Der Morgen danach

Als ich mich ins Schlafzimmer schlich, saß Cora zusammengesunken und in Tränen aufgelöst an ihrer Frisierkommode. Sie musste schon eine ganze Weile so dagesessen und sich zwischen Bergen von nassen, vollgerotzten Papiertaschentüchern in einer selbst produzierten Pfütze gesuhlt haben, denn sie sah ebenfalls ganz feucht und durchgeweicht aus.

Dabei murmelte sie immer und immer wieder Mikes Namen. Bestürzt blieb ich im Türrahmen stehen, weil ich nicht wusste, ob sie mich gesehen hatte oder ob sie ihrerseits gesehen werden wollte. Nach zu viel Alkohol hatte Cora schon immer etwas zu Melodramatik geneigt, aber jetzt war es zehn Uhr morgens, und vor mir saß eine neue Cora. Cora, die Lehrerin. Älter und womöglich weiser, mit längeren Haaren, teureren Klamotten, einem Haus und einem Auto, zwei Autos sogar, einem modernen Umluftofen und geschmackvollen Vorhängen und Teppichen mit zahllosen dazu passenden Kissen.

Sie schien überrascht, mich zu sehen. Als wäre ich die letzte Person auf Erden, die sie erwartet hatte oder sehen wollte. Ich verstand nicht ganz warum, denn sie wusste ja, dass ich nur eine Wand entfernt in ihrem schicken, in Rosatönen gehaltenen Gästezimmer übernachtet hatte. Einen Moment lang sah ich etwas in ihren Augen, das Unbehagen und Schuldgefühle in mir auslöste und Erinnerungen wachrief.

Eine Welle der Frustration überrollte mich, und ich musste mich am Türrahmen festhalten. Es war offensichtlich, dass sie ihn immer noch aufrichtig liebte, so wie sie ihn immer geliebt hatte, auf diese bedingungslose Weise, die mich manchmal rasend vor Wut und Hass machte. Ich wollte sie beim schlaffen, vom gestrigen Haarspray strähnigen Haar packen, ihr den Kopf zurückreißen und ihr ins Gesicht brüllen: »Warum bist du nicht glücklich, du blöde Schlampe?« Oder kamen diese Gefühle erst später? Egal.

Ich ließ ihr einen Augenblick Zeit, sich die Nase zu putzen, und versuchte, mich in die Zeit zurückzuversetzen, als wir noch enge Freundinnen gewesen waren. Was hätte ich damals zu ihr gesagt?

»Er ist nicht nach Hause gekommen«, murmelte sie. »Er hat mir zwar dieses Ammenmärchen aufgetischt, dass er bei Gabe übernachtet, aber ich weiß genau, wo er war. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen, bei wem.«

Er war also nicht nach Hause gekommen. Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass er wie durch ein Wunder wieder aufgetaucht war, während ich nebenan meinen Rausch ausgeschlafen hatte.

Ihre Wut, ihr verheultes Aussehen und ihre Hilflosigkeit machten mich ganz zaghaft und stumm. Ich wartete.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass er mit ihr zusammen war, oder?«, fragte ich, als sich die Stille bis zum Zerreißen gedehnt hatte.

»Wo soll er denn sonst die ganze Scheißnacht gewesen sein?«

Der mit gut gezielter Gehässigkeit geäußerte Kraftausdruck prallte von der Zimmereinrichtung ab, bevor ihr Blick wieder einen flehenden Ausdruck annahm und von Tränen überschwemmt wurde. Sie bat mich wortlos, ihren Verdacht nicht laut auszusprechen. Ich wusste natürlich sofort, was sie meinte. Auch in meinem Kopf spukte dieser unausgesprochene Gedanke herum.

»Was meinst du? Wo denn?«, fragte ich sanft und bot ihr ein zerknülltes Papiertaschentuch aus meiner Hosentasche an.

»Na, bei ihr! Bei dieser blöden Scheißnutte mit ihren Titten und Fingernägeln und ihrem ewigen ›Oh Mike, du bist so wahnsinnig witzig!‹.«

Titten und Nutte – es stand schlimmer, als ich gedacht hatte. Ich musste mit Bedacht vorgehen. Krampfhaft versuchte ich, mich an meine Taktik von damals zu erinnern: Spiel die Unwissende und warte, bis sie alles rausgelassen hat. Danach hilft ein wenig gesunder Menschenverstand.

»Du meinst diese Jenny?«, fragte ich mit vorgetäuschter Verwirrung.

»Natürlich meine ich diese Jenny. Wen denn sonst? Wer sonst würde einfach so meinen Mann vögeln?«

Ich zögerte und überlegte, was ich jetzt am besten sagte. Ich war etwas aus der Übung.

»Ich weiß genau, wie Michael tickt«, fuhr sie fort. »Für ihn ist das alles nur ein Spiel, das Tanzen, das Flirten. Aber für sie nicht.«

Ihre Stimme war jetzt ganz schrill, fast hysterisch. Also setzte ich mich aufs Bett, um aus sicherer Entfernung beruhigend auf sie einzuwirken. Aber sie sprang sofort auf und ging im Zimmer auf und ab, und dabei zog sie eine Spur aus Klopapierfetzen hinter sich her. Ich war durcheinander und fühlte mich seltsam unzulänglich und unehrlich. Obwohl so viel Zeit vergangen war, hatte sich so wenig verändert. Ich hatte keine Ahnung, wie all die Tage im Ausguss verschwunden waren, wie sie uns in ihrem Strudel herumgewirbelt hatten, bis meine Füße schließlich hier, neben der alten und gleichzeitig neuen Cora, wieder den Boden berührten.

Ich betrachtete sie in ihrem fliederfarbenen seidenen Morgenmantel von Calvin Klein. Die Farbe stand ihr nicht. Sie verlieh ihrem bleichen Gesicht einen fast bläulichen Stich, so als erstickte sie gerade langsam und leise. Auf der Frisierkommode neben dem Bett standen ordentlich aufgereiht diverse teure Gesichtscremes, in die ich zu gerne den Finger gesteckt hätte, um sie mir ins Gesicht zu schmieren. Auf den gelackten Tuben und Döschen verhießen exotische französische Namen in glänzenden goldenen Lettern ewige Jugend und Schönheit.

Die Bettdecke war zerwühlt, aber alles andere im Zimmer wirkte makellos. Ganz anders als in meinem Schlafzimmer, in dem sich jeden Tag eine neue Schicht Ablagerungen ansammelte: bündelweise Kassenzettel zwischen Fotorahmen und Parfumflaschen, Münzen und Knöpfe in der Schmuckablage, Schuhe, die wie durch Osmose aus dem Kleiderschrank auftauchten oder sich unter dem Türspalt durchschoben, um sich mit Socken und Strumpfhosen zum heimlichen Stelldichein zu treffen.

In Coras Schlafzimmer war weit und breit kein Schuh oder BH oder zerknüllte Socken zu sehen. An diesem Morgen war nur Cora zerknittert, und kein Calvin Klein der Welt hätte daran etwas ändern können. Sie sah sehr jung aus in diesem Moment. Aber sie war es nicht wirklich.

Weil ich nichts Sinnvolles zu sagen wusste, saß ich einfach neben ihr, reichte ihr Papiertücher und legte ihr die Hand auf den Arm, ein stummer, dämlicher Trost. Mindestens einmal pro Minute betonte sie, wie sehr sie ihn liebte. Sie hatte ihm doch jahrelang alles gegeben, einfach alles, und nun ließ er sie für ein einziges verdammtes Flittchen, eine einzige blöde Schlampe im Stich. Ihr Herzschmerz stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

Wieder betonte sie, dass er der erste und einzige Mann sei, mit dem sie je Sex gehabt habe, den sie je geliebt habe. Das hatte sie mir schon vor Jahren verraten, noch bevor ich ihn überhaupt kennengelernt hatte. Und seither hatte sie nie aufgehört, mich daran zu erinnern. Wo zur Hölle steckst du, Mike?, dachte ich. Wo auch immer du bist, es macht echt keinen guten Eindruck.

Dann erstarrten wir beide, als wir hörten, wie ein Schlüssel im Schloss rasselte, wie die Haustür leise aufschwang und dann behutsam zugezogen wurde. Einen Moment lang herrschte Stille im Flur. Dann ein Schlurfgeräusch und Schlüssel, die abgelegt wurden. Schließlich schwere Schritte auf der Treppe.

»Das ist Mike«, keuchte Cora überflüssigerweise, da sonst niemand den Schlüssel zu ihrem Haus hatte.

»Gib ihm eine Chance, es zu erklären«, bat ich und drückte kurz ihren Arm, bevor ich mich aus dem Staub machte. »Es ist bestimmt nicht so, wie du denkst. Das würde er dir niemals antun.« Ich schlich eilig zur Tür, die auch Mike inzwischen erreicht hatte. Er war ungekämmt, sah aber in seinen Klamotten von letzter Nacht auf jungenhafte Weise gut aus.

Er strahlte und war sichtlich gut gelaunt. »Guten Morgen, ihr Süßen. Lange Nacht, was? Ist meine Prinzessin schon wach?«

Die Prinzessin sagte nur: »Komm rein. Ich muss mit dir reden.« Ihre leise, vernünftige Stimme hielt weder mich noch ihn zum Narren. Der etwas zerzauste Märchenprinz gehorchte sofort.

Kurz darauf hörte ich Cora durch die Wand schreien, aber ich hätte sie auch in jedem anderen Zimmer des Hauses gehört, sogar noch auf der Straße.

Immer und immer wieder fragte sie: »Warum? Warum hast du das getan? Warum?« Ein Murmeln … »Du konntest einfach nicht die Finger von ihr lassen, oder?« … »Du hast es versprochen, du hast es mir versprochen!« Ungefähr eine Minute lang herrschte Schweigen, dann erklang wieder Coras Stimme, die jetzt immer höher wurde: »Ich glaube dir kein Wort. Warum sollte ich dir glauben? Warum habe ich dir überhaupt je geglaubt?«

»Ich hab doch angerufen und Bescheid gesagt … ich hatte keinen Empfang … und heute Morgen hab ich verschlafen …« Dazwischen immer wieder ihre staccatoartigen Fragen, dann Weinen.

Ich wünschte mir verzweifelt, seine Erklärung hören zu können, endlich zu wissen, was passiert war. Was war los? Was meinte Cora? War er etwa wirklich mit dieser Jenny abgehauen? Das war doch nicht möglich, oder? Ich wollte jedes Detail hören, wollte, dass er alles erklärte. Aber er war nun mal nicht mein Mann.

Ich stopfte meine Sachen in den Rucksack, schlüpfte in meine Jacke und verließ das Zimmer, wobei ich so leise wie möglich die Tür hinter mir zuzog. Der Streit würde sicher noch eine Weile andauern, und danach wollten die beiden bestimmt allein sein, was auch immer dabei herauskam. Ich stellte mir vor, wie Cora mit dem Fuß aufstampfte, sich die Ohren zuhielt und ihr wütendes Mantra die Treppe hinunter und den Flur entlang schrie: »Lügner, Lügner, Lügner!«

Ob es ihm wohl auch dieses Mal wieder gelang, sich herauszureden? Wie früher, wenn sie wütend auf ihn war? Würde er einfach geduldig und schmeichelnd auf sie einreden und sich eine Geschichte ausdenken, die ihr irgendwann, nach winzig kleinen Schmetterlingsküssen auf ihre Stirn und streichelnden Händen auf ihrem Haar, das Gefühl gab, dass sie im Irrtum war, dass nichts passiert war, dass er ihr Mike war, der sie liebte?

Bevor ich ging, kritzelte ich eine Nachricht auf einen Zettel und legte ihn auf den Tisch im Flur. Ruft mich an, Kuss, Lizzy. Ich wusste, dass ich noch eine Weile auf meine Antworten würde warten müssen.