In dubio pro reo

 

Zu Hause, zwanzig Minuten später

 

Daniel bestand darauf, mir auf seinem – für ihn – neuen Motorrad nach Hause zu folgen. Langsam legte ich die wenigen Meilen zwischen unserem Haus und Oak Park zurück und behielt beim Fahren die Straßen im Auge. Ich bremste jedes Mal ab, wenn ein Fußgänger vorbeikam. Das geschah nicht oft, da es schon nach zehn Uhr war.

Wieder und wieder rief ich Dads Handy an, doch jedes Mal ging sofort die Mailbox an. Welchen Sinn hatte es eigentlich, dass er uns allen Mobiltelefone gekauft hatte, damit wir in Verbindung bleiben konnten, er aber ständig vergaß, seins aufzuladen? ›Ruf mich zurück‹, lautete die Nachricht, die ich immer wieder hinterließ. Angesichts der Energie, die er in den letzten Monaten in die Suche nach Jude gesteckt hatte, wollte ich Dad nicht einfach per Mailbox über das Wiederauftauchen meines Bruders informieren. Das ist eine Neuigkeit, die du jemandem persönlich überbringen musst. Am besten, wenn er oder sie direkt vor dir steht – oder, besser noch, sitzt.

›Chaos‹ ist das einzige Wort, das die Szene hätte beschreiben können, die sich mir beim Öffnen der Haustür bot: Die Zehn-Uhr-Nachrichten schallten mir aus dem Wohnzimmer entgegen, als hätte jemand die Lautstärke voll aufgedreht, um den Nachrichtensprecher bei dem Geheul von James, der in Charitys Armen auf der Treppe um seine Freiheit kämpfte, noch verstehen zu können. Es sah aus, als hätte sie gerade versucht, ihn ins Bett zu verfrachten. Der Kleine ruderte derart mit den Armen, dass nun beide die Treppe herunterzufallen drohten.

Die vibrierenden Töne verstärkten sich plötzlich in meinem Kopf um das Zehnfache. Ich zuckte zusammen und bedeckte meine Ohren mit den Händen. Perfekter Zeitpunkt für das unerwartete Einsetzen meines Supergehörs. »Was ist denn hier los?«, rief ich in den Lärm. »Ich hab doch James schon vor zwei Stunden ins Bett gesteckt.« Bevor ich gegangen war, hatte ich darauf geachtet, dass James im Bett lag und Charity an ihren Hausaufgaben saß. Da Dad nicht da war, war es das Mindeste, was ich tun konnte.

»Ich weiß nicht. Er ist vor einer Stunde schreiend aufgewacht«, rief Charity und entging mit ihrem Gesicht nur knapp einem Faustschlag von James. »Ich konnte ihn beruhigen. Aber er ist völlig ausgeflippt, als ich versucht habe, ihn wieder in sein Zimmer zu bringen. Vielleicht hatte er einen Albtraum und dachte, dass da etwas vor seinem Fenster sei oder so was.«

Ich warf Daniel einen Blick zu. Er nickte. Was James vor seinem Fenster gesehen hatte, war womöglich kein Albtraum gewesen.

»Ah, James! Hör auf!«, schrie Charity, als James in ihren Armen einen Buckel machte und mit den Beinen strampelte. Beinahe wäre er ihr aus den Armen gerutscht und sie hätte ihn auf die Treppe fallen lassen.

»Ich nehme ihn.« Daniel trat neben mir in den Flur und hob James aus Charitys Armen. »Beruhige dich, Baby J«, sagte Daniel und klopfte ihm spielerisch auf den Po. Fast augenblicklich wurde James still und schlang seine zitternden Arme um Daniels Hals. Daniel war noch immer sein großer Held. James, in seinem Schlafanzug, sah in Daniels starken Armen ganz winzig aus. Ich musste wieder daran denken, wie Daniel ihn aufgefangen hatte, als er von dem zwölf Meter hohen Abhang in den Wäldern hinter unserem Viertel herabgestürzt war.

»Wie wär’s, wenn ich dir eine Geschichte vorlese?«, fragte Daniel und rubbelte seine Nase über James’ Wange.

James nickte und rieb seine verweinten roten Augen.

»Was hältst du von Wo die wilden Kerle wohnen? Ich mag den Jungen im Wolfskostüm.« Das war James’ Lieblingsbuch – ein Geschenk von Daniel zu seinem zweiten Geburtstag vor sechs Monaten.

James schüttelte den Kopf. »Nöö, zu guselig.« Sein Kinn zitterte. Er musste ziemliche Angst gehabt haben.

»Dann lieber Pu, der Bär?« Daniel hob James auf seine Schultern und sah mich an. »Ich bringe ihn ins Bett.«

»Danke«, sagten Charity und ich wie aus einem Munde.

Ich sah zu, wie Daniel die Treppe hinauftrottete und in seiner besten iah-Stimme auf James einredete – was mehr wie Marlon Brando klang, wenn ihr mich fragt. Wie konnte bloß irgendjemand ihn nicht lieben? Und wieso sollte Jude immer noch denken, dass man ihm nicht trauen konnte?

»Endlich«, murmelte Charity. »Ich muss noch drei Seiten Mathe machen.«

»Tut mir leid. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht so lange weggeblieben.«

»Schon okay.« Sie fuhr mit dem Finger über die Maserung des Eichengeländers. »Du bist ohnehin nicht diejenige, die sich um James kümmern sollte.« Sie blickte durch den Flur zum Wohnzimmer. »Kannst du Mom nicht fragen, ob sie den Fernseher leiser stellt? Ich muss mich wirklich etwas konzentrieren.«

»Ist sie wieder in ihrem Zombie-Queen-Modus?«

Charity nickte.

Ich hätte wissen müssen, dass ein Tag mit Tante Carol meine Mutter auch nicht in bessere Stimmung versetzen konnte. Carol kam gerne vorbei, um ›auszuhelfen‹, wenn Dad manchmal nicht da war. Doch ihre höhnischen Kommentare über unsere gar nicht so perfekte Divine-Familie wurden schnell unangenehm.

»Möchte wissen, wie lange es diesmal anhält«, sagte Charity und lief die Treppe hinauf.

Ich atmete tief durch und ging ins Wohnzimmer. James hatte zu weinen aufgehört. Ich konnte aus seinem Zimmer sogar Gelächter hören, doch die Lautstärke des Fernsehers war immer noch voll aufgedreht. Meine Ohren pochten, als ich näher an den Apparat heranging.

Ich nahm die Fernbedienung in die Hand, als die Nachrichten gerade zu einer neuen Meldung überwechselten. Ein Reporter stand an einer Absperrung vor einem Juweliergeschäft mit dem Namen ›Familienschmuck‹. Ich war schon mehr als einmal dort vorbeigekommen, wenn ich mich im Antiquitätenviertel der Stadt aufhielt. »In den letzten 48 Stunden wurden mitten am Tag zwei Juweliergeschäfte überfallen«, sagte der Reporter. »Da es keine Zeugen für diese dreisten Verbrechen gibt, steht die Polizei vor einem Rätsel. Die Angestellten beider Geschäfte geben an, dass man sie bewusstlos geschlagen habe, bevor sie irgendetwas bemerkten. Beide Läden wurden innerhalb von wenigen Minuten komplett demoliert und ausgeraubt. Die Überwachungskameras konnten an den Tatorten nichts aufzeichnen. Die Behörden vermuten, dass sie auf irgendeine Weise vor den Überfällen außer Funktion gesetzt wurden.«

Die Kamera wechselte zu einem untersetzten Nachrichtensprecher mit strubbeligem Haar, der hinter einem Schreibtisch saß. »Wow, Graham«, meinte er. »Die Überfälle kommen einem unheimlich bekannt vor, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte der Reporter. »Diese beiden Überfälle könnten mit einer Reihe anderer bizarrer und unerklärlicher Diebstähle und Angriffe in Verbindung gebracht werden, über die wir in den letzten Monaten berichtet haben. Doch anscheinend ist die Polizei genauso verwirrt wie alle anderen.«

»Hmm«, fuhr der Nachrichtensprecher fort. »Vielleicht sollten wir uns alle Gedanken darüber machen, ob das Markham Street Monster wieder erwacht ist und sich der organisierten Kriminalität zugewandt hat …«

Ich stellte den Fernseher leiser und unterbrach damit den Nachrichtensprecher, der über seinen eigenen blöden Scherz kicherte. Ich hatte Witze über das Markham Street Monster noch nie lustig gefunden – zumal ich mittlerweile die Wahrheit über es kannte … oder ihn, sollte ich wohl eher sagen.

Mom schien es egal zu sein, dass ich die Lautstärke drosselte. Sie starrte weiterhin wie gebannt auf den Bildschirm und betrachtete die Schaulustigen, die zu den mysteriösen Überfällen befragt wurden. Ihr Blick richtete sich auf jedes einzelne Gesicht in der Menge. Ich wusste, wen sie suchte.

»Mom?« Ich räumte das leere Weinglas und die Schale mit kalter Tomatensuppe vom Couchtisch. »Du hast ja gar nichts gegessen. Soll ich dir irgendwas anderes machen?«

Mom rückte ein kleines Stückchen zur Seite, sodass sie an mir vorbeisehen konnte.

»Dad hat gesagt, dass ich Dr. Connors anrufen soll, wenn du wieder mit dem Essen aufhörst.«

Sie zuckte nicht mal mit der Wimper.

Jede Faser in mir wollte Mom von Judes Anruf berichten. Dass er hier in Rose Crest gewesen war. Dass ich mit ihm gesprochen hatte. Dass er vielleicht, während sie gerade in den Nachrichten nach irgendeiner Spur von ihm suchte, genau vor dem Schlafzimmerfenster ihres anderen Sohns gewesen war.

Doch genau jener letzte Gedanke hielt mich ab. Ich wusste nicht, warum Jude zurückgekommen war. Ich wusste nicht, ob er, wenn er in die Fenster der Menschen blickte, die er einst seine Familie genannt hatte, eher Monster oder eher Mensch war. Und ich wusste nicht, ob er nach dem heutigen Abend überhaupt zurückkommen würde. Ich wusste nur, dass es, zumindest im Augenblick, besser war, Mom nichts zu erzählen.

Sie griff nach der Fernbedienung und stellte die Lautstärke wieder ein paar Stufen höher. Ich trug ihre Suppenschale zum Spülbecken in der Küche. Beim Ausleeren beobachtete ich, wie die rote, dickflüssige Tomatensuppe im Ausguss verschwand. Dann spülte ich die Schale aus, füllte das Spülbecken mit dem heißesten Wasser, das aus dem Hahn kam, und machte mich an das restliche Geschirr. Ich weiß nicht wieso, doch ich mochte es, wie die Hitze meine Hände anschwellen ließ, während ich sie in das brühheiße Wasser tauchte und den Abwasch machte. Moms Zombie-Queen-Modus rief in mir immer das Bedürfnis hervor, ein extrastarkes Gefühl erleben zu wollen – als ob ich den Schmerz für uns beide spüren wollte.

Während ich einen Topf ausscheuerte, betete ich im Stillen, dass Mom in den Nachrichten niemanden entdecken würde, der vielleicht wie Jude aussah. Dann würde sie sich total aufregen, Dad anrufen und ihn in jede xbeliebige Stadt, jeden Staat, ja, sogar jedes Land schicken, wo sie glaubte, ihn entdeckt zu haben. Und Dad würde hinfahren, auch wenn er bereits seit fast zwei Wochen unterwegs war. Weil es sich diesmal vielleicht tatsächlich um Jude handeln könnte. Vielleicht könnte er ihn diesmal finden und nach Hause bringen.

Als Mom zum ersten Mal geglaubt hatte, Jude im Fernsehen zu sehen, war ich ebenso hoffnungsvoll wie sie. Die ganze Nacht hatte ich mit ihr am Fenster gewartet, während Dad nach ihm Ausschau hielt.

Als Dad allein zurückgekommen war, hatte es sich angefühlt, als hätte Jude uns ein zweites Mal verlassen. Mom aß eine ganze Woche lang nichts, bis sie glaubte, Jude im Hintergrund einer CNN-Nachrichtensendung über einen Brand in einer Industrieanlage in Kalifornien entdeckt zu haben. Auch diesmal war es ein Schlag ins Wasser; Mom ging es nur schlechter und schlechter, je länger Dad fortblieb. Nach dem dritten Mal, als er einer ihrer Spekulationen nachging – diesmal der Angriff eines Bären im Yellowstone Nationalpark, bei dem ein dunkelhaariger Junge anscheinend ein junges Mädchen vor dem Tod gerettet hatte – war ich wütend geworden. Ich hatte mich mit verschränkten Armen in der Tür aufgebaut und wollte Dad nicht gehen lassen. Er hatte meine Hand genommen und sich neben mich auf die Veranda gesetzt. »Du kennst doch die ›Geschichte vom Guten Hirten‹, nicht wahr, Grace?«

Obwohl ich sie kannte, schüttelte ich den Kopf. Ich war viel zu aufgeregt zum Sprechen.

»Die Bibel sagt, dass ein guter Hirte, selbst wenn er hundert Schafe hat und nur eines von ihnen in der Wildnis verliert, die anderen neunundneunzig zurücklassen und nach dem einen suchen muss.«

»Aber bedeutet das denn nicht, dass er eigentlich die restlichen Schafe den Wölfen überlässt?«

Dad seufzte. »Das ist genau das, was ich für Daniel getan habe – ich habe ihm geholfen, unter welchen Umständen auch immer. Es ist genau das, was du für Daniel getan hast. Und jetzt schulden wir deinem Bruder dasselbe.«

Dagegen hatte ich nichts mehr sagen können.

Dad drückte meine Hand. »Außerdem lasse ich den Rest der Familie in fähigen Händen.« Dann war er aufgestanden und gegangen.

Allerdings fühlte ich mich momentan nicht besonders fähig. Ich meine, was sollte ich tun, wenn das verlorene Schaf zu uns zurückkam, aber der Gute Hirte nicht da war? Und was wäre, wenn das Schaf gar keines war?

Wenn es sich um den Wolf handelte?

Später

 

Ich hatte den Abwasch fast beendet, als Daniel in die Küche kam. »James hat sich endlich beruhigt.« Er streichelte meinen Arm, nahm sich dann ein Geschirrtuch und trocknete den Saucentopf ab.

»Danke«, sagte ich und reichte ihm eine frisch gespülte Tasse.

Er runzelte die Stirn, als er meine gerötete Haut sah. »Du solltest besser auf dich aufpassen.«

Ich blickte auf meine Hand, schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, den Schmerz auszulöschen. Ich wartete ein paar Sekunden, doch als ich die Augen wieder öffnete, war die Haut noch genauso rot und empfindlich wie zuvor. Ich war nicht überrascht.

»Ich sollte Mom ins Bett bringen«, meinte ich und trocknete mir die Hände an meiner Hose ab.

»Möchtest du, dass ich hierbleibe? Nur für den Fall, dass Jude … zurückkommt. Ich kann auf dem Sofa schlafen.«

So sehr ich den Gedanken mochte, dass Daniel die Nacht hier verbrachte – es wäre fast so, als ob Dad da wäre –, wusste ich, dass es nicht möglich war. »Das wäre wohl etwas zu viel für meine Mom.«

»Hmm. Du hast wohl recht.«

»Andererseits ist es vielleicht gar keine schlechte Idee. Wenn man eine Reaktion bei ihr hervorrufen könnte, wäre es das Risiko wert.« Ich war sehr froh, dass Mom mir keinen Hausarrest verpasst hatte, weil ich erst nach den Zehn-Uhr-Nachrichten nach Hause gekommen war. Doch so sehr ich es auch hasste, dass Mom jeden meiner Schritte überwachte, wenn sie sich in ihrer durchgedrehten Mama-Bär-Manie befand, war dies dem Zombie-Zustand, in dem sie nun gerade verweilte, immer noch vorzuziehen.

Daniels schelmisches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Zärtlich legte er meine Hand in seine und führte sie an seine Lippen. Der Ausdruck in seinen Augen, während er meine geröteten Knöchel küsste, ließ meine Knie weich werden. Für einen Moment wünschte ich, wir lägen noch immer zusammen im Gras.

»Keine gute Idee«, flüsterte ich und entzog ihm meine Hand. Wenn Mom wieder zu Sinnen käme, würde ich für den Rest meines Lebens Hausarrest bekommen.

»Wie Sie wünschen, Ma’am«, sagte Daniel und nahm eine weitere Tasse zum Abtrocknen. »Ich helfe dir noch mit dem Rest hier, bevor ich gehe.«

Ich seufzte. Ich wusste, dass sich das Haus kalt und leer anfühlen würde, sobald er gegangen war. Jedes Geräusch würde mich hochschrecken lassen. Jede Minute würde sich wie ein Jahr anfühlen, bevor ich endlich einschlafen könnte. »Ich wünschte, dass wenigstens mein Dad hier wäre … Andererseits glaube ich auch nicht, dass er uns beschützen könnte.«

Daniel runzelte die Stirn und stellte die Tasse ab. Dann verlagerte er das Gewicht von dem verletzten Bein auf das gesunde.

Eine Woge schlechten Gewissens überspülte mich. »Ich meinte nicht dich.« Ich legte eine Hand auf seine Schulter. »Ich wollte damit nicht sagen, dass du uns nicht mehr beschützen kannst. Ich hab mehr von mir selbst gesprochen, ehrlich.«

»Ist schon in Ordnung. Ich weiß, dass ich es nicht kann, Gracie. Eine Nebenwirkung meiner schwindenden Kräfte.«

»Aber du bist immer noch stark. Du kannst …«

»Nein.« Daniel erwiderte endlich meinen Blick. »Aber du. Eines Tages, das verspreche ich dir. Du wirst es schon noch rauskriegen …«

»Ich habe das Gefühl, dass eines Tages einfach nicht rechtzeitig genug ist. Ich glaube, Jude hat mich angerufen, weil er meine Hilfe braucht.« Ich blickte auf meine albernen roten Hände, die sich weigerten, wieder normal zu werden. »Ich bin nicht stark genug, um irgendetwas zu tun.«

»Grace, du bist der stärkste Mensch, den ich kenne. Um mich zu retten, musstest du es sein. Du kannst die Heldin werden, die du sein willst.« Er senkte die Stimme und blickte zu Mom nebenan auf dem Sofa hinüber, als ob er befürchtete, dass sie uns zuhörte. »Deine ganze Kraft ist zum Greifen nah. Gemeinsam werden wir schon noch herausfinden, wie du sie packen und festhalten kannst. Du brauchst nur etwas mehr Zeit, Geduld und Balance. Dann wird es funktionieren. Vielleicht haben wir zu Beginn zu sehr darauf gedrängt. Vielleicht müssen wir es ruhiger angehen. Und uns mehr Zeit für dein Training nehmen …«

»Aber was ist, wenn wir nicht mehr Zeit haben? Was ist, wenn Jude recht hat? Wenn tatsächlich jemand hinter uns her ist?« Zum ersten Mal spürte ich wirklich die Gefahr – wie ein Gewicht, das mich hinunterzuziehen versuchte. »Was ist, wenn ich meine Kräfte jetzt brauche?«

Frustriert griff Daniel nach einer Strähne seines struppigen Haars und zog daran. »Ich weiß nicht, was du gern von mir hören möchtest, Grace. Was sollte ich deiner Meinung nach tun? Ich werde dich auf keinen Fall noch schneller trainieren. Du weißt genau, dass das nicht sicher wäre. Ich werde nicht zulassen, dass du dich an den Wolf verlierst.«

»Ich werde mich nicht an den Wolf verlieren, Daniel. Das will ich doch überhaupt nicht … Ach, ich weiß selbst nicht, was ich will! Vielleicht eine Möglichkeit, die Zeit anzuhalten. Eine magische Methode, meine Kräfte schneller freizusetzen. Ich weiß es nicht.«

»Ich auch nicht.« Daniel nahm eine Schale von der Arbeitsplatte und stellte sie gleich wieder zurück. »Ich glaube immer noch, dass Jude dir nur einen Schrecken einjagen wollte, Grace. Wahrscheinlich ist es für den Wolf der totale Kick, wenn er Menschen quält, die er mal liebte.« Er betonte die Vergangenheitsform extra deutlich.

Doch ich wollte das nicht akzeptieren. Daniel hatte mich auch geliebt, als er vom Wolf gesteuert wurde. Trotz allem hatte er nach einem Weg gesucht, um zu unserer Familie zurückzukommen. Dasselbe wollte ich jetzt im Hinblick auf Jude glauben. Ich musste ihm dieselbe Möglichkeit einräumen – in dubio pro reo. Im Zweifel für den Angeklagten. Tief in mir wollte ich glauben, dass er mich nicht aus einer kranken Laune heraus angerufen hatte, sondern weil er mich warnen musste. Er wollte noch immer mein Bruder sein.

»Du hast nicht gehört, wie besorgt seine Stimme geklungen hat«, sagte ich. »Ich glaube, es war ein Hilferuf.«

Daniel schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich könnte ihn für dich finden. Aus ihm herauskriegen, was er verdammt noch mal will. Oder diese Person stoppen, die angeblich hinter uns her ist. Aber ich bin nicht derjenige mit den Superkräften.«

»Ich anscheinend auch nicht«, grummelte ich.

Er sah mich an, seine dunklen Augen waren von Traurigkeit überschattet, doch er sagte nichts. Für ein paar lange Minuten schwiegen wir beide. Mom guckte mittlerweile eine auf Video aufgenommene Nachrichtensendung eines anderen Kanals. Es war fast die identische Wiederholung der Sendung davor. Unsichtbare Räuber. Schreckliche Verbrechen mitten am Tag. Selbst ein ähnlicher Witz über das Markham Street Monster und die organisierte Kriminalität.

»Bereust du es?«, fragte ich Daniel schließlich. Es war eine Frage, die ich seit Monaten unterdrückt hatte. Eine Frage, die jedes Mal hochkam, wenn ich sah, wie Daniel sich abmühte, um beim Laufen mit mir Schritt zu halten, oder wenn ich nach unseren Trainingsrunden sein verletztes Knie versorgte. »Bereust du, dass ich dich geheilt habe? Es muss schlimm sein, dass du deine Kräfte nicht mehr hast.« Genauso schlimm wie zu sehen, dass ich meine nicht in den Griff bekam. So, wie ich mich immer abgemüht hatte, wenn er mir eine neue Maltechnik beibrachte, und ich spüren konnte, dass es ihm in den Fingern juckte, einfach den Pinsel zu nehmen und es selbst zu machen – was er aber nie getan hatte. Gute Lehrer machen so etwas nicht.

»Nein«, antwortete Daniel. »Manchmal vermisse ich meine Kräfte. Aber ich habe nie bereut, was du für mich getan hast. Ich bin nur durch dich hier. Ich bin wieder ein ganzer Mensch. Ich könnte niemals an diesen Ort zurückgehen, an dem ich mich befunden habe. Ich könnte es nie wieder verkraften, dass ich vielleicht das Potenzial zu einem Monster hätte. Ich glaube, ich würde lieber sterben …« Daniels Worte verloren sich. Er zögerte für einen Moment, dann fragte er: »Bereust du es? Bereust du, dass du mich gerettet hast?« Am Klang seiner Stimme erkannte ich, dass auch er diese Frage seit einer Weile zurückgehalten hatte.

Ich blickte auf das Spülbecken. Auf der Wasseroberfläche hatte sich ein trüber Seifenfilm gebildet. »Manchmal wünsche ich mir fast, ich könnte zurückgehen und Jude davon abhalten, mich mit dem Werwolffluch zu infizieren. Aber ich halte dann immer inne. Denn wenn es darum geht, deine Seele zu retten, so würde ich nicht riskieren, etwas an dem zu ändern, was ich in jener Nacht getan habe. Diesen Teil bereue ich überhaupt nicht. Diesen Teil würde ich für nichts in der Welt eintauschen. Dich retten und dich heilen. Dafür würde ich mich tausend Mal infizieren lassen.« Mit der Fingerspitze zeichnete ich einen Kreis in den Seifenwasserfilm. »Ich wünschte nur, dass sich, was Jude betrifft, die Dinge anders entwickelt hätten, verstehst du? Ich wünschte, ich wüsste, wie ich ihn nach Hause bringen könnte.« Ich seufzte. »Ich wünschte, ich wüsste, wie ich diese Kräfte richtig anwenden kann, wenn ich schon mit ihnen infiziert bin. Wie ich sie benutzen könnte, um jetzt Jude zu helfen.«

Ich wandte mich von Daniel ab, tauchte meine Hand in das Spülwasser und zog den Stöpsel heraus. Ich wollte gerne wieder das heiße Wasser auf meiner Haut fühlen, doch es war während unserer Unterhaltung merklich abgekühlt. Plötzlich spürte ich Wärme an meiner Schulter und stellte fest, dass Daniel seine Hand auf meinen rechten Arm gelegt hatte, gleich oberhalb der Stelle, wo die halbmondförmige Narbe von meinem Hemdsärmel bedeckt war. Ich hatte ihren stechenden Schmerz gar nicht bemerkt, bevor ich seine lindernde Berührung spürte. Einen Moment lang ließ er seine Hand auf meinem Arm, zog sie dann weg und trocknete weiter Geschirr ab.

Daniel blieb, bis wir die Küche aufgeräumt hatten und Mom sich durch alle aufgezeichneten Nachrichtensendungen der anderen Kanäle gezappt hatte. Ich verabschiedete ihn an der Tür. In der Sekunde, als er gegangen war, fühlte sich das Haus völlig leer an – genauso, wie ich es vorausgeahnt hatte. Ich verschloss alle Türen und Fenster, schaltete den Fernseher aus und schickte Mom ins Bett. Als ich allein in meinem Zimmer war, versuchte ich Dad anzurufen. Sofort schaltete sich die Mailbox ein.

»Dad, Jude war hier«, sprach ich schließlich auf den Anrufbeantworter. »Hier in Rose Crest. Bitte komm nach Hause.« Ich lauschte dem Schweigen in der Leitung, bis die Mailbox schließlich piepte und die Verbindung unterbrach.

Mit dem Telefon in der Hand überprüfte ich die Verriegelung an meinem Fenster und entdeckte dabei ein schwaches Leuchten im Innern des Corolla. Ich hatte ihn neben der Einfahrt vor dem Haus stehen lassen. Ich linste durch die Jalousien und sah Daniel, der sich auf dem Rücksitz zusammengerollt hatte. Für mich sah es so aus, als wäre er beim Lesen eines Buchs eingenickt.

Der Abend mit Daniel war nicht glatt verlaufen und überhaupt nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, als er vorschlug, dass wir uns den Meteoritenschauer gemeinsam ansehen sollten. Doch ihn da draußen vor dem Haus zu sehen, zu wissen, dass er da war, gab mir ein warmes und sicheres Gefühl, so als ob nichts uns jemals auseinanderbringen könnte.

Ich klappte mein Handy auf und schickte Daniel eine SMS: Ich liebe dich.

Als ich ins Bett krabbelte, kündigte mein Handy mit einem Piepen seine Antwort an: Für immer.

Dann kam, dreißig Sekunden später, eine weitere Nachricht: Hab Geduld. Wir kriegen es schon hin. Wenn dein Dad zurückkommt, weiß er vielleicht, was zu tun ist. Schließlich kam noch eine Meldung. Ich glaube an dich.

Dann, fast ganze zwei Minuten später, als wäre ihm plötzlich zum ersten Mal der Gedanke gekommen: Bitte mach dich nicht allein auf die Suche nach Jude, o.k.?

O.k., schrieb ich zurück.

Ich wusste ja nicht mal, wo ich mit der Suche hätte anfangen sollen.