Hilflos
Freitagabend
Unsere letzte Schulstunde war wegen dieser Wir-haben-keinen-Religionslehrer-Sache abgesagt worden. Da ich ohnehin schon wegen des ausgefallenen Sportunterrichts eine Stunde unter Aufsicht der Lehrer im Studienraum verbracht hatte, fuhr ich mit Daniel zum Supermarkt, um dort beim Aufräumen zu helfen.
Ich war überrascht, wie wenig in unserer Abwesenheit passiert zu sein schien. Doch als wir anfingen, uns an die Arbeit zu machen, wurde mir erst das ganze Ausmaß der Zerstörung bewusst. Fast alle Fenster waren zerbrochen, riesige Löcher gähnten in den Wänden, jedes Regal und jedes Warengestell waren geleert und fast alle Artikel zerschmettert worden. Es sah so aus, als würde man mindestens eine ganze Woche brauchen, um die Dinge auszusortieren, die noch verwendbar waren.
Daniel berichtete zu Beginn sehr aufgeregt von unseren Trenton-Bewerbungsformularen. Er zeigte sie Mr. Day und Chris. Dann riet er mir, welches meiner Bilder ich für mein Portfolio auswählen sollte. Doch nach einigen Stunden wurde er wie alle anderen still und mürrisch und konzentrierte sich darauf, einen Quadratmeter des Ladens nach dem anderen zu säubern.
Die Sonne war bereits untergegangen und der Müllcontainer quoll über, als Mr. Day uns nach Hause schickte. Ich hätte zwar weitergemacht, war aber dankbar für die Atempause. Mein Rücken schmerzte und ich konnte kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Daniel und ich nahmen eine letzte Ladung Müll und traten durch die Hintertür auf den Parkplatz.
»Ich würde sagen, dieser Müllcontainer ist total voll«, befand Daniel. »Lass uns den bei McCool’s probieren.«
Der Parkplatz vom Day’s Market grenzte an den des neuen Pubs. Ich nahm den Karton mit Müll auf den Arm und folgte Daniel zum Container der Kneipe. Währenddessen versuchte ich die ganze Zeit, irgendwie meine Superkräfte in Gang zu bringen, da sich der Karton mit Glasscherben, den ich trug, eher wie eine Kiste voller Backsteine anfühlte.
»Glaubst du, dass der Laden überleben wird?« Als wir den anderen Container erreicht hatten, stellte ich meinen Karton auf den Boden und streckte die Arme.
Ein paar Typen hingen am Hintereingang des Pubs herum, nur wenige Meter von uns entfernt. In meiner momentanen Stimmung kam mir ihr lautes Gelächter völlig deplatziert vor.
»Weiß nicht«, erwiderte Daniel, während er eine seiner Mülltüten in den Container warf. »Die Versicherung wird nur einen begrenzten Teil des Schadens übernehmen, und wenn wir den Laden nicht bald wieder zum Laufen kriegen … Ein Geschäft wie dieses kann mit so einem Einkommensverlust nicht lange durchhalten.«
»Das ist echt nicht fair. Warum sollte Ju… Ich meine, warum sollte irgendjemand Mr. Day auf diese Weise treffen wollen?«
»Vielleicht, weil er ein paar Freaks als Angestellte hat«, ertönte eine vertraute Stimme.
Ich drehte mich um und sah Pete Bradshaw aus der Gruppe der Rowdys auf uns zukommen. Eine feine Rauchschwade stieg von der Zigarette zwischen seinen Fingern empor. Offensichtlich hatte er nach seinem Rauswurf aus der HTA mit dem Rauchen angefangen und sich außerdem noch einen fiesen kleinen Kinnbart wachsen lassen. Daniel fluchte leise in sich hinein, als Pete zu uns trat.
»Erst dieser Mooney-Depp und jetzt du«, sagte Pete und wedelte mit seiner Zigarette etwas zu dicht vor Daniels Gesicht herum.
»Zieh Leine, Pete«, sagte ich.
»Man sollte es eigentlich wissen. Hängt man mit Abschaum herum, landet man früher oder später selbst auf dem Müll.«
Wann immer wir ihm begegneten, versuchte Pete, Streit anzufangen. Er war ziemlich stinkig, da er durch den Schulverweis sein Hockey-Stipendium verloren hatte und sein Dad sich weigerte, ihm etwas anderes als das staatliche College zu bezahlen.
»Yo, Pete?«, rief einer seiner Kumpels aus der Gruppe nahe beim Hintereingang. »Hier ist nichts los. Hast du nicht gesagt, du würdest jemanden kennen, der uns ins Depot bringen kann?«
Das Depot? Ich steckte die Hand in meine Jackentasche und fummelte an der Plastikkarte herum, die ich am Morgen bei Day’s gefunden hatte.
Pete schaute zu seinen Freunden rüber. »Klar, Ty. Willst du nicht noch lauter schreien, damit es auch die ganze Stadt mitkriegt?«
»Was soll’s! Lass uns gehen.«
»Gut für dich, dass ich Besseres zu tun habe.« Pete schnippte seine Zigarette vor Daniels Füße. Dann drehte er sich um und lief zu seinen Kumpels.
Daniel stieß einen kleinen Seufzer aus. Pete riss gerne das Maul auf, fand aber für gewöhnlich immer eine Ausrede um abzuhauen, wenn Daniel nicht auf seine Provokationen reagierte.
Ich wusste, dass ich ihn einfach hätte gehen lassen sollen, doch ich konnte mich nicht beherrschen. »Pete, warte mal!«, rief ich ihm nach.
»Was?« Pete sah sich nach mir um.
»Was hast du vor, Grace?«, flüsterte Daniel. »Lass ihn gehen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das Depot? Wo ist das?«, fragte ich Pete.
Er lachte. »Willst du etwa ins Depot?«
»Kannst du mir nicht einfach sagen, wo das ist? Es ist wichtig.«
Pete lachte noch lauter. Alle seine Kumpels beobachteten uns jetzt. Er trat einen Schritt auf mich zu. »Und was bekomme ich für diese kleine Information? Oder hast du etwa vor, diesem Stück Scheiße den Laufpass zu geben und mit einem echten Mann Party zu machen?«
»Es war nur eine Frage, Pete. Hast du eine Antwort oder nicht?«
»Und ich hab dich gefragt, was dir die Antwort wert ist.«
»Halt die Klappe, Bradshaw.« Daniel baute sich neben mir auf. »Vergiss einfach, dass sie gefragt hat, und verzieh dich.«
»Oder was? Mooney ist nicht da und kann sie nicht mehr verteidigen. Und was kannst du schon machen?«
Daniel ballte seine Hände zu Fäusten, rührte sich aber nicht vom Fleck.
»Hab’s mir doch gedacht«, höhnte Pete. Er wandte sich um, so als wollte er gehen, doch plötzlich machte er einen Satz nach vorn und stieß Daniel heftig vor die Brust. Daniel schwankte und stolperte über den Müllkarton, den ich neben dem Container stehen gelassen hatte.
»Nein!«, rief ich und rannte zu Daniel.
Ich versuchte ihm aufzuhelfen, doch er wollte meine Hilfe nicht. Ein furchtbares Zucken machte sich auf seinem Gesicht breit, als er sich vom Boden aufrappelte. Ein rotes Rinnsal lief über seinen Arm und ich erschrak, als ich die blutbespritzten Glasscherben aus dem Karton ragen sah, über den Daniel gestolpert war.
»Oh, mein … Bist du in Ordnung?«
Im selben Moment hörte ich, wie einer aus der Gruppe Pete etwas zurief. »Brauchst du Hilfe?« Der Typ namens Ty und ein anderer von Petes Kumpeln kamen auf uns zu.
Ich wartete darauf, dass sich mein Körper jetzt verspannte, die uns umgebende Gefahr realisierte und meine Kräfte mit diesem typisch schmerzenden Gefühl in meine Muskeln fahren würden – doch nichts geschah. Mist, dachte ich. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür, dass meine Fähigkeiten noch ein Schläfchen hielten. Ich brauchte sie sofort.
»Willst du kämpfen?« Pete baute sich vor Daniel auf. Seine zwei Freunde kreisten uns ein. »Oder kann ich dich als Sandsack benutzen?«
»Lieber mich als Grace«, erwiderte Daniel und fasste nach seinem blutenden Arm.
»Woher willst du wissen, dass sie nicht die Nächste ist?«, fragte Pete und holte aus.
»Stopp!« Ich machte einen Satz auf Pete zu, doch Ty hielt mich fest. Als ich nach seinen Beinen trat, versuchte ich, meine übernatürlichen Kräfte zu beschwören. Er lachte bloß und stieß mich beiseite. Ich kam mir vor wie eine Puppe.
Ich knallte vor die Backsteinmauer des Pubs und war für einen Augenblick betäubt. Dann hörte ich ein klatschendes Geräusch, so wie einen Faustschlag ins Gesicht, und etwas Großes stolperte über meine Füße. Ich blickte nach unten und erwartete Daniel dort liegen zu sehen. Aber es war Pete, der direkt vor mir zu Boden gegangen war. Dann erklang ein weiterer dumpfer Schlag und ein Grunzen. Petes namenloser Freund fiel neben mir auf die Knie und stürzte nach vorn. Ty hielt abwehrend die Hände hoch und verzog sich, so schnell er konnte.
Pete stöhnte und wischte über seine blutende Nase. »Du bist ein Freak«, rief er Daniel zu, während er langsam aufstand. »Los«, sagte er zu seinem verletzten Freund, »wir haben keine Zeit für so’n Scheiß. Lass uns abhauen.« Dann spuckte er einen blutigen Rotzbrocken direkt vor meine Füße auf den Asphalt. »Ihr solltet echt aufpassen!«, schrie er, bevor er und seine beiden Kumpels sich der restlichen Truppe anschlossen. Ihr lautes Gelächter hallte von den umstehenden Gebäuden wider, während sie die Straße entlangliefen.
Daniel stand mit dem Rücken zu mir neben dem Müllcontainer. Er zog die Schultern hoch, atmete ein und aus und drückte die Hand auf die Verletzung an seinem Arm.
»Das war … Wahnsinn«, murmelte ich. »Wozu brauche ich Superkräfte, wenn du so gut kämpfen kannst?«
»Denkst du eigentlich an nichts anderes?«, fragte Daniel. »Bloß an diese idiotischen Kräfte?«
»Wie bitte?« Seine Worte taten weh, doch offenbar hatte ich seine Vorwürfe verdient. Jetzt hatte ich es auch kapiert. Ich stellte mich neben ihn und legte meine Hand auf seine Schulter. »Tut mir leid. Ich hätte so was nicht sagen sollen. Du bist verletzt. Lass mich mal deinen Arm ansehen. Bist du okay?«
»Nein«, erwiderte Daniel und wehrte meine Berührung ab. Er presste den verletzten Arm gegen die Brust, damit ich die Wunde nicht sehen konnte. »Ich muss jetzt nach Hause.«
»Du solltest besser ins Krankenhaus. Ich fahre dich.«
»Nein, ich will nicht.« Er schwankte in Richtung seines Motorrads auf dem Parkplatz vom Supermarkt. »Ich muss einfach nur nach Hause.«
Ich lief ihm nach. »Hast du einen Schock? Du kannst doch so jetzt nicht Motorrad fahren. Wahrscheinlich musst du genäht werden.«
»Ich komm schon klar.« Er kletterte auf das Motorrad, während er den Arm weiter fest an seine Brust drückte.
»Verdammt, Daniel. Lass mich dir helfen.«
»Du hast schon genug geholfen«, erwiderte er, trat auf den Kickstarter und brachte das Motorrad zum Laufen. Mit seiner gesunden Hand drehte er den Gasregler auf und brauste vom Parkplatz, bevor ich reagieren konnte.
Er sah sich nicht einmal zu mir um. Ich stand mit herunterhängenden Armen da und wusste überhaupt nicht, was gerade geschehen war.
Was hatte er damit gemeint, dass ich schon genug geholfen hätte?
Ich hatte überhaupt nichts machen können.
Auf dem Heimweg
Ich saß für gute zehn Minuten im Auto und überlegte, ob ich Daniel nach Hause folgen sollte, um sicherzugehen, dass es ihm gut ging, und ihn dann in die Notaufnahme zu bringen, damit seine Verletzung untersucht werden konnte. Aber er hatte meine Hilfe so bestimmt abgelehnt, dass ich befürchtete, er würde nur noch wütender werden, wenn ich uneingeladen bei ihm auftauchte. Vielleicht war es am besten, ihn einfach in Ruhe zu lassen und in ein paar Stunden anzurufen und nachzufragen, ob er in Ordnung war.
Doch als ich den Wagen startete, beschlich mich ein Verdacht: War Daniel nur deshalb sauer, weil ich die Auseinandersetzung mit Pete verursacht hatte? Oder wollte er vielleicht meine Hilfe nicht, weil er dachte, dass ich nicht genügend Kontrolle über meine Kräfte hätte, wenn ich sein Blut sähe?
Ich schaltete das Radio ein, versuchte meine Schuldgefühle zu vertreiben und hörte mir die Nachrichten des lokalen Senders aus Rose Crest an. Dort wurde über den versuchten Einbruch in der Schule gesprochen und wie dies möglicherweise mit den Geschehnissen im Day’s Market zusammenhing. Der Reporter vermutete, dass der Einbrecher womöglich von irgendetwas abgeschreckt worden war, weil in der Schule nichts fehlte. Und natürlich hatten die Überwachungskameras der Schule nichts aufgezeichnet.
Als ich das Radio abstellte, hörte ich mein Handy in den Tiefen des Rucksacks klingeln, den ich den ganzen Nachmittag im Wagen gelassen hatte. Ich blickte auf das Display und seufzte erleichtert.
»Hey, Dad«, sprach ich ins Handy, »hast du meine Nachricht bekommen?«
»Ja«, antwortete Dad. Er klang furchtbar müde, und ich konnte ihn vor dem Lärm im Hintergrund kaum verstehen. »Erzähl mir, was passiert ist.«
Ich berichtete von Judes Anruf und versuchte seine Worte exakt zu wiederholen. Dann erzählte ich ihm, dass Jude in Daniels Wohnung im Souterrain von Maryannes Haus gewesen war.
Dad war für einen Augenblick still. »Wir haben die ganze Zeit nach ihm gesucht, und dann war er quasi direkt hinter unserem Haus«, sagte er schließlich. Er klang wütend, schockiert und erleichtert zugleich. »Sonst noch was? Hast du wieder von ihm gehört?«
»Nein.« Ich zögerte einen Moment. Ich war mir nicht sicher, ob ich Dad von Daniels Theorie erzählen sollte, wusste aber, dass ich nichts zurückhalten durfte, was dabei helfen konnte, Jude zu finden. »Nichts Konkretes, aber ich glaube, dass er vielleicht tatsächlich bei unserem Haus gewesen ist.« Dann berichtete ich ihm, dass James etwas vor seinem Fenster gesehen hatte, erzählte von dem Überfall auf den Day’s Market und dem versuchten Einbruch in die Schule. »Daniel glaubt, dass es Jude war.« Ich fuhr gerade in unsere Einfahrt, entschied mich aber, bei laufendem Motor im Wagen sitzen zu bleiben, bis ich das Telefonat mit Dad beendet hatte. Ich wollte nicht, dass irgendjemand unser Gespräch mithörte.
»Eine logische Schlussfolgerung«, meinte Dad. »Das ergibt durchaus Sinn.«
»Wirklich? Aber warum sollte er solche Dinge tun? Wozu ist er zurückgekommen?«
»Ich weiß es nicht, Gracie.« Er seufzte. Im Hintergrund hörte ich eine Lautsprecherdurchsage. Er musste an irgendeinem Flughafen oder Bahnhof sein. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Kommst du nach Hause?«
»Nein«, erwiderte er. »Ich weiß noch nicht, wann ich wieder zurück bin.«
»Wie bitte? Aber Jude war doch hier. Wieso kommst du nicht …«
»Ich muss jetzt gehen. Das war der letzte Aufruf für meinen Zug. Ich erkläre es dir später, aber ich weiß noch nicht, wann ich nach Hause komme.«
Wut kochte in mir hoch. Dad war die ganze Zeit unterwegs, und ich hatte gedacht, dass er verzweifelt nach Jude suchte – nach einer Möglichkeit suchte, unsere Familie wieder zusammenzuführen. Doch vielleicht hielt er sich bloß von uns fern? Warum wollte er sonst nicht nach Hause kommen? Gerade jetzt, wo wir ihn am meisten brauchten!
»Toll. Vergiss aber zwischendurch nicht, wo du eigentlich lebst«, maulte ich.
»Es tut mir leid. Ich komme so schnell es geht zurück.« Dann redete er mit jemandem in seiner Nähe. »Ja, das ist meine Tasche. Ich komme.« Er räusperte sich und sprach wieder ins Telefon. »Noch eine Sache, Gracie. Du darfst unter keinen Umständen auf eigene Faust nach Jude suchen.«
Ich gab ein spöttisches Geräusch von mir. Wenn ich nicht so aufgeregt gewesen wäre, hätte ich wohl gelacht. Ich fand es gleichermaßen lustig wie nervtötend, dass Dad die gleichen Dinge sagte wie Daniel. Als glaubten beide, dass ich nicht fähig sei, nicht nach Jude zu suchen.
»Lass es einfach sein, Gracie. Du weißt ja nicht, worauf du stoßen könntest …« Er seufzte erneut entmutigt ins Telefon. »Wir haben bereits ein Kind verloren. Deine Mutter würde es nicht überleben, wenn du uns auch noch verlässt.«
Später
Mom war auf dem Sofa eingeschlafen, als ich schließlich ins Haus ging. Die Abendnachrichten liefen im Hintergrund. Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu wecken, und lief gleich nach oben. Ich war mehr als erschöpft, von den Ereignissen völlig ausgelaugt und konnte kaum meine Augen offen halten.
Ich war schon auf dem Weg ins Bett, als ich James in seinem Zimmer weinen hörte. Es war ein wimmerndes, verängstigtes Weinen, das immer lauter und lauter wurde. Also öffnete ich seine Tür und sah nach ihm. Er saß in seinem Kinderbettchen und rieb sich die Augen. Durch das Licht im Flur konnte ich dicke, fette Tränen erkennen, die an seinem geröteten Gesicht hinabliefen.
»Ist ja schon gut.« Ich ließ meinen Rucksack in der Türöffnung fallen und nahm den Kleinen in meine Arme. »Ist ja gut, Baby James.«
»Bin kein Baby«, stieß James unter seinen Schluchzern hervor. Er war erst zweieinhalb und fing schon an, seinen Kosenamen abzulehnen.
»Du hast recht. Du bist ein großer Junge, hmm?«
James nickte und schmiegte sich enger in meine Arme.
»Hast du wieder einen schlechten Traum gehabt?«
»Jaah.« Er zitterte.
»Ist ja gut.« Ich rollte mich neben ihm in dem winzigen Bettchen zusammen und fuhr mit den Fingern durch seine braunen Locken. »Alles ist gut. Ich bin bei dir. Ich beschütze dich. Versprochen.«
James lächelte durch seine Tränen hindurch und tätschelte mein Gesicht. Nach ein paar Minuten wurde seine Atmung ruhig und gleichmäßig. Seine Augen fielen zu. Dann sank er in den Schlaf, wobei er eine Handvoll meiner Haare fest umklammert hielt.
Ich sah zu, wie sich seine Brust im Schlaf hob und senkte, und dachte an die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden. Ich wusste, dass etwas Schreckliches meine kleine Welt in Stücke reißen wollte. Die Verbrechen der Großstadt hatten den Weg in meinen Heimatort gefunden. Jude war hier gewesen und hatte unseren kleinen Bruder durch seine silbrig glänzenden Augen beobachtet. Ich kannte Judes Absichten nicht und wusste auch nicht, welche Verbindung es von den Ereignissen bei Day’s oder in der Schule zu ihm gab. Doch all dies fühlte sich an, als ob jeden Moment der Himmel einstürzen könnte.
Ich erinnerte mich an Daniels Worte. Er glaubte, dass ich eine Heldin sein könnte. Mehr als alles andere wünschte ich, dass er recht hatte – dass ich fähig war, das Versprechen einzulösen, das ich James gerade gemacht hatte. Ich wünschte mir wirklich, dass ich in der Lage wäre, alle meine Lieben zu beschützen.
Ich sah zu meinem Rucksack in der Türöffnung und erinnerte mich an das Bewerbungsformular für Trenton. James schnarchte zufrieden neben mir, sah unschuldig und hilflos aus. Wie wäre es ihm ergangen, wenn ich nicht hier gewesen wäre, um seine Tränen zu trocknen?
Dann wurde es mir mit einem Mal klar: Selbst wenn es mir gelingen sollte, April und Katie auszustechen, selbst wenn Daniel und ich zusammen in Trenton angenommen würden, konnte ich doch nicht gehen.
Jede Chance nach Trenton oder überhaupt auf ein College zu gehen, war mit dem Tag zerstört worden, an dem Jude fortgegangen war. Wie wäre es dann wohl, wenn Dad ständig nach ihm suchte und sich Mom weiter in ihrem manisch-depressiven Zustand befände? Und würde es ihr dann nicht noch viel schlechter gehen, wenn ich ein Studium anfinge? Eine halbtags arbeitende Haushaltshilfe war nicht das Gleiche wie eine Mutter oder eine Schwester. Wie könnte ich Charity mit alldem allein zurücklassen? Sie war die Schlaue in unserer Familie – sie machte praktisch nichts anderes als Hausaufgaben – und es wäre nicht fair, ihre Zukunft zu ruinieren, wenn ich mich so wie Jude einfach aus dem Staub machte.
Trenton war alles, was Daniel wollte, und alles, was ich nicht haben konnte.
Ich hasste Jude dafür, dass er es mir weggenommen hatte.