Cora
Ich halte das nicht aus«, sagte sie noch einmal. »Ich halte die Vorstellung nicht aus, dass er mit einer anderen schläft, egal mit wem, aber am allerwenigsten mit ihr. Es fühlt sich an wie ein Messerstich, und zwar jede Minute des Tages. Es macht mich verrückt. Ich bin verrückt, ich bin gar nicht mehr ich selbst. Ich weiß einfach nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll, was ich tun soll. Ich weiß nicht mehr, wer er eigentlich ist. Oder wer ich bin. Wer bin ich?«
Cora hielt einen Monolog, und ich ließ sie reden. Sie verlangte sowieso nicht von mir, dass ich ihre Fragen beantwortete, das wusste ich. Mir war schleierhaft, wie wir plötzlich wieder auf dieses Thema gekommen waren. Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass sich die Wogen längst geglättet hatten.
Ein Monat war vergangen seit der Nacht, die wir anfänglich Coras und Mikes »großen Krach« nannten, die später jedoch nur noch als »die Nacht« bezeichnet wurde, im Flüsterton, als könnte man sie durch lauteres Sprechen wieder heraufbeschwören. Eine nähere Bezeichnung war überflüssig, weil wir alle ohnehin genau wussten, welche Nacht gemeint war. Danach gab es eigentlich nur noch eine Nacht.
Ich hatte noch ein weiteres schweigendes, an Hysterie grenzendes Abendessen mit Mike und Cora über mich ergehen lassen müssen, bevor die Luft langsam wieder wärmer und das Atmen leichter wurde und alles vergessen und vergeben schien. Mike musste das Gefühl haben, noch einmal glimpflich davongekommen zu sein. Bei unseren Treffen fiel mir auf, dass er Cora mit kleinen Aufmerksamkeiten und leicht zweideutigen Bemerkungen regelrecht überhäufte.
Umso schwerer wurde mir das Herz, als sich Cora bei unserem gemeinsamen Mittagessen in der Bar Europa zu einem Wortschwall über Mikes angebliche Untreue hinreißen ließ. Während ich mir mein Hähnchen vom Holzkohlegrill mit einem großzügigen Klecks süßem Zwiebel-Chutney schmecken ließ, zerteilte Cora die Thunfischklumpen auf ihrem Nizza-Salat in immer kleinere Flocken, pickte die Kerne aus den Tomatenscheiben auf und leerte entschlossen ihr zweites großes Glas Weißwein.
Ich hatte noch immer nicht mehr über diese Jenny in Erfahrung gebracht, und es nervte mich, dass sich Cora weiterhin über sie aufregte.
Innerlich seufzend bemühte ich mich, beruhigend auf sie einzuwirken: »Cora, nicht schon wieder dieses Thema! Du glaubst doch nicht wirklich, dass er mit dieser Jenny geschlafen hat, oder? Jetzt mach aber mal halblang.« Ich blieb ganz ruhig und hoffte, dass meine Ruhe auf sie abfärbte. »Ich meine, du vertraust ihm doch! Er ist bestimmt nicht so dumm, für eine einzige Nacht mit einem dahergelaufenen Flittchen alles aufs Spiel zu setzen. Sieh es realistisch: Du weißt doch, wie ungeschickt Mike manchmal ist. Er hat einfach nicht nachgedacht und mal wieder einen für ihn typischen Bock geschossen. Eigentlich glaubst du doch gar nicht, dass er fremdgegangen ist, Cora. Das weiß ich genau.« Also lass endlich die Scheiße, fügte ich in Gedanken hinzu. »Meinst du nicht, dass du es ein bisschen langsamer angehen lassen solltest?«, ermahnte ich sie eindringlich und wies mit einer Gabel voller Kopfsalat auf ihr fast leeres Weinglas.
Aber sie starrte nur hinaus auf die Queen Street, wo sich dick eingemummte Passanten dem eisigen Wind entgegenstemmten. Obwohl es erst ein Uhr mittags war, war es an diesem Spätnovembertag so dunkel, dass es auch Abend hätte sein können. Auf den Straßen hingen bereits die weihnachtlichen Lichtergirlanden und bemühten sich, die winterliche Finsternis zu vertreiben.
In der Bar Europa war es urgemütlich – trotz der riesigen Fensterfront, die eine ganze Wand einnahm. Bequeme Sofas aus buttrig weichem Leder standen vor unpraktisch niedrigen Tischen, die Holzdielen und die holzgetäfelte Theke glänzten im Schein der niedrigen Wandleuchten, und die Tageszeitungen saugten die Wärme und den Atem der Gäste auf, während sich das weiß beschürzte Personal geschickt durch ein Minenfeld aus Füßen und vollen Einkaufstüten manövrierte. Bald war Weihnachten, und ich war in festlicher Stimmung.
Früher hatten Cora und ich vor Weihnachten immer etwas Besonderes zusammen unternommen, und es war so etwas wie ein Ritual gewesen, gemeinsam den Baum und die Wohnung zu schmücken. In unserem zweiten Studienjahr hatte Cora ein köstliches Weihnachtsmenü gezaubert, das wir im sanften Schein von liebevoll über dem Tisch drapierten Lichterketten, Lametta und Christbaumkugeln eingenommen hatten.
Die Lichterketten hatten wir aus dem Supermarkt, weil wir uns keine teureren leisten konnten. Das Gemüse war sogar noch billiger, denn wir hatten es auf dem Bauernmarkt gekauft, bei Standbetreibern, die endlos und lautstark vor sich hin schwatzten, wenn sie sich nicht gerade die rauen, kalten Hände bliesen oder Lebensmittel in Plastiktüten rutschen ließen. Aber an der Truthahnroulade hatte Cora wahre Wunder vollbracht, und selbst der Schampus für 1,99 Pfund sah auf dieser Weihnachtstafel gleich viel edler aus.
Einmal war ich an einem späten Dezembermorgen ins Wohnzimmer gekommen und hatte dort eine eigenartig stumme, schuldbewusst dreinblickende Cora neben dem Weihnachtsbaum vorgefunden. Ich brauchte einige Sekunden, bis ich ihre Hamsterbacken und das Fehlen der sechs Schokoladenrentiere bemerkte, die wir erst Minuten zuvor auf die Äste gefädelt hatten. Brauner Saft troff aus ihren Mundwinkeln, als sie in Gelächter ausbrach.
Bei der Erinnerung an diese glücklichere, albernere Cora merkte ich, wie sehr ich mich auf Weihnachten freute. Bald konnten wir wieder gemeinsam dekorieren und Geschenke kaufen gehen. Cora jedoch war im Moment nur an einem Gesprächsthema interessiert und ruinierte damit die festliche Stimmung.
»Wir sind jetzt seit zehn Jahren zusammen. Seit zehn Jahren«, erklärte sie zum zweiten Mal in ebenso vielen Minuten und unterbrach damit meine Träumereien. Dieses Mal seufzte ich hörbar, gab mich geschlagen und bestellte bei der nächsten Kellnerin ein großes Glas Rotwein.
»Du weißt nicht, wie das ist, Lizzy«, fuhr sie fort. »Du kannst gar nicht wissen, wie das ist. Ich bin mit ihm aufgewachsen. Wir waren alles füreinander. Ich weiß, dass er lügt. Ich merke immer, wenn er lügt oder mir etwas verheimlicht. Er muss mich für bescheuert halten. Du hast keine Ahnung, was das für ein Gefühl ist und zu was es einen treibt.«
»Warum fragst du ihn dann nicht ganz direkt, Cora? Ich meine, du hast doch ein Recht darauf, es zu wissen.«
»Warum sollte ich?«, erwiderte sie und richtete ihren Blick wieder auf mich. »Warum sollte ich ihn fragen müssen? Wenn ich ihm doch vertraue? Aber ich habe ihn gefragt, und er sagt, es sei nichts passiert.«
»Wenn das so ist, glaubst du ihm entweder, oder ihr nehmt euch eine Auszeit – damit ihr euch über eure Gefühle klar werdet.« Schocktherapie. Ich wusste, dass es funktionieren würde.
»Ich soll ihn verlassen?« Sie wirkte erstaunt. »Er ist mein Mann. Ich könnte ihn nie verlassen. Ich würde alles für ihn tun.«
Aus heiterem Himmel kam mir der Gedanke, dass vielleicht genau das das Problem war. Vielleicht wusste er das nur allzu gut. Stattdessen sagte ich: »Er würde genauso alles für dich tun, Cora, also reiß dich am Riemen.«
»Hat er irgendwas zu dir gesagt?«, fragte sie misstrauisch.
»Was soll er gesagt haben?«
»Über diese Sache. Ich weiß, wie viel er von dir hält, Lizzy. Hat er sich dir anvertraut?«
»Cora, wenn ich irgendetwas wüsste, würde ich es dir sagen«, antwortete ich mit unbewegter Miene und großen Augen, ein Gesichtsausdruck, der stets den gewünschten Erfolg bringt. »Warum sollte ich dich wegen so etwas anlügen? Außerdem glaube ich gar nicht, dass es etwas zu erzählen gibt.« Das war die Wahrheit. Seit meinem Besuch bei Gabe hatte meine Schnüffelei keine weiteren Früchte mehr getragen.
»Ihr … ihr beide …«, stammelte Cora und beugte sich vertraulich zu mir herüber, wobei sie den Blick über den voll besetzten Raum schweifen ließ, als erwartete sie, Mike würde hinter einer der edlen geprägten Speisekarten hervorlugen und uns observieren. »Ich wette, er erzählt dir alles Mögliche. Dass ich paranoid bin. Und eifersüchtig. Er würde es dir erzählen, Lizzy.«
Ich blickte sie so entrüstet an, wie ich konnte. »Er hat nie etwas Derartiges zu mir gesagt«, stellte ich klar, auch wenn er sich nach Streits oder Meinungsverschiedenheiten durchaus gelegentlich bei mir über sie beklagte.
»Was erzählt er dir denn sonst?«, wollte sie wissen.
»Cora«, fiel ich ihr energisch ins Wort. Ich hatte keine Lust, mich weiter auf derart tückischem Untergrund zu bewegen, das brachte uns keinen Schritt weiter. »Ich glaube nicht, dass er mit dieser Jenny geschlafen hat. Du solltest ihm noch eine Chance geben. Das Ganze war ein blödes Missverständnis, und du musst damit abschließen. Bitte! Euch beide verbindet so viel. Schmeiß es nicht einfach weg wegen ein paar Zweifeln und diesem ganzen Unsinn. Ich weiß, dass er dich über alles liebt.«
Sie lächelte schief. »Ja. Vermutlich hast du recht.« Sie wirkte beschwichtigt.
»Gut«, antwortete ich. »Und jetzt iss bitte was, sonst muss ich dich nach Hause tragen. Was machst du dieses Wochenende? Lust auf ein paar Weihnachtseinkäufe?«
Jetzt, wo sich mit aller Macht die Weihnachtsstimmung auf uns herabsenkte, fiel es nicht schwer, Jenny aus unseren Gedanken zu verbannen. Eine Woche später trafen wir uns zu viert auf der Winterkirmes und amüsierten uns dort so prächtig, dass ich mir sicher war: Es war alles wieder, wie es sein musste, und würde auch für immer so bleiben.
Wir hatten uns geradezu lächerlich warm eingemummt, und ich war trotzdem dankbar für die kleine rosa Wollmütze, die Cora mir gekauft hatte, weil sie an Sonderangeboten nicht vorbeigehen konnte und vielleicht auch weil sie mich für das ruinierte Mittagessen entschädigen wollte. Wir drängten uns um die Heizstrahler vor den Kaffee- und Hotdogständen, schlossen unsere Hände wärmesuchend um Pappbecher mit süßem, dampfendem Cappuccino und machten uns über Stevies neuen Igelhaarschnitt und seinen angeblich wachsenden Bierbauch lustig.
Ich genoss das Raue und die Reinheit der kalten Luft, und ich bewunderte, wie sie jedes unsichtbare Übel, das uns anhaftete, einfach wegfegte. Eng aneinandergedrängt standen wir vor der theatralischen Kulisse des beleuchteten Rathauses mit seiner weißen Kuppel, seiner geriffelten Fassade und den zierlichen Turmspitzen und Vorsprüngen, die in den vorbeihuschenden Kirmeslichtern glitzerten und vor dem schwarzen Hintergrund des Dezemberabends an einen Eispalast erinnerten. Cora war gut gelaunt und trug die gleiche Wollmütze in Dunkelgrün, dazu einen viel zu großen Militärmantel im Stil der Russischen Revolution, der ihr bis zu den Fußspitzen reichte. Ihre Augen glänzten, und sie machte ausnahmsweise einen entspannten Eindruck. Mike, der heute besonders viel Aufhebens um sie machte, warf mir gelegentlich ein Lächeln zu, das selbst das Eis auf der Schlittschuhbahn zum Schmelzen gebracht und die Eisläufer im darunterliegenden Zierteich versenkt hätte.
Stevie strahlte und kaufte Schokomuffins für alle. Ich hatte Lust auf Eislaufen, aber nicht allein. Da weder Stevie noch Cora Schlittschuhlaufen konnten, tat Mike mir den Gefallen und begleitete mich. Es war viel zu voll, um etwas anderes zu tun, als mit dem Strom dahinzugleiten, aber es fühlte sich gut an, im Menschenpulk seine Hand zu halten. Obwohl ich seine Haut durch den Handschuh hindurch nicht spüren konnte, bildete ich mir ein, seinen Puls zu fühlen. Umgeben von erhitzten Gesichtern und angefeuert von Cora und Stevie drehten wir unbeholfen eine Runde nach der anderen, bis wir ganz außer Atem waren.
Gab es etwas Schöneres? Von den anschließenden Stunden beim Italiener einmal abgesehen, wo es nach frisch gebackenem Brot duftete und wo wir mit fettglänzenden Fingern unsere Pizzen hinunterschlangen und uns gemeinsam einen wärmenden Schwips antranken? Diese Jenny konnte uns mal, das hier kann sie uns nicht verderben, dachte ich.
Weihnachten rückte näher und stand schließlich vor der Tür, und bevor wir alle am großen Tag in den Schoß der Familie zurückkehrten, fanden die üblichen Weihnachtsfeiern im Büro statt. Glücklicherweise verpasste ich meine, weil ich am betreffenden Abend die Spätschicht übernommen hatte. Ich arbeitete fast die gesamten »Weihnachtsferien« durch, die von Studenten inzwischen ohne jede Ironie als Semesterferien bezeichnet werden, sogar am zweiten Weihnachtsfeiertag, am Silvesterabend (bis neun Uhr abends) und am Neujahrstag (bis elf Uhr abends).
Völlig erledigt verbrachte ich die letzten Atemzüge der Silvesternacht mit meiner alten Freundin Luce aus der Journalistenfortbildung, die zufällig für eine Weile beim kurzlebigen Welsh Mirror gelandet war, und trank mir mit ihr in ihrem Haus in Canton einen Rotweinrausch an.
Dann kam der Januar. Jenny war wieder da. Und sie war tot.