Rettung

 

Eine halbe Sekunde später

 

»Sag bitte Talbot zu mir. Nur meine Mutter nennt mich Nathan.«

»Okay, dann also Talbot … Mal im Ernst, was machst du hier?« Ich stand immer noch wie angewurzelt zwischen der halbgeöffneten Tür und dem Wageninnern.

»Ähm, meinen Job?« Talbot deutete auf sein Cap. Das Logo mit den verschränkten Händen war auf die Vorderseite gestickt. Unter seinem offenen Flanellhemd war ein T-Shirt mit dem Aufdruck Rock Canyon Stiftung: Projekt Barmherziger Samariter zu erkennen. Wahrscheinlich hatte ihn der Typ in dem Club deswegen den Barmherzigen Samariter genannt.

Talbot klopfte auf den Beifahrersitz. »Kommst du jetzt rein oder was?«

Ich zögerte und blickte wieder zum Freizeitzentrum rüber. Von Direktor Conway oder Chris weit und breit keine Spur.

»Ich beiße nicht, Hand aufs Herz.« Talbot grinste und die Grübchen erschienen wieder auf seinen braungebrannten Wangen. »Wie gesagt: Wir müssen jetzt los, wenn wir rechtzeitig für euren Bus wieder hier sein wollen.«

Talbots Lächeln war freundlich, während er mit mir sprach. Dieses wogende Gefühl angenehm-warmer Vertrautheit durchfuhr mich erneut. Was hatte er bloß an sich? Eigentlich war er noch immer ein Fremder für mich. Dennoch hatte er etwas an sich, das mir das Gefühl gab, wir seien alte Freunde. Du kannst ihm vertrauen, flüsterte eine leise Stimme in meinem Kopf.

»In Ordnung.« Ich kletterte in den Wagen und ließ mich auf den Beifahrersitz fallen. Dann blickte ich ein letztes Mal zurück zum Eingang des Freizeitzentrums. Direktor Conway würde sicher kapieren, dass ich mit dem letzten Van losgefahren war, wenn er zurückkam und mich nicht mehr antraf.

»Wo ist denn dein Partner?«, fragte Talbot.

»Er ist abgehauen und wollte zu einer Spielhalle da unten an der Straße.«

»Gut«, sagte Talbot. Mit seinen großen, sonnengebräunten Händen steuerte er den Van vom Bürgersteig weg und über den Parkplatz. »Ich kann es nicht ausstehen, wenn ich hier Kids zugewiesen kriege, die gar keine Lust auf die Arbeit haben.« Seine grünen Augen blickten zu mir herüber. »Du bist aber voll dabei, oder?«

»Na, klar.« Während wir vom Parkplatz auf die Straße fuhren, schnallte ich mich an. »Äh … und du verfolgst mich nicht oder so was?«

»Bist du vielleicht ein bisschen egozentrisch?« Talbot kicherte.

Der Klang seines Lachens ließ wieder diese warmen Wellen durch meinen Körper strömen. Ich bekam Gänsehaut.

»Ich sollte dich das wohl fragen, was?«, sagte Talbot. »Klopfst du demnächst an meine Zimmertür im Wohnheim?«

Ich wurde rot. »Nein, ähm, es ist nur seltsam, dich wiederzutreffen.«

Talbot blieb an einer roten Ampel stehen. »Gruselig seltsam oder angenehm seltsam?«

Er lächelte mich wieder an. Seine Grübchen traten deutlich hervor. Wieso fühlte ich mich in seiner Anwesenheit so, als hätte ich mich an einem kalten Winterabend in eine warme Decke gekuschelt? Und weshalb war dieses Gefühl tröstlich und gleichzeitig verstörend? Ich blickte zur Seite, damit er die Röte in meinem Gesicht nicht sehen konnte. »Angenehm seltsam, schätze ich mal.«

Talbot setzte den Blinker und lenkte den Van auf die Schnellstraße. Wir fuhren in Richtung Innenstadt. Angesichts der Möglichkeit, vielleicht nach Jude Ausschau halten zu können, überkam mich ein Anflug gespannter Erwartung.

»Du hast mir übrigens eine Menge Arbeit erspart«, sagte Talbot.

»Inwiefern?«

»Na, jetzt muss ich nicht nach deiner Telefonnummer suchen. Aber so viele Divines wird’s ja da draußen auch nicht geben.«

Mist, jetzt errötete ich noch mehr. Was war bloß los mit mir? »Du wolltest meine Nummer rauskriegen?«

»Deine Freundin hat im Club ihr Armband verloren. Ich dachte mir, dass sie es gern zurück hätte. Aber sie hat mir ihren Nachnamen nicht genannt. Deinen konnte ich mir allerdings leicht merken. Ich hab das Armband da hinten in meinem Rucksack. Erinnere mich daran, bevor du nachher wieder fährst.«

»Oh, okay.« Eine gewisse Erleichterung dämpfte das Glühen meiner Wangen. Natürlich hatte er mich nicht meinetwegen anrufen wollen. »Wo fahren wir eigentlich hin?«

»Ich hab da ungefähr zwanzig Kisten mit gespendeten Büchern im Wagen. Wir bringen sie zur Leihbücherei in der Tidwell Street. Die meisten Bücher dort sind so alt, dass sie schon vor zehn Jahren auseinandergefallen sind.«

»Das ist alles?«

»Wie, ist das nicht aufregend genug?«

»Ich weiß nicht. Ich hab wohl mehr praktische Arbeit erwartet. Ich verstehe nicht wirklich, wieso ich dabei helfen soll, ein paar Bücher auszuliefern.«

»Du bist hier, weil ich dir die Feinheiten beibringen soll, wenn’s darum geht, anderen zu helfen. Wohltätigkeitsarbeit ist oft nichts Außergewöhnliches. Klar, manchmal bekommen wir den Auftrag, Essen an Bedürftige zu verteilen oder am Wochenende bei einem Hausbau mitzuhelfen. Aber die Hälfte meines Jobs besteht aus Lieferfahrten.« Er richtete seine Mütze. »Aber mach dir keine Sorgen, wir werden schon noch ganz praktische Arbeit machen müssen.«

Obwohl mein Gesicht jetzt noch heißer wurde, blickte ich ihn erstaunt an.

»Was?« Er grinste. »Du hast doch wohl keine Angst, dir die Hände schmutzig zu machen? Denn wenn du zu diesen Kids gehörst, die sich vor Obdachlosen ekeln oder Angst haben, sich beim Hämmern einen Fingernagel abzubrechen, dann sollte ich besser direkt umkehren und um eine andere Partnerin oder einen Partner bitten.«

»Wie bitte? Nein. Also erst mal: Ich bin kein Kind mehr. Ich werde in drei Monaten achtzehn. Und ich fürchte mich ganz bestimmt nicht davor, mir die Hände schmutzig zu machen.« Ich weiß nicht wieso, aber plötzlich verspürte ich das Bedürfnis, mich Talbot gegenüber zu rechtfertigen – mich irgendwie zu beweisen oder so was. Vielleicht lag es daran, dass Gabriel nach unserer ersten Begegnung so viele Vermutungen über mich angestellt hatte und ich nicht wollte, dass Talbot dasselbe tat. »Wohltätigkeitsarbeit ist mir durchaus nicht fremd. Mein Vater ist Pastor. Wir haben solche Sachen die ganze Zeit gemacht. Weißt du eigentlich, wie viele Stunden ich damit verbracht habe, Essen auszuliefern und im Obdachlosenheim auszuhelfen?«

»Verbracht habe? Warum sagst du verbracht habe?«

Ich starrte aus dem Fenster und beobachtete die Fußgänger auf der Straße. Wir waren jetzt in der Innenstadt, deshalb wollte ich Ausschau nach Leuten halten, die vielleicht wie Jude aussahen. »Die Dinge waren in letzter Zeit nicht so einfach. Es ist eine Weile her, dass ich was Besonderes für jemanden getan habe.«

»Tja, jetzt bekommst du deine Chance.« Talbot stoppte auf einem ausschließlich für Lieferungen vorgesehenen Parkplatz vor der Bücherei. Wir stiegen aus und trafen uns wieder an der Rückseite des Wagens.

Die Tidwell Leihbücherei lag nur ein paar Blocks von der Markham Street und dem Depot entfernt. Ich sah mir aufmerksam die Gesichter aller Leute in der Straße an. Ich wusste, dass Jude vielleicht irgendwo in der Nähe sein könnte. Wenn diese Straße der Markham Street ähnelte, dann wäre die Gegend spätestens bei Sonnenuntergang menschenleer.

Talbot öffnete die Heckklappe des Vans. »Na komm, lass uns anfangen.«

Ich zog eine Kiste aus dem Wagen und wäre angesichts der Schwere dieses Dings fast zusammengebrochen, doch es gelang mir, mein Gleichgewicht wiederzufinden. Ich sah zu Talbot rüber. Er hatte drei dieser Kisten auf dem Arm.

»Na komm schon, das kannst du doch besser, Kiddo«, sagte er mit leichter Betonung des letzten Wortes, die mich anscheinend antreiben sollte.

»Klar, sicher.«

Ich dachte, es würde ungefähr eine Million Jahre dauern, bis wir diese ganzen Kisten in die Bücherei geschleppt hätten. Aber während ich eine Kiste pro Tour hineintrug, hatte Talbot jedes Mal sechs Kisten auf dem Arm. Es gefiel mir nicht, in seinem Beisein schwächlich zu wirken; und schließlich war ich so angewidert von mir selbst, dass ich einen Kraftschub mobilisierte, der mir half, bei der letzten Tour zwei Kisten hineinzutragen. Als mir klar wurde, wie viel einfacher das war, wünschte ich mir, es gleich von Beginn an so gemacht zu haben. Doch vermutlich wollte ich wirklich nicht, dass Talbot meine für ein Mädchen überproportional starke Körperkraft bemerkte.

»So ist’s schon besser«, sagte Talbot, als er mir beim Herauskommen die Tür offen hielt. Ich trug die beiden letzten Kisten zum Informationstresen und überließ sie dem Bibliothekar.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich energisch, als ich zum Auto zurückkam.

»Ich weiß nicht, wozu unsere Zeit noch reichen könnte, Kiddo.« Talbot nahm sein Cap ab. Sein welliges braunes Haar klebte am Kopf und ließ ihn jetzt selbst wie ein Kind wirken. Er hob die Hand, um sich die Haare aufzulockern, ließ jedoch plötzlich seine Mütze fallen und wirbelte herum. »Hast du das gehört?«

»Was gehört?«

Ich konzentrierte mich genau und hielt meinen Atem an, bis ich diesen stechenden Schmerz in den Augen spürte. Dann hörte ich es auch: der Schrei einer Frau. Er klang so nah, dass ich vermutete, sie müsse sich nur ein paar Meter von uns entfernt befinden. Doch die Straße war dunkel und abgesehen von Talbot und mir völlig leer. Der Schrei konnte auch von ein paar Blocks weiter entfernt gekommen sein.

»Los!«, sagte Talbot. »Wir müssen helfen.«

»Was? Nein. Wir sollten die Polizei rufen!« Ich griff nach dem Handy in meiner Tasche.

Der Schrei ertönte ein weiteres Mal, wurde aber plötzlich erstickt, so als hätte jemand der Frau den Mund zugehalten. Meine Muskeln loderten.

»Dazu bleibt keine Zeit.« Talbot packte mein Handgelenk. »Die Polizei kann ihr nicht helfen, aber du kannst es.«

»Ich?«

Talbot ließ meinen Arm los. »Ich gehe.« Er warf mir die Autoschlüssel zu. »Schließ dich im Wagen ein, wenn du zu viel Angst hast.« Er lief in Richtung der Schreie davon.

»Warte!«, rief ich ihm nach. »Du könntest umgebracht werden!«

»Nicht, wenn du mich deckst!«, brüllte er zurück.

Was zum Teufel meinte er damit? Ich blickte auf die Schlüssel in meiner Hand. Ich hatte sie mitten in der Luft aufgefangen, ohne mir wirklich darüber bewusst zu sein. Als ich wieder aufsah, war Talbot bereits um die Ecke verschwunden.

»Mist, er wird bestimmt umgebracht«, sagte ich zu mir selbst. Die Anspannung in meinen Muskeln brannte wie Feuer. Mein Körper wollte irgendetwas tun, wenngleich mir mein Verstand zurief, bloß zu bleiben, wo ich war.

Dann wurde der Himmel von einer Explosion zerrissen. Ein Schuss!

Los!, brüllte mich eine fremde Stimme in meinem Kopf an. Ich lief los. Innerhalb von Sekunden rannte ich um die Ecke, hinter der Talbot verschwunden war. Dort stieß ich frontal mit einer Frau zusammen, die mir entgegenkam. Ihr Gesicht war tränenüberströmt und sie hielt ihr zerrissenes T-Shirt vor der Brust zusammen.

»Tut mir leid. Sind Sie in Ordnung?« Ich versuchte, nach ihrem Arm zu fassen, doch sie entzog sich meiner Berührung.

»Hauen Sie ab!«, schrie sie und rannte weiter.

Doch ich konnte nicht ohne Talbot gehen. Ich lief ein paar Schritte weiter und verharrte plötzlich reglos vor der Szene direkt vor mir. Drei Typen. Zwei in schwarzen Klamotten, mit hellroten Skimasken. An ihrem schmächtigen Körperbau konnte ich erkennen, dass sie vermutlich Teenager waren. Die dritte Person war Talbot. Einer der Skimasken-Typen hatte ihn gegen eine Hauswand gedrängt und hielt eine Waffe an seinen Kopf gepresst – der Pistolenlauf verlor sich im Gewirr der Haare unter Talbots Mütze.

Ich versuchte nicht zu schreien. Wirklich. So gut es ging, schluckte ich den Schrei herunter, doch ein fiepsiger Protestruf war meiner Kehle entschlüpft. Zu spät schlug ich mir die Hände vor den Mund.

Der Typ presste seine Hand gegen Talbots Brustbein und drückte ihn fester an die Wand. Er deutete in meine Richtung. »Wir haben Besuch.«

Der zweite Typ drehte sich zu mir um. Sein Gesicht bestand nur aus den beiden dunklen Augen, die mich durch den Schlitz der roten Skimaske fixierten.

»Bring sie her«, kommandierte der Typ mit der Waffe.

Der andere Kerl kam einen Schritt auf mich zu.

»Tu was, Grace!«, rief Talbot.

Der Typ machte einen zweiten und einen dritten Schritt in meine Richtung.

Tu was? Wegrennen? Ich war wie am Boden festgefroren. Allerdings war ich alles andere als gefroren: Jede Zelle meines Körpers brannte unter der Haut wie ein Feuerwerk am 4. Juli.

Der Mann musste nur noch ein halbes Dutzend Schritte machen, um mich zu erreichen, doch noch immer konnte ich mich nicht rühren. Mein Magen verkrampfte sich zu einem glühenden Knoten.

»Verdammt, Grace!«, rief Talbot. »Tu was. Ich weiß, dass du es kannst.«

»Was denn?«, rief ich zurück.

»Das Gefühl in deinem Bauch. Das ist Wut. Das ist Kraft. Pack sie dir und mach den Kerl fertig!«

Wie konnte er wissen …?

»Halt’s Maul.« Der erste Typ schlug Talbot die Waffe über den Kopf. Ein rotes Rinnsal lief an Talbots Stirn hinab.

»Schnapp dir das Mädchen! Jetzt!«, befahl der Typ seinem Kumpel.

Talbot hatte recht. Der Knoten in meinem Bauch hatte sich in flammende Wut verwandelt. Daniel hätte mir geraten, sie zurückzudrängen. Meine Balance wiederzufinden. Doch als der große maskierte Gangster auf mich zustürzte, ließ ich mich von dieser Woge aus Wut überspülen und meine Fäuste bekamen Flügel. Ich schlug ihm in die Weichteile, er segelte ein paar Meter nach hinten. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass ich zu so harten Schlägen überhaupt fähig war.

Der Typ knallte vor die Ziegelmauer des angrenzenden Gebäudes, doch das schien ihn nicht aus der Fassung zu bringen. Er rappelte sich wieder auf und stürmte auf mich zu. Ich sprang zur Seite. Er wirbelte herum und grabschte nach meinem T-Shirt. Zwischen den Fingerknöcheln der einen Hand hatte er die Buchstaben S und K tätowiert. Der Kerl stank, und der Geruch nach geronnener Milch reizte mich umso mehr. Ich packte seine Handgelenke und verdrehte sie zur Seite, zog dann seinen Körper an den Armen dicht zu mir herunter und rammte ihm mein Knie in den Unterleib. Er grunzte vor Schmerzen. Die Zunge hing ihm aus dem Mund. Ich stieß ihn weg, er stolperte zurück. Noch während er schwankte, trat ich ihm vor die linke Kniescheibe. Er brach unter seinem eigenen Gewicht zusammen und stürzte zu Boden. Mit geballten Fäusten starrte ich auf ihn hinunter.

»Hey!«, brüllte der Typ mit der Waffe. »Dafür wirst du bezahlen.«

Pass auf!, hörte ich die Stimme in meinem Kopf. Ich blickte zu dem Fiesling auf und sah, dass er den Lauf der Waffe auf mich gerichtet hatte.

»Nein!«, schrie Talbot. Mit einer blitzschnellen Bewegung befreite er sich aus dem Griff des Typen und hatte plötzlich die Hand gepackt, in der dieser die Waffe hielt. Talbot riss den Arm des Kerls nach unten und rammte ihn vor sein Knie. Ich könnte schwören, dass ich seine Knochen brechen hörte.

Der Typ ließ die Waffe fallen und zog stöhnend den Arm zur Brust. Mit seinem unverletzten Arm holte er aus und versuchte, Talbot einen Schlag zu versetzen. Talbot wehrte den Angriff ab und stieß seine Handfläche mit voller Wucht in die Skimaske des Kerls, dorthin, wo vermutlich die Nase war.

Der Typ keuchte und fing an zu husten. »Hey Mann, was zum Teufel …« Er japste nach Luft und fasste nach seiner Skimaske. Bevor er sie herunterreißen konnte, machte Talbot einen Satz nach hinten, stieß sich von der Betonmauer ab, als wäre sie ein Sprungbrett, segelte durch die Luft und rammte seinen Fuß direkt in die Brust des Typen.

Der Kerl sackte zusammengekrümmt zu Boden. Talbot landete in geduckter Haltung neben ihm. In der schummrigen Gasse war gerade noch genügend Licht, sodass ich Talbots grüne Augen funkeln sah. Sie wirkten wie schillernde Smaragde.

Ich rang nach Luft. »Du bist ein … Du bist ein …«

»Urbat.« Talbot richtete sich auf. Er kam zu mir herüber und legte seine warme, schwielige Hand auf meinen Arm. »Genau wie du.«

Zurück im Van

 

Der Ganove, den ich niedergeschlagen hatte, war während des Gefechts abgehauen. Talbot wollte sichergehen, dass der andere Typ nicht entkommen konnte, wenn er wieder zu Bewusstsein käme. Ich beobachtete, wie sich die großen Muskeln in Talbots Unterarmen wellten, während er seinen Gürtel benutzte, um den Kerl neben dem Abfallcontainer zu fesseln. Er ging so geschickt vor, dass ich mir bildlich vorstellen konnte, wie er auf irgendeiner Farm, von der er vermutlich kam, Kälber mit dem Lasso einfing.

Dann entfernte Talbot die Patronen aus der Waffe und stopfte sie sich in die Tasche seines Flanellhemds. Mit dem Hemdzipfel wischte er über die Waffe und warf sie neben den Kopf des halb bewusstlosen Typen. »Beweismaterial«, sagte er.

»Soll ich jetzt die Polizei rufen?« Ich holte mein Handy hervor.

»Lass mich das machen«, erwiderte Talbot. »Ich habe ein Prepaid-Handy, das werden sie nicht überprüfen können.«

»Du meinst also, wir bleiben nicht hier?«

»Was sollten wir der Polizei dann erzählen? Außerdem muss ich dich zu deinem Bus zurückbringen, bevor sie noch glauben, ich wäre mit dir durchgebrannt. Ich kann’s mir nicht leisten, diesen Job zu verlieren.« Er zog das Handy aus der Tasche und machte mir ein Zeichen, ihm aus der Gasse herauszufolgen.

»Lassen wir ihn da einfach so liegen?« Ich sah zurück zu dem Typen, der auf der Seite lag und vor Schmerzen stöhnte. »Ist das nicht ziemlich unmenschlich?«

»Der Kerl hat versucht, dich umzubringen, Grace.« Er klappte sein Handy auf. »Und außerdem ist er nicht menschlich. Das da nennt man einen Dämon.«

Zuerst dachte ich, er hätte das metaphorisch gemeint, doch dann machte es Klick. »Ein Dämon? Ein lebendiger, atmender, waschechter Dämon?«

»Wie? Erzähl mir bloß nicht, dass du noch nie einen gesehen hast?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nein, nicht wirklich. Ich hab mal einen auf einer Party getroffen, eine Frau. Sie machte mit ihren Augen so einen Trick, um in mein Bewusstsein zu dringen.«

»Ah, ein Akh. Die sind echt schlimm.« Er schnalzte mit der Zunge. »Der hier ist ein Gelal. Sie machen Jagd auf junge Frauen. Dieses Mädchen wäre durch mehrere Höllen gegangen, wenn wir nicht aufgekreuzt wären.«

»Woher weißt du das?«, fragte ich. Dieser Widerling erschien mir noch immer wie ein gewöhnlicher Mensch. Es reizte mich, zu ihm rüberzugehen und seine Maske abzunehmen, damit ich sehen konnte, wie er darunter eigentlich aussah.

»Der Geruch.« Talbot rümpfte die Nase. »Du bist echt noch eine Anfängerin, oder? Ich wette, dass du noch nicht mal weißt, wie man jemanden wittert.«

Ich blickte zu dem Typen hinüber. Der maskierte Dämon stieß ein lautes, wütendes Grunzen aus.

»Wir gehen jetzt besser«, meinte Talbot. »Ich hoffe nur, dass die Polizei kommt, bevor er sich wieder befreien kann.« Dann drückte er eine Taste auf dem Handy und hielt es an sein Ohr.

»Du hast 911 als Kurzwahl eingespeichert?«

»Ich hab doch gesagt, dass ich eine Menge Lieferungen tätige.«

Nun verließen wir die Gasse. »Warte mal, soll das heißen, dass du so was öfter machst?«

Talbot antwortete nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, der Person am anderen Ende der Leitung zu erklären, dass eine junge Frau in der Nähe der Tidwell Bücherei überfallen worden war und dass die Polizei den Täter hinter einem Abfallcontainer an der Ecke Tidwell und Vine finden könnte. Er legte auf, bevor sie ihm weitere Fragen stellen konnten. »Hast du noch die Schlüssel?«

»Ähm, ja, hoffe ich doch.« Ich klopfte meine Taschen ab und fand die Schlüssel.

Talbot schloss die Beifahrertür auf und öffnete sie für mich. Irgendwann, zwischen dem Augenblick, in dem er meine Tür schloss, und dem Moment, in dem er in den Wagen stieg, wurde mir plötzlich schockartig klar, was da gerade passiert war. Meine Hände zitterten so stark, dass ich kaum den Gurt anlegen konnte.

»Bist du okay?«, fragte Talbot. »Du hast da eben ja eine tolle Vorstellung geliefert. Genauso, wie ich’s vermutet habe.«

»Aber woher … woher wusstest du, dass ich überhaupt etwas tun konnte? Woher weißt du, was ich bin?« Ich hatte ihn das schon einmal gefragt, aber er hatte sich zunächst um den Typen mit der Waffe kümmern wollen. Jetzt wollte ich Antworten.

»Dein Anhänger.« Talbot streckte die Hand aus und berührte den rissigen Mondsteinanhänger, der an meinem Hals baumelte. »Ein verräterisches Zeichen, wenn du mal darüber nachdenkst.« Als er die Hand zurückzog, berührten seine Finger eine Haarsträhne an meinem Hals. »Und ich hab dich da im Depot kämpfen sehen. Die meisten Mädchen könnten so einen großen Kerl nicht mit einem Roundhouse-Kick erledigen, sofern sie nicht über ein paar übernatürliche Kräfte verfügten.« Er rümpfte die Nase. »Außerdem riechst du auch.«

»Wie bitte?« Ich roch an meinen Armen. Ich fand, dass ich völlig normal roch. Okay, vielleicht etwas verschwitzt von dem Kampf, aber ganz und gar nicht wie diese Typen in der kleinen Gasse.

Talbot lachte. Auf seinen Wangen waren wieder die Grübchen erkennbar.

»Du Blödmann!« Spielerisch boxte ich vor seinen Arm.

Er fasste nach meiner Hand. »Hey, vorsichtig, Kiddo. Dein rechter Haken ist echt gemein.«

Talbots Hand, die meine Faust umklammert hielt, kam mir vergleichsweise riesig vor. Ich konnte die Adern und Sehnen darauf erkennen. Er drückte meine Finger zusammen, und ein Schub kribbelnder Energie lief durch meinen Arm und an meiner Wirbelsäule hinab. Es war so wie diese Verbindung, die zwischen mir und Daniel bestanden hatte, als wir uns zum ersten Mal im Garten der Engel an den Händen gehalten hatten. Das kribbelnde Gefühl verwandelte sich in einen Schauder. Ich zog die Hand aus Talbots Griff. Es war nicht richtig, diesen Energiefluss mit jemand anderem als Daniel zu teilen.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Talbot wandte den Blick von meinem Gesicht ab. Er räusperte sich, startete den Van und wir verließen den Parkplatz der Bücherei.

Nach einem Augenblick der Stille stellte ich die Frage, die an mir nagte. »Wenn diese Typen richtige Dämonen waren, wozu brauchten sie dann eine Waffe?«

Talbot zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, Grace, aber es macht mir Sorgen. Die Gelals kriechen normalerweise erst weit nach Mitternacht aus ihren Löchern. Sie leben ausschließlich nachts, verstehst du? Außerdem ist es sehr verwunderlich, dass sie überhaupt hier in der City waren. Das war bereits das dritte Paar, das mir in den letzten zwei Monaten über den Weg gelaufen ist. Davor bin ich nicht mal einem begegnet, seitdem ich zuletzt an der Westküste war.« Er schüttelte den Kopf. »Irgendwas ist hier im Gange. Normalerweise brauchte ich Monate, um sie aufzuspüren, bevor einer von ihnen sein Versteck verließ. Jetzt scheint es in der City nur so von ihnen zu wimmeln. Darüber hinaus habe ich Gerüchte gehört, dass irgendjemand Werwölfe, Gelals, Akhs und alle möglichen anderen Teenager mit übersinnlichen Fähigkeiten um sich versammelt und sie zu einer Art Gang vereinigen will. Anscheinend nennen sie sich die Shadow Kings.«

»Eine Gang von Leuten mit übersinnlichen Fähigkeiten?«

»Hast du von diesen ›unsichtbaren Gangstern‹ gehört, von denen die ganze Zeit in den Nachrichten geredet wird?«

Ich nickte.

»Glaubst du vielleicht, dass normale Menschen dahinterstecken?«

»Nein. Ganz und gar nicht«, erwiderte ich. »Sie haben einen Lebensmittelmarkt in meinem Vorort überfallen und den ganzen Laden in weniger als fünf Minuten auseinandergenommen. Mein … Freund und ich vermuten schon die ganze Zeit, dass eine Gang von Teenagern mit Superkräften dafür verantwortlich ist. Und ich glaube, dass mein Bruder vielleicht zu ihnen gehört. Zu meiner Freundin April sagte er etwas über eine neue Familie, die er gefunden hätte.«

Talbots Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Dein Bruder ist so wie du?«

»So in der Art.« Ich wusste nicht, was ich Talbot erzählen sollte. Schließlich kannten wir uns gerade mal ein paar Stunden – auch wenn er mir in diesen paar Stunden zweimal das Leben gerettet hatte. Doch er war die einzige mir bekannte Person, die so war wie ich. Jemand, der über Kräfte verfügte und sie tatsächlich auch zum Guten einsetzen wollte. Zumindest ausgehend von dem, was ich erlebt hatte. Du kannst ihm vertrauen, flüsterte die Stimme in meinem Kopf. »Jude hat sich komplett in einen Werwolf verwandelt. Ich nicht. Er hat mich bei seiner ersten Verwandlung gebissen und dann versucht, seinen besten Freund zu töten. Meinen, äh, Freund. Ich glaube, dass Jude deswegen von zu Hause fortgelaufen ist.« Ich stieß einen Seufzer aus. Es fühlte sich toll an, jemandem die Wahrheit zu sagen, der sie auch tatsächlich verstand.

Talbot nickte. »Wer ist denn dieser Freund, von dem du dauernd redest? Klingt, als ob dein Bruder ihn genauso wenig mag wie ich.«

Ich legte meinen Kopf schief und blickte Talbot an. Was hatte er damit gemeint?

»Tut mir leid.« Talbot warf mir ein Lächeln zu. »Ich dachte nur, dass dieser Freund ja echt was Besonderes sein muss, um ein Mädchen wie dich zu verdienen. Aber was hat er denn getan, um deinen Bruder so zu verärgern?«

»Oh, Daniel… mein Freund …« Argh. Es schien fast so, als ob diese Unterhaltung nicht mal für zehn Sekunden weitergehen konnte, ohne dass einer von uns das F-Wort benutzte. Daniel und ich mochten es nicht einmal, von Freund und Freundin zu sprechen. Es klang viel zu banal, wenn man berücksichtigte, was wir füreinander empfanden. »Daniel, mein Freu…« Ich räusperte mich. »Er war ein Werwolf. Er hat meinen Bruder vor ein paar Jahren infiziert. Mein Bruder hasst ihn jetzt abgrundtief.«

Talbot warf mir einen fragenden, wenngleich amüsierten Blick zu. Dann schüttelte er den Kopf. »Was meinst du damit, dass Daniel ein Werwolf war? Ich hatte immer den Eindruck, dass der Urbat-Zustand nichts Vorübergehendes ist.«

»Ich habe ihn geheilt.«

Talbot riss die Augen auf. Kurz bevor er eine rote Ampel überfuhr, rammte er den Fuß auf die Bremse. »Wie hast du das gemacht?«

Unglücklicherweise war ich viel zu müde, um die ganze Geschichte zu erzählen. »Der wahren Liebe erstes Töten«, ich ließ meine Hand in der Luft kreisen, »und so weiter und so fort … Es ist wirklich keine passende Geschichte für heute.«

Talbot kniff die Augen zusammen. Er lachte kurz auf und blickte mir dann ins Gesicht. »Ich glaube, Miss Grace Divine, Sie werden von Minute zu Minute interessanter.«

Als er die Worte ›Miss Grace‹ aussprach, jagte der Ton seiner Stimme mir einen weiteren Schub der warmen Vertrautheit durch den Körper. Was hatte er bloß an sich?

Die Ampel wurde grün und wir fuhren über die Kreuzung. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und sah aus dem Beifahrerfenster. »Jetzt bist du an der Reihe. Ich vermute mal, dass du das häufig machst – Dämonen aufspüren und Gangs mit übersinnlichen Fähigkeiten ausforschen. Ist dieser Barmherziger-Samariter-Job nur Fassade für deine Superhelden-Bürgerwehr-Mission?«

»Schuldig im Sinne der Anklage«, sagte er.

»Im Ernst?«

»Ich hab mich infiziert, als meine Eltern von Werwölfen getötet wurden. Hab mir geschworen, meine Kräfte einzusetzen, um die Menschheit vor den Dämonen zu beschützen und so weiter und so fort. Es ist wirklich keine passende Geschichte für heute.«

»Oh, bitte, das kannst du doch nicht machen.«

»Kann ich wohl, weil wir nämlich da sind.« Ich blickte seinem zeigenden Finger hinterher und entdeckte den hell erleuchteten Bus vor dem Freizeitzentrum. Die anderen Schüler saßen schon darin. Direktor Conway stand draußen und hielt sein Handy ans Ohr gepresst.

»Ich muss wohl los«, sagte ich. »Danke für das … äh … Abenteuer?«

»Ich bin froh, dass du dabei warst.« Talbot grinste mich an, ganz Wärme und Grübchen. »Ich bin überhaupt ziemlich froh, dass ich dich als Partnerin hatte. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn jemand anderer von deiner Schule heute mit mir unterwegs gewesen wäre. Hat doch irgendwie was Schicksalhaftes, findest du nicht?«

Ich lächelte. »Ja, sieht so aus.« Ich bediente den Türöffner und schob die Tür auf.

Gerade als ich hinausspringen wollte, sagte Talbot: »Grace?«

»Ja?« Ich drehte mich zu ihm um.

Er hielt etwas silbrig Glänzendes in der Hand. Erst dachte ich, er wolle mir ein Geschenk geben, was irgendwie seltsam, aber auch süß gewesen wäre. Doch dann sagte er: »Aprils Armband.«

»Oh.« Ich nahm das Armband aus seinen warmen Fingern. Ein winziger Papierstreifen war darumgewickelt. Ich blickte in Talbots funkelnde grüne Augen.

»Das ist für dich«, erklärte er. »Ruf mich an, wenn du irgendwas brauchst. Egal was.«

»In Ordnung.« Ich kletterte aus dem Van.

»Grüß April von mir«, sagte Talbot, bevor ich die Tür schloss.

Ich schob den Papierstreifen in meine Tasche und trottete durch die Dunkelheit auf den Bus zu. Ich fragte mich gerade, wie ich meine Verspätung am besten erklären könnte, als plötzlich direkt neben mir jemand auftauchte.

»Mann, du hast ganz schön lange gebraucht, um wieder herzukommen«, sagte Chris. Er hielt ein halbes Sandwich in der Hand und in seinen Taschen ertönte beim Gehen ein klimperndes Geräusch, anscheinend Münzen.

»Wo seid ihr beiden denn gewesen?«, fragte Direktor Conway, als er uns kommen sah. »Wir sollten bereits vor zwanzig Minuten abfahren. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, dass ihr überhaupt nicht mit einem der Wagen unterwegs gewesen seid.«

»Tut mir leid, Tom«, sagte Chris zu seinem Vater. »Ich hatte niedrigen Blutzucker und hab unseren Fahrer gebeten anzuhalten, damit ich was essen kann. Ich glaube, dieses ehrenamtliche Zeug bekommt meiner Gesundheit nicht.«

»Netter Versuch«, erwiderte Direktor Conway und ließ seinen Sohn die Stufen in den Bus hochsteigen. »Geh beim nächsten Mal ans Handy, wenn ich anrufe.«

Von der obersten Stufe des Busses sah ich zurück zum Parkplatz. Talbot ließ die Scheinwerfer an seinem Van aufleuchten. Dann fuhr er davon.