. »Okay, gehen wir rein.«

62,5 Herzschläge später

 

Talbot trat die Tür ein und wir stürzten ins Haus. Ein Mann und eine Frau, die an einem Tisch saßen und Karten spielten, schrien auf, als sie uns entdeckten. Ein zweiter Mann, der schlafend auf einem Sofa gelegen hatte, sprang mit einem Satz auf. Er wirkte gleichermaßen verwirrt und animalisch. Er trampelte auf uns zu und holte aus, um mich zu schlagen. Ich konnte seinen Angriff spielend abwehren und stieß ihn weg.

Die Frau warf den Tisch um, traf dabei versehentlich ihren Kumpan und stürzte sich auf Talbot. Talbot versetzte ihr einen Schlag in den Unterleib. Sie schwankte zurück, fletschte die Zähne und warf sich erneut auf ihn.

Der widerliche Dämonengeruch im Raum verursachte mir Übelkeit und Schwindel. Der animalische Typ fauchte mich an. Aufgrund seines Gestanks nach geronnener Milch, nahm ich an, dass er ein Gelal war. Er holte zu einem weiteren Schlag in Richtung meines Gesichts aus. Ich duckte mich und wollte ihm gerade einen Tritt gegen seine Beine verpassen, als ich im Augenwinkel etwas Stählernes aufblitzen sah. Ich drehte den Kopf und sah, wie Talbot ausholte und der Frau sein Schwert in die Kehle rammte. Mit dem Geräusch eines Messers, das in eine Wassermelone versenkt wird, drang das Schwert tief in ihr Fleisch – und trennte, begleitet von einer Fontäne aus Blut, ihren Kopf von ihrem Körper.

Talbot hatte ihr den Kopf abgeschlagen!

Ich schrie. Ich hatte nicht gewusst, dass ich in der Lage war, so laut zu schreien. Talbot hatte diese Frau getötet! Ich würgte und sprang aus dem Weg, als ich den Kopf auf mich zurollen sah. Ein Ausdruck totaler Überraschung lag auf dem Gesicht.

Was war hier gerade passiert? Was hatte Talbot getan?

Er hatte sie getötet!

Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, bevor wir hier hineingestürmt waren. Dass wir diese Kriminellen überwältigen und der Polizei überlassen würden? Vielleicht.

Aber ganz sicher nicht, dass wir sie umbrachten!

Der kopflose Frauenkörper machte einen weiteren Schritt auf Talbot zu, sank dann zu Boden … und zerfiel vor meinen Augen zu Staub. Ihr abgetrennter Kopf ebenso.

»Was hast du getan?!«, schrie ich Talbot an.

Dann traf mich die Faust des Gelals mitten ins Gesicht.

Ich flog nach hinten und knallte gegen einen Bilderrahmen an der Wand. Unter meiner Schulter spürte ich den Rahmen knirschen; das zerbrochene Glas stach mir in den Rücken. Ich sank auf die Knie. Völlig benommen sah ich den Raum vor meinen Augen verschwimmen, als der Mann auf mich zustürzte. Seine Finger endeten in spitzen Klauen, mit denen er nach meiner Kehle zielte. Talbot schleuderte das Schwert auf den Mann. Es drang in seinen Rücken ein, spießte ihn auf und trat an der Brust wieder heraus. Schwarze, ölige Flüssigkeit spritzte aus der Wunde in mein Gesicht. Wie Säure brannte sie auf meiner Haut. Ich versuchte sie wegwischen. Der Mann brach über mir zusammen, umklammerte wie ein Wahnsinniger das aus seiner Brust herausragende Schwert, schlitzte sich dabei jedoch nur seine eigenen klauenartigen Hände auf.

»Oh, Gott.« Ich kroch nach vorn und streckte die Hand aus, um ihm aufzuhelfen.

»Rühr ihn nicht an!«, rief Talbot. Er versuchte gerade, den Kerl fertigzumachen, der am Tisch gesessen hatte.

Der Mann vor mir erbebte in Todesqualen, richtete sich jedoch plötzlich wieder auf. Sein erstarrter Körper schwankte vor und zurück und explodierte dann in einem Schwall aus schwarzer Brühe. Ich sprang gerade rechtzeitig zur Seite, um der brennenden Säure auszuweichen. Zitternd versuchte ich auf schwankenden Beinen so weit wie möglich von diesem sauer stinkenden Chaos wegzukommen. Am Geländer der nach oben führenden Treppe stützte ich mich ab. Ich atmete viel zu schnell und mir drehte sich der Magen um. Ich war kurz davor, mich zu erbrechen, als mich jemand von hinten packte. Bevor ich reagieren konnte, lösten sich meine Füße vom Boden, und wer immer mich da gepackt hatte, schleuderte mich jetzt in Richtung Sofa. Ich landete auf dem Boden davor, hatte aber nicht mal Zeit für eine weitere Bewegung, bevor sich erneut jemand auf mich stürzte. Eine Frau mit pinkschwarzen Haaren und scharfen, spitzen Zähnen. Sie umklammerte meine Kehle.

Wo war sie bloß hergekommen?

Mir wurde klar, dass sie die Person sein musste, die sich oben aufgehalten hatte – was bedeutete, dass Jude überhaupt nicht hier war.

»Sieh ihr nicht in die Augen!«, hörte ich Talbot rufen.

Doch es war zu spät. Die Frau hatte ihren Blick in meine Augen versenkt. Ich konnte das Starren ihrer kohlschwarzen Iris nicht abschütteln, konnte mich nicht zwingen, wegzuschauen oder meine Augen zu schließen. Ich konnte hören, wie die Frau einen leisen Gesang anstimmte, irgendeine fremde Sprache, aber ihre Lippen bewegten sich nicht. Ich hatte so etwas schon einmal erlebt, konnte mich aber nicht mehr erinnern, wo oder wann.

»Benutz deinen Pfahl, Grace!«, rief Talbot. Er klang sehr weit entfernt. »Benutz ihn, Grace. Töte sie!«

Du möchtest mir deinen Pfahl geben, sagte die Frau, ohne zu sprechen. Gib ihn mir. Du weißt, dass du es willst.

Ich spürte den Pfahl in meiner Hand. Ich hatte fast vergessen, dass er überhaupt da war. Ein dicker Nebel wirbelte durch mein Gehirn. Ich konnte nur denken, dass ich diese schreckliche Waffe nicht haben wollte. Ich konnte niemanden töten. Ich war keine Mörderin. Ich war kein Monster. Wenn die Frau den Pfahl haben wollte, sollte sie ihn bekommen.

Langsam ließ ich den Arm sinken und reichte ihr das spitze Holzstück. Mit ihren krallenartigen Fingern griff sie danach und lachte. Ich weiß nicht, was Daniel in dir sieht, sagte sie im Innern meines Kopfes. Du bist so schwach.

Wie bitte?, versuchte ich zu sagen, aber meine Lippen wollten sich nicht bewegen. Woher kannte sie Daniels Namen? Woher wusste sie, wer ich war?

Aber vielleicht hat er ja heute Abend mehr Lust zum Feiern. Sie hob den Pfahl über meinen Kopf. Jetzt, da du tot bist. Sie stieß mir den Pfahl vor die Brust.

Doch dann, als wäre plötzlich etwas in sie gefahren, erstarrte sie. Sie verdrehte die Augen und durchbrach die Trance, in der sie mich gefangen hielt. Der Nebel in meinem Kopf lichtete sich etwas. Auf einmal wurde mir klar, dass ich sie kannte.

»Mishka?«, fragte ich.

»Kleines Miststück!«, rief sie und löste sich direkt vor mir in Luft auf.

Alles, was von ihr übrig blieb, war ein Häufchen Staub. Ein abgebrochenes Stuhlbein fiel hinter ihrem Rücken zu Boden, nachdem sie verschwunden war. Es rollte vom Sofa quer über den Fußboden und prallte gegen einen von Talbots Joggingschuhen.

»Bist du okay, Kiddo?«, fragte er und reichte mir die Hand.

Ich wich seiner Berührung aus und drängte mich auf dem Sofa so weit wie möglich von ihm weg, während ich wie besessen Mishkas Staub von meiner Hose bürstete. »Ich … Ich … kannte sie«, stammelte ich. »Und du hast sie umgebracht.« Auf der Suche nach Lebenszeichen wandte ich den Kopf von einer Seite zur anderen. Mit Ausnahme zweier weiterer Staubhäufchen und einer Lache ätzender Flüssigkeit, die den Teppich wegfraß, war das Zimmer leer. Mir drehte sich wieder der Magen um und ich presste die Hände auf den Bauch. »Du … Du hast sie alle getötet.«

»Ja. Das ist genau das, was ich mache.« Talbot fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Irgendwann während des Kampfes hatte er sein Baseballcap verloren. »Was hast du denn gedacht? Dass wir sie zu einem Eis einladen und ihnen Hundewelpen kaufen?«

»Nein. Ich dachte … dass wir sie der Polizei übergeben. Aber du hast sie umgebracht.« Das ergab alles keinen Sinn. Ich hatte gesehen, wie Talbot Aprils Silberarmband in die Hand genommen hatte, ohne dass es seine Haut versengte. Ich hatte angenommen, dass er genau wie ich war. Ein Urbat, der über Kräfte verfügte, aber dem Fluch nicht verfallen war. Ein Hund des Himmels. Aber wenn er jetzt zum ersten Mal jemanden getötet hatte, hätte er sich dann nicht in einen Werwolf verwandeln müssen? Doch andererseits – so, wie er mit dem Schwert umgegangen war, hatte er mit Sicherheit nicht zum ersten Mal getötet. Er hatte keine Sekunde gezögert. »Ich verstehe das nicht. Ein Akt räuberischen Tötens … Wenn du einen Menschen umbringst, dann …«

»Das waren keine Menschen, Grace. Das waren waschechte Dämonen. Der Fluch des Werwolfs überkommt dich nur dann, wenn du einen Menschen tötest. Die Urbats wurden erschaffen, um Dämonen zu töten. Genau das machen wir.«

»Aber neulich hast du den mit der Waffe nicht getötet.«

»Ich habe ihn in deinem Beisein nicht töten wollen, weil ich nicht wusste, ob du schon dafür bereit warst. Anscheinend bist du es noch immer nicht. Du bist noch viel grüner hinter den Ohren, als ich dachte.«

»Nein. Es ist nur so, dass ich es noch immer nicht verstehe. Mein Bruder verfiel dem Fluch, als er versuchte Daniel zu töten – der zu jener Zeit ein Werwolf war …«

»Ah.« Talbot setzte sich neben mich aufs Sofa. Ich wich vor ihm zurück, da ich nicht länger wusste, wer er eigentlich war. »Sieh mal, Werwölfe sind immer noch menschlich. Sie haben noch immer ein menschliches Herz, das mit dem Herz des Dämons koexistiert. Deshalb zählt das Töten eines Werwolfs in böser Absicht so viel wie ein räuberischer Akt gegen einen Menschen. Aber echte Dämonen sind anders. Die Gelals nehmen nur die äußere Erscheinung der Menschen an. Im Grunde genommen haben sie überhaupt gar keine richtigen Körper. Und die Akhs, eine Unterart der Vampire, nisten sich in den Körpern von Verstorbenen ein. Betrachte sie als dämonische Heimsuchung eines toten Menschen. Deshalb stinken sie auch nach fauligem Fleisch. Zumindest für Leute mit empfindlichem Geruchssinn.« Er tippte sich an die Nase. »Deswegen zerfallen sie auch zu Staub, wenn man sie tötet. Durch die Heimsuchung eines Dämons wird der Verfall des menschlichen Körpers beschleunigt, und wenn der Dämon im Körper getötet wird, fällt dieser auseinander.«

»Oh.« Mein Kopf drehte sich. Dad hatte mir Bücher über Werwölfe gegeben, doch die meisten hatten nur Mythen und keine wirklich handfesten Informationen enthalten. Der Gedanke, mit einem echten Dämon zu kämpfen, war mir immer so abwegig und vollkommen irreal vorgekommen, dass ich mir erst gar nicht die Mühe gemacht hatte, viel über den Feind zu lernen. Talbot hatte recht: Ich war wirklich noch ziemlich grün hinter den Ohren.

Was mich beinahe umgebracht hätte.

»Danke, dass du mich gerettet hast. Ich hätte wohl einfach nur dagelegen und mich von ihr umbringen lassen.« Ich zog die Beine an und umklammerte die Knie. Ich kam mir ziemlich nutzlos vor. »Ich konnte nicht anders, als das zu tun, was sie wollte.«

»Gedankenkontrolle«, erklärte Talbot. »Denk einfach dran, einem Akh niemals in die Augen zu sehen. Darin unterscheiden sie sich auch von gewöhnlichen Vampiren. Akhs sind so was wie Psycho-Vampire. Sie ernähren sich von deiner Lebenskraft und rauben deinen freien Willen. Aber Gelals und Akhs sterben alle auf dieselbe Weise: Pflock ins Herz oder eine gute, altmodische Enthauptung.«

Ich schauderte angesichts der Erinnerung an die erste Frau, deren Kopf vom Rumpf getrennt worden war. »Ich war von allem hier total schockiert und hab völlig vergessen, dass da noch jemand im Haus war.«

»Das war mein Fehler. Ich hätte dich daran erinnern sollen, sodass du vorbereitet gewesen wärst. Aber das sollte uns beiden eine Lehre sein, okay?« Talbot lächelte mich an. »Regel Nummer eins: Niemals deine Deckung aufgeben.«

Ich verzog den Mund zu einem halbherzigen Lächeln, runzelte aber plötzlich die Stirn. Daniel hatte mir wieder und wieder dasselbe gesagt. Ich hasste den Gedanken, dass ich ihm nicht erzählen könnte, was heute geschehen war. Ich würde ihn anlügen müssen.

Das Gefühl totaler Niedergeschlagenheit lastete auf meinen Schultern, als ich wieder den leeren Raum betrachtete. »Ich wünschte nur, du hättest nicht alle umbringen müssen. Ich meine, wir konnten keinen von ihnen nach Jude fragen. Wenn dies die Gang war, bei der er untergeschlüpft ist, wo zum Teufel ist er dann jetzt?«

»Jude ist nie hier gewesen«, entgegnete Talbot. »Diese Kreaturen waren bloß Amateure. Billige Kopien. Das waren nicht die richtigen Shadow Kings. Die echte Gang hätte niemals den stillen Alarm in der Pfandleihe ausgelöst.«

Ich stand auf und blickte Talbot an. Meine Hände zitterten vor Wut. »Moment mal, hast du etwa die ganze Zeit gewusst, dass es nicht die richtige Gang war?«

Talbot nickte.

»Wieso sind wir dann hierhergekommen?«

»Weil dies ein Test war, Grace. Ich musste einfach wissen, ob du so weit bist, und offensichtlich bist du es nicht. Was du hier gesehen hast und was am Montag in dieser Gasse passiert ist, war im Vergleich zu dem, was uns vielleicht noch bevorsteht, ein Kinderspiel. Diese kleine Bande von Dilettanten bestand nur aus vier Leuten. Die echte Gang ist wahrscheinlich fünfmal so groß.«

Diese Vorstellung ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. »Du wusstest also, dass Jude nicht hier ist, bevor wir hier reingeplatzt sind?«

»Ja.«

»Aber warum hast du dann gesagt … Warum hast du mich glauben lassen, dass er hier wäre?«

»Weil ich wollte, dass du dich genügend aufregst, um zu agieren. Deine Gefühle – aus ihnen resultieren deine Kräfte.«

Talbots Worte verwirrten mich. »Aber das ist nicht das, was Daniel zu mir sagt. Er ermahnt mich immer, meine Kräfte zurückzuhalten, wenn ich wütend werde. Er sagt, der Schlüssel zur richtigen Anwendung meiner Fähigkeiten sei die Balance. Er sagt, ich dürfe nicht zulassen, dass meine Gefühle die Oberhand gewinnen, wenn ich lernen will, wie ich meine Kräfte einsetzen kann, ohne mich dem Wolf zu überlassen.«

»Dann solltest du dich fragen, aus welchem Grund Daniel dich zurückhalten will.«

Hitze stieg mir in die Wangen. Talbot hat recht, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Daniel wollte mich tatsächlich zurückhalten.

Doch das bedeutete noch lange nicht, dass Talbot recht und Daniel unrecht hatte.

Talbot stand auf und stellte sich direkt vor mich, sodass uns nur ein paar Zentimeter trennten. Mit seinen durchdringenden Augen sah er mich an. Er streckte die Hand aus und berührte meinen Mondsteinanhänger. Ich wollte mich seiner Berührung entziehen, tat es jedoch nicht.

»Solange du das hier trägst, erreichst du niemals dein volles Potenzial«, sagte er. »Ich hab meins schon vor langer Zeit weggeworfen.«

»Du hast deinen Mondstein weggeworfen? Wo hattest du den überhaupt her? Ich dachte immer, sie wären so selten …«

»Altes Familienerbstück. Ich komm viel besser ohne ihn klar.«

»Aber Gabriel hat gesagt, der Mondstein sei der einzige Gegenstand, der den Wolf in Schach hält. Gabriel …«

»Gabriel?« Talbot nahm die Hand von dem Anhänger und trat einen Schritt zurück. »Du kennst Gabriel?«

»Ja.« Wenn wir denselben meinten. »Gabriel Saint Moon.«

Talbot stieß ein höhnisches Lachen aus. »Er nennt sich jetzt Saint Moon? Das ist wirklich paradox.«

»Du weißt von Gabriel und den Saint Moons?«

»Gabriel ist ein ausgesprochener Feigling.« Talbot breitete die Arme aus. »Und ich bin ein Saint Moon.«

Mir blieb fast die Luft weg. »Wirklich?«

»Meine Mutter war zumindest eine. Sie war eine direkte Nachfahrin von Katherine und Simon Saint Moon, dem ersten Werwolfjäger in unserer Familie. Als meine Mutter geboren wurde, hatten sich die Saint Moons angeblich bereits von der Dämonenjagd verabschiedet. Meine Eltern waren beide Kryptozoologen. Sie reisten herum und erforschten die lokale Mythologie der Dämonen. Ich nehme an, dass sie auch mal den einen oder anderen Dämon erledigt haben, wenn es erforderlich wurde. Allerdings nur, bis ich auf die Welt kam. Sie hörten auf zu reisen und ließen sich in einer kleinen Stadt in Pennsylvania nieder. Die Saint Moons hatten ein Friedensabkommen mit Gabriels Rudel getroffen, das in den nahe gelegenen Bergen lebte. Aber dann, an meinem dritten Geburtstag, wurden meine Eltern von einer Bande abtrünniger Werwölfe aus diesem Rudel niedergestreckt. Direkt vor meinen Augen.«

Jetzt blieb mir tatsächlich die Luft weg. Ich schlug mir die Hand vor den Mund.

»Einer dieser ungebetenen Gäste hinterließ mir ein besonderes Geburtstagsgeschenk.« Talbot zog die Zipfel seines Flanellhemds hoch und zeigte mir die große, halbmondförmige Narbe, die auf seinen trainierten Bauchmuskeln fast wie eine Tätowierung wirkte.

»Das tut mir leid.« Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen können.

Talbot ließ das Hemd wieder herunter. »Gabriel ist derjenige, dem es leidtun sollte. Er hätte diese Werwölfe aufhalten können, tat es aber nicht, denn dann hätte er sich die Hände schmutzig machen müssen. Und sein Alpha, Sirhan, hat diese Wölfe, die meine Eltern töteten, kaum bestraft. Sie verdienen, was mit ihrem Rudel geschehen wird, wenn Sirhan stirbt …« Er schürzte die Lippen und blickte zu Boden.

»Was ist danach mit dir passiert?« Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es war, so jung zu sein und dabei zusehen zu müssen, wie die eigenen Eltern getötet wurden. Talbot konnte zu diesem Zeitpunkt nur sechs Monate älter gewesen sein, als James es jetzt war.

»Ich wurde zu meinem Großvater geschickt, um mit ihm auf seiner Farm zu leben. Er kümmerte sich bereits um meinen geistig behinderten Cousin. Er erzählte uns beiden dann diese ganzen Geschichten über die großen Saint Moons. Die Dämonenjäger. Tapfer bis zum Ende. Er zeigte uns auch diesen alten Silberdolch. Als ich dreizehn war, starb er nach einem Schlaganfall. Da beschloss ich, unser Vermächtnis weiterzutragen. Ich allein habe Simon und allen anderen Saint Moons etwas voraus. Ich habe Superkräfte. Und im Gegensatz zu Feiglingen wie Gabriel benutze ich sie auch.«

»Dein Cousin, der geistig Behinderte – war er der Einzige, der dir von deiner Familie noch geblieben war?«

Talbot nickte. »Ich konnte mich nicht um ihn kümmern und er konnte sich nicht um mich kümmern, obwohl er viel älter war. Ich habe ihn seit dem Tag, an dem mein Großvater starb, nicht mehr gesehen. Wir sind die Letzten der Familie.«

»Nein«, sagte ich. »Don ist tot. Ich kannte ihn. Er starb vor zehn Monaten. Aber er wollte ein Held sein wie du.«

Talbot ließ den Kopf hängen, seine Schultern sackten ein.

Jetzt wusste ich, wieso er mir so seltsam vertraut vorkam. Auch wenn sie nicht identisch aussahen, so gab es doch eine Familienähnlichkeit. Sie manifestierte sich in der Form des Mundes, dem Ton der Stimme und der Größe der Hände und rief eben jene Vertrautheit in mir hervor, die mich so häufig erstaunte. Talbot erinnerte mich an einen jüngeren, attraktiveren und sowohl geistig als körperlich gesunden Don Mooney. Es gab sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Gabriel. Die beiden hätten ebenfalls Cousins sein können.

»Das heißt also, dass du der letzte echte Saint Moon bist«, stellte ich fest.

Talbot bückte sich. Er hatte sein Cap wiedergefunden. Er hob es auf und setzte es sich auf den Kopf. »Ich werde mal das restliche Haus nach Leichen durchsuchen. Ich bezweifle, dass diese Kreaturen bei den Leuten, die hier mal gewohnt haben, willkommene Gäste waren.«

Er ging in Richtung Treppe, blieb dann aber stehen und wandte sich zu mir um. »Du hast hier heute echt was geleistet. Wir müssen allerdings noch ein paar Dinge erledigen, bevor wir darüber nachdenken können, der echten Gang hinterherzujagen.« Er lächelte mich zögernd an. »Wir finden deinen Bruder. Ich verspreche es.«

»Danke«, sagte ich.

»Sieh zu, dass diese Verletzungen in deinem Gesicht schnell abheilen. In einem der Badezimmer findest du bestimmt ein Handtuch und kannst dich etwas waschen. Ich kann dich nicht zum Bus zurückbringen, solange du so aussiehst.«

Ein paar Minuten später

 

Neben der Küche entdeckte ich ein kleines Badezimmer. Gelbe Schmutzringe zogen sich durch das Innere des Waschbeckens. Der Spiegel hatte Risse und war fast blind. Ein altes, steif gewordenes Handtuch hing an einem Metallring aus angelaufenem Messing. Ich nahm es herunter und benutzte den Handtuchzipfel, um einen Bereich des Spiegels zu säubern. Danach blickte ich auf die rot geränderten Augen meines Spiegelbilds, auf das bleiche Gesicht und das zerzauste Haar. Rote, wie spitze Fingernägel geformte Male bedeckten meinen Hals dort, wo Mishka mich gepackt hatte. Der Kontakt mit dem säureartigen Blut des Gelals hatte auf meinem Gesicht drei markante Verbrennungen hinterlassen, auf denen sich Blasen bildeten.

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Ich versuchte mir vorzustellen, meine Wunden heilen zu lassen, so wie Daniel es mir gezeigt hatte, versuchte, sie mit der Kraft meiner Gedanken auszulöschen. Doch als ich die Augen wieder öffnete, war mein Spiegelbild noch genau dasselbe. Seit meinem bahnbrechenden Lauf am Sonntag hatte sich die Fähigkeit zur Kontrolle meines Supergehörs, meiner Geschwindigkeit, meiner Stärke und meiner Beweglichkeit um ein Zehnfaches verstärkt. Doch die Heilungskräfte blieben mir weiter versagt. Diese Wunden wären zwar wahrscheinlich in wenigen Stunden von selbst abgeheilt – und nicht erst in Wochen wie bei einem gewöhnlichen Sterblichen –, doch eigentlich hätte ich in der Lage sein müssen, den Prozess zu beschleunigen. Anstatt Stunden hätte es nur Sekunden dauern sollen, wenn ich mich genügend konzentrierte.

Da ich nicht stundenlang warten konnte, schloss ich die Augen und versuchte es noch einmal. Die Heilungskräfte waren die ersten gewesen, die Daniel als Kind entwickelt hatte. Auf diese Weise hatte er überhaupt entdeckt, dass er über besondere Fähigkeiten verfügte. Doch aus irgendwelchen Gründen war diese Fähigkeit für mich am schwersten zu erreichen. Ich öffnete die Augen, runzelte angesichts meiner unveränderten Erscheinung die Stirn – und fuhr beim Anblick von Talbot, der direkt hinter mir in der Tür stand, erschrocken zusammen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und ich umklammerte den Waschtisch, um mich abzustützen.

»Tut mir leid«, sagte Talbot. »Ich hab geklopft, aber du hast nicht reagiert. Ich hab mir Sorgen gemacht …«

»Ich bin okay. Hab nur versucht, mich zu konzentrieren.«

»Du solltest dich stärker konzentrieren. Wir müssen zurück zum Bus und deine Wunden sind noch nicht verheilt.«

»Ja, weil ich nicht weiß, wie ich das machen soll.«

»Oh.« Talbot schlüpfte in den engen Raum. Zwei Schritte weiter und wir hätten uns berührt. Ich verfluchte mein Herz, weil es wieder schneller schlug. »Ich kann dir helfen«, sagte er.

»Wie?«

Talbot kam noch einen Schritt näher. Ich beobachtete sein Spiegelbild, als er die Hände ausstreckte und mir das Haar hinter die Ohren zurückschob. Dann umfasste er mit beiden Händen mein Gesicht und presste die Handflächen auf die Wunden auf meiner Wange. Ich zuckte zusammen und versuchte, mich seiner Berührung zu entziehen.

»Ruhig«, sagte er leise. »Denk nicht an den Schmerz. Denk daran, wo der Schmerz hergekommen ist. Daran, wie du diese Wunden bekommen hast. Was hast du gefühlt, als es passierte?«

»Angst.« Ich rief mir den Anblick des vor meinen Augen aufgespießten Gelals in Erinnerung. Dann, wie er nach dem Schwert gegriffen und sich die Hände aufgeschlitzt hatte. »Entsetzen.«

»Schließ deine Augen.«

Ich ließ meine Lider zufallen.

»Konzentrier dich auf das, was du gefühlt hast«, flüsterte er mir ins Ohr. »Behalte diese Gefühle in dir, bis sie verbrennen.«

Zuerst wusste ich nicht, was er meinte. Es schien so ganz gegenteilig von dem, was Daniel mir gesagt hatte, sodass ich nicht glaubte, es könnte funktionieren. Doch vor meinem geistigen Auge ließ ich die schreckliche Szene erneut ablaufen und mich von der Angst des Augenblicks einhüllen. Ich fühlte die Panik in meiner Brust ansteigen. Dann spürte ich eine kribbelnde Wärme unter Talbots Berührung. Die Hitze nahm zu, bis sie sich anfühlte wie weißglühende Kohlen. In dem Augenblick, als ich dachte, der Schmerz würde mich ohnmächtig machen, löste er sich auf.

Ich öffnete die Augen. Talbot nahm die Hände von meinem Gesicht und legte sie mir auf die Schultern. Die Wunden waren nicht mehr da.

»So gut wie neu«, befand er.

Eine Sekunde lang trafen sich unsere Blicke im Spiegel, dann drehte ich schnell den Kopf weg.

Ich wusste nicht, ob ich Talbot noch mal auf dieselbe Art wie zuvor betrachten konnte. In den letzten Stunden hatte er sich in meinen Augen sehr verändert. Er war nicht nur ein Farmerjunge mit Grübchen in den Wangen, der zufälligerweise auch noch ein Urbat war und mich an tröstliche Dinge erinnerte. Unter seinem karierten Hemd schlug das Herz eines mächtigen Jägers, der stark genug war, mit einem einzigen Hieb seines stählernen Schwerts einen Dämon zu töten.

Talbot war gefährlich.

Daran hatte ich keinen Zweifel.

Gleichzeitig konnte ich nicht umhin, ihn mir als kleinen Jungen vorzustellen, der vor Angst schrie, während seine Eltern vor seinen Augen starben. Es rief in mir den Impuls hervor, ihn in die Arme zu nehmen, ihn wie James festzuhalten und ihm zu sagen, dass alles gut werden würde – und dass ich ihm helfen könnte, die Monster zu vertreiben.

Ich löste mich von ihm und wollte gehen. Es war nicht richtig, Talbot so nahe zu sein. Ich liebte Daniel.

»Grace.«

»Ja?« Ich drehte mich zu ihm.

Einen Augenblick blieb er ganz still stehen. Sein Gesichtsausdruck war alles andere als fröhlich. »Nimm das Handtuch und wisch alles ab, was du vielleicht angefasst hast.«

»Wieso?«

Er zog sein Handy aus der Tasche. »Ich hatte recht. Hier hat jemand gewohnt. Ich muss die Polizei anrufen, damit sie sich um die Leiche kümmern können.«