Der Himmel stürzt ein
Donnerstagnacht, Übung 82
»Du kannst es, Grace«, stieß Daniel unter heftigen Atemzügen hervor. »Du weißt, dass du es kannst.«
»Ich versuch’s ja.« Meine Hände zitterten, als ich sie zu Fäusten ballte.
Die Schmerzen der Verwandlung überraschten mich immer wieder – egal, wie vorbereitet ich mich auch glaubte. Es begann mit einem brennenden Gefühl tief in meinem Körper. Meine Muskeln zogen sich zusammen, meine Schultern erbebten und meine Beine zitterten. Mein Bizeps schien vor Anspannung zu glühen.
»Los, Grace. Lass mich jetzt nicht im Stich.«
»Halt die Klappe!«, gab ich zurück und versuchte einen weiteren Schwinger.
Daniel lachte und wich nach links aus. Mein Schlag verfehlte seinen Boxhandschuh komplett.
Ich stolperte vorwärts, doch Daniel fing mich auf, bevor ich hinfiel, und stieß mich zurück. Ich fletschte die Zähne und schwankte rückwärts über den Rasen. Ich sollte viel beweglicher sein! »Hör auf, so herumzuspringen.«
»Dein Gegner«, keuchte Daniel, »wird nicht einfach nur dastehen und sich von dir schlagen lassen.« Er hielt seine Boxhandschuhe auf Gesichtshöhe und wartete auf einen neuen Angriff.
»Wäre aber besser für ihn.« Mit einer Kombination aus Haken und Gerader sprang ich nach vorn, doch Daniel fälschte meine Versuche mit seinen Handschuhen ab. Er wirbelte herum – und mein nächster Stoß ging ungebremst ins Leere.
»Gah.« Ich schüttelte den Kopf. Mein Mondsteinanhänger schlug mir vor die Brust. Er fühlte sich auf meiner bereits geröteten Haut ganz warm an.
»Deine Schläge sind viel zu intensiv. Spar dir die Energie. Kurze Stöße. Lass deinen Arm nach vorn schnappen und zieh ihn gleich wieder zurück.«
»Ich versuch’s doch.«
Der Schmerz in meinen Muskeln wurde stärker. Doch nicht vor Müdigkeit. Es waren meine Kräfte. Meine ›Fähigkeiten‹, wie Daniel sie nannte. Wann immer wir trainierten, lagen sie bereit, doch gerade eben außer Reichweite. Wenn ich nur die Feuerwand zwischen ihnen und mir hätte durchdringen können! Dann wäre es mir möglich gewesen, meine Kräfte zu fassen und sie anzuwenden. Sie zu besitzen.
Ich zuckte zusammen, als die halbmondförmige Narbe auf meinem Arm pochend aufflackerte. Ich ließ den Arm sinken und versuchte den Schmerz abzuschütteln.
»Arme hoch«, ordnete Daniel an. »Regel Nummer eins: Nie die Deckung aufgeben.« Er boxte mir leicht gegen die Schulter.
Es sollte ein spielerischer Schlag sein, doch der Schmerz in meiner Narbe durchzuckte mich wie Elektrizität. Ich blickte ihn wütend an.
»Jetzt wirst du langsam sauer«, stellte Daniel fest. Das schiefe Lächeln umspielte seine Lippen.
»Meinst du wirklich?« Ich ließ eine weitere Kombination folgen. Drei Geraden und einen Haken in Richtung seiner Boxhandschuhe. Ich spürte einen Kraftschub in meinem Körper – endlich – und der letzte Stoß kam schneller und härter als erwartet. Daniel verlor seine Deckung und meine Faust rammte gegen seine Schulter.
»Whoa!« Er wich zurück und lockerte seine Schultern. »Zügel deine Kräfte, Grace. Lass nicht deine Gefühle die Oberhand gewinnen.«
»Warum versuchst du dann, mich wütend zu machen?«
Sein schiefes Grinsen nahm einen verschlagenen Zug an. »Damit du deine Balance trainieren kannst.« Er klopfte seine Handschuhe gegeneinander und machte mir ein Zeichen, ihn erneut anzugreifen.
Ich spürte, wie mich meine Kräfte durchströmten, endlich unter meiner Kontrolle. Ich lachte und tänzelte ein paar Meter zurück. »Wie findest du diese Balance?«, fragte ich grinsend, und schneller, als ich auch nur denken konnte, wirbelte mein Körper herum und landete einen direkten Schlag gegen Daniels ausgestreckten Handschuh.
Daniel stöhnte und stolperte nach hinten. Seine Knie schwankten, gaben unter ihm nach und er taumelte rückwärts zu Boden.
»Oh nein!« Ich fasste nach ihm und ergriff seinen Arm. Ich konnte allerdings nicht mehr verhindern, dass er hinfiel, und stürzte mit ihm zusammen auf den Rasen.
Seite an Seite landeten wir im Gras. Ich war sofort wie betäubt – der Sturz hatte mir die Luft genommen; meine Kräfte hatten mich verlassen. Daniel rollte auf die Seite und stöhnte erneut. Erschrocken wurde ich mir der Realität bewusst.
»Oh je. Tut mir leid!« Ich setzte mich auf. »Das hab ich nicht gewollt. Meine Kräfte waren plötzlich da und ich … Alles in Ordnung?«
Daniels Stöhnen verwandelte sich in ein halbes Lachen. »Diese Art von Balance hab ich nicht gemeint.« Er zuckte zusammen, zog seine Boxhandschuhe ab und warf sie zur Seite.
»Im Ernst, bist du okay?«
»Jepp.« Daniel beugte sich vor und massierte seine Knie. Sie hatten ordentlich was abbekommen, als er vor knapp zehn Monaten von der Empore der Pfarrkirche gefallen war. Und da ich ihn gleich nach dem Sturz vom Fluch des Werwolfs geheilt hatte, waren seine übermenschlichen Kräfte verloren gegangen. Jetzt musste er wie jeder normale Mensch abwarten, bis seine Wunden verheilten. Obwohl er mehrere Wochen auf Krücken gegangen war und sich einer Physiotherapie unterzogen hatte, machten seine Knie noch immer große Probleme. »Einen Krüppel schlagen – was würde wohl dein Vater dazu sagen?«
»Ha-ha.« Ich schnitt eine Grimasse.
»Aber mal ganz im Ernst. Du wirst besser.« Er stöhnte wieder, legte sich ins Gras zurück und verschränkte die Arme hinterm Kopf.
»Nicht gut genug.«
Ich brauchte fast eine Stunde intensiven Trainings, bevor meine Kräfte auch nur ansatzweise spürbar waren, und wenn sie dann einsetzten, hielten sie bloß – wie lange? – vielleicht dreißig Sekunden an. Das war der Haken an meinen Fähigkeiten. Sie setzten schubweise ein, wann immer sie es wollten, und lagen völlig außerhalb meiner Kontrolle. Meine Verletzungen heilten schneller, als es bei normalen Sterblichen der Fall war. Doch noch immer war ich nicht in der Lage, diese Kräfte einfach so aus mir herauszuholen, wie Daniel es früher gekonnt hatte. Ich konnte mich nicht aus eigenem Willen heilen. Ich bekam plötzliche Ausbrüche von Kraft und Wendigkeit, als hätte mein Körper ein eigenes Bewusstsein, wie gerade eben, als ich Daniel geschlagen hatte. Aber normalerweise konnte ich nicht steuern, wann das passierte.
Nachdem Daniels Arzt ihm wieder Bewegung erlaubt hatte, begannen wir dreimal pro Woche mit dem Training – allerdings nur, wenn ich nicht gerade Hausarrest hatte. Wir fingen an zu joggen, probierten Hindernisläufe, boxten wie heute mit Handschuhen und übten, über große Distanzen zu sehen und zu hören. Obwohl ich deutlich schneller und stärker war als noch vor ein paar Monaten, schien es mir langsam, als würde ich niemals in der Lage sein – egal, wie sehr ich es auch versuchte – meine Kräfte so anzuwenden, wie ich es wollte. Stattdessen kontrollierten sie mich.
Daniel seufzte. Er zeigte zum Himmel. »Sieht so aus, als ob wir gerade rechtzeitig aufhören. Der Meteoritenschauer setzt ein.«
Ich blickte auf und sah eine Sternschnuppe über uns durch die dunkle, klare Nacht zischen. »Oh ja. Das hab ich fast vergessen.«
Daniel und ich hatten geplant, nach unserem heutigen Training den Meteoritenschauer zu verfolgen. Für ein wissenschaftliches Schulprojekt, das unsere Noten verbessern würde, sollten wir zählen, wie viele Sternschnuppen wir innerhalb von dreißig Minuten entdecken konnten.
Wie ich wusste, ärgerte sich Daniel über Direktor Conway, weil er nicht mal erwogen hatte, ihn für die Abschlussprüfung im letzten Jahr zuzulassen. In den Jahren, in denen Daniel versucht hatte, dem Fluch zu entkommen, der jeden seiner Gedanken beherrschte, hatte er einfach zu viel Unterricht verpasst. Ich hingegen war froh, dass er noch nicht zum College aufgebrochen war. Mithilfe seines Sommerunterrichts, ein paar übernommener Zusatzaufgaben und einiger Testläufe in verschiedenen Klassen würden wir im nächsten Frühjahr gemeinsam den Abschluss machen können.
»Ich mach das Licht aus«, sagte ich, nachdem ich meine Handschuhe ausgezogen hatte. Ich streckte die Finger und dehnte meinen schmerzenden Knöchel, während ich quer über den Hof von Maryanne Dukes altem Haus lief. Dann knipste ich das Verandalicht aus, schnappte mir mein Kapuzenshirt und lief zurück zum Rasen. Ich legte mir das Sweatshirt wie eine Decke über die Brust, nahm einen tiefen Atemzug von der herbstlichen Luft und ließ mich auf dem kühlen Gras neben Daniel nieder.
»Das war die sechste«, sagte ich nach einem langen Augenblick.
Daniel grunzte zustimmend.
»Wow! Hast du die gesehen?« Ich zeigte auf eine besonders helle Sternschnuppe, die funkelnd über den Himmel zog, bevor sie sich im Nichts verlor.
»Ja«, sagte Daniel leise. »Wunderschön.«
Ich blickte zu ihm. Er lag auf der Seite und sah mich an.
»Du hast ja gar nicht richtig hingeguckt«, neckte ich ihn.
»Doch, hab ich.« Daniel lächelte mich auf seine typisch spitzbübische Art an. »Sie hat sich in deinen Augen gespiegelt.« Er streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingern über meine Wange. »Eins der schönsten Dinge, die ich je gesehen habe.« Er legte mir einen Finger unter das Kinn und zog mein Gesicht näher zu sich heran.
Ich wandte den Blick von seinen tiefen, dunkelbraunen Augen ab und betrachtete die Rundung seiner Muskeln unter dem dünnen Laufshirt, das er für unser Training angezogen hatte. Dann sah ich zu seinem zottigen Haar, das über den Sommer einen hübschen, goldblonden Ton angenommen hatte – die dunkle Farbe hatte sich schließlich ausgewaschen. Ich betrachtete die Linie seines Kinns und ließ meinen Blick schließlich auf der Wölbung seines lächelnden Mundes ruhen. Es war nicht mehr das spöttische Grinsen, sondern ein Lächeln, das er sich für Momente wie diesen aufsparte. Ein Lächeln, das bedeutete, dass er wirklich glücklich war.
Er war noch immer erhitzt von unserem Boxkampf, und ich konnte spüren, wie nur ein paar Zentimeter neben mir die Wärme von seinem Körper abstrahlte. Mich zu ihm zog. Mich die kleine Lücke zwischen uns schließen lassen wollte. Ich sah wieder in seine Augen, liebte dieses Gefühl, dass ich mich auf ewig in ihnen verlieren könnte.
In Augenblicken wie diesem konnte ich manchmal kaum glauben, dass er überhaupt hier war.
Dass er noch lebte.
Dass er mir gehörte.
Ich hatte ihn einmal sterben sehen. Ihn in meinen Armen gehalten und seinem Herzschlag gelauscht, bis er verklungen war.
Es war in der Nacht geschehen, in der mein Bruder Jude dem Fluch des Werwolfs erlegen war – nur Tage, bevor er eine Nachricht auf dem Küchentisch hinterlassen hatte, in den Schneesturm hinausgegangen und verschwunden war.
In derselben Nacht, in der Jude mich mit den Kräften infiziert hatte, die mich jetzt verhöhnten.
Der Nacht, in der ich fast alles verloren hatte.
»Da ist noch eine.« Daniel lehnte sich vor und küsste mich sanft neben meinem Auge. Er führte seine Lippen über Wange und Kinn; seine köstliche Berührung durchströmte meinen ganzen Körper.
Daniels Mund traf auf meinen. Erst eine leichte Berührung, dann ein sanfter Druck. Seine Lippen öffneten sich und verschmolzen mit meinen.
Meine Beine taten weh, als ich ihn zu mir heranzog und schließlich die Lücke zwischen uns schloss.
Es war mir egal, dass wir uns auf dem Hof hinter Maryanne Dukes altem Haus befanden. Es war mir egal, dass wir eigentlich die Sternschnuppen für den Unterricht zählen sollten. Außer seiner Berührung existierte nichts anderes. Unter den fallenden Sternen gab es nur Daniel, mich und das Bett aus Gras unter uns.
Plötzlich wich er ein Stückchen zurück. »Bei dir summt’s«, flüsterte er.
»Häh?«, murmelte ich und küsste ihn.
Er rückte weiter von mir ab. »Ich glaub, das ist dein Handy.«
Jetzt bemerkte ich es auch. Das Handy in der Tasche meines Sweatshirts.
»Na, und?« Spielerisch fasste ich nach seinem T-Shirt und zog ihn wieder an mich. »Die können ja ’ne Nachricht hinterlassen.«
»Es könnte deine Mom sein«, mahnte Daniel. »Ich hab dich gerade erst wieder. Ich möchte nicht wieder zwei Wochen auf dich verzichten.«
»Verdammter Mist.«
Daniel grinste. Er fand es immer wahnsinnig komisch, wenn ich fluchte. Aber er hatte recht, zumindest was meine Mom betraf. Seitdem Jude weggegangen war, gab es bei ihr nur zwei Betriebsformen: Zombie Queen und Durchgeknallte Mama-Bär. Ihr höchstpersönliches Modell einer bipolaren Störung.
Ich war heute Abend aufgebrochen, bevor sie von Tante Carols Verabschiedung am Bahnhof zurückgekommen war. Daher wusste ich nicht, in welchem Modus sie sich gerade befand. Sollte es der superstrenge sein, könnte sie mich womöglich wieder zu Hausarrest verdonnern, wenn ich beim zweiten Klingeln nicht ans Handy ging.
Ich setzte mich auf und kramte in der Tasche meines Kapuzenshirts. Doch es war schon zu viel Zeit vergangen; der Anrufer hatte aufgelegt, bevor ich das Handy endlich fand. »Verflucht.« Es war völlig unmöglich, Daniel zwei weitere Wochen nur in der Schule sehen zu können. Ich klappte das Handy auf, um die entgangenen Anrufe zu überprüfen, und hoffte im Stillen, dass es nicht meine Mutter gewesen war. Was ich jedoch entdeckte, verwirrte mich. »Wo ist dein Handy?«, fragte ich Daniel.
»Ich hab’s drinnen gelassen. Auf meinem Bett.« Daniel gähnte. »Wieso?«
Während ich weiter auf das Display meines Handys starrte, stand ich auf. Eine dunkle Vorahnung kroch in mir hoch. Die Haare in meinem Nacken richteten sich auf und meine Muskeln verspannten sich so, wie sie es immer taten, wenn mein Körper Gefahr witterte. Das Telefon in meiner Hand fing wieder an zu klingeln. Ich ließ es fast fallen.
»Wer ruft dich denn an?«
»Du.«
Ich fummelte an dem Handy herum, dabei rutschte es mir beinahe wieder aus den Händen. Nervös drückte ich auf den Annahmeknopf und hielt das Handy ans Ohr. »Hallo?«, fragte ich vorsichtig.
Stille.
Ich sah wieder auf das Display, um mich zu vergewissern, dass ich den Anruf auch angenommen und nicht versehentlich den falschen Knopf gedrückt hatte. Dann brachte ich das Telefon wieder an mein Ohr. »Äh, hallo?«
Immer noch nichts.
Ich sah zu Daniel und zuckte mit den Achseln. »Muss wohl irgendeine Fehlschaltung sein.« Ich wollte gerade auflegen, als ich etwas in der Leitung hörte. Es hörte sich wie eine Hand an, die den Hörer bedeckte.
»Hallo?« Meine Haut kribbelte. Eine Gänsehaut überlief meine Arme. »Wer ist da?«
»Sie sind hinter dir her«, sagte eine gedämpfte Stimme. »Du bist in Gefahr. Ihr seid alle in Gefahr. Du kannst sie nicht aufhalten.«
»Wer ist denn da?«, fragte ich erneut. Ähnlich der Spannung in meinen Muskeln wurde meine Panik größer. »Wie kommen Sie an Daniels Telefon?«
»Vertrau ihm nicht«, sagte die Stimme zitternd. »Er lässt dich glauben, dass du ihm vertrauen kannst. Aber das kannst du nicht.«
Daniel griff nach dem Handy, doch ich entzog mich ihm.
»Wovon reden Sie überhaupt?«, fragte ich.
»Du kannst ihm nicht vertrauen.« Die Stimme schien plötzlich deutlicher, als ob sich die Hand nicht mehr über dem Hörer befand – und ihre Vertrautheit ließ mir fast das Herz stehen bleiben. »Bitte, Gracie, glaub mir dieses eine Mal. Ihr seid alle in Gefahr. Du musst wissen, dass …« Die Stimme erstarb mit einem klappernden Geräusch, als hätte jemand das Telefon fallen gelassen.
Dann war die Leitung tot.
»Jude!«, schrie ich in mein Handy.
Ungefähr zehn Sekunden später
»Warte!«, rief Daniel mir nach, während er sich vom Boden aufzurappeln versuchte.
Doch ich hatte bereits die Taste gedrückt, um Daniels Handy zurückzurufen, und war schon vom Rasen zur hinteren Veranda gelaufen, bevor es auch nur zu klingeln anfing. Undeutlich konnte ich hören, wie von seinem Handy in der Kellerwohnung von Maryanne Dukes altem Haus eine Metal-Version der ›Mondscheinsonate‹ ertönte. Ich verspürte einen Schub übernatürlicher Schnelligkeit. Innerhalb von Sekunden war ich um das Haus herumgelaufen und stürmte die Betonstufen hinunter, die zu seiner Wohnung führten.
Die alte gelbe Tür stand halb offen. Meine Handflächen wurden plötzlich feucht. Normalerweise achtete Daniel sehr darauf, dass seine Tür verschlossen war. Die Angeln quietschten, als ich die Tür etwas weiter aufstieß.
»Jude?«, rief ich in die kleine Wohnung hinein. Das Handy hatte zu klingeln aufgehört und die Wohnung war dunkel. Ich konnte ein Paar von Daniels Chucks neben einem unordentlichen Haufen schmutziger Wäsche auf dem Boden erkennen. Das Bettsofa war ausgeklappt, doch die Bettdecke fehlte und die dünne Matratze war nur halbwegs von den Laken bedeckt.
»Grace, warte mal.« Daniel erschien oben an der Treppe. »Vielleicht ist das am Telefon gar nicht dein Bruder gewesen.«
»Er war es. Ich würde seine Stimme immer wiedererkennen.« Es war mir, unter Androhung der Todesstrafe, von meinem Vater verboten worden, Daniels Wohnung in seinem Beisein zu betreten. Ich machte trotzdem einen Schritt in das Apartment hinein. »Jude, bist du hier?«
»Das hab ich nicht gemeint.« Daniel hinkte die Stufen herunter. »Ich meinte, dass Jude vielleicht nicht dein Bruder war, als er angerufen hat. Vielleicht stand er unter dem Einfluss des Wolfs.«
Wieder einmal hatte Daniel nicht ganz unrecht. Ich zitterte bei dem Gedanken an die Dinge, die Jude bereits zuvor unter dem Einfluss des Wolfs getan hatte. Wie um die Erinnerungen zu unterstreichen, zwickte die halbmondförmige Narbe an meinem Arm. Dennoch, wenn Jude hier war, musste ich es wissen. Mein Herz schlug schneller, als ich die Wohnung betrat.
»Jude?« Ich drückte ein paarmal auf den Lichtschalter. Nichts geschah.
Meine Schritte passten sich meinem Herzschlag an, während ich weiter in den dunklen Raum hineinging. Eine düstere Vorahnung bemächtigte sich meiner Muskeln und prickelnder Schmerz durchfuhr meine Sehnen. Mein Körper schien sich auf etwas vorzubereiten. Flucht oder Kampf.
Ich trat neben das Sofa und suchte zwischen den zerknitterten Laken nach dem Handy, das Daniel angeblich hier liegen gelassen hatte. Daniel öffnete währenddessen die Tür zum Badezimmer und inspizierte vorsichtig den kleinen Raum. Ich hörte, wie er das Spiegelschränkchen auf- und zumachte, dann das Rascheln des Duschvorhangs.
Der kribbelnde Schmerz breitete sich bis zu meinen Fingerspitzen aus und ich verkrampfte die Hand um mein Telefon. Dann drückte ich noch mal die Wiederholungstaste. Ich konnte das Klingeln in meinem Handy hören, bevor der metallene Ton von Daniels Telefon einsetzte. Das Geräusch war erst leise, klang aber dann lauter und näher.
Instinktiv wirbelte mein Körper zu dem Klingelton herum. Ich fand mich in geduckter Stellung wieder, bereit zum Angriff. Ein leises Knurren entfuhr meinen Lippen.
»Wow, Gracie!« Daniel stand vor mir. Er hatte die Hände zur Verteidigung hochgehoben. Mit einer Hand hielt er sein Handy umklammert. »Ich bin’s nur. Ich hab mein Handy in der Dusche gefunden.«
Ich stürzte nach vorn und schlang meine Arme um ihn. »Heilige Sch…, ich dachte du wärst … du wärst …« Ich versuchte zu Atem zu kommen, presste den Mondsteinanhänger gegen meine Brust und ließ die Angst langsam aus meinem Körper hinausfließen. Ich weiß nicht, was ich hinter mir erwartet hatte. Einen Werwolf mit einem Handy zwischen den Klauen? Plötzlich kam ich mir ziemlich albern vor.
»Schon in Ordnung.« Daniel strich mit den Fingern durch mein Haar. »Es ist niemand hier.«
»Aber irgendjemand war hier«, erwiderte ich. »Falls du nicht die Angewohnheit hast, unter der Dusche zu telefonieren.«
»Versuch, deine Kräfte zu benutzen. Sie können dir sagen, ob es Jude war«, sagte Daniel. »Setz deine Sinne ein, so wie ich es dir gezeigt habe.«
Ich hatte zwar nicht viel Hoffnung, dass es funktionierte, doch ich nahm einen tiefen Atemzug, behielt die Luft hinten in der Kehle und versuchte, sie in meine Sinne eindringen zu lassen, so wie es mir Daniel in den letzten Monaten bestimmt zwei Dutzend Male gezeigt hatte. Ich musste die Luft auf Spuren meines Bruders überprüfen und neben Daniels Mandelduft und dem scharfen Geruch nach Ölfarbe, der seine Wohnung immer durchdrang, einen bekannten Duft oder Geschmack herausfiltern.
Mit einem langen, frustrierten Hauch atmete ich schließlich aus. Daniel blickte mich voller Hoffnung an. Ich schüttelte den Kopf. Wieder einmal hatte ich versagt.
»Das ist in Ordnung«, meinte Daniel. »Es wird schon noch kommen. Es braucht bloß Zeit.« Das sagte er immer.
»Ja, ich weiß.« Ich hoffte, dass er nun nicht wieder davon anfangen würde, wie viel Balance vonnöten war, wie gut ich es bis jetzt schon machte und wie viele Jahre die meisten Urbats brauchten, um ihre Fähigkeiten zu entwickeln. »Ich kann mich übrigens gar nicht mehr erinnern, wie mein Bruder riecht. Und geschmeckt hab ich ihn ganz sicher noch nie.«
Daniel lächelte. Vortrag abgewendet.
Ich nahm sein Handy und suchte es mit meinen menschlichen Augen nach Spuren ab. Das Gehäuse war zersprungen, als wäre das Handy hingefallen. Ich war überrascht, dass es überhaupt noch funktionierte. Ich überprüfte Zeit und Telefonnummer des letzten Anrufs, der von diesem Telefon gemacht worden war. »Er hat mich definitiv von diesem Handy angerufen.« Ich schauderte. »Er war hier drinnen, während wir draußen waren.«
»Was hat er gesagt?«, fragte Daniel.
»Er sagte, ich sei in Gefahr. Dass wir alle in Gefahr seien. Er sagte, dass ›sie hinter mir her seien‹ und dass ich sie nicht aufhalten könne. Und dann sagte er noch, dass ich jemandem nicht trauen könne …« Ich biss mir auf die Lippe. »Ich weiß nicht, aber ich glaube, er meinte dich.«
Daniel verschränkte die Arme vor der Brust. »Klingt, als hätten sich seine Gefühle mir gegenüber nicht verändert.« Ein sorgenvoller Ausdruck trat in seine dunklen braunen Augen.
Ich fragte mich, ob er das Gleiche dachte wie ich – dass Jude vielleicht andere Absichten verfolgt hatte, als er in die Wohnung eingebrochen war. Hatte Jude angenommen, dass Daniel allein hier war? Allein und wehrlos? Das ergab keinen Sinn. Wenn er Daniel hätte angreifen wollen, hätte ihn meine Anwesenheit sicher nicht daran gehindert. Das hatte es schon früher nicht.
»Hat er noch etwas anderes gesagt?«, fragte Daniel.
»Nein. Die Verbindung brach ab. Ich glaube, er hat das Handy fallen gelassen. Er schien nervös. Vielleicht hat seine Hand gezittert.« Oder vielleicht war er gerade die Wandlung durchlaufen.
»Glaubst du, dass er dir nur Angst einjagen wollte?«, mutmaßte Daniel. »Vielleicht ist das ja nur so ein krankes Spiel. Er wollte nie, dass wir zusammen sind.«
»Ich weiß nicht.« Ich blickte auf das Handy in meiner Hand. »Das ist möglich. Aber es ergibt doch keinen Sinn, dass er hierherkommt, nur um einen blöden Witz zu machen. Ich glaube, da steckt etwas anderes dahinter.«
Vielleicht lag es an meinen neuen Wolfsinstinkten oder es gab so eine Art geschwisterlicher Verbindung, aber irgendetwas tief in meinem Innern sagte mir, dass Jude recht hatte. Wir waren alle in Gefahr.
Ich wusste nur nicht, ob die Gefahr von ihm ausging.