Die Bestien von Gevaudan
Später, im Bus
»Wow, was zum Teufel ist denn mit dir passiert?«, fragte April, als ich vor dem Freizeitzentrum auf sie und Claire traf.
»Ähm …« Sah ich etwa immer noch so grauenhaft aus?
»Ihhh. Ernsthaft, was ist das da auf deinem Hemd?«
Ich blickte an meinem weißen Polohemd hinab. Die Gelal-Säure hatte offenbar kleine Löcher in mein Hemd gefressen, Reste des schwarzen Breis klebten noch an den Rändern.
»Oh, Mist«, sagte ich.
Claire machte ein Gesicht, als ob sie würgen müsste. »Was musstet ihr denn bloß machen?«
»Oh, ähm. Wir haben das Haus von einem alten Mann aufgeräumt, und da war alles verseucht. Wir mussten ein bisschen Ungeziefer zerquetschen.«
»Krank!«, befand April. »Das tut mir echt leid. Wir mussten bloß den Zaun hinter einer Grundschule anstreichen. Dann gab’s Kuchen.« Sie zog ein in eine Serviette gewickeltes Kuchenstück aus ihrer Handtasche und reichte es mir. »Ehrlich, ich denke, du verdienst es.«
»Oh, danke«, erwiderte ich.
Allerdings wusste ich nicht, wann – oder ob – ich überhaupt je wieder etwas würde essen können. Nicht nach dem, was Talbot im Schlafzimmer dieses heruntergekommenen Hauses entdeckt hatte. Der alte Mann hatte nicht die geringste Chance gegen diese Monster gehabt. Immerhin hatte Talbot die Polizei gerufen, sodass die Leiche gefunden und weggebracht werden konnte. Lediglich das Wissen, dass ich in gewisser Weise dazu beigetragen hatte, die Dämonen zu vernichten, die ihn getötet hatten, hielt mich davon ab, Tränen über den Tod eines mir völlig fremden Menschen zu vergießen.
Claire unterzog meine Sachen noch einmal einer eingehenden Prüfung. »Was für Ungeziefer musstet ihr da eigentlich killen?«
»Oh, ziemlich große, eklige Viecher«, antwortete ich und formte nur für April sichtbar mit den Lippen das Wort ›Dämonen‹.
›Oh‹, mimte sie zurück. Sie fasste nach Claires Arm und zog sie zum Bus. »Lass uns mal keine große Sache aus Graces ekligem Auftrag machen. Du willst die Leute doch wohl nicht eifersüchtig machen oder so was«, sagte sie und lachte verlegen.
»Aber ich möchte wissen, was …«, erwiderte Claire, während April sie die Busstufen hinaufschob.
»Hey, wusstest du, dass Jeff Read dich in diesem Sweater ganz scharf findet?«
Ich folgte ihnen in den Bus, setzte mich hinter sie und hörte zu, während sie darüber quatschten, was Jeff Read in letzter Zeit sonst noch so über Claire gesagt hatte. Ich lächelte und nickte an den passenden Stellen, aber ich hatte wirklich keine Lust mehr zum Reden.
Als wir auf den Schulparkplatz einbogen, sah ich Gabriel, der an der Vordertür auf uns wartete. Ich hatte vielleicht Claire über die Schäden an meinem Hemd belügen können, doch Gabriel wäre mit Sicherheit ein weitaus kritischerer Beobachter – abgesehen davon, dass er wahrscheinlich den Gestank der Gelals und Akhs, der noch in meinem Haar haftete, riechen konnte. Also lief ich schnurstracks auf Dads Corolla zu, der auf dem Parkplatz der Pfarrkirche stand.
Aus dem Rucksack zog ich meine Hausschlüssel, an deren Ring zufälligerweise auch der Wagenschlüssel hing. Ich hoffte, dass es Dad nichts ausmachte, wenn ich mir den Corolla auslieh, um nach Hause zu kommen. Ich rief ihn sogar an und hinterließ eine Nachricht auf seiner Mailbox, damit er informiert war. Er konnte noch immer den Lieferwagen nehmen, wenn er keine Lust hatte, nach Hause zu laufen.
Ich parkte in der Einfahrt und rannte ins Haus. Mom rief mir aus der Küche – der herrliche Duft ihrer Schweinelendchen in Marsala-Sauce stieg mir in die Nase – etwas zu, doch ich tat so, als hörte ich nichts und stürzte ins Badezimmer. Dort zog ich mir das scheußliche Hemd aus, wickelte es in das Handtuch, mit dem ich im Haus des alten Mannes alles abgewischt hatte, und stopfte das Bündel in die Tiefen des Badezimmermülleimers. Dann zog ich auch meine restlichen Sachen aus und stellte mich unter die Dusche.
Ich shampoonierte und spülte mein Haar dreimal, bevor ich glaubte, dass die ekligen Gerüche des Nachmittags fortgewaschen waren. Was ich hingegen nicht abschrubben konnte, waren die Erinnerungen, die mich nun nicht mehr losließen. Ich hatte die Spuren an einem Tatort verwischt, hatte beobachtet, wie ein Dämon direkt vor mir gestorben war, hatte den Ausdruck auf dem Gesicht des körperlosen Kopfes gesehen und war in der Nähe gewesen, als Talbot die Leiche fand. Ich schrubbte und schrubbte, setzte mich sogar mit angezogenen Beinen unter die Dusche und ließ das kochend heiße Wasser auf mich herabregnen. Doch so sehr ich es auch versuchte, ich konnte diese Bilder nicht aus meinem Kopf spülen.
Mein Leben hatte sich in den letzten Stunden verändert.
Ich hatte mich verändert.
Ich kam mir wie eine andere Person vor. Ein Teil von mir sehnte sich nach Daniels starken Armen, die mich in seine tröstende Umarmung hätten ziehen können. Ich wollte, dass er mir sagte, es sei völlig in Ordnung, wenn ich jetzt anders war. Dass er mich, egal was passiert war, noch immer liebte.
Als das Wasser kalt wurde, stieg ich aus der Dusche und zog mir saubere Sachen an. Ich hatte vor, mich für den Rest des Abends in meinem Zimmer zu verstecken. Von den Geschehnissen des Nachmittags schwirrte mir der Kopf noch immer so sehr, dass ich befürchtete, man könne mir ansehen, dass ich etwas verbarg, wenn ich zu viel Zeit mit irgendwem verbrachte. Jeder hätte die Veränderung in mir bemerkt.
Ich wollte mich gerade an die Hausaufgaben setzen, als Charity an die Tür klopfte.
»Was gibt’s?«, fragte ich.
»Abendessen«, sagte sie und warf mir von der Tür aus einen seltsamen Blick zu.
»Ich hol mir später ein paar Reste.« Ich drehte mich weg und starrte auf mein Buch. »Ich hab viel zu tun.«
»Nein. Mom besteht darauf, dass alle kommen. Es ist ein Familienessen. Mom hat gekocht und wir haben Gäste.«
»Wirklich?« Regelmäßige Familienessen waren in den ersten siebzehn Jahren meines Lebens ein immer wiederkehrendes Ritual der Divine-Familie gewesen. Jetzt allerdings konnte ich mich kaum erinnern, wann wir das letzte Mal alle zusammen am Tisch gesessen hatten, von Besuch ganz zu schweigen. Als ich die leckeren Düfte aus der Küche bemerkt hatte, hätte ich wohl gleich zwei und zwei zusammenzählen sollen.
»Daniel ist hier.«
»Ooh.« Ich fand es toll, dass allein die Erwähnung seines Namens mein Herz schneller schlagen ließ.
»Und dieser süße neue Religionslehrer von deiner Schule, Pastor Saint Moon.«
»Oh.« Dieses Mal hatte meine Stimme einen ganz anderen Tonfall. Gabriel war momentan die letzte Person, die ich gern sehen wollte. »Ich hab wirklich ’ne Menge Hausaufgaben zu erledigen. Kannst du Mom bitte sagen, dass ich nicht …«
»Ja, klar. Hör zu, Mom macht mal wieder total auf Mutter der Nation. Sie hat ein Vier-Gänge-Menü gekocht und das gute Porzellan rausgeholt. Wenn ich du wäre, würde ich mich nicht mit ihr anlegen.«
»Toll«, gab ich murmelnd zurück.
Mom rief uns von unten.
Charity fuhr wie ein ängstliches Kätzchen zusammen und brüllte: »Wir kommen!«
Ich stand vom Schreibtisch auf und überprüfte in meinem mannshohen Spiegel mein Äußeres. Ich wollte sichergehen, dass von den nachmittäglichen Erlebnissen mit Talbot keine erkennbaren körperlichen Spuren übrig geblieben waren. Charity blieb in der Türöffnung stehen, also tat ich so, als überprüfte ich mein Make-up – bis mir einfiel, dass ich überhaupt keins benutzt hatte.
»Geht’s dir gut?«, fragte sie.
»Ähm, ja.«
Ich folgte Charity nach unten. Daniel und Gabriel saßen mit Dad und James am Esstisch. Während Mom die Salatschüssel auf den Tisch stellte, warf sie uns einen ihrer Wieso-habt-ihr-so-lange-gebraucht-Blicke zu. Gabriel stand auf, als Charity und ich an den Tisch traten, und verbeugte sich vor mir, während ich Platz nahm. Ich fragte mich, ob das etwas mit diesem Göttlichen-Gerede zu tun hatte oder ob es sich nur um eine weitere seiner altmodischen Angewohnheiten handelte. Dann drehte sich Gabriel zur Seite und verbeugte sich auch vor Charity.
Sie fing hysterisch an zu kichern und wurde rot.
Ich verdrehte die Augen.
Und Daniel schnaubte.
Charity hatte nicht die geringste Ahnung. Gabriel Saint Moon war viel zu alt, als dass sie sich in ihn hätte verlieben können.
Ich saß neben Daniel. »Hey«, sagte er und drückte meine Hand. Der Verband an seinem Arm war völlig ausgefranst. Wahrscheinlich hatte er weiter daran herumgefummelt.
»Hey«, erwiderte ich und versuchte, so normal wie möglich zu klingen. Denn genau das wollte Daniel: normal sein. Nicht andersartig, so wie ich mich gerade fühlte. Ich lächelte arglos – versuchte zumindest, es so arglos und normal wie möglich aussehen zu lassen –, befürchtete dann jedoch, dass ich übertrieb. Allerdings konnte ich Daniel auch nicht in die Augen sehen. Was wäre, wenn er meine Schauspielerei sofort durchschaute? Ich ließ also das unbeholfene Lächeln und wandte meine Aufmerksamkeit James zu, der sich gerade anschickte, mit den Gurten seines Babystuhls eine Entfesselungsnummer à la Houdini zu vollführen. Nachdem ich James nach einem kurzen Ringkampf wieder auf seinen Sitz zurückgeschoben hatte, sprach Dad den Segen und Mom verteilte den Salat auf die Teller.
»Das sieht ja ganz hervorragend aus«, sagte Gabriel, als Mom ihm seinen Teller reichte. »So etwas habe ich seit meinem letzten Frankreichaufenthalt nicht mehr gegessen.«
Mom lächelte. »Oh, vielen Dank, Pastor Saint Moon. Heute Abend essen wir italienisch. Ein Teil meiner Familie stammt aus Rom.« Dann wandte sie sich unserer mehr als komplizierten Familiengeschichte zu, während Gabriel nickte und ihr Fragen über ihre Vorfahren stellte. Als ich Mom so plötzlich eine echte Unterhaltung führen hörte, fühlte ich mich für einen Augenblick beinahe wie Gabriel, war fast entspannt.
Allerdings nur, bis Dad das Gespräch in eine völlig andere Richtung lenkte. »Nun, Gabriel, wie läuft es denn mit dem Sozialprojekt der Oberstufe? Ich hatte schon Angst, alles absagen zu müssen, als Mr. Shumway gekündigt hat.«
»Ganz gut«, erwiderte Gabriel. »Was meinst du, Daniel?«
Daniel hatte sein Handy hervorgeholt. »Ja, glaub schon.« Er überprüfte das Display und legte es dann auf seinen Schoß. »Wir hoffen, dass wir den Laden spätestens zu Halloween wieder instand gesetzt haben. Katie hatte die tolle Idee, im Rahmen der Wiedereröffnung ein Straßenfest vor dem Laden zu organisieren. Spiele, Süßigkeiten, Verkaufsstände und eine Tombola, um Spenden zu sammeln.«
»Das klingt ja fantastisch«, sagte Mom. »Ich sollte für die Verlosung ein paar Paradiesäpfel und Popcornbällchen machen.« Sie klang fast wieder wie früher. »Ich könnte auch bei der Dekoration helfen.«
Charity fing an zu husten und warf mir einen Blick zu, der zu sagen schien: Glaubst du, dass Mom sich morgen noch an ihr Hilfsangebot erinnert?
Ich zuckte mit den Schultern.
»Das wäre wirklich toll, Mrs. Divine«, sagte Gabriel.
Daniel sah wieder auf sein Handy. »Katie wird sich über Ihre Hilfe sehr freuen. Ich gebe ihr Ihre Nummer.« Er blickte ein weiteres Mal auf das Display. Ich hoffte, dass er nicht eine SMS von Katie erwartete oder so was. Dann kam mir ein viel schlimmerer Gedanke. Es war nicht so leicht, mich an das zu erinnern, was passiert war, während ich mich unter Mishkas Gedankenkontrolle befunden hatte. Aber plötzlich fiel mir ein, dass sie davon gesprochen hatte, mit Daniel zu einer Party zu gehen – heute Abend. Doch Mishka war tot. Wenn es also das war, worauf er wartete, würde er ihre Nachricht ganz sicher nie erhalten.
»Ich mache bis dahin noch ein paar Extraschichten, um den Laden wieder in Gang zu bringen«, sagte Daniel. Ich schielte auf sein Handy, nun genauso gespannt wie er, ob es zu piepen anfing.
Ich überlegte, wie ich ihn ausfragen könnte, ohne dabei zu verraten, dass ich mit Mishka gesprochen oder etwas mit ihrem Tod zu tun hatte.
»Und was ist mit dir, Grace?«, fragte Gabriel. »Findest du, dass sich das Sozialprojekt lohnt?«
»Ja«, gab ich zurück. Ich hoffte, dass er mir keine komplizierten Fragen stellen würde, bei deren Beantwortung sich die roten Lügenflecken auf meinem Hals abzeichneten. »Mehr als ich anfangs gedacht hätte.«
»Gut. Ich hatte gehofft, dass es dir gefällt. Sieh nur, wie viel ein guter Mensch in dieser Welt ausrichten kann. Ich schätze, dass du am Ende des Projekts bestimmt total überzeugt bist.«
»Ich glaube, das bin ich schon.« Ich musste keine roten Flecken verbergen – ich sagte die totale und absolute Wahrheit.
»Dann ist meine Arbeit hier vielleicht einfacher, als ich dachte.« Gabriel spießte mit der Gabel eine Gurke auf. Ich sah, dass es Moms besondere Goldgabel war, während der Rest der Familie mit Silberbesteck aß. Ich konnte nicht anders, als auf die Gabel zu starren.
Gabriel lächelte schelmisch und winkte mir mit der Gabel zu. »Wie ihr bereits wisst, bin ich gegen Silber allergisch. Es war sehr nett von deiner Mutter, mir diese hübsche Alternative anzubieten. Das Essen schmeckt nun mal nicht so gut, wenn man Plastikbesteck benutzt.«
»Das muss ja furchtbar sein«, säuselte Charity. Es klang, als ob sie versuchte, älter zu wirken.
Daniels Handy piepte. Ich erschrak. Er fasste danach und schoss förmlich von seinem Stuhl hoch. »Tut mir leid, aber ich muss gehen.«
»Wirklich?«, fragte Mom. »Bist du sicher? Wir sind ja noch gar nicht bei den Lendchen angelangt.« Sie wandte sich zu Gabriel. »Sie sind wirklich umwerfend, wenn ich mal so sagen darf. Ein Rezept meiner Mutter.« Mit einem reizenden Lächeln blickte sie zu Daniel zurück. »Es wäre wirklich schade, wenn du sie dir entgehen lässt, Daniel.«
Ich verschluckte mich fast an einer Mandel in meinem Salat. Es war das zweite Mal, dass Mom an diesem Abend nett zu Daniel gewesen war. Normalerweise tolerierte sie seine Anwesenheit lediglich, weil Dad ihr gesagt hatte, dass sie Daniel nicht verbieten könne, in unser Haus zu kommen.
Mom richtete nun ihr sympathisches Lächeln wieder auf Gabriel. Entweder war Pastor Saint Moon besonders gut in der Lage, Moms Stimmung aufzuhellen, oder sie bemühte sich nur, ihn stark zu beeindrucken. Vielleicht hatte seine Anwesenheit ja zumindest ein Gutes.
»Wo gehst du hin?« Ich stand vom Tisch auf. »Ich komme mit.«
»Grace!«, fauchte Mom. »Wir haben Besuch.«
»Nein.« Daniel war schon im Flur und nahm seine Jacke von der Garderobe. »Ich hab Mr. Day versprochen, noch eine Schicht zu machen, wenn er mich heute braucht. Ich arbeite bis spät in den Abend hinein. Bleib hier und iss.« Bevor ich überhaupt antworten konnte, war er zur Tür hinausgelaufen.
Wieso hätte er derart gespannt auf eine Nachricht von Mr. Day warten sollen? Nun, immerhin wusste ich, dass die SMS nicht von Mishka gekommen war.
»Erzählen Sie uns mehr über Frankreich«, forderte Charity Gabriel auf.
Ich setzte mich wieder und blickte auf mein Essen. Plötzlich hatte ich keinen Appetit mehr.
Nach dem Abendessen
Ich war damit beschäftigt, den Tisch abzuräumen, während Charity und Dad Mom dabei halfen, unsere Halloween-Dekoration aus dem Lagerraum im Keller zu holen. Sie wollte, dass Gabriel sie für die Tombola mitnahm. Gabriel hatte seine Hilfe angeboten, aber Mom hatte ihn in Dads Arbeitszimmer gescheucht und war strikt dagegen, dass er auch nur einen Finger rührte.
Als ich mit einer Ladung Geschirr am Arbeitszimmer vorbeikam, sah ich Gabriel auf Dads Stuhl sitzen und durch eines der zahlreichen Bücher blättern. Er fuhr mit der Hand durch das lange, gewellte Haar. Es stimmte: Er und Talbot sahen manchmal wirklich wie Cousins aus – auch wenn sie sich sehr unterschieden. Ich fragte mich, ob Gabriel tatsächlich nichts unternommen hatte, um zu verhindern, dass Talbots Familie abgeschlachtet wurde. Wie hätte er das zulassen können, nach allem, was seiner eigenen Schwester zugestoßen war?
Ich seufzte. Gab es einen Unterschied zwischen einem Pazifisten und einem Feigling?
Ich ging in die Küche und stellte das Geschirr ins Abwaschbecken. Als ich durch den Flur zurück in Richtung Wohnzimmer lief, stand Gabriel in der Tür des Arbeitszimmers.
»Wolltest du mich irgendwas fragen?« Gabriel trat zur Seite, sodass ich, wenn ich wollte, das Arbeitszimmer betreten konnte.
Ich zögerte einen Augenblick und wollte fast Nein sagen. Aber ich konnte dieses Bild von Gabriel, der untätig daneben stand, während der Vater und die Mutter eines kleinen Jungen auf dessen Geburtstagsfest ermordet wurden, nicht abschütteln. War er tatsächlich dort gewesen? Oder war es eher etwas gewesen, das sich seiner Kontrolle entzogen hatte? Ich folgte Gabriel ins Arbeitszimmer und setzte mich auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch.
Das Problem war, dass ich hier in derselben Situation war wie mit Daniel. Wie konnte ich ihm Fragen stellen, ohne dabei erkennen zu lassen, wie ich überhaupt an meine Kenntnisse gelangt war?
»Irgendetwas beunruhigt dich«, stellte Gabriel fest. »Kannst du den Wert deines Sozialprojekts noch immer nicht erkennen? Ich kann dir versichern, Grace, Nächstenliebe und Mitleid geben dir weit mehr Erfüllung als jeder andere Weg, den du vielleicht vor dir siehst.«
»Ja, aber zu Mitleid und Nächstenliebe ist jeder fähig. Ich verstehe nicht, wieso du nicht deine besonderen Fähigkeiten einsetzt, um etwas zu verändern. Da draußen gibt es viele gefährliche Dinge. Sollten wir nicht alles tun, was uns möglich ist, um diese Dinge aufzuhalten?« Ich konnte nicht aufhören an den alten Mann zu denken, der in seinem Haus von den Dämonen getötet worden war. Was wäre gewesen, wenn Talbot und ich sie früher gefunden hätten? Wie wäre es gewesen, wenn wir sein Leben hätten retten können? »Ich verstehe dich nicht. Du hast die Fähigkeit, etwas zu verändern, aber du versteckst dich bloß mit deinem Rudel da oben in den Bergen, fernab von der Welt. Warum wendest du dich von der Aufgabe ab, für die die Urbats einst erschaffen wurden? Warum willst du, dass ich mich ebenfalls abwende?«
»Weil ich eines dieser gefährlichen Dinge bin, Grace. Und ich will nicht, dass du ebenfalls zu einem dieser Dinge wirst.«
Ich wich dem Blick seiner stahlblauen Augen aus.
»Mein Rudel lebt in Abgeschiedenheit, weil wir uns um der Menschen willen von der Gesellschaft zurückgezogen haben – und zu unserer eigenen Sicherheit.« Gabriel hob das Buch hoch, das er durchgesehen hatte. Es war eines von Dads Wälzern über Werwölfe und beinhaltete überwiegend mythische Überlieferungen. Gabriel blätterte zu einer Seite vor, die die Zeichnung einer seltsamen Kreatur, einer Mischung aus Wolf und Hyäne, zeigte. »Hast du schon mal von der Bestie von Gevaudan gehört?«
Ich nickte. Es war eine der eher gruseligen Geschichten, die ich in dem Buch gelesen hatte.
»Was weißt du darüber?«
»Vermutlich um das Jahr 1760 terrorisierte eine Bestie die Landbevölkerung in Frankreich. Innerhalb von drei Jahren tötete sie einhundertzwei Menschen. Überwiegend Frauen und Kinder. Schließlich erledigte ein armer Bauer die Bestie mit einem einzigen Schuss in die Brust. Es war eine Silberkugel. Er brachte den toten Körper der Bestie zum König und wurde mit einem Vermögen belohnt. Wissenschaftler behaupten, es müsse sich um eine Art Hyäne gehandelt haben, doch viele Menschen damals glaubten, dass ein Werwolf für die ganzen Todesfälle verantwortlich war.«
»Sie hatten nicht ganz unrecht. Es waren tatsächlich Werwölfe«, sagte Gabriel. »Und es waren hundertsiebzehn Todesfälle. Dieses Buch ist nicht ganz genau. Aber keines dieser Bücher ist präzise, denn nur eine Handvoll von uns weiß, was damals wirklich passiert ist.«
»Du warst dort?«
Gabriel nickte. »Weißt du, es gab eine Zeit, in der mein Rudel eng mit der Gesellschaft zusammenlebte. Wir mischten uns wie normale Menschen unters Volk. Ich versuchte sogar, eine Zeit lang als Priester zu leben, nicht ganz so einsam wie ein Mönch. Doch unser Alpha zu jener Zeit – sein Name war Ulrich – ließ die Werwölfe unseres Rudels frei herumjagen. Zunächst waren sie sehr zurückhaltend, dann schlugen viele von ihnen über die Stränge. Sie glaubten, dass wir als höherstehende Wesen das Land mit Terror regieren sollten. Ulrich war der Meinung, die Regierung stürzen zu können, wenn die Bauern nur Angst genug bekämen, um eine Revolte anzuzetteln. Viele aus dem Rudel fanden Gefallen daran, Frauen und Kinder anzugreifen und ihre ausgeweideten Körper auf Straßen oder Waldwegen liegen zu lassen, wo sie von anderen gefunden werden konnten. Sie saßen auf dem Marktplatz und lauschten vergnügt den Klagen der Hinterbliebenen und den Schreien der Verängstigten.«
Mit einem unangenehmen Gefühl schob ich mich auf meinem Stuhl nach vorn. Das hier war schlimmer als die Erzählung im Buch.
»König Ludwig XV. hörte schließlich auf die Klagen seines Volks und setzte ein Kopfgeld zur Ergreifung der mutmaßlichen Bestie aus. Er berief Bauern zu Soldaten, die die Wölfe töten sollten, und schickte seine besten adeligen Jäger in die umliegenden Dörfer und Wälder. Die Männer des Königs plünderten viele der Bauernhäuser auf der Suche nach Nahrung und Werkzeugen aus, vergewaltigten die Töchter und zerstörten die Höfe – alles im Namen der Suche nach der Bestie. Es wurde eine sehr gefährliche Zeit für jeden, den man verdächtigte, etwas über Wölfe zu wissen. Viele aus meinem Rudel wurden von Jägern angeschossen, als sie sich in der Wolfsform befanden. Natürlich überlebten sie alle, aber es war für sie nicht angenehm, so weiterzuleben. Trotzdem setzten Ulrich und viele der Wölfe aus unserem Rudel das Töten fort, selbst auf die Gefahr hin, uns alle zu entlarven.«
»Das ist ja schrecklich. Was hast du getan?«
Gabriel massierte einen seiner Finger, dessen Haut an einer Stelle heller war als seine übrige Hand. »Ich machte mir Sorgen um die Dorfbewohner. Es brach mir das Herz, so viele sterben zu sehen, noch dazu aus reiner Willkür. Als Priester habe ich viele von ihnen zu Grabe getragen. Doch glücklicherweise war ich nicht der Einzige, der Ulrichs Untaten verabscheute. Mein Mentor Sirhan, der der wahre Alpha unseres Rudels hätte sein sollen, hatte die Führungsposition aus Respekt vor seinem Vater Ulrich nicht beansprucht. Dennoch fürchtete er, dass er womöglich gar kein Rudel mehr zu beerben hätte, wenn er zu lange wartete. Er und ein paar andere aus der Gruppe ersannen einen Plan. Ich weigerte mich, unmittelbar daran mitzuwirken, da er weiteres Töten bedeutet hätte. Doch als Priester segnete ich ein paar Silberkugeln für sie. Sirhan wartete also, bis sich Ulrich in einen Wolf verwandelte. Als Ulrich sich gerade anschickte, einen Bauern anzugreifen, der ihm hinterherjagte, schoss Sirhan ihm eine meiner Silberkugeln direkt durch das Herz. Dann sagte er dem Bauern, er würde eine fürstliche Belohnung erhalten, wenn er den riesigen toten Wolf zum König brächte und behauptete, er habe ihn getötet.
Sirhan wurde daraufhin der wahre Alpha des Rudels und setzte dem Töten ein Ende. Als die passende Zeit gekommen war, brachte er alle nach Amerika. Seit dieser Zeit leben wir in Abgeschiedenheit. Sirhans oberstes Gebot ist das Überleben des Rudels. Und ich, als sein Beta und Hüter des Rudels, bestärke sie darin, in Frieden zu leben. Manche mögen das als Feigheit bezeichnen. Ich nicht.«
»Und seitdem hat das Rudel friedlich gelebt?«, fragte ich. Es passte nicht zu dem, was Talbot mir erzählt hatte – dass Wölfe aus Gabriels Rudel seine Familie angegriffen hatten.
»Viele jagen weiterhin auf unserem Territorium, überwiegend Tiere. Leider haben sich während der Jahrhunderte, die wir dort leben, schon manchmal ein paar unglückliche Wanderer auf unser Land verirrt. Aber wir leben sehr zurückgezogen. Vor etwas weniger als zwanzig Jahren gab es gleichwohl eine Gruppe relativ junger Urbats in unserem Rudel, die nicht verstanden, was Sirhan und ich ihnen beizubringen versuchten. Sie gehörten zu einer neuen Generation, die sich an den Geschichten über Ulrich und das Biest von Gevaudan ergötzten. Sie waren der Ansicht, das Rudel solle an das anknüpfen, was sie als das ›Goldene Zeitalter der Werwölfe‹ ansahen. Einer von ihnen wollte der neue Alpha werden. Daraufhin griffen sie Sirhan an, töteten dabei seine Gefährtin Rachel und trugen ihren Blutrausch in die nächstgelegene Stadt, wo sie mindestens fünf Familien überfielen.«
In meinem Kopf tauchte das Bild eines dreijährigen Jungen auf, der mit ansehen musste, wie seine Eltern getötet wurden. »Und du hast nichts unternommen, um sie aufzuhalten?«
»Es gab nichts, was ich hätte tun können.« Gabriel ließ seine Schultern hängen und rieb wieder über die helle Hautfläche an seinem Finger. »Als ich das erste Mal zu einem Werwolf wurde, geriet ich in meiner eigenen Stadt selbst in einen Blutrausch – bis ich meine Schwester tötete, Katherine. Als ich wieder zu Sinnen kam und mir klar wurde, was ich getan hatte, schwor ich jeder Form von Gewalt ab. Seit jener Zeit habe ich niemanden mehr verletzt. Egal, was auch passiert, ich erhebe meine Hand nicht.«
»Dann hast du dich also einfach abgewandt und die abtrünnigen Wölfe diese Familien umbringen lassen?«
»Sirhan ließ sie verfolgen. Sie wurden gefangen genommen und angeklagt, das ganze Rudel gefährdet zu haben. Ihr Anführer wurde verbannt, weil er für Rachels Tod verantwortlich war und versucht hatte, Sirhan die Alpha-Position zu entreißen.«
»Verbannt? Warum nicht getötet? Wo ist er hingegangen?«
Gabriel schürzte die Lippen und legte das geöffnete Buch auf den Schreibtisch. »Sirhan hat ihn aus dem Territorium verjagt. Eine Weile irrte er herum. Dann entschied er sich, sein eigenes Rudel zu gründen, indem er eine menschliche Frau heiratete und ein Kind mit ihr zeugte. Schließlich fing er wieder an zu töten. Ich glaube, du kennst ihn unter dem Namen Markham Street Monster.«
Ich rang nach Atem. »Mr. Kalbi? Daniels Vater?« Ich suchte in meiner Erinnerung nach seinem Vornamen. Daniel hatte ihn nie erwähnt.
»Caleb Kalbi«, sagte Gabriel. »Ja.«
Jetzt begriff ich endlich, wieso Sirhan sich im letzten Jahr geweigert hatte, Calebs Sohn in das Rudel aufzunehmen. Wieso er ihn zu hassen schien, ohne dass Daniel etwas dafür konnte.
»Ich bin nur froh, dass Caleb kein wahrer Alpha ist, denn sonst sähe diese Welt ganz anders aus. Wenn er nur ein paar weitere Mitglieder des Rudels davon überzeugt hätte, dass er der Anführer sein sollte …« Gabriel schüttelte den Kopf. »Caleb hat schon als Markham Street Monster genügend Unheil angerichtet. Stell dir vor, was passiert wäre, wenn er ein ganzes Rudel befohlen hätte. Es wäre so wie mit dem Biest von Gevaudan geworden. Wahrscheinlich noch schlimmer.«
Ich schauderte bei diesem Gedanken. Caleb hatte mindestens zwei Dutzend Menschen ganz allein getötet, bevor er die Stadt verließ. Ich mochte mir kaum vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn er ein ganzes Rudel unter seiner Kontrolle gehabt hätte. »Was meinst du eigentlich, wenn du vom wahren Alpha sprichst?«, fragte ich Gabriel. »Du hast Sirhan vorhin so bezeichnet.« Vor lauter Informationen drehte sich mir langsam der Kopf, aber ich wusste nicht, wann ich je wieder die Gelegenheit haben würde, Gabriel solche Fragen zu stellen.
»Wahre Alphas sind überaus selten. Es sind Urbats, die mit einem gewissen mystischen Wesenszug geboren werden, der sich in ihnen entwickelt, wenn sie älter werden. Sie sind die wahren ›erwählten‹ Rudelführer. Wenn ein wahrer Alpha der Alpha eines Rudels werden will, erkennen ihn die anderen für gewöhnlich an. Ich weiß nicht genau, warum das so ist. Vielleicht geht es um irgendein magisches Phänomen oder vielleicht auch nur um Pheromone. Es hat immer nur sehr wenige wahre Alphas gegeben. Heute sind sie seltener als je zuvor – vielleicht weil sich die Urbats nicht oft vermehren. Die meisten Rudel leben unter der Führung eines gewöhnlichen gewählten Alphas. Sirhan ist der letzte wahre Alpha, von dem ich Kenntnis habe. Ich dachte irgendwann mal, dass es einen anderen gäbe, aber jetzt nicht mehr. Und nun, da Sirhan auf dem Totenbett liegt …«
»Sirhan liegt im Sterben? Hat noch mal jemand versucht, ihn zu töten?«
»Er stirbt an Altersschwäche, könnte man wohl sagen. Sirhan verfiel vor neunhundertneunundneunzig Jahren dem Fluch des Werwolfs. Jetzt spürt er langsam sein Alter. Er ist sehr krank. Kein Werwolf hat jemals länger als tausend Jahre gelebt. Ich glaube, mittlerweile ist es nur noch eine Frage von Wochen.«
»Was wird sein, wenn Sirhan stirbt?« Ich erinnerte mich, wie Talbot davon gesprochen hatte, dass Gabriel verdiente, was mit dem Rudel geschehen würde, wenn Sirhan starb.
»Gemäß den Regeln des Rudels wird ein neuer Alpha berufen, wenn der alte stirbt. Wenn es keinen wahren Alpha gibt, geht die Berufung des Alphas auf den Beta über. In diesem Fall wäre ich das. Bevor ein Beta jedoch das Rudel übernehmen kann, muss er eine so genannte ›Zeremonie der Herausforderung‹ abhalten, bei der jeder beliebige Wolf den Beta herausfordern darf. Dann kann der Beta entweder abtreten und der Herausforderer wird zum Alpha oder die beiden kämpfen, bis einer nachgibt – oder stirbt. Der Sieger wird dann zum Alpha bestimmt, auch wenn er ein Außenseiter oder bereits der Alpha eines anderen Rudels ist. Wenn es mehr als einen Herausforderer bei dieser Zeremonie gibt – in seltenen Fällen gibt es auch mal eine Herausforderin –, müssen alle die Position untereinander ausfechten. Das kann dann zu einer ziemlich tödlichen Angelegenheit werden.«
»Ich nehme an, du trittst ab, falls dich jemand herausfordert?«
Gabriel seufzte. »Normalerweise wird der Beta allein aus Respekt nicht herausgefordert«, erwiderte er murmelnd.
»Doch was geschieht, wenn jemand wie Caleb dich fordert?«
Gabriel kniff die Augen zusammen.
»Dann würdest du doch kämpfen, oder?« Es war mehr Wut in meiner Stimme, als ich erwartet hatte. Oder ist er bloß ein Feigling?, knurrte die Stimme in meinem Kopf.
Gabriel antwortete nicht. Er klopfte nur mit den Fingern auf die aufgeschlagene Buchseite.
»Worüber redet ihr beiden?«, fragte Charity. Sie stand in der Türöffnung und balancierte einen großen Karton mit der Aufschrift HALLOWEEN #3 auf den Armen.
Gabriel sprang von seinem Stuhl auf. »Lass mich das nehmen«, sagte er und streckte ihr die Hände entgegen.
»Danke.« Sie reichte ihm den Karton. »Mom hat noch fünf weitere von der Sorte. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Mom ließ uns erst den ganzen Lagerraum umräumen, bevor wir was rausnehmen konnten.«
Mom rief von der Kellertreppe nach Charity. Meine Schwester zog den Kopf ein und lief zurück in den Flur.
Gabriel wandte sich wieder mir zu. »Wir werden sehen, was geschieht, wenn die Zeit gekommen ist. Aber du solltest dir wegen Caleb Kalbi keine Sorgen machen, Grace. Er ist nur ein jämmerlicher Abklatsch eines Wolfs – oder eines Mannes. Ich bezweifle, dass er es wagt, allein in der Nähe unseres Rudels aufzutauchen.« Gabriel schleppte den Karton aus dem Arbeitszimmer und sagte etwas zu meinem Vater, der sich anscheinend in der Küche aufhielt.
Ich seufzte und ließ den Kopf auf den Schreibtisch sinken. Er fühlte sich vor lauter Informationen schon ganz schwer an. Nun musste ich mich neben meiner Besorgnis über Daniel und meinem Bemühen, Jude zu finden, mit einer völlig neuen Art von Beunruhigung auseinandersetzen. Ich blickte auf das Buch und betrachtete die Zeichnung des Biests von Gevaudan. Langer Hals, scharfe Klauen, bluttriefende Zähne. Das Bild zeigte außerdem eine am Boden liegende Frau, die vergeblich versuchte, das Biest mit einem langen Speer abzuwehren. Obwohl es jetzt zu spät war, um Gabriel zu fragen, schoss mir eine weitere Frage durch den Kopf.
Was würde geschehen, wenn Caleb Kalbi bei der Herausforderungszeremonie erschien – und dabei nicht allein war?