Grundtraining
Mittwochnachmittag
Ich wusste, dass Gabriels Geschichten mich von dem Wunsch, meine Fähigkeiten zu entwickeln, abbringen sollten. Sie ließen mich jedoch umso entschiedener werden. Dort draußen gab es viele Gefahren – Gefahr in Gestalt von Caleb Kalbi (auch wenn er sich, gemäß Daniel, derzeit in Südamerika aufhielt) oder der Shadow Kings, die, aus welchen Gründen auch immer, beabsichtigten, die Stadt zu zerstören. Und ich musste bereit sein, mich ihnen zu stellen, wenn Leute wie Gabriel sich einfach nur zurücklehnen und tatenlos zusehen wollten. Ich konnte kaum abwarten, dass der Schultag endlich vorbeiging und ich Talbot wiedersehen würde. Auf der ganzen Busfahrt nach Apple Valley stapfte ich in nervöser Erwartung mit dem Fuß auf und nahm kaum wahr, worüber April redete, bis sie mich fragte, was ich von Diademen hielt.
»Äh, was bitte?«
»Diademe: pro oder contra? Sag bitte ja, da ich unbedingt ein Killer-Diadem entwerfen möchte. Oh! Vielleicht könnte es sogar tatsächlich tödlich sein?! Mit silbernen Sporen, die sich in chinesische Wurfsterne oder so was verwandeln.« Zitternd schrieb sie etwas in ihr Notizbuch.
»Worüber reden wir gerade noch mal? Wozu brauche ich ein Diadem?« Und wollte ich das wirklich wissen?
April hob einen Finger. Sie notierte noch etwas in ihrem Buch. »Wir sprachen über ein Prinzessinnen-Motto für dein Kostüm. So was wie die Prinzessin der Wölfe. Princess Lupina. Prinzessin der Hunde … nein …«
»Du machst Witze, stimmt’s? Kein Polyester. Keine Diademe. Und ganz sicher keine Prinzessinnen.« Ich versuchte, ihr das Notizbuch zu entreißen, um nachzusehen, womit zum Teufel sie da die ganze Zeit beschäftigt gewesen war, während ich nicht zugehört hatte.
Sie presste das Notizbuch an ihre Brust, sodass ich es mir nicht schnappen konnte. »Wie wär’s mit Prinzessin Miststück?«
»April!« Meine Kinnlade fiel runter. Solche Ausdrücke benutzte sie sonst nie.
»Also, du bist in letzter Zeit ganz schön daneben«, erwiderte sie.
»Ich bin nicht daneben. Ich bin einfach nur, nun ja, nervös.«
Da Talbots Vorstellung vom Testen meiner Fähigkeiten mehr als intensiv gewesen war, wusste ich nicht, was ich erwarten sollte, als er von Grundtraining gesprochen hatte. Daher war ich erstaunt, als er uns zu einem heruntergekommenen Einkaufszentrum in Apple Valley fuhr, nachdem ich ihn auf dem Busparkplatz getroffen hatte.
»Wenn du glaubst, dass ich meine Einkaufsfähigkeiten trainieren muss, dann hab ich dafür schon April«, scherzte ich, während ich ihm in einen der Läden folgte.
»Das hier ist keine Vergnügungstour«, sagte er und zeigte auf das Schild über der Ladentür. Die Hälfte der Buchstaben fehlte. Doch ich konnte erkennen, dass es sich um ein Karate-Studio für Kinder handelte. Ein Dōjō. Zumindest glaubte ich, dass man es so bezeichnete.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn du glaubst, dass ich mich hier für einen Kindergartenkurs anmelde, dann bist du echt auf dem Holzweg.«
Talbot verdrehte die Augen. »Das Studio ist seit einem Jahr geschlossen. Die Rock Canyon Stiftung hat das Gebäude gerade angemietet. Sie planen, das Ganze für ein Sozialprogramm mit Jugendlichen zu renovieren. Aber ich glaube, wir können das Studio für ungefähr eine Woche allein benutzen. Der perfekte Ort, um deine Fähigkeiten in kontrollierter Umgebung zu verfeinern.« Er zog einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Eingangstür und hielt sie mir auf.
»Kontrollierte Umgebung?« Gleich hinter der Tür gab es einen kleinen Warteraum mit staubigen Metallstühlen und einen langen dunklen Flur, der offenbar in das eigentliche Studio führte. »Schwörst du, dass da drinnen keine Dämonen sind, die sich auf mich stürzen?« Ich konnte mir allzu gut ein paar Gelals vorstellen, die mit ausgefahrenen Krallen auf mich warteten, sobald ich das Studio betrat.
Talbot grinste. »Tja, vielleicht könnte ich mich ja auf dich stürzen – aber nur, wenn’s gewünscht wird.«
»Das würde ich zu gerne sehen.«
Talbot schüttelte ein wenig den Kopf und blickte mich leicht hoffnungsvoll an.
»Da haben wir wohl beide einen schlechten Witz gemacht«, sagte ich und verspürte sowohl Verlegenheit als ein Schuldgefühl, weil ich mich auf seinen Flirtversuch eingelassen hatte. Bei Daniel und mir herrschte derzeit vielleicht nicht gerade eitel Sonnenschein, aber das war überhaupt keine Entschuldigung. »Tut mir leid.« Wenn Talbot mein Mentor sein sollte, so musste ich, noch bevor es überhaupt zu einem Flirt kam, eine deutliche Grenze zwischen uns ziehen.
Talbots Wangen waren von einem leichten Rosa überzogen. »Na, wie dem auch sei. Ich verspreche, dass ich dir heute bloß ein paar neue Tricks beibringe.«
Talbot und ich durchquerten den langen Flur und betraten das Dōjō. Überall lagen staubbedeckte Matten herum. Eine Wand war von einer langen Reihe zerbrochener Spiegel bedeckt.
Talbot öffnete seinen Rucksack. Er zog einen dieser weißen Karate-Anzüge heraus und reichte ihn mir. »Da drüben ist eine Toilette. Du solltest dir diesen Keikogi überziehen, damit deine Schulklamotten nichts abkriegen.«
Als ich die Toilette betrat, befühlte ich den Stoff. Ich verschloss die Tür und zog Shirt und Hose aus. Schnell streifte ich den Gi über, da es mir komisch vorkam, in BH und Unterwäsche dazustehen und dabei nur durch eine dünne Wand von Talbot getrennt zu sein. Was, wenn er plötzlich in der Türöffnung stünde?
Als ich aus der Toilette tapste, wartete Talbot bereits auf mich. Er hatte seinen eigenen weißen Gi angezogen und ihn mit einem schwarzen Gürtel zugebunden. Die verschränkten Zipfel des weißen Oberteils bedeckten seine ansonsten nackte Brust. Seine Brustmuskeln waren genauso ausgeprägt wie seine Unterarme. Ich blickte auf seine nackten Füße, die aus den Enden der leichten weißen Hose hervorlugten. Wieso kam mir die ganze Situation weitaus unwirklicher vor als alles, was wir bisher getan hatten?
»Aha, du bist also Mr. Miyagi, und ich bin Karate Kid«, stellte ich fest.
»Ich bin Mr. Wer?«, fragte Talbot.
»Kennst du Mr. Miyagi nicht? Aus dem Film? Der versucht doch immer, Fliegen mit Essstäbchen zu fangen.«
Talbot starrte mich verständnislos an.
»Na, du musst es so machen wie er: ›Wischen und Polieren!‹« Ich machte die charakteristische Geste, die mit dem Anfeuerungsruf im Film einherging.
Talbots Augen wurden größer. Anscheinend kapierte er gar nichts.
Ich gab einen theatralischen Seufzer von mir. Wahrscheinlich hatten Kinder, die mit pensionierten Dämonenjägern auf einer Farm aufwuchsen, nicht allzu viele Filme aus den Achtzigern gesehen. »Du bist der große Karate-Meister und ich bin deine Schülerin.«
»Ähm, okay.« Er sah mich immer noch erstaunt an. »Aber ich werde dir gar kein Karate beibringen. Ich schwanke noch zwischen Aikido und Wing Chun. Beides ist gut für Kämpfer, die nicht so groß sind. Außerdem brauchst du Schwertkampftraining. Danach beschäftigen wir uns mit Armbrüsten und Stabkampftechnik. Und dann gibt’s vielleicht noch ein paar von diesen Verbeugungsübungen.«
Dieses Mal machte ich ein erstauntes Gesicht – allerdings nicht, weil er scherzte. Er meinte es todernst.
Sonntagnachmittag, vier Tage später
Das Training mit Talbot war intensiv gewesen – bescheiden ausgedrückt. Er hielt sich nicht zurück, brauchte keine Atempause und war ständig auf den Beinen. Was bedeutete, dass ich wie eine Wahnsinnige rackern musste, um mithalten zu können. Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen war, aber ich hatte mir durch das Training mit Talbot in weniger als einer Woche mehr Fähigkeiten angeeignet als in den ganzen Monaten, die ich mit Daniel trainiert hatte.
Vielleicht lag es daran, dass Talbot mir nicht vorschrieb, mich zurückzuhalten, sondern forderte, dass ich weiter vorpreschte. Er wollte, dass ich mich von meinen rohen Gefühlen antreiben ließ und sie benutzte, um meine Kräfte zu stärken. Ich konnte kaum glauben, wie schnell das funktioniert hatte – wie viel stärker ich geworden war.
Unsere Trainingsstunden wirkten wie eine Droge auf mich. Meine Kräfte vollkommen zu beherrschen war überwältigend; es verschlang mich, ließ mich vor Kraft strotzen und ich wollte immer mehr. April warf mir immer komische Blicke zu, wenn ich zum Bus zurückkam, und wollte wissen, was für ein Training Talbot und ich da absolvierten. Sie verstand nicht, was mich an diesem Kampftraining so reizte.
Ich hatte sogar darüber nachgedacht, Talbot für eine zusätzliche Trainingsstunde am Samstag zu treffen. Doch seitdem Gabriel zum Abendessen bei uns gewesen war, befand sich Mom in einer manischen Phase und hatte sich mittlerweile über die Spendenaktion informiert. Eben jene Spendenaktion, bei der sie das Kommando über die Verkaufsstände übernehmen würde. Nun verwandte sie jeden wachen Augenblick auf die Vorbereitung des Straßenfests. Den ganzen Samstag lang wollte sie für die Besucher Myriaden von Pekannusstörtchen backen und einfrieren, und natürlich gab es für uns kein Entkommen. Bis Halloween waren es nur noch sechs Tage. Wenn ich jeden Nachmittag der darauffolgenden Woche für mein Sozialprojekt aufwenden musste, wäre ich wahrscheinlich gar nicht mehr aus dem Haus gekommen, um noch mal mit Talbot zu trainieren.
Am Sonntagnachmittag litt ich wegen des ausgebliebenen Trainings schon derart unter Entzugserscheinungen, dass ich kaum noch klar denken konnte. Das allerdings war überhaupt nicht gut, denn ich war nach dem Gottesdienst mit Daniel zu einem Picknick auf dem Rasen vor der Pfarrkirche verabredet. Nachdem Dad darauf bestanden hatte, war Mom bereit gewesen, mir eine zweistündige Pause zu gewähren, damit ich mit Daniel die Bewerbung für Trenton vorbereiten konnte. Ich befürchtete allerdings, dass Daniel die Veränderung an mir wahrnehmen könnte.
Je besser das Training mit Talbot lief, desto schwieriger schien es mit Daniel zu werden. Desto schwieriger war es für mich, in seiner Gegenwart so zu tun, als wäre ich völlig normal.
Ich mochte es überhaupt nicht, Daniel irgendwelche Dinge zu verheimlichen. Es war schrecklich, dass ich ihm nichts von Talbot, meinen Trainingsstunden oder auch meinem Plan, Jude zu finden, erzählen konnte. Aber so musste es eben sein, denn sonst – dessen war ich mir sicher – hätte er versucht mich aufzuhalten.
Daniel wollte, dass ich ganz normal war. Doch das konnte ich nicht. Das hatte nichts mehr mit mir selbst zu tun. Ich hatte diese Talente, diese Fähigkeiten. Ich wusste, was an Bösem in dieser Welt existierte, und ich konnte nicht länger untätig zusehen. Wahrscheinlich mussten die Helden in diesen ganzen Comicbüchern deswegen ein Alter Ego erschaffen – ein anderes Ich, das vorgab ganz normal zu sein, sodass sie trotz aller Heldentaten mit ihren Lieben zusammensein konnten.
Daniel wollte, dass ich normal war, weil er mich beschützen wollte. Doch er wusste nicht, wozu ich tatsächlich fähig war. Irgendwie und irgendwann hatte er den Glauben an mich verloren. Den Glauben an die Idee, dass ich ein Hund des Himmels sein könnte. Ich würde es ihm zeigen, ich würde ihm beweisen, dass ich es konnte. Wenn die Zeit käme – wahrscheinlich nicht vor Beendigung meines Trainings mit Talbot und möglicherweise erst, nachdem ich Jude nach Hause gebracht hätte –, würde ich Daniel alles erzählen. Endlich.
Also war das, was ich tat, doch eher eine Überraschung. Ich verbarg eigentlich keine Geheimnisse vor dem Menschen, den ich am meisten liebte.
Oder?
Sosehr ich mich fürchtete, für ein paar Stunden als ›Grace Divine: die einhundertprozentig normale Pastorentochter‹ aufzutreten, sosehr sehnte ich mich dennoch nach Daniel. Es war toll, dass er das Picknick vorgeschlagen hatte. Somit war es mir egal, dass ich mich vielleicht ein bisschen unbehaglich fühlen würde. Da Mom mir genügend Arbeit aufdrückte, wenn ich nicht mit Talbot zusammen war, und Daniel Extraschichten für Mr. Day einlegte sowie Katie Summer bei der Leitung der Spendenaktion half, kam es mir wie eine Ewigkeit vor, seit wir außerhalb der Schule zuletzt Zeit füreinander gefunden hatten. Oder eigentlich auch in der Schule, wenn man bedachte, dass er die meisten Mittagspausen mit Katie bei der Planung von Verkaufsständen und Plakaten verbrachte. Und obwohl ich sehr nervös war – so als müsste ich mich von meinen Kräften entwöhnen –, sollte mich an diesem Tag nichts davon abhalten, mit Daniel zu Mittag zu essen.
Außer der Tatsache, dass Daniel sich anscheinend anders entschieden hatte.
In meinem knielangen blauen Kleid saß ich mehr als fünfundvierzig Minuten im Gras und genoss die für die Jahreszeit ungewöhnlich warme Oktobersonne, bevor ich endgültig davon überzeugt war, dass er unser Picknick vergessen hatte. Das Picknick, das er vorgeschlagen hatte. Daniel hatte nicht am Gottesdienst teilgenommen, doch seine Kirchenbesuche waren ohnehin eher unregelmäßig, sodass ich mir keine Gedanken darüber gemacht hatte.
Mir knurrte der Magen. Ich hatte mein Handy nicht dabei (Mom hatte mir verboten, es mit in die Kirche zu nehmen), also lief ich in die Kirche, um Daniel vom Bürotelefon meines Vaters anzurufen. Dad war nicht da, doch die Tür war unverschlossen. Ich ging ins Büro und wählte Daniels Nummer. Der Apparat schaltete sofort auf die Voice Mail.
»Was du da treibst, ist hoffentlich wichtig genug, um mich hier sitzen zu lassen«, erzählte ich dem Anrufbeantworter. »Ruf mich auf dem Handy zurück, wenn du noch weißt, wer ich bin.«
Ich legte auf, wollte aber sogleich noch mal anrufen, um mich zu entschuldigen. Ich hasste mich selbst, weil ich so kurz angebunden gewesen war. Doch andererseits – sollte nicht die Superheldin diejenige sein, die in letzter Minute Verabredungen vergaß oder während wichtiger Abendessen davoneilte? Wenn hier irgendwer jemanden sitzen ließ, sollte das wohl ich sein.
Ich nahm meine Bewerbungsunterlagen für Trenton vom Schreibtisch und lief in den Flur. Meine Muskeln zuckten, und ich wäre nur zu gern zu einem langen Lauf losgesprintet, Schuhe mit hohen Absätzen hin oder her.
Als ich an der Doppeltür zum Gemeindesaal vorbeikam, hörte ich plötzlich seltsame Geräusche nach außen dringen. So etwas wie lange, schwerfällige Atemzüge und gelegentliches Knurren. Meine Neugier war geweckt. Alle Gemeindemitglieder sollten mittlerweile die Kirche verlassen haben. Ich öffnete die Tür und sah in den Saal.
Auf Zehenspitzen stand Gabriel mitten im Raum und hatte die Hände weit über den Kopf in die Höhe gestreckt. Seine Handflächen waren einander zugewandt. Er trug ein graues Leinenoberteil und passende Hosen, ähnlich den Gis, die Talbot und ich zum Training trugen, sowie ein langes braunes Gewand. Er sah aus wie eine Kreuzung aus Mönch und Jedi-Ritter.
Ich beobachtete, wie er mit äußerst fließenden Bewegungen die Arme sinken ließ und sie dann parallel vor seine Brust hielt. Seine Hände waren leicht nach unten gebogen, als hielte er einen unsichtbaren Ball. Sein Kopf drehte sich in meine Richtung. Als er mich sah, zwinkerte er mir zu, sagte aber nichts und setzte die fließenden Bewegungen fort. Sie erinnerten mich an die Kampfkunst, die Talbot mir gezeigt hatte, waren jedoch gleichzeitig völlig anders. Er machte noch drei weitere Bewegungen, die alle ineinander verschmolzen wie bei einer Übungseinheit. Als er die letzte Bewegung vollführt hatte, drehte er sich wieder zu mir und verbeugte sich leicht.
»Hallo Grace«, sagte er und machte mir ein Zeichen einzutreten. »Verzeih bitte, dass ich diesen Raum hier benutze, doch ich fürchte, mein Zimmer ist zu klein für meine Übungen.«
»Ich dachte, du hättest fürs Kämpfen nichts übrig«, sagte ich. »Wieso praktizierst du dann Kampfkunst?«
»Ich übe nicht für das Kämpfen. Das hier gilt meinem inneren Gleichgewicht und der Meditation.« Er rieb wieder über die hellere Hautstelle an seinem Finger. »So etwas kann ich momentan viel besser gebrauchen.«
»Sagst du das, weil dir der Ring fehlt?« Ich zeigte auf seine Hand. Es schien offensichtlich, dass er an dem Finger lange Jahre einen Ring getragen haben musste.
Gabriel nickte mir anerkennend zu, so als freute er sich über meine schnelle Auffassungsgabe.
»Was ist mit ihm geschehen?«, fragte ich. Ich war überrascht, dass er ohne einen Mondstein hierhergekommen war. Für einen Menschen, dem nichts über völlige Selbstkontrolle ging, schien das ein großes Risiko zu sein.
»Ich gab ihn jemandem, der ihn mehr brauchte als ich.« Er hörte auf, die helle Hautstelle zu reiben und ließ die Hände sinken. »Ich will nur hoffen, dass es kein vergeudetes Opfer war.«
»Jude?« Plötzlich erinnerte ich mich, dass Gabriel nicht zum ersten Mal nach Rose Crest gekommen war. Ich war ihm nicht begegnet, aber er war am Weihnachtsabend hier gewesen und hatte meinem Dad einen Mondsteinring für Jude gegeben – offenbar seinen eigenen Ring. »Das hast du für ihn getan? Aber du bist uns doch nie zuvor begegnet.«
Gabriel nickte, dieses Mal etwas feierlicher. »Daniel hat oft von dir und deiner Familie gesprochen. Es kam mir vor, als würde ich euch alle kennen. Ich hatte das Gefühl, dass du wie meine Schwester Katherine warst. Und Jude erinnerte mich an mich selbst, damals zu der Zeit, bevor ich Geistlicher wurde und zu den Kreuzzügen aufbrach. Als ich den Brief deines Vaters erhielt und von Judes Infizierung erfuhr, hat Sirhan mir verboten, mich einzumischen. Aber ich konnte nicht anders. Ich wollte deinen Bruder davor bewahren, dasselbe Schicksal wie ich zu erleiden. Ich fürchte, dass ich wie immer zu spät gekommen bin.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter. Die stahlblauen uralten Augen blickten mich traurig an. »Ich hoffe, dass es bei dir anders ist.«
»Es geht mir gut«, sagte ich. Ich weiß nicht wieso, aber meine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.
»Niemandem geht es je so gut, wie er sagt.« Gabriel nahm die Hand von meiner Schulter und trat ein paar Schritte zurück.
»Doch, mir schon.« Ich war jetzt unsicherer als zuvor. Ich mochte den Gedanken nicht, dass er mich beurteilte, ohne mich überhaupt zu kennen. Er hatte bereits entschieden, dass ich nicht lernen konnte, meine Fähigkeiten anzuwenden, ohne dem Wolf anheimzufallen, so wie Jude und er selbst.
»Sag mir, Grace, wie hast du dich gefühlt, als du Daniel den silbernen Dolch ins Herz gestoßen hast?«
Die Frage kam völlig unvorbereitet. Gabriel klang so nüchtern wie ein Therapeut, der einen Patienten analysierte, dass ich einen Augenblick völlig sprachlos war.
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte ich schließlich.
»Hattest du Angst? Warst du wütend? Was hofftest du zu erreichen?«
Ich fragte mich, ob er jetzt ein Notizbuch herausholte und anfing, meine Antworten zu notieren.
»Warum willst du das wissen?«, fragte ich.
»Mein Rudel ist äußerst fasziniert von dir. Ist dir klar, was du für sie darstellst? Ein junges Mädchen, das die Seele eines Urbats retten kann. Sie wollen gern, dass ich herausfinde, wie du es getan hast. Doch mich interessiert eher das Warum.«
»Weil ich Daniel liebe. Und ihm versprochen habe, ihn zu retten.« Es war das einzige Versprechen, das ich jemals hatte einhalten können.
Gabriel stand da und sah mich an, so als ob er weitere Ausführungen erwartete.
»Ich glaubte, der Wolf würde mich übermannen, wenn ich Daniel tötete. Doch seine Seele zu retten war wichtiger als alles andere. Ich hatte Angst, jedoch nur davor, ihn nicht rechtzeitig retten zu können. Es war mir egal, was mit mir passierte. Die Hauptsache war, seine Seele zu erlösen.«
»Hmm.« Gabriel seufzte und legte die Stirn in Falten. Jede Spur seines weisen Lächelns war verschwunden. Er schien von meiner Antwort enttäuscht. Oder er hatte geahnt, wie ich antworten würde, wusste aber mit der Information nichts anzufangen. »Wahre Liebe. Nur wenige Menschen sind dazu fähig.«
»Das mag sein.« Ich stapfte mit meinem Absatz auf den Holzfußboden. »Ich denke, ich geh jetzt mal.« Ich wollte nicht länger analysiert werden.
Gabriel reckte die Arme wieder zu einer Pose wie vorher. »Du solltest meine Übungen mitmachen. Ich spüre viel Aufregung in dir.«
»Okay, Meister Yoda«, gab ich murmelnd zurück.
Gabriel blickte mich fragend an.
Ich verdrehte die Augen. »Schon gut.« Sah sich eigentlich niemand mehr Filme an?
»Entspannung würde dir gut tun. Meditation. Gebet. Du überlässt dem Wolf zu viel Kontrolle über deine Gefühle. Glaubst du, du könntest in deinem derzeitigen Zustand genauso viel Zurückhaltung und Liebe zeigen wie in der Nacht, als du Daniel gerettet hast?«
»Natürlich.« Jetzt war ich wirklich aufgeregt und wandte meinen Blick von seinem Gesicht ab. Wie kam er dazu, sich derartig in mein Leben – meine Gedanken – einzumischen?
»Ich habe meine Zweifel«, sagte Gabriel.
»Wie auch immer. Du hast dir doch schon bei unserer ersten Begegnung ein Bild von mir gemacht. Ich werde hier nicht den Versuch unternehmen, dich vom Gegenteil zu überzeugen. Ich bin nicht deine Patientin oder irgendein Objekt, das du analysieren kannst. Wieso fährst du nicht einfach wieder nach Hause?« Ich drehte mich um und wollte gehen.
»Ich bin hier, weil du mir wichtig bist.«
Nein, sagte die Stimme in meinem Kopf. Sie war mir immer wie etwas Fremdes vorgekommen, nun empfand ich sie als tröstlich. Gabriel wird niemals glauben, dass du ein wahrer Hund des Himmels werden kannst. Im Gegensatz zu Talbot.
Ich hatte den Saal schon fast verlassen, als Gabriel mir nachrief: »Denk daran, Grace. Wenn du die Wut in dein Herz lässt, wird sie deine Fähigkeit zur Liebe verdrängen.«