Lokalkolorit
Ich war gerne nachts in der Redaktion. Dann standen die leeren Schreibtischstühle vor schwarzen Computerbildschirmen, und das Summen der Klimaanlage verlieh dem Raum eine eigenartige, beinahe postapokalyptische Atmosphäre, die mir irgendwie gefiel. Tagsüber wurde man hier überrollt vom ununterbrochenen Geklapper der Tastaturen, vom Surren der Drucker, von Radiogedudel und hereinkommenden Nachrichten und dem endlosen Strom von Menschen, die im Rahmen von Redaktionsführungen zu jeder Tageszeit durch den Raum schlenderten oder hasteten, darunter Horden von desinteressierten Schulkindern und mäßig interessierten Würdenträgern.
Dieser Besucherstrom, der uns im Vorbeigehen ungeniert anstarrte, veranlasste Aled, meinen Verbündeten in Sachen Zynismus, dazu, ein Schild aufzustellen, das er aus dem Deckel einer Schachtel Druckerpapier gebastelt hatte und auf dem mit dickem schwarzem Filzstift geschrieben stand: »Bitte nicht füttern!« Das Schild lehnte mehrere Monate an seinem Computer, bis zufällig jemand aus der Personalabteilung vorbeikam und ein Vieraugengespräch mit dem Chefredakteur führte.
Nachts hingegen war von der schnatternden, überfüllten Zoo-Atmosphäre nichts mehr zu spüren, und dann bummelte ich mit Vorliebe durch die menschenleeren Gänge, lauschte dem Geräusch, das meine Schuhe auf dem verblichenen Linoleum machten, und spähte in leere Büros, in denen ich mir manchmal herrenlose Zeitschriften ausborgte oder Süßigkeiten aus einem Glas oder einer offenen Packung stibitzte. Oft schlenderte ich durch die oberste Etage und betrachtete die nahen und fernen Lichter der Stadt, die durch die spiegelnden Scheiben hereinleuchteten. Und lauschte.
An diesem Abend war ich unruhig und hatte das Gefühl, nicht mehr allein auf den Fluren umherzuwandern. Statt mich umzusehen, trotzte ich dem, was hinter mir sein mochte, indem ich mein langsames Schlendern beibehielt und es hartnäckig vermied, in die spiegelnden Glasscheiben der Brandschutztüren oder die Fenster der Sonntagsbeilagenredaktion zu blicken, die auf ihrer kleinen Insel aus Glas und Teppichboden über der brummenden Druckerei thronte.
Tagsüber war ich bei Jennys Beerdigung gewesen. Es hatte lange gedauert, bis die Leiche freigegeben worden war. Kommen Sie doch, hatte Mrs Morgan gesagt. Geh hin, hatte das Arschloch gesagt. Da kriegst du gute Insiderinfos und Eindrücke. Irgendwann fiel mein Widerstand in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
Nach den warmen Tagen im April hatte das Maiwetter inzwischen beschlossen, deutlich ins andere Extrem auszuschlagen, und ertappte uns in unseren leichten Frühlingsmänteln und Sommerjäckchen mit einem eiskalten Tag unter strengblauem Himmel und greller, wärmeloser Sonne. Die Beerdigung fand nicht in Wrexham statt. Offenbar lag Jennys Vater in einem kleinen Städtchen in den walisischen Tälern begraben, dem er nie wirklich entkommen war. Hier war er geboren worden, und hier hatte die Familie in den ersten dreizehn Jahren nach Jennys Geburt gelebt. Die Stadt war klein und deprimierend und wirkte vertrauter, als mir lieb war.
Ein Teil der Morgan-Sippe stammte von hier, ein anderer Teil aus dem Norden. Sie waren leicht auseinanderzuhalten, diese Menschen aus den verschiedenen Himmelsrichtungen. Die Verwandten aus dem Süden hatten wettergegerbte Gesichter, von Wind, Wetter und harter Arbeit zu einheitlichen Ebenbildern geblichen. Alle hatten die gleichen Wangen, die gleichen dichten Brauen unter stachligen, unbezähmbaren Haaren und billigen Haarschnitten, über Goldketten und ehemals guten Anzügen.
Die Verwandten aus dem Norden hingegen hatten klar geschnittene Gesichter und geschliffene Umgangsformen, trugen dezenten Lippenstift und distinguiertes graues Haar und zeichneten sich durch ihren herzlichen Händedruck mit manikürten Händen und durch die zähflüssigen Vokale ihres Akzents aus. Jenny sollte in das Land ihres Vaters zurückkehren und neben ihm in dem Grab bestattet werden, in dem er schon seit zehn Jahren lag und in das auch Mrs Morgan ihrem Mann und ihrem Kind eines Tages nachfolgen würde, in die Erlösung der wartenden Erde.
Die nüchterne, schlichte, weiß getünchte Kirche, die würdevoll auf einem steilen Hügel thronte und sich scharf vom dunkelblauen Himmel abhob, war von der Empore bis zu den schmalen Hintertüren nur spärlich besucht, und die leeren Plätze wirkten beinahe obszön. Die wenigen Trauergäste fröstelten und wünschten sich, einen dickeren Mantel und einen Schal angezogen zu haben. Weil die Autos in zweiter Reihe geparkt hatten, musste der Leichenwagen im Rückwärtsgang die Straße hinauf, an zugenagelten Obst- und Gemüseläden und einer ums Überleben kämpfenden Apotheke vorbei und über Schlaglöcher, so dass der Blumenkranz mit Jennys Namen hinter der Glasscheibe hin und her rutschte und schließlich zu Boden fiel.
Im Gänsemarsch kamen die Freunde der Familie dazu, die schon ihren Vater gekannt und die kleine Jenny früher auf dem Schoß gewiegt oder ihr Süßigkeiten zugesteckt hatten. Sie bliesen in die Hände und stampften mit den Füßen und schüttelten dem alten Pastor schweigend die Hand. Er war hager wie Schilfrohr, ein typischer Methodistenvertreter aus den walisischen Tälern, und in seinen wässrigen Augen glimmte tatsächlich noch ein Funke Kohlenfeuer.
Viele waren vermutlich nur gekommen, weil der Trauergottesdienst eine gewisse Abwechslung darstellte – in Abersychan war sonst nicht viel los. In Kapuzenjacken und mit Baseballkappen auf dem Kopf kauerten einige abgekämpft aussehende, aber streitlustig um sich blickende Mädchen auf der niedrigen Kirchenmauer, wo sie vor Kälte Grimassen schnitten und heimlich Zigaretten rauchten, nachdem sie die Streichhölzer in der hohlen Hand angezündet hatten, um die Flamme vor dem schneidenden Wind zu schützen, dem sich die braunen, starren, zu den hohen Hügeln geneigten Bäumchen tapfer widersetzten.
In der Kirche spielten sie Unchained Melody – doch, wirklich –, und es war schrecklich. Jeder, angefangen bei Jennys jungen Cousins und Cousinen, die sie wahrscheinlich nur ein- oder zweimal im Leben gesehen hatten, bis zu ihren zwei Tanten mit den herben Gesichtern, die beide Mäntel, schwarze Pumps und einen Ausdruck der Abscheu auf dem Gesicht trugen, kämpfte mit den Tränen.
Nur Mrs Morgan weinte nicht. Augenscheinlich nüchtern saß sie da, während der Pastor seine Psalmen verlas, darunter Der Herr ist mein Hirte und einige walisische Verse. Als sie an der Reihe war, einen Nachruf auf ihre Tochter vorzulesen, lehnte sie die Hilfe des Kirchendieners beim Besteigen der Kanzel ab, breitete ein einziges DIN-A4-Blatt vor sich auf dem Rednerpult aus und beschämte die ganze Gemeinde mit ihrer festen Stimme. Sie sprach von einer Jenny, deren großer Traum es stets gewesen sei, PR für die Stars zu machen oder Journalistin zu werden oder Filmkritikerin, um irgendwann nach Kalifornien zu ziehen und mit dreißig Millionärin zu sein (oder einen Millionär zu heiraten). Es fiel mir nicht schwer, das zu glauben. Genau davon hatte auch ich mit achtzehn geträumt.
Was ich allerdings nicht glauben konnte, war, dass diese Jenny in den Straßen meiner Stadt herumgelaufen war und geredet und geatmet hatte, ohne dass ich etwas davon mitbekommen hatte, dass sie mit Einkaufstüten beladen Hundekot ausgewichen und in Bars gegangen war und Wiedersehenstreffen alter Freunde gestört hatte. Weil ich es nicht glauben wollte.
Ich spürte, wie ich allmählich Angst vor ihr bekam, ungeachtet dessen, was ich damals in jener Nacht durch einen vergifteten Schleier aus Eifersucht und Verachtung von ihr gedacht hatte. Aber ich spürte auch Mitleid in mir hochsteigen. Ihre Art, sich zu kleiden, ihr kokettes Auftreten, das schäbige kleine Zimmer, die übergroßen Träume – all das kam mir eigenartig vertraut vor. Vielleicht waren diese Gemeinsamkeiten nur eine Interpretation meines schuldbewussten Verstands. Trotzdem schien offensichtlich, dass sie zumindest ein bisschen in Mike verliebt gewesen war. Selbst wenn er mir die Wahrheit gesagt hatte und nichts zwischen ihnen vorgefallen war: Sie hatte seinen Füllfederhalter in ihrem Zimmer gehabt, hatte dasselbe Gedicht gemocht. Reiner Zufall? Daran glaubte ich immer weniger.
Was hatte sie in ihm gesehen? Hatte sie mehr gewollt, als er ihr hatte geben können? Hatte sie ihn bis nach Cardiff verfolgt? Hatte sie gehofft, dass er ihre Liebe eines Tages erwidern würde, wenn sie nur lange genug durchhielt? Hatte sie aus der Ferne ihre Hoffnungen und Überzeugungen in ihn hineingegossen und sich vergewissert, dass sie jeden Winkel in ihm ausfüllten, sie gezwungen, sich anzupassen, wenn sie auf Widerstand trafen?
Und was hatte er in ihr gesehen? Er hatte mir versichert, dass nichts passiert war, dass sie nichts war als ein paar gemeinsame Drinks, eine kleine Abwechslung, die sich nicht hatte abwimmeln lassen. Fühlte er, der fünf Jahre Ältere, sich durch sie wieder jünger? Schließlich war er in ihrer Wohnung gewesen, am Ende der Nacht, zu einer Zeit, in der er eigentlich ganz woanders hätte sein müssen. Vielleicht war er nicht zum ersten Mal in dieser Wohnung gewesen. Vielleicht war das Ganze nicht wegen der Vorstellung von Mike mit Jenny so schrecklich, von nackter Haut und gehauchtem Atem und geflüsterten Versprechungen, sondern wegen der Vorstellung von Jenny mit Mike?
War dieser gemeinsame Moment im Dunkeln – falls es ihn je gegeben hatte – in ihren Augen ein Moment für die Ewigkeit gewesen? Hatte sie geglaubt, den Mann zu kennen, den sie mit voller Absicht in ihre Wohnung gelockt hatte, auch wenn sie es ihm gegenüber, vielleicht sogar sich selbst gegenüber, nicht zugegeben hatte? Hatte sie geglaubt, die Schöpferin dieses Moments zu sein und ihn zu beherrschen? Hatte sie, bevor sie kam, falls sie kam, vor sich selbst geleugnet, dass sie bereits auf ein nächstes Mal hoffte? Dachte sie, bevor sie starb, wie auch immer sie starb, es würde sie nichts kosten?